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Internationale Revue 21

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6. Kongreß des Partito Comunista Internazionalista

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Ein Schritt vorwärts für die Kommunistische Linke

In Prometeo Nr. 13 hat der Partito Comunista Internazionalista - Battaglia Comunista  - PCInt, (nachfolgend als BC abgekürzt) die Dokumente veröffentlicht, die für seinen 6. Kongreß verfaßt worden waren.

Der Kongreß ist der wichtigste Moment im Leben einer revolutionären Organisation. Er ist das souveräne Organ, das gemeinsam Beschlüsse faßt über die Orientierungen, Analysen und programmatischen und organisatorischen Positionen. Als solches ist dies schon Grund genug, um zu den Beschlüssen von BC Stellung zu beziehen. Es gibt jedoch noch einen wichtigeren Grund, dies zu tun: Wir wollen die Gesamtstellungnahme des Kongresses hervorheben, die die Absicht zum Ausdruck bringt, Antworten auf die Fragen und Aufgaben zu liefern, vor denen die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde aufgrund der Entwicklung der historischen Situation stehen: „Der Kongreß diente im wesentlichen dazu, im ‘historischen’ Vermächtnis der Partei das festzuschreiben und zu integrieren, was wir untersucht und unseren Kräften gemäß als Antwort gegenüber den ständigen Änderungen der Lage verfaßt haben; auf den Anfang dessen hinzuweisen, was wir als eine neue Phase im politischen Leben der Partei und allgemeiner der Kommunistischen Linken definieren.“ (Prometeo, Nr. 13)

Dieses Bewußtsein von einer ‘neuen Phase’ im politischen Leben von BC und der Kommunistischen Linken bewog BC dazu, einige Teile der programmatischen Plattform und der Umgruppierungskriterien des IBRP (1) zu ändern. Das ist an sich schon ein wesentlicher Fortschritt: wo doch vorher die beiden Organisationen (BC und CWO) (1), die das IBRP bilden, ihre je eigene Plattform hatten und das IBRP nochmals eine eigene. Jetzt dient einzig und allein die IBRP-Plattform als politische Grundlage. Wir begrüßen das als Beitrag zur Klärung und zum politischen Zusammenhalt der revolutionäre Bewegung als ganzes. In der revidierten Plattform von 1994 hat das IBRP schon gewisse Punkte und Kriterien für die Umgruppierung modifiziert. Diese Änderungen damals stellen schon einen Klärungsprozeß für das ganze Milieu dar. Die Tatsache, daß sie nun unzweideutig sowohl vom IBRP als auch von seinen beiden Mitgliedsgruppen angenommen worden sind, gibt ihrer Veröffentlichung 1997 eine zusätzliche Bedeutung. Deshalb meinen wir, daß der Kongreß eine Stärkung des Kampfes der gesamten Kommunistischen Linken für ihre Verteidigung und ihre Entwicklung bedeutet.

Natürlich bedeutet die Begrüßung und die Unterstützung der positiven Bestandteile des Kongresses keinesfalls, daß wir unsere Divergenzen und Kritiken der Dokumente des Kongresses, wenn wir ganz und gar nicht einverstanden sind, beiseite legen. In diesem Artikel wollen wir auf einige dieser Divergenzen hinweisen, aber wir möchten vor allem die Punkte hervorheben, die wir als einen Beitrag für die gesamte proletarische Avantgarde und als eine Stärkung der gemeinsamen Positionen der Kommunistischen Linken ansehen. Nur indem wir von diesem Rahmen ausgehen, können  wir unsere Divergenzen und Kritiken ausarbeiten.

Die Denunzierung der bürgerlichen Verschleierungen

Die Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert hat deutlich gemacht, daß die sogenannte ‘Demokratie’ die Hauptwaffe der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist. Das demokratische Schauspiel ermöglicht dem kapitalistischen Staat, die Arbeiter zu täuschen, sie zu spalten und von ihrem Klassenterrain wegzulocken, um dann  anschließend eine unerbittliche Repression zu organisieren, die im allgemeinen der Repression in nichts nachsteht, die von den grausamsten Formen der Diktatur des Kapitals (Faschismus oder Stalinismus) ausgeübt wird.

In der gegenwärtigen Lage ist es auf dem Hintergrund der Desorientierung der Arbeiterklasse (die ihre Ursache im Zusammenbruch der fälschlicherweise als ‘kommunistisch’ bezeichneten Regime des ehemaligen Ostblocks hat und in der antikommunistischen Kampagne, die die Bourgeoisie seitdem organisiert hat) zu einer Verstärkung dieser Verschleierung gekommen. Diese Trommel wird ständig gerührt, um unter Einsatz aller staatlichen Mittel die Arbeiter auf das verrottete Terrain der Verteidigung der ‘Demokratie’ zu locken.

Hinsichtlich der Entschleierung der demokratischen Mystifizierungen enthielt die alte Plattform des IBRP von 1984 (2) Unklarheiten und Lücken. So schwieg das IBRP zu den Wahlen und zum Parlamentarismus. Weiter behauptete es, daß „die demokratische Revolution längst kein gangbarer Weg mehr ist. Man muß sie in den imperialistischen Hochburgen (seit langem) als endgültig abgeschlossen betrachten, und sie kann auch anderswo in der Dekadenz nicht mehr wiederholt werden.“ Wir sind voll damit einverstanden, aber während die ‘demokratische Revolution’ als „unmöglich“ verurteilt wurde, bezog BC keine klare Stellung, ob man einen „taktischen“ Kampf für die „Demokratie“ (3) führen könnte, denn in anderen Texten sprach man von „der Möglichkeit, gewisse demokratische Grundrechte bei der revolutionären politischen Propaganda aufzugreifen.“ In der neuen Fassung der Plattform ist eine wichtige Klärung vollzogen worden:

- Einerseits beschränkt sich das IBRP nicht darauf, die „demokratischen Revolutionen“ zu entblößen, es greift „auch den Kampf für die Demokratie“ an: „Der Zeitraum des demokratischen Kampfes ist seit langem abgeschlossen; er kann in der imperialistischen Ära nicht wiederholt werden.“

- Darüber hinaus hat das IBRP einen Absatz hinzugefügt, der eine ausdrückliche Verwerfung der Wahlen beinhaltet: „Die Taktik der revolutionären Partei richtet sich auf die Zerstörung des Staates und die Errichtung der Diktatur des Proletariats aus. Die Kommunisten machen sich keine Illusionen über die Möglichkeit der Eroberung der Freiheit für die Arbeiter, indem man eine Mehrheit im Parlament gewinnt.“

- Konkreter gesagt, hat das IBRP einen anderen Absatz hinzugefügt, wo es sagt, daß „die parlamentarische Demokratie das Feigenblatt darstellt, welches die Scham der bürgerlichen Diktatur bedeckt. Die wirklichen Machtorgane der kapitalistischen Gesellschaft befinden sich außerhalb des Parlamentes.“

Das IBRP hat die ‘Thesen zur Demokratie’ des 1. Kongresses der Komintern wieder aufgegriffen und sich an diese bei ihren Analysen und Perspektiven fest angelehnt. Unserer Meinung nach fehlt jedoch eine ausdrückliche Verurteilung der Wahlen. Zum Beispiel verwirft das IBRP nicht die Theorie des revolutionären Parlamentarismus, die von der Komintern vertreten wurde. Diese Theorie behauptete, daß das Parlament ein Deckmantel war für die Ausübung der bürgerlichen Herrschaft und daß man die Macht nicht durch den parlamentarischen Weg ergreifen konnte. Aber diese Theorie trat für die ‘revolutionäre’ Benutzung des Parlamentes als Agitationsbühne und als ein Mittel der Entblößung ein. Diese damals schon falsche Position ist heute konterrevolutionär; sie wird von den Trotzkisten benutzt, um die Arbeiter wieder zur Wahlbeteiligung zu bewegen.

Des weiteren hat das IBRP den Absatz aufrechterhalten, der sich auf die „Forderung bestimmter Grundfreiheiten (als ein Teil) der revolutionären Propaganda“ bezieht. Wovon spricht das IBRP? Meint es, wie es die Gruppe FOR (4) machte, daß - selbst wenn man die parlamentarische Demokratie und die Wahlen verwerfen müsse - es noch bestimmte ‘Grundfreiheiten’ gebe wie die Versammlungsfreiheit und die Freiheit des Zusammenschlusses usw., die die Arbeiterklasse versuchen sollte, als ersten Schritt in ihrem Kampf legal zu erkämpfen? Meint es, wie einige radikale trotzkistische Gruppen, daß diese ‘Mindestfreiheiten’ ein Bestandteil ihrer Agitation sein müssen, die, auch wenn sie im Kapitalismus nicht durchgesetzt werden können, ihrer Verteidigung dienen, ‘um das Bewußtsein voranzutreiben’? Es wäre gut, wenn das IBRP diese Frage klären könnte.

Die Gewerkschaftsfrage

BC hatte schon eine ziemlich klare Position zur Gewerkschaftsfrage hinsichtlich der Verwerfung der traditionellen bürgerlichen Position bezogen, derzufolge die Gewerkschaften irgendwie ‘neutrale’ Organe seien, und deren Orientierung hin zur Arbeiterklasse oder zur Bourgeoisie von denjenigen abhänge, die an ihrer Spitze stünden. Diese Position wurde in der Plattform von 1984 klar verworfen: „Es ist unmöglich, die Gewerkschaften zu erobern oder sie zu verändern: Die proletarische Revolution muß notwendigerweise über deren Leichnam hinweggehen.“

In der 1997 verabschiedeten Plattform gibt es einige Änderungen, die auf den ersten Blick relativ geringfügig erscheinen. Das IBRP hat einen Absatz aus der Plattform von 1984  gestrichen, der in der Praxis die theoretisch formulierte Klarheit wieder untergrub: „Im Rahmen dieser Prinzipien [wie oben erwähnt, Verwerfung jeder Möglichkeit der Eroberung oder Änderung der Gewerkschaften] ist die Möglichkeit unterschiedlicher konkreter Aktionen hinsichtlich der Arbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften eine Frage, die in den Bereich der taktischen Erwägungen der Partei fällt.“ Es scheint uns völlig richtig zu sein, diesen Absatz gestrichen zu haben, denn er bedeutete, daß man die Prinzipienfrage gegenüber den Gewerkschaften in den Bereich der ‘Strategie’ schob, um freie Hand gegenüber den elastisch auszulegenden ‘taktischen Notwendigkeiten’ der ‘Arbeit in den Gewerkschaften’ zu haben.

In der gleichen Richtung hat das IBRP folgenden Abschnitt der Plattform von 1984 geändert: „Die Gewerkschaft ist nicht und kann nicht das Massenorgan der kämpfenden Arbeiterklasse“ werden, indem man den Begriff ‘kämpfend’ fallenließ, was nahelegte, ohne es offen zu sagen, daß die Gewerkschaften Massenorgane der Arbeiterklasse sein könnten, wenn sie nicht kämpft. Diese Korrektur wird in dem 1997 verabschiedeten Dokument ‘Die Gewerkschaften heute und die Tätigkeiten der Kommunisten’ noch verstärkt, wo das IBRP schreibt: „Es ist für die Arbeiter unmöglich, auch nur ihre unmittelbaren Interessen zu verteidigen, wenn nicht außerhalb und gegen die Gewerkschaften.“ (7. These, Prometeo Nr. 13) Mit dieser Präzisierung verwirft das IBRP die trotzkistische Lüge vom ‘Doppelwesen’ der Gewerkschaften, die angeblich den Arbeitern positiv gegenüberstehen in Zeiträumen sozialen Friedens und sich reaktionär verhielten in Zeiten des Kampfes und revolutionärer Erhitzung. Die Auffassung der Trotzkisten läßt es zu, eine Rückkehr ins gewerkschaftliche Gefängnis zu rechtfertigen. Eine Gewerkschaftspolitik, zu der die bordigistische Strömung neigt. Wir meinen, daß die Streichung des Begriffs ‘kämpfend’ durch das IBRP diese Position verwirft, auch wenn dies noch klarer hätte gesagt werden können.

Auch grenzt sich das IBRP in dem erwähnten Dokument von der gewerkschaftlichen Basisarbeit ab, dieser radikalen Variante der Gewerkschaftsarbeit,  wo man die großen Gewerkschaftszentralen und ihre Führer radikal angreift, um besser das sogenannte ‘Arbeiterwesen’ der Gewerkschaften zu verteidigen. Das IBRP sagt, daß „die verschiedenen Versuche des Aufbaus neuer Gewerkschaften in einem Wortschwall neuer basisgewerkschaftlicher Firmenschilder untergegangen sind, von denen viele auf der Suche nach institutionialisierten Befugnissen der Arbeitsvermittlung sind, genau wie es die offiziellen Gewerkschaften betreiben.“ (These 8)

Wir begrüßen ebenfalls, daß das IBRP den folgenden Absatz ersetzt hat: „Die Gewerkschaft ist das Vermittlungsorgan zwischen Arbeit und Kapital.“ Er wurde ersetzt durch eine viel klarere Formulierung: „Die Gewerkschaften wurden gegründet, um als Instrumente der Verhandlung über die Bedingungen für den Verkauf der Arbeitskraft zu dienen.“ Die alte Formulierung war aus zwei Gründen gefährlich:

- Einerseits ließ sie die Gewerkschaften zeitlos als Vermittlungsorgane zwischen Kapital und Arbeit erscheinen, sowohl in der aufsteigenden wie auch in der Niedergangsphase des Kapitalismus, während jetzt zum Ausdruck gebracht wird, „die Gewerkschaften wurden gegründet, ...als Instrumente der Verhandlung“, womit sich die Position des IBRP abhebt von der typisch bordigistischen Auffassung, derzufolge die Gewerkschaften sich nie geändert hätten.

- Andererseits ist die Idee  von  „Vermittlungsorganen zwischen Kapital und Arbeit“ selber schon falsch, denn sie vertritt die Auffassung, daß die Gewerkschaften als Organe zwischen den beiden entgegengesetzten Klassen in der Gesellschaft tätig wären. In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus waren die Gewerkschaften keine Vermittlungsorgane zwischen den Klassen, sondern Waffen des Arbeiterkampfes, die durch die Kämpfe der Arbeiter geschaffen und von der Bourgeoisie heftig verfolgt wurden. Deshalb ist es klarer, wenn man von Organen spricht, die „als Instrumente der Verhandlung über die Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft“ gegründet wurden, denn dies war eine ihrer Funktionen in diesem historischen Zeitraum, die damals erfüllt werden konnten, weil es noch möglich war, Verbesserungen und Reformen zugunsten der Arbeiter zu erreichen. Das IBRP vergißt jedoch die andere Dimension der Rolle der Gewerkschaften, die von Marx, Engels und anderen Revolutionären hervorgehoben wurde, daß sie „Schulen des Kommunismus“ und Mittel der Organisierung waren, und in einem gewissen Ausmaß auch dem Klärungsprozeß  großer Teile der Arbeiter dienten.

Schließlich hat das IBRP eine entscheidende Veränderung hinsichtlich der Intervention der Kommunisten im Klassenkampf vollzogen. Es geht um die ‘kommunistischen Fabrikgruppen’. Die Plattform von 1984 sagte hierzu, daß „die Möglichkeit zur Förderung der Entwicklung des Kampfes von der unmittelbaren Ebene, wo sie entstehen, bis hin zur allgemeinen Ebene, der des antikapitalistischen politischen Kampfes von der Präsenz und der Intervention der kommunistischen Fabrikgruppen abhängt“. Dagegen meint das IBRP dazu in der Fassung von 1997: „Die Möglichkeit, daß die Kämpfe von der Anfangsphase aus sich weiterentwickeln zum politischen, antikapitalistischen Kampf ist in Wirklichkeit abhängig von der Präsenz und dem Eingreifen der Kommunisten vor Ort in den Betrieben, an den Arbeitsplätzen, damit die Arbeiter entsprechende Anregungen erhalten und damit man ihnen die Perspektive aufzeigt.“ Wir teilen vollkommen die Sorge des IBRP hinsichtlich der Entwicklung der Interventionsmittel der Revolutionäre im konkreten Prozeß des Kampfes und der Politisierung der Klasse. Während das Anliegen richtig ist, scheint uns jedoch die vorgelegte Antwort darauf unzureichend.

Einerseits hat das IBRP die Idee zurecht fallengelassen, derzufolge die Politisierung des unmittelbaren Kampfes der Arbeiter „von der Präsenz und dem Eingreifen der kommunistischen Fabrikgruppen“ (5) abhängt, andererseits vertritt es weiterhin den Standpunkt, daß die antikapitalistische Politisierung der Arbeiterkämpfe „von der Präsenz und dem Eingreifen der Kommunisten vor Ort in den Betrieben, am Arbeitsplatz“ abhängig ist.

Die „Möglichkeit, daß die Kämpfe von der Anfangsphase aus sich weiterentwickeln zum politischen, antikapitalistischen Kampf“, hängt nicht nur von der Anwesenheit der Kommunisten „vor Ort, an den Arbeitsplätzen“ ab. Die Revolutionäre müssen in den Kämpfen, in den Streiks, Demonstrationen, in den Vollversammlungen usw., kurzum, überall wo diese Interventionen möglich sind, und nicht nur vor Ort in den Betrieben, an den Arbeitsplätzen, wo es - den Formulierungen des IBRP zufolge - schon revolutionäre Elemente gebe, politisch präsent sein mittels ihrer Intervention mit der Presse, mit Flugblättern, durch mündliche Redebeiträge.

Dem anderen Dokument, ‘Die Gewerkschaften heute und das Wirken der Kommunisten’, zufolge müßten die Kommunisten um sich herum „Organe zur Intervention in der Klasse“ schaffen, die „entweder auf Fabrikebene“ oder „territorial“ aufgebaut sein könnten.

Diese Formulierung erscheint uns auch als sehr undeutlich. Je nach den verschiedenen Augenblicken des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen können verschiedene Organe innerhalb der Arbeiterklasse entstehen:

- In Phasen sich entwickelnder Kämpfe bildet sich das, was wir Kampfkomitees nennen, die Organe sind, in denen sich die kämpferischsten Teile zusammenfinden mit dem Ziel, zur Ausdehnung des Kampfes beizutragen und dass die Arbeiter den Kampf selber in die Hand nehmen durch die Abhaltung von Vollversammlungen und die Bildung von Komitees mit gewählten und abwählbaren Delegierten; sie fassen Arbeiter aus verschiedenen Branchen zusammen oder neigen zumindest dazu,

- in weniger entscheidenden Momenten oder in der Rückflußphase nach einem intensiven Kampf schaffen kleine Minderheiten Arbeitergruppen oder Diskussionszirkel, die mehr dem Bedürfnis entsprechen, die Lehren des Kampfes zu ziehen und sich mehr auf die allgemeineren Probleme des Arbeiterkampfes hin orientieren.

Gegenüber diesen Tendenzen der Klasse verwerfen die Revolutionäre den ‘Spontaneismus’, der darin besteht, „zu warten, bis sie die Klasse selber und in einer isolierten Weise schafft“. Die Revolutionäre intervenieren in diesen Organen und zögern nicht davor zurück, Vorschläge zu machen und deren Bildung zu begünstigen, wenn die Bedingungen für ihr Entstehen vorhanden sind. Aber diese Organe sind deshalb noch keine ‘Interventionsorgane der Kommunisten’; sie sind vielmehr Organe der Klasse und in der Klasse, deren Intervention sich unterscheidet von derjenigen der kommunistischen politischen Organisationen. Deshalb sind wir der Ansicht, daß die Formulierung des IBRP zweideutig bleibt und weiterhin die Tür einen Spalt offenläßt, um die Auffassung von Zwischenorganen zwischen der Arbeiterklasse und den Kommunistischen Organisationen zu verbreiten.

Die Rolle der Partei und der Kampf für deren Bildung in unserer Epoche

Die kommunistische Weltpartei ist ein unabdingbares Werkzeug der Arbeiterklasse. Wie die Erfahrung der Oktoberrevolution 1917 zeigt, kann das Proletariat den revolutionären Prozeß nicht zum Erfolg führen und die Macht ergreifen, wenn es dazu nicht die Partei bildet, die in der Klasse interveniert, sie politisch führt und ihrem revolutionären Handeln Impulse gibt.

Mit der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 und der Entartung der kommunistischen Parteien haben die Gruppen der Kommunistischen Linken versucht, die konkreten Lehren aus diesen Erfahrungen hinsichtlich der Parteifrage zu ziehen:

- In erster Linie haben sie sich mit der Frage des Programms befaßt: die Kritik und Überwindung der Schwachpunkte des Programms der Komintern, die zu ihrer Entartung beitrugen, insbesondere hinsichtlich der Frage der Gewerkschaften, des Parlamentarismus und der angeblichen ‘nationalen Befreiung’ der Völker.

- In zweiter Linie haben sie die Auffassungen von der Massenpartei überwunden, die die Aufgabe erfüllen sollten, die in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus auf der Tagesordnung standen (Organisation und Bildung der Klasse in Anbetracht des Gewichtes ihrer Ursprünge unter den Handwerkern und Bauern, Beteiligung an den Parlamentswahlen, weil es noch möglich war, für Reformen und Verbesserungen zu kämpfen).

Diese alte Auffassung ließ die Idee entstehen, daß die Partei die Klasse repräsentiert und organisiert, und die Macht in ihrem Namen ergreift. Diese falsche Auffassung hat sich in der revolutionären Welle von 1917-23 als gefährlich und schädlich herausgestellt. Demgegenüber haben die, fortgeschrittensten Gruppen der Kommunistischen Linken klären können, daß die Partei für die Klasse nicht als Massenorgan unabdingbar ist, sondern als eine in der Minderheit befindliche Kraft, die sich auf die Aufgabe konzentriert, das Bewußtsein der Klasse und ihre politische Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu entwickeln (6). Auch hat die Partei nicht zur Aufgabe, die Macht im Namen der Klasse auszuüben, sondern als dynamischer und fortgeschrittenster Faktor durch ihre Intervention und ihre Klarheit dazu beizutragen, daß die Klasse kollektiv und durch eine massive Beteiligung die Macht durch die Arbeiterräte ausübt.

Die vom IBRP eingenommene Position seiner Plattform von 1984 brachte auch,  obwohl sie eine Klärung der programmatischen Positionen (die, wie wir eingangs in diesem Artikel aufgezeigt haben, auf seinem Kongreß von 1997 ausführlicher entwickelt wurden) verdeutlichte, eine zweideutige Position zum Ausdruck, in der viele allgemeine und vage Behauptungen standen hinsichtlich der entscheidenden Frage der Partei, ihres Verhältnis zur Klasse, ihrer Organisationsform und des Prozesses ihres Aufbaus. Aber in den Dokumenten des Kongresses von 1997 werden diese Fragen präziser gefaßt; es gibt eine klarere Auffassung vom Prozeß des Aufbaus der Partei und der konkreten Schritte, die die kommunistischen Organisationen in der heutigen Phase machen müssen.

In der Plattform von 1984 meinte das IBRP: „Die Klassenpartei ist das besondere und unersetzbare Organ des revolutionären Kampfes, denn es ist das politische Organ der Klasse.“ Wir sind mit der Idee einverstanden, daß die Partei ein spezifisches Organ ist (sie darf nicht mit der gesamten Klasse verwechselt noch in ihr aufgelöst werden), und sie ist  in der Tat unersetzbar (7). Die Formulierung „sie ist das politische Organ der Klasse“ kann jedoch zu verstehen geben, ohne daß es unbedingt offen gesagt wird (wie es die Bordigisten tun), daß die Partei das Organ der Machtergreifung im Namen der Arbeiterklasse ist.

Die Formulierung von 1997 liefert eine wichtige Präzisierung, die sich konsequenter auf die Positionen der Kommunistischen Linken zubewegt: „Die Klassenpartei oder die Organisationen, aus denen sie hervorgeht, umfassen den bewußtesten Teil des Proletariats, das sich organisiert, um das revolutionäre Programm zu verteidigen.“ Obwohl dieser Absatz es nur indirekt und implizit sagt (8), verwirft das IBRP die bordigistische Auffassung, derzufolge die Partei durch eine Minderheit ausgerufen wird, unabhängig von der historischen Lage und den Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, um für immer zu der Partei zu werden. Zudem hat das IBRP die Formulierung „politisches Organ der Klasse“ gestrichen und durch eine viel klarere Formulierung ersetzt: „der bewußteste Teil, der sich organisiert, um das revolutionäre Programm zu verteidigen“.

Natürlich bedeutet das Streichen der Formulierung von 1984 keineswegs den politischen Charakter der Partei zu leugnen. Die politische Rolle der proletarischen Partei kann nicht die gleiche wie die der bürgerlichen Parteien sein, die darin besteht, die politische Macht im Namen derjenigen auszuüben, die sie repräsentieren. Als ausgebeutete Klasse, die keine ökonomische Macht besitzt, kann die Ausübung der politischen Macht keiner Minderheit übertragen werden, auch wenn diese noch so treu und klar ist.

Weiter hat das IBRP in seinen programmatischen Dokumenten Lehren der Russischen Revolution aufgenommen, zu denen im Dokument von 1984 nichts gesagt wurde: „Die Lehren der letzten revolutionären Welle bestehen nicht darin, daß die Klasse auf eine organisierte Führung verzichten kann, und auch nicht, daß die Partei in ihrer Gesamtheit die Klasse ist (wie es die Bordigisten in jüngster Zeit in einer metaphysisch abstrakten Art meinen), sondern daß die organisierte Führung in der Form der Partei die mächtigste Waffe ist, die die Klasse entwickeln kann. Ihr Ziel besteht im Kampf für eine sozialistische Perspektive mit dem Entstehen von Massenorganisationen, die vor der Revolution auftauchen (Sowjets oder Räte). Die Partei wird jedoch eine Minderheit in der Arbeiterklasse und kein Ersatz für diese sein. Das Ziel des Aufbaus des Sozialismus muß von der ganzen Klasse in Angriff genommen und kann nicht delegiert werden, selbst nicht an den bewußtesten Teil des Proletariats.“

Das IBRP hat diese wesentliche Lehre aus der Russischen Revolution ausdrücklich aufgenommen (die andererseits die Devise der I. Internationalen nur bestätigt hat, derzufolge „die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selber sein muß“) und gleichzeitig Überlegungen dazu angestellt, wie das Verhältnis zwischen den Revolutionären und der Klasse gestaltet sein soll, welche Rolle die Partei übernimmt und wie ihre Beziehung zur Klasse ist.

In der Plattform von 1997 steht: „die Erfahrung der Konterrevolution in Rußland zwingt die Revolutionäre dazu, die Probleme hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat, Partei und Klasse zu vertiefen. Die Rolle der ursprünglich  revolutionären  Partei hat viele potentielle Revolutionäre dazu geführt, die Idee der Klassenpartei insgesamt zu verwerfen.“ Anstatt das Problem mit schwülstigen Phrasen über die ‘Wichtigkeit’ der Partei zu umgehen, war das IBRP in der Lage, das Problem historisch richtig zu stellen: „Während der Revolution wird die Partei danach streben, die politische Führung der Bewegung zu erobern, indem sie ihr Programm innerhalb der Massenorgane der Arbeiterklasse verbreitet und es verteidigt. Genauso wie es unmöglich ist, an einen Prozeß des anwachsenden Bewußtseins ohne eine revolutionäre Partei zu denken, ist es auch unmöglich zu glauben, daß der bewußteste Teil des Proletariats die Kontrolle in den Ereignissen unabhängig von den Sowjets ausüben könnte. Die Sowjets sind das Instrument zur Ausübung der Diktatur des Proletariats, und ihr Verfall und ihre Verdrängung aus der politischen Szene in Rußland haben zum Zusammenbruch des sowjetischen Staats und zum Sieg der Konterrevolution beigetragen. Als die bolschewistischen Kommissare gegenüber einer erschöpften und ausgehungerten Klasse isoliert blieben, waren sie gezwungen, die Macht in einem kapitalistischen Staat auszuüben, und sie haben so wie diejenigen gehandelt, die einen kapitalistischen Staat regieren.“

Das IBRP zieht eine Schlußfolgerung, mit der wir ebenso einverstanden sind: „In der zukünftigen Weltrevolution muß die revolutionäre Partei versuchen, die revolutionäre Bewegung nur durch ihre Massenorgane der Klasse zu führen, die auf ihr Entstehen drängen werden. Selbst wenn es kein Rezept gibt, das den Sieg garantiert, stellen weder die Partei noch die Sowjets als solche einen sicheren Schutz gegenüber der Konterrevolution dar; die einzige Garantie des Sieges ist das lebendige Klassenbewußtsein der Arbeitermassen.“

Die Debatte und die Umgruppierung der Revolutionäre

Diese Klärung fortsetzend hat das IBRP eine Reihe von Präzisierungen gegenüber dem Text von 1984 eingebracht hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den gegenwärtigen revolutionären Gruppen und den konkreten Schritten, wie man heute zum Prozeß der Bildung der revolutionären Partei beiträgt.

Gegenüber der gegenwärtigen Offensive der Bourgeoisie gegen die Kommunistische Linke, die zum Beispiel in der ‘anti-negationistischen’ Kampagne zum Ausdruck kommt, müssen die Revolutionäre eine gemeinsame Verteidigungslinie errichten. Anderseits verlangt das Aufblühen von kleinen Minderheiten der Klasse, die weltweit auf der Suche nach revolutionären Positionen sind, daß die kommunistischen Gruppen jedes Sektierertum und jede Isolierung aufgeben und im Gegenteil diesen Elementen einen kohärenten Rahmen anbieten, damit sie das gemeinsame Erbe der Kommunistischen Linken, aber auch die trennenden Divergenzen einschätzen können.

Dieser Sorge Rechnung tragend hat das IBRP den Kriterien der Internationalen Konferenzen (die in der Plattform von 1984 aufgeführt werden), ein weiteres hinzugefügt: „Wir halten das Büro für eine Kraft, die dem  proletarischen  politischen Lager angehört, welches die Kräfte umfaßt, die für die Unabhängigkeit des Proletariats gegenüber dem Kapital kämpfen, jegliche Art Nationalismus verwerfen, den Stalinismus und die ehemalige UdSSR nicht als sozialistisch betrachten und gleichzeitig den Oktober 1917 als den Ausgangspunkt einer weiteren europäischen Revolution sehen.“

BC erkennt, daß „zwischen den Organisationen, die dem erwähnten Lager angehören, es immer wichtige politische Divergenzen gegeben hat, so hinsichtlich dem Wesen und der Funktion der revolutionären Organisation“, und daß es notwendig sei, dazu eine Diskussion in Gang zu setzen. Dies ist die richtige Methode, und das stellt zweifelsohne eine wichtige Änderung der Haltung gegenüber der Position von BC auf der 3. Internationalen Konferenz dar, welche im Text von 1984 aufrechterhalten wurde. Erinnern wir uns daran, daß BC mit Unterstützung der CWO auf dem letzten Treffen dieser Konferenz ein zusätzliches Kriterium hinsichtlich der Rolle der ‘politischen Führung’ der Partei vorgeschlagen hatte, das aus unserer Sicht nur das Ziel verfolgte, die IKS aus den internationalen Konferenzen auszuschließen, wie wir es auch nachher geschrieben haben (9), da BC sich weigerte, den Gegenvorschlag zu diesem Kriterium, wie er von der IKS eingebracht wurde, zu diskutieren. Dieser Gegenvorschlag hob die Rolle der politischen Führung der Partei hervor, aber innerhalb des Rahmens der Machtausübung durch die Arbeiterräte. Diese Frage wurde, wie wir eben aufgezeigt haben, glücklicherweise vom IBRP viel klarer in der Plattform von 1997 formuliert. Darüber hinaus und vor allem verwarf BC seinerzeit ein Resolutionsprojekt, das eine erweiterte und vertiefte Diskussion über die Auffassung zur Partei, ihre Funktion, ihr Wesen und ihre Beziehungen zur gesamten Klasse forderte. Mit dieser Beilage schlägt heute das IBRP eine systematische Diskussion dieser Frage vor, was uns als eine eindeutige Öffnung zur programmatischen Klärung innerhalb der Kommunistischen Linken erscheint. Aus Platzgründen können wir hier im Rahmen dieses Artikels nicht näher auf die vom  IBRP angekündigten Punkte eingehen. Jedoch wollen wir den 2. Punkt herausheben (mit dem wir genauso wie mit Punkt 6 vollkommen einverstanden sind): „Das IBRP wirkt auf die Bildung der Kommunistischen Weltpartei zu dem Zeitpunkt hin, wo ein politisches Programm und ausreichend Kräfte für ihre Bildung bestehen. Das Büro ist für die Partei, aber behauptet nicht, der einzige Ursprungskern zu sein. Die zukünftige Partei wird nicht einfach das Ergebnis des Wachstums einer einzigen Organisation sein.“ (10)

Aus dieser richtigen Auffassung leitet das IBRP den Punkt 3 ab, der aus unserer Sicht ebenfalls sehr richtig ist: „Vor der Gründung der revolutionären Partei müssen alle Einzelheiten ihres politischen Programms durch Diskussionen und Debatten zwischen allen sie gründenden Teilen geklärt werden.“ (10)

Aus dieser Aussage geht das Engagement des IBRP’s hervor für eine ernsthafte Diskussion unter den revolutionären Gruppen im Hinblick auf die Klärung der gesamten Kommunistischen Linken und gegenüber der neuen Generation der von der Klasse hervorgebrachten Elemente, die sich durch ihre Positionen angezogen fühlen. Wir begrüßen dieses Engagement, wir fordern das IBRP dazu auf, es zu konkretisieren und zu entwickeln durch eine entsprechende Haltung und durch praktische Schritte. Wir unsererseits werden mit all unseren Kräften zu dieser Entwicklung beitragen.

Adalen, 16. November 1997

(1) IBRP: Internationales Büro für die revolutionäre Partei, zusammengesetzt aus dem Partito Comunista Internazionalista (Battaglia Comunista - im folgenden abgekürzt als BC) und der Communist Workers Organisation (CWO).

(2) Der Kongreß von BC, an dem eine Delegation der CWO teilnahm, war Anlaß für eine Änderung der Plattform des IBRP, dem die beiden Organisationen angehören.

(3) Solch eine Präzisierung ist umso notwendiger, als die Linke des Kapitals und insbesondere die Trotzkisten und andere Vertreter der ‘extremen Linken’ anerkennen, daß der ‘Kampf für die Demokratie’ nicht ‘revolutionär’ ist, aber sie betrachten ihn aus ‘taktischen’ Gründen als ‘lebenswichtig’ oder als ersten Schritt auf dem ‘Weg zum Sozialismus’.

(4) FOR: Fomento Obrero Revolucionario, (revolutionäres Arbeiterferment), die Gruppe gehört dem proletarischen politischen Milieu an, leider ist sie heute verschwunden, sie wurde von G. Munis geleitet, der 1948 einen Bruch mit dem Trotzkismus vollzog.

(5) Diese Position hat Parallelen mit der der KAPD, die in den 20er Jahren die Bildung von Unionen vorschlug, welche Zwischenorgane zwischen der allgemeinen Organisation der Klasse und der politischen Organisation waren, über eine Plattform verfügten, die sowohl politische Positionen aufgriff als auch zufällig auftretende Punkte. Tatsächlich erwiesen sich diese Unionen als ein Handicap für die Arbeiterklasse aufgrund ihrer Zugeständnisse gegenüber gewerkschaftlichen Auffassungen.

(6) In seiner Polemik von 1903 und im ganzen Kampf der Bolschewiki seit Anfang 1917 hat Lenin einen klaren Bruch mit der Auffassung einer Massenpartei vollzogen, auch wenn er nicht alle Schlußfolgerungen bis zu ihrem logischen Ende daraus zog.

(7) Siehe unter anderem die Artikel: ‘Die Funktion der revolutionären Organisation’, (Internationale Revue Nr. 29, engl., franz. Ausgabe), ‘Die Partei und ihre Beziehungen zur Klasse’, ebenda, Nr. 35.

(8) Bei der Erklärung, die das IBRP den Kriterien der Internationalen Konferenzen hinzugefügt hat, ist es viel präziser: „Die Erklärung der revolutionären Partei oder ihres Ursprungskerns ausschließlich auf der Grundlage kleiner Gruppen von Aktivisten stellt keinen großen Schritt nach vorne dar für die revolutionäre Bewegung.“

(9) Unsere Position wird in den Protokollen der 3. Internationalen Konferenz dargelegt, erhältlich bei unseren Kontaktadressen. Siehe auch unsere Bilanz der Internationalen Konferenzen und eine Einschätzung der Haltung von Battaglia Comunista in der Internationalen Revue Nr. 22, engl./franz. Ausgabe, deutsch in Internationale Revue Nr. 5.

(10) Auch wenn diese global richtige Auffassung nicht zu einer schematischen Interpretation führen darf, derzufolge man die Gründung der Partei bis zur ‘Klärung aller Details’ verschieben darf. Zum Beispiel im März 1919 war die Gründung der Internationale (die schon verspätet war) dringend geboten; so wurde sie gegründet; der Auffassung Lenin folgend im Gegensatz zum Standpunkt des deutschen Delegierten, der das Argument einwarf, daß noch weitere Programmpunkte geklärt werden müßten, und der deshalb für eine spätere Gründung eintrat.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [1]

Arbeitslosigkeit

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Die Bourgeoisie handelt vorbeugend gegenüber der steigenden Wut der Arbeiter

Während des Winters 97/98 gab es mehrmals  in den beiden größten westeuropäischen Ländern Mobilisierungen zur Frage der Arbeitslosigkeit. In Frankreich fanden monatelang Straßendemonstrationen in den größten Städten des Landes und Besetzungen von öffentlichen Gebäuden (insbesondere der Institutionen, die mit der Auszahlung von Arbeitslosengeldern befaßt sind) statt. In Deutschland wurde am 5. Februar eine Reihe von Demonstrationen im ganzen Land abgehalten, zu denen Arbeitslosenorganisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatten. Die Mobilisierung erreichte in Deutschland nicht das gleiche Ausmaß wie in Frankreich, aber von den Medien wurde sie sehr ausführlich aufgegriffen. Stellen diese Mobilisierungen einen wirklichen Ausdruck der Kampfbereitschaft der Arbeiter dar? Wir werden später sehen, daß dies nicht der Fall ist. Dennoch ist die Frage der Arbeitslosigkeit für die Arbeiterklasse von grundlegender Bedeutung, denn sie stellt seitens des krisengeschüttelten Kapitals einen der wichtigsten Angriffe gegen  die Arbeiterklasse dar. Gleichzeitig liefert das Ansteigen und die mittlerweile permanent gewordene Arbeitslosigkeit einen der besten Beweise des Scheiterns des kapitalistischen Systems. Und gerade die Brisanz dieser Frage verbirgt sich hinter den gegenwärtigen Mobilisierungen.

Bevor wir die Bedeutung dieser Mobilisierungen untersuchen, müssen wir das Phänomen der Arbeitslosigkeit in seiner Bedeutung für die Weltarbeiterklasse und die Perspektiven dieses Phänomens erkennen.

Die Arbeitslosigkeit heute und ihre Perspektiven

Heute erfaßt die Arbeitslosigkeit große Teile der Arbeiterklasse in den meisten Ländern auf dieser Erde. In der 3. Welt schwankt der Anteil der erwerbslosen Bevölkerung zwischen 30 und 50%. Und selbst in einem Land wie China, das während der letzten Jahre von den ‘Experten’ als einer der großen Wachstumschampions gefeiert wurde, wird es in den nächsten Jahren 200 Millionen zusätzliche Arbeitslose geben (1). In Osteuropa hat der wirtschaftliche Zusammenbruch in den Ländern, die dem früheren Ostblock angehörten, Millionen von Arbeiter auf die Straße geworfen, und wenn in einigen seltenen Fällen wie Polen relativ hohe Wachstumsraten dank der Zahlung von Hungerlöhnen erzielt wurden und dadurch der Schaden eingedämmt werden konnte, stürzen in den meisten dieser Länder, insbesondere in Rußland, ungeheuer große Arbeitermassen in einen Bettlerzustand ab, die für ihr Überleben gezwungen sind,  ‘minderwertige Arbeiten’ anzunehmen, wie z.B. den Verkauf von Plastiktüten in den Gängen der Metro (2).

In den höchst entwickelten Staaten ist die Arbeitslosigkeit, auch wenn die Lage nicht so tragisch ist wie in den oben erwähnten Ländern, zu einer wirklichen Geißel der Gesellschaft geworden. So beträgt der offizielle Prozentsatz der ‘Arbeitssuchenden’ im Verhältnis zur arbeitsfähigen Bevölkerung in der gesamten Europäischen Union 11%, wogegen er 1990 nur 8% ausmachte, d.h. zu einer Zeit, als der amerikanische Präsident Bush nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks eine ‘Phase des Wohlstands’ verkündete.

Die folgenden Zahlen verdeutlichen die Bedeutung der Geißel Arbeitslosigkeit:

Man muß zu diesen Zahlen jedoch folgendes bemerken.

Erstens handelt es sich um offizielle Zahlen, die auf der Grundlage von Kriterien ermittelt wurden, die einen Großteil der Arbeitslosigkeit verdecken. Unter vielen anderen Faktoren berücksichtigen sie nicht:

- die Jugendlichen, die ihre Schulausbildung fortsetzen, weil sie keine entsprechende Beschäftigung finden,

- die Arbeitslosen, die man zur Annahme von unterbezahlten Stellen verpflichtet, weil sie sonst ihre Arbeitslosenunterstützung verlieren würden,

- die Personen, die als Umgeschulte geführt werden, weil sie so angeblich bessere Beschäftigungschancen hätten, was aber nicht stimmt,

- die älteren Arbeitnehmer, die in die Frührente geschickt wurden.

Ebensowenig berücksichtigen diese Zahlen die Teilzeitarbeitslosen, d.h. all die Beschäftigten, die keine feste Vollzeitbeschäftigung finden (z.B. die ständig steigende Zahl von Beschäftigten bei Zeitarbeitsagenturen).

Übrigens sind diese Tatsachen den ‘Experten’ der OECD gut bekannt, die in ihren Fachzeitschriften zugeben müssen, daß „die klassische Arbeitslosenrate... nicht das volle Ausmaß der Unterbeschäftigung erfaßt“. (3)

Zweitens muß man die Bedeutung der Zahlen der sogenannten ‘Klassenbesten’ - der USA und Großbritannien - verstehen. Aus der Sicht vieler Experten seien diese Zahlen der Beweis der Überlegenheit des ‘angelsächsischen Modells’ gegenüber den anderen Modellen der Wirtschaftspolitik. So haut man uns die Ohren voll mit der Tatsache, daß in den USA die niedrigste Arbeitslosenrate seit 25 Jahren erreicht wurde. Es stimmt, daß in den USA gegenwärtig ein höheres Wachstum als in den anderen entwickelten Ländern erzielt wird, und daß während der letzten 5 Jahre 11 Millionen neue Stellen geschaffen wurden. Man muß jedoch präzisieren, daß die meisten dieser Stellen McDonald-Beschäftigungsverhältnisse sind, d.h. alle Art von kleinen, prekären, sehr schlecht bezahlten Jobs, so daß die Armut solche Ausmaße angenommen hat, wie man sie seit den 30er Jahren nicht mehr kannte, mit insbesondere Hunderttausenden Obdachlosen und Millionen von Menschen, die über gar keine Krankenversorgung verfügen.

All das wird von jemandem deutlich zugegeben, der nicht im Verdacht steht, die USA zu verleumden, da er Arbeitsminister während der ersten Amtszeit Bill Clintons war und seit langem dessen persönlicher Freund ist. „Seit 20 Jahren verzeichnet ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung eine Stagnation oder einen Rückgang der Reallöhne aufgrund der Inflation. Für die meisten Beschäftigten hat sich der Lohnverfall trotz des Wiederaufschwungs fortgesetzt. 1996 lag das mittlere Realeinkommen unter dem Niveau von 1989 oder unter dem Niveau der vorherigen Rezession. Zwischen Mitte 1996 und Mitte 1997 sind die Reallöhne nur um 0,3% gestiegen, während sich der Fall der Niedrigstlöhne weiter fortsetzte. Die Zahl der Amerikaner, die gemäß der Definition und den offiziellen Statistiken als arm angesehen wird, ist heute größer als 1989“. (4)

Die Lobredner des US-amerikanischen ‘Modells’ vergessen auch meist zu sagen, daß die 11 Millionen neu geschaffener Arbeitsplätze einem Anstieg von 9 Millionen zusätzlichen arbeitsfähigen Menschen entsprechen. So ist ein sehr großer Teil der ‘wunderbaren’ Erfolge der US-Wirtschaft im Bereich Arbeitslosigkeit auf den Einsatz von künstlichen Mitteln zurückzuführen, die die Wirklichkeit verdecken sollen. In den USA gesteht man übrigens diese Tatsache sowohl in den angesehensten Wirtschaftszeitungen ein als auch seitens der politischen Instanzen selber: „Die offizielle Arbeitslosenrate in den USA liefert immer weniger ein wirkliches Bild über die tatsächliche Situation auf dem Arbeitsmarkt.“ (5) Dieser Artikel zeigt, daß „unter der männlichen Bevölkerung von 16-55 Jahren die offizielle Arbeitslosenrate nur 37% der Beschäftigungslosen als ‘Arbeitslose’ überhaupt erfaßt; die verbleibenden 63%, die zwar weiterhin dem arbeitsfähigen Alter zugerechnet werden, werden jedoch als ‘nicht-beschäftigt’, als ‘außerhalb der aktiven Bevölkerung’ geführt.“ (6)

Die offizielle Zeitschrift des US-Arbeitsministeriums erklärte: „Die offizielle Arbeitslosenrate kommt uns zupaß und ist gut bekannt. Indem wir uns jedoch zu sehr auf diesen einzigen Maßstab richten, entwickelt sich ein entstelltes Bild der Wirtschaft der anderen Länder im Vergleich zu den USA (...). Andere Indikatoren sollten berücksichtigt werden, wenn man die jeweiligen Lagen auf den jeweiligen Arbeitsmärkten wirklich richtig interpretieren will.“ (7)

Tatsächlich kann man ausgehend von Untersuchungen, die nicht von schrecklichen ‘Subversiven’ verfaßt wurden, vermuten, daß in den USA eine Arbeitslosenrate von 13% der Wirklichkeit näher kommt als die von unter 5%, die überall als der Beweis für das ‘amerikanische Wunder’ vorgezeigt wird. Könnte das anders sein, wenn man nur diejenigen als Arbeitslose (gemäß den Kriterien des Internationalen Büros für Arbeit) aufführt, die -

- in der Bemessungswoche weniger als eine Stunde gearbeitet haben,

- die während dieser Woche aktiv eine Arbeit gesucht haben,

- die sofort für die Aufnahme einer Arbeit zur Verfügung stehen.

In den USA, wo die meisten Jugendlichen irgendeine sehr niedrig bezahlte Stelle haben, werden diejenigen nicht als Arbeitslose registriert, die für ein paar Dollar den Rasen des Nachbarn gemäht oder in der Woche zuvor dessen Kinder gehütet haben. Auch derjenige, der die Arbeitssuche nach Monaten und Jahren Bewerbungen bei möglichen Arbeitgebern aufgegeben hat, oder die Alleinerziehende Mutter, die nicht ‘sofort zur Verfügung’ steht, weil es praktisch keine Kindergärten gibt, wo sie ihr Kind unterbringen könnte.

Die ‘Erfolgsgeschichte’ der britischen Bourgeoisie ist von noch viel größeren Lügen geprägt als die der US-Bourgeoisie. Der naive Beobachter wird mit einem Paradox konfrontiert: zwischen 1990 und 1997 ist das Beschäftigungsniveau um 7% gesunken, und trotzdem ist die offizielle Arbeitslosenrate in derselben Zeit von 10 auf 5% gesunken. Wie es eine der ‘seriösesten’ internationalen Finanzinstitutionen formuliert: „der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Großbritannien scheint vollkommen auf die Zunahme des Anteils der inaktiven, nicht mehr Beschäftigten zurückzuführen zu sein.“ (8)

Und um das Mysterium dieser Umwandlung der Arbeitslosen in ‘Inaktive’ zu begreifen, kann man sich auf die Aussage eines Journalisten vom ‘Guardian’ stützen, d.h. einer Zeitung, von der man schlecht behaupten kann, daß sie zur revolutionären Presse gehöre: „Als Frau Margaret Thatcher ihren ersten Wahlerfolg im Mai 1979 feierte, waren im Vereinigten Königreich seinerzeit 1.3 Mio. offiziell registrierte Arbeitslose erfaßt. Wenn man die Berechnungsmethode nicht geändert hätte, gäbe es heute ein wenig mehr als 3 Mio. Arbeitslose. Ein Bericht der Midlands Bank, der vor kurzem veröffentlicht wurde, ging gar von 4 Mio. Arbeitslosen aus, d.h. 14% der aktiven Bevölkerung und damit mehr als in Frankreich oder in Deutschland.

... die britische Regierung berücksichtigt nicht mehr die Arbeitslosen, sondern ausschließlich die Bezieher einer ohnehin immer mehr gekürzten  Arbeitslosenunterstützung. Nachdem man mehr als 32mal die Grundlagen zur Feststellung der Arbeitslosenzahl geändert hat, hat sie beschlossen, Hunderttausende von ihnen dank der neuen Regelung der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung aus der Statistik zu streichen, denn die Arbeitslosenunterstützung wird jetzt nach 6 anstatt wie früher nach 12 Monaten eingestellt... Die Mehrzahl der neu geschaffenen Stellen sind Teilzeitstellen. Den Angaben der Arbeitsinspektion zufolge waren 43% der zwischen Winter 1992-93 und Herbst 1996 geschaffenen neuen Stellen Teilzeitarbeitsplätze. Fast ein Viertel der 28 Mio. Beschäftigten haben ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis. In Frankreich und Deutschland sind das nur ca. 15%..“ (9)

Die im großen Maßstab betriebenen Mogeleien, die es der Bourgeoisie dieser beiden angelsächsischen ‘Beschäftigungschampions’ ermöglichen sich zu brüsten, erhalten in den anderen Ländern stillschweigende Unterstützung durch die zahlreichen ‘Wirtschaftsexperten’ und Politiker aller Couleur und insbesondere durch die Massenmedien (nur in den einigermaßen vertraulich gehaltenen Zeitschriften wird der Schleier ein wenig gelüftet). Der Grund dafür ist einfach: man muß die Idee verbreiten, daß die Politik, die im letzten Jahrzehnt mit einer besonderen Brutalität betrieben wurde und jeweils auf eine Kürzung der Löhne und des Sozialschutzes hinauslief und die ‘Flexibilität’ vorantrieb, ein wirksames Mittel zur Schadensbekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sei. Mit anderen Worten, man muß die Arbeiter davon überzeugen, daß die Opfer sich ‘auszahlen’ und daß ihnen daran gelegen sein müßte, die Diktate des Kapitals zu akzeptieren.

Und weil die Bourgeoisie nicht alle Eier in einen Korb legt und sie noch mehr Verwirrung in den Köpfen der Arbeiter stiften will, geht sie so vor, daß sie ein wenig Trost spendet und behauptet, daß es einen ‘Kapitalismus mit menschlichen Antlitz’ geben könnte. Aus diesem Grunde wird immer das Beispiel der Niederlande aufgeführt (10). Deshalb kurz einige Worte zum Beispiel des ‘guten Schülers’ Westeuropas, den Niederlanden.

Auch in diesem Fall sind die Arbeitslosenzahlen nicht aussagekräftig. Wie in Großbritannien ist der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mit einem Rückgang der Zahl der .... Beschäftigten verbunden gewesen. So ist die Beschäftigtenrate (Prozentsatz der arbeitsfähigen Bevölkerung, der tatsächlich arbeitet) von 60% 1970 auf 50.7% 1994 zurückgegangen.

Das Rätsel löst sich auf, wenn man feststellt, daß „der Anteil der Teilzeitarbeitsplätze an der Gesamtzahl der Arbeitsplätze innerhalb von 20 Jahren von 15 auf 36% angestiegen ist. Und das Phänomen beschleunigt sich, denn ... an 9/10 der in den letzten 10 Jahren neu geschaffenen Arbeitsplätzen wird zwischen 12 und 36 Stunden pro Woche gearbeitet.“ (11) Des weiteren ist ein großer Prozentsatz der Arbeitslosen gestrichen und der zahlenmäßig noch größeren Gruppe der Berufsunfähigen zugeordnet worden. Dies stellt die OECD fest, wenn sie schreibt, daß „die Schätzungen dieses Anteils ‘verdeckter Arbeitsloser’ unter den Berufsunfähigen sehr stark schwankt, von ca. 10% bis ungefähr 50%“. (12)

Wie der Artikel in Le Monde Diplomatique, den wir vorhin zitierten, schrieb: „Es sei denn, man geht davon aus, daß die Menschen hier - und nur hier - von einer genetischen Schwäche erfaßt werden, wie kann man anders erklären, daß es im Land mehr Arbeitsunfähige als Arbeitslose gibt.“ Natürlich konnte solch eine Methode, die es den Arbeitgebern ermöglicht, ihre Unternehmen billig zu rationalisieren, indem ihr alterndes und wenig ‘anpassungsfähiges’ Personal hinausgeschmissen wird, nur dank eines der ‘großzügigsten’ Sozialsysteme auf der Welt angewandt werden. Aber in einer Phase, wo gerade dieses Sozialsystem radikal infrage gestellt wird (wie überall in den fortgeschrittenen Ländern) wird es der Bourgeoisie immer schwerer fallen, die Arbeitslosigkeit so zu übertünchen. Übrigens fordern die neuen Gesetze, daß die Unternehmen 5 Jahre Berufsunfähigkeitsrente zahlen, was sie davon abhalten wird, die Beschäftigten als berufsunfähig zu melden, die sie loswerden wollen. Jetzt schon wird der Mythos vom ‘Sozialparadies’, als das die Niederlande dargestellt werden, ernsthaft angekratzt, wenn man weiß, daß einer europäischen Untersuchung zufolge (sie wurde am 28. April 97 vom Guardian kommentiert), 16% der niederländischen Kinder in als ‘arm’ eingestuften Familien leben, wogegen der Prozentsatz in Frankreich 12% beträgt. Was das ‘Wunderland’ Großbritannien angeht, leben dort 32% der Kinder in armen Familien.

So gibt es keine Ausnahmen beim Ansteigen der massiven Arbeitslosigkeit in den höchst entwickelten Ländern. Jetzt schon erreicht die Arbeitslosenquote dort (wobei all die nicht gewollten Teilzeitbeschäftigungen und all diejenigen, die die Suche aufgegeben haben, mitgezählt werden müssen) ein Niveau von 13-30%. Diese Zahlen nähern sich immer mehr den Größenordnungen, die es in den 30er Jahren während der großen ‘Depression’ in den Industriestaaten gab. Damals kletterten die Arbeitslosenquoten auf 24% in den USA, 17,5% in Deutschland und 15% in Großbritannien. Abgesehen von den USA kann man feststellen, daß die anderen Länder schon auf diese traurigen ‘Rekorde’ zusteuern. In einigen Ländern hat die Arbeitslosigkeit schon das Niveau der 30er Jahre übertroffen. Insbesondere in Spanien, in Schweden (dort gab es 1933 8%), in Italien (1933=7%), Frankreich (1936=5%, und diese Zahl ist vermutlich tiefgestapelt). (13)

Schließlich darf man sich durch den geringfügigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen im Jahre 1997 nicht täuschen lassen, auf den die Bourgeoisie heute verweist (und der in der Tabelle ersichtlich wird). Wie vorhin aufgezeigt, sagen die offiziellen Zahlen kaum etwas aus; dieser Rückgang, der zurückzuführen ist auf ‘den Wiederaufschwung’ der Weltproduktion während der letzten Jahre, wird sehr schnell wieder dahinschmelzen, sobald die Weltwirtschaft erneut in eine offene Rezession eingetreten sein wird wie 1974, 1978, Anfang der 80er und der 90er Jahre. Solch eine Rezession ist unvermeidlich, weil die kapitalistische Produktionsform völlig unfähig ist, die Ursache all der Erschütterungen, von denen sie während der letzten 30 Jahre erfaßt wurde, auszulöschen: die generalisierte Überproduktion, ihre historische Unfähigkeit, ausreichend Märkte für ihre Produkte zu finden. (14)

Der Freund Clintons, den wir vorhin zitierten, äußerst sich klar zu diesem Thema: „Der Wirtschaftsaufschwung ist vorübergehend. In den USA gibt es gegenwärtig eine sehr hohe Wachstumsrate, von der ein Großteil Europas Nutzen zieht. Aber die in Asien aufgetretenen Störungen sowie die wachsende Verschuldung der US-Verbraucher veranlassen uns zu glauben, daß die Vitalität dieser Phase des Zykluses nicht sehr lange dauern wird.“

Ohne natürlich zu wagen, bis zum logischen Ende der Argumentation zu kommen, hebt dieser ‘Spezialist’ genau die grundlegenden Eckpfeiler der gegenwärtigen Lage der Weltwirtschaft hervor:

- Der Kapitalismus konnte seinen ‘Aufschwung’ seit 30 Jahren nur fortsetzen, indem sich alle möglichen Käufer mehr und mehr astronomisch verschuldeten (vor allem die Haushalte und die Firmen, die unterentwickelten Länder während der 70er Jahre, die hochentwickelten Länder, allen voran die USA in den 80er Jahren, die ‘Schwellenländer’ Anfang der 90er Jahre...).

- Der Bankrott dieser Schwellenländer, der seit dem Sommer 1997 eingetreten ist, hat Auswirkungen weit über deren Grenzen hinaus. Er spiegelt den Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems wider, der dadurch wiederum verstärkt wird.

Die Massenarbeitslosigkeit, die direkt auf die Unfähigkeit des Kapitalismus zurückzuführen ist, die in ihm verwurzelten Widersprüche zu überwinden, wird weder verschwinden noch zurückgehen. Sie wird sich unerbittlich weiter erhöhen, egal welche Kunstgriffe die Bourgeoisie vollziehen wird, um sie zu übertünchen. Immer mehr Massen von Arbeitern werden auf die Straße fliegen und in die unerträglichste Armut stürzen.

Die Arbeiterklasse und die Frage der Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosigkeit ist eine Geißel für die gesamte Arbeiterklasse. Sie trifft nicht nur die Arbeiter, die jetzt ohne Arbeit dastehen, sondern alle Arbeiter sind von ihr betroffen. Einerseits führt sie zu einer radikalen Verarmung der Arbeiterfamilien - in einem immer größeren Ausmaß -, wo ein oder mehrere Familienmitglieder arbeitslos sind. Andererseits führt sie zu erhöhten Abgaben für die Arbeitslosenversicherung. Schließlich wird sie von den Kapitalisten dazu benutzt, die Arbeiter hinsichtlich des Lohns und der Arbeitsbedingungen zu erpressen. Während der letzten Jahre, seitdem die offene Krise dem illusorischen ‘Wohlstand’ des Kapitalismus ein Ende bereitet hat, hat die Bourgeoisie der höchst entwickelten Länder vor allem mittels der Arbeitslosigkeit die Arbeits- und Lebensbedingungen der Ausgebeuteten angegriffen. Sie wußte aufgrund der massiven Streiks,  die Europa und die Welt von 1968 an erschütterten genau,  daß offene Kürzungen des direkten Lohnes zu sehr gewalttätigen und massiven Reaktionen der Arbeiter führen würden. Deshalb hat sie ihre Angriffe auf den indirekten Lohn konzentriert, der vom ‘Wohlfahrtsstaat’ bezahlt wird, indem immer mehr alle Sozialleistungen gekürzt werden, insbesondere im Namen der ‘Solidarität mit den Arbeitslosen’, und die Lohnmasse ist stark gesenkt worden, indem Dutzende von Millionen Arbeiter auf die Straße gesetzt wurden.

Aber die Arbeitslosigkeit ist nicht nur die Speerspitze der Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus gegen die Ausgebeuteten. Sobald die Arbeitslosigkeit dauerhaft und massenhaft wird, die unwiderruflich gewaltige Arbeitermassen aus der Lohnarbeit rausschmeißt, stellt sie den offensten Beweis des endgültigen Bankrotts, der Sackgasse einer Produktionsform dar, dessen historische Aufgabe gerade darin bestanden hatte, überall auf der Erde eine wachsende Masse von Menschen zu Lohnabhängigen zu machen. Obwohl die Arbeitslosigkeit für Millionen von Menschen eine wirkliche Tragödie bedeutet, wo die wirtschaftliche Not noch durch die moralische Not erschwert wird, kann die Arbeitslosigkeit in einer Welt, wo die Arbeit das Hauptintegrationsmittel in die Gesellschaft und das Hauptmittel gesellschaftlicher Anerkennung darstellt, ein mächtiger Faktor der Bewußtwerdung der Arbeiterklasse über die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus werden. Auch wenn die Arbeitslosigkeit den Arbeitern die Möglichkeit vorenthält, Streiks als Kampfmittel einzusetzen, sind sie damit noch nicht zur Hilflosigkeit verdammt. Der Klassenkampf des Proletariats gegen die Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus bietet den Arbeitern das Hauptmittel, ihre Kräfte zusammenzuschweißen und ihr Bewußtsein über die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems zu entwickeln. Aber dieser Klassenkampf kann sehr wohl andere Kampfformen annehmen als Streiks. Die Straßendemonstrationen, wo Arbeiter zusammenkommen, ohne auf die Fabrikzugehörigkeit oder die Branchenspaltungen zu achten, sind eines der wichtigsten Instrumente, die auch in revolutionären Perioden umfassend eingesetzt wurden. Und bei diesen Demonstrationen können die Arbeitslosen ihren Platz einnehmen. Auch können die Arbeitslosen, wenn sie fähig sind, sich außerhalb der Kontrolle der bürgerlichen Überwachungs- und Kontrollorgane zu organisieren, auf der Straße zusammenkommen und ihre Kräfte mobilisieren, um Wohnungsräumungen und das Abschalten von Strom zu unterbinden, um Rathäuser zu besetzen oder andere öffentliche Plätze, um die Zahlung von Geldern zu erzwingen. Wie wir oft geschrieben haben, „wenn die Arbeitslosen die Fabrik verlieren, gewinnen sie die Straße“ (15),  und sie können einfacher die Branchenspaltungen überwinden, die die Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse insbesondere dank der Gewerkschaften aufrechthält. Hier geht es keineswegs um abstrakte Hypothesen, sondern um konkrete Erfahrungen der Arbeiterklasse, insbesondere während der 30er Jahre in den USA, wo zahlreiche Arbeitslosenkomitees außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften gebildet worden waren.

Obgleich sich die Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren massiv zugespitzt hat, ist es nirgendwo zur Bildung von bedeutenden Arbeitslosenkomitees gekommen (sondern nur zu einigen ansatzweisen Versuchen, die von den Gruppierungen der Extremen Linken schnell unterwandert und damit abgewürgt wurden), und noch weniger zu massiven Mobilisierungen von Arbeitslosen. Dabei waren dies Jahre, in denen sich wichtige Arbeiterkämpfe entfaltet hatten, die es immer mehr schafften, sich aus dem Würgegriff der Gewerkschaften zu lösen. Wenn es bislang im Gegensatz zu den 30er Jahren noch nicht zu wirklichen Mobilisierungen der Arbeitslosen gekommen ist, dann gibt es dafür mehrere Gründe.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit Beginn der 70er Jahre verlief eher stufenweise, anders als während der ‘großen Depression’. Damals gab es nach dem wilden Durcheinander in der Anfangsphase der Krise eine wahre Explosion der Arbeitslosigkeit (in den USA z.B. stieg die Arbeitslosenquote von 3% 1929 auf 24% 1932). Auch wenn in der gegenwärtigen zugespitzten Krise die Arbeitslosigkeit immer wieder hochschnellte (insbesondere Mitte der 80er Jahre und während der letzten Jahre), war die Bourgeoisie noch dazu in der Lage, den Rhythmus des Zusammenbruches der Wirtschaft zu verlangsamen und die Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu strecken, insbesondere bei der Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern mittlerweile gelernt, dem Problem der Arbeitslosigkeit viel geschickter entgegenzutreten als in der Vergangenheit. Indem z.B. ‘plötzliche’ Entlassungen vermieden werden und statt dessen ‘sozial abgefederte’ Sozialpläne zum Zuge kommen, wo viele Arbeiter eine Zeitlang zu Umschulungen geschickt werden, bevor sie dann doch auf der Straße landen, indem sie zeitlich begrenzte Zahlungen erhalten, die ihnen eine Zeitlang ermöglichen zu überleben, hat die herrschende Klasse in einem beträchtlichen Maße die Bombe der Arbeitslosigkeit entschärft. In den meisten Industriestaaten steht der Arbeiter meist erst nach 6 Monaten oder einem Jahr völlig ohne Arbeitslosengeld da. Nachdem er zuvor schon isoliert und atomisiert wurde, ist es dann viel schwerer, sich mit seinen Klassenbrüdern zusammenzuschließen, um gemeinsam zu handeln. Schließlich ist die Unfähigkeit dieses zahlenmäßig großen Teils der Arbeiterklasse, nämlich  der Arbeitslosen, sich zusammenzuschließen, auch durch die allgemeine Lage des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft begründet, der die Tendenz des „jeder für sich“ und die Verzweiflung fördert.

‘Einer der verschlimmernden Faktoren dieser Lage ist natürlich die Tatsache, daß ein bedeutender Teil der jungen Arbeitergenerationen voll von der Geißel der Arbeitslosigkeit getroffen wird, bevor sie überhaupt die Gelegenheit gehabt haben, am Arbeitsplatz Erfahrungen mit einem gemeinsamen Klassenleben gesammelt zu haben. Während die Arbeitslosigkeit als direktes Ergebnis der Wirtschaftskrise als solche kein Ausdruck des Zerfalls ist, führt sie dennoch in dieser besonderen Phase der Dekadenz zu besonders schwerwiegenden Auswirkungen des Zerfalls. Während die Arbeitslosigkeit im allgemeinen die Unfähigkeit des Kapitalismus aufzeigen kann, den Arbeitern überhaupt eine Zukunft anbieten zu können, stellt sie ebenfalls heute einen wichtigen Faktor der Lumpenisierung bestimmter Teile der Klasse dar, insbesondere unter den jungen Arbeitern, wodurch die gegenwärtigen und zukünftigen politischen Fähigkeiten der Klasse geschwächt werden. Dies spiegelt sich darin wider, daß es zwar ein stetes Ansteigen der Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren gab, aber gleichzeitig gab es keine bedeutenden Bewegungen oder wirkliche Organisationsversuche seitens der Arbeitslosen selber.’(16)

Aber die IKS ist nie davon ausgegangen, daß die Arbeitslosen sich nicht in den Kampf ihrer Klasse integrieren könnten. Wie wir schon 1993 schrieben: „Die massive Entwicklung von Arbeiterkämpfen wird als kraftvoller Gegenpol gegen die zerstörerischen Auswirkungen des Zerfalls auftreten, wodurch schrittweise durch die Klassensolidarität die Atomisierung, die Tendenz des ‘jeder für sich’ und all die Spaltungen überwunden werden können, unter denen das Proletariat zu leiden hat. Es ist näm­lich in Kategorien, in Indu­striebranchen, in Immigranten und "Einheimische", in Arbeitslose und Be­schäftigte, die noch eine Arbeit ha­ben, gespalten. Aufgrund des Ge­wichtes des Zerfalls haben die Ar­beitslosen während der letzten 10 Jahre im Gegensatz zu den 30er Jahren nicht in den Kampf treten können (wenn, dann nur sehr beschränkt), und sie werden auch keine den Soldaten in der Russischen Revolution von 1917 ver­gleichbare Rolle spielen, obwohl man das hätte glauben können. Aber die massive Entwicklung der  Arbeiter­kämpfe wird es ihnen ermöglichen, insbesondere bei den Straßendemos sich dem allgemeinen Kampf der Klasse anzuschließen. Dabei wird der Teil derjenigen, die schon eine Arbeit und damit Erfahrung in der asso­ziierten Arbeit und in Kämpfen ge­macht haben,  ansteigen. Allgemein kann man sagen, daß die Arbeitslosig­keit kein be­sonderes Problem der Ar­beitslosen ist, sondern ein Problem, vor dem die ganze Arbeiterklasse steht, weil die Arbeitslo­sigkeit ein tra­gischer und offensichtlicher Ausdruck des historischen Bankrotts des Kapita­lismus ist. Und gerade diese glei­chen Kämpfe werden es in der Zukunft er­möglichen, daß dieser Punkt immer mehr verstanden wird.“ (Internationale Revue Nr. 14, Resolution zur Internationalen Situation, Punkt 21). Und gerade weil die Bourgeoisie diese Bedrohung verstanden hat, unterstützt sie heute die Mobilisierungen der Arbeitslosen.

Die wahre Bedeutung der ‘Arbeitslosenbewegungen’

Um die Bedeutung der Ereignisse der letzten Monate zu verstehen, müssen wir einen wichtigen Faktor hervorheben: diese ‘Bewegungen’ waren keineswegs ein Ausdruck einer wirklichen Mobilisierung der Arbeiterklasse auf ihrem Klassenterrain. Als Beweis genügt es festzustellen, daß die bürgerlichen Medien diese Mobilisierungen ungeheuer stark ins Rampenlicht gerückt haben, wobei sie manchmal deren Ausmaß völlig übertrieben haben. Und das trifft nicht nur auf die Länder zu, wo es diese ‘Mobilisierungen’ gab, sondern auch auf internationaler Ebene. Seit Anfang der 80er Jahre, insbesondere als es im Herbst 1983 mit dem Streik im öffentlichen Dienst in Belgien zu einem Wiedererstarken der Klassenkämpfe kam, hat die Erfahrung gezeigt, wenn die Arbeiterklasse ihre Kämpfe auf ihrem Klassenterrain aufnimmt, und diese Kämpfe dann tatsächlich die Interessen der Bourgeoisie bedrohen, verhängt die herrschende Klasse ein vollständiges Black-out in den Medien. Wenn die Fernsehnachrichten lange und ausführlich über die Arbeitslosenproteste berichten, wenn das deutsche Fernsehen demonstrierende französische Arbeitslose zeigt, und das französische Fernsehen kurze Zeit später mit großem Aufwand über die deutschen Arbeitslosen berichtet, kann man sicher sein, daß der Bourgeoisie sehr daran gelegen ist, diesen Ereignissen einen möglichst großen Medienaufwand zu widmen. Tatsächlich gab es diesen Winter eine kleine ‘Wiederauflage’ der Ereignisse vom Winter 1995 in Frankreich, als es im Dezember 95 im öffentlichen Dienst Streiks gab, die seinerzeit auch überall in der Welt in den Medien groß herausgeputzt wurden. Damals ging es darum, international ein Manöver zu inszenieren, bei dem das Ansehen der Gewerkschaften aufpoliert werden sollte, bevor diese schließlich als ‘soziale Brandlöscher’ tätig werden, wenn sich nämlich wieder neue massive Klassenkämpfe entfalten würden. Der wahre Charakter dieser Manöver stellte sich schnell heraus, als die Gewerkschaften in Belgien die Streiks im Dezember 1995 in Frankreich nachahmen wollten und bewußt vom ‘französischen Beispiel’ sprachen. Einige Monate später wurde im Mai und Juni 1996 das Manöver dann in Deutschland neu aufgelegt, als die Gewerkschaftsführer offen dazu aufriefen, als sie die ‘größte Demonstration in der Nachkriegsgeschichte’ am 15. Juni 1996 vorbereiteten und dazu aufforderten, ‘machen wir es so wie in Frankreich’ (17). Auch diesmal wieder haben sich die Gewerkschaften und die Arbeitslosenverbände in Deutschland ausdrücklich auf das ‘französische Beispiel’ berufen, und am 6. Februar wurden dann auch am Arbeitslosenprotesttag an vielen Orten blau-weiß-rote Fahnen getragen.

Die Frage lautet deshalb nicht, ob die Arbeitslosenbewegung in Frankreich und Deutschland eine wirkliche Klassenmobilisierung zum Ausdruck bringt, sondern welches Ziel die Bourgeoisie damit verfolgt, wenn sie diese organisiert und so ‘populär’ macht.

Denn es ist die Bourgeoisie, die hinter der Organisierung dieser Bewegung steckt. Ein Beweis? In Frankreich ist einer der Hauptorganisatoren der Proteste die CGT, die Gewerkschaftszentrale, die von der ‘Kommunistischen’ Partei gesteuert wird, welche drei Minister in der Regierung hat, und die für die Verwaltung und Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals tätig ist. In Deutschland waren auch die traditionellen Gewerkschaften, deren Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeberlager offensichtlich ist, mit von der Partie. An deren Seite wirkten ‘radikalere’ Organisationen mit wie z.B. in Frankreich die Bewegung AC (Action contre le Chomage /Aktion gegen die Arbeitslosigkeit), die hauptsächlich von der Ligue Communiste Révolutionnaire (einer trotzkistischen Organisation) ferngesteuert wird und sich als eine Art ‘loyale’ Opposition gegenüber der sozialistischen Regierung versteht.

Was war also das Ziel der herrschenden Klasse bei der Förderung dieser Bewegung? Ging es darum, einer unmittelbaren Gefahr einer wirklichen Mobilisierung der Arbeitslosen zuvorzukommen? In Wirklichkeit verfolgte die Bourgeoisie ein doppeltes Ziel.

Einerseits ging es gegenüber den Beschäftigten, deren Unzufriedenheit in Anbetracht der immer heftiger werdenden Angriffe nur zunehmen kann, darum, für eine Ablenkung zu sorgen, um insbesondere bei ihnen ein Schuldgefühl für die Lage derjenigen hervorzurufen, die ‘nicht das Glück haben, eine Arbeit zu haben’. Im Falle Frankreichs war dieses Aufbauschen der Frage der Arbeitslosigkeit ein ausgezeichnetes Mittel, um das Interesse der Arbeiter an den Regierungsprojekten der Einführung der 35-Stunden-Woche zu verstärken (denn die Arbeiter lassen sich nicht dafür begeistern), von der behauptet wird, sie würde angeblich viele Arbeitsplätze schaffen (wodurch aber vor allem die Löhne blockiert und die Arbeitsintensität erhöht werden).

Andererseits ging es der Bourgeoisie darum, genauso wie sie es schon 1995 gemacht hatte, einer Situation zuvorzukommen, der sie in der Zukunft wird entgegentreten müssen. Auch wenn es heute keine Mobilisierungen und Kämpfe seitens der Arbeitslosen wie in den 30er Jahren gibt, heißt dies nicht, daß die Kampfbedingungen heute ungünstiger sind als damals. Im Gegenteil. All die Kampfbereitschaft, die die Arbeiter in den 30er Jahren (z.B. im Mai und Juni 1936 in Frankreich, im Juli 1936 in Spanien) zeigten, vermochte die erstickende Last der Konterrevolution nicht zu überwinden, die auf das Weltproletariat niedergegangen war. Diese Kampfbereitschaft war dazu verurteilt, auf das Terrain des Antifaschismus und der ‘Verteidigung der Demokratie’ abgelenkt zu werden, wodurch der imperialistische 2. Weltkrieg vorbereitet werden konnte. Heute dagegen hat das Proletariat die Konterrevolution (18) überwunden, und auch wenn es nach dem Zusammenbruch der angeblich ‘kommunistischen’ Regime einen ernsthaften politischen Rückschlag erlitten hat, hat die Bourgeoisie es nicht geschafft, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen, die den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen infragestellt.

Und dies weiß die herrschende Klasse sehr wohl. Sie weiß, daß sie auf neue Klassenkämpfe stoßen wird, die als Reaktion auf die immer brutaler werdenden Angriffe seitens des Kapitals gegen die Ausgebeuteten entstehen werden. Und sie weiß, daß diese zukünftigen Kämpfe, die von den Beschäftigten geführt werden werden, Gefahr laufen, immer mehr Arbeitslose in ihren Bannkreis zu ziehen und mit sich zu reißen. Aber bislang wird dieser Teil der Klasse erst sehr wenig von gewerkschaftlichen Organisationen kontrolliert. Die Bourgeoisie legt Wert darauf, dass diese Bereiche der Arbeiterklasse, wenn sie in den Kampf treten und sich dem Kampf der Beschäftigten anschließen, nicht den Kontrollorganen entweichen, die dazu da sind, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Kämpfe zu sabotieren: die Gewerkschaften aller Couleur, die radikalsten unter ihnen eingeschlossen. Insbesondere geht es darum, daß das gewaltige Potential der Kampfbereitschaft, das in den Arbeitslosen steckt, die wenigen Illusionen, die sie über den Kapitalismus haben (die sich im Augenblick in der Gestalt von Hoffnungslosigkeit äußert), ‘infizierend’ auf die Beschäftigten wirkt, wenn diese ihre Kämpfe entfalten. Mit den Mobilisierungen in diesem Winter hat die Bourgeoisie diese Politik des Ausbaus ihrer Kontrolle über die Arbeitslosen mittels der Gewerkschaften und der jetzt bekannt gewordenen ‘Dachverbände’ begonnen.

Auch wenn diese Mobilisierungen bürgerliche Manöver sind, sind diese dennoch ein zusätzlicher Beweis für die Tatsache, daß die herrschende Klasse selber sich nicht nur keine Illusionen über ihre Fähigkeit macht, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, geschweige denn die Krise zu überwinden, sondern daß sie immer heftigere Kämpfe seitens der Arbeiterklasse erwartet.       Fabienne  März 1998

(1) „Die überflüssigen Arbeitskräfte auf dem Lande schwanken zwischen 100 und 150 Millionen Menschen. In den Städten zählt man zwischen 30-40 Millionen Arbeitslose, ob zeitweilig oder ganz arbeitslos. Dabei sind natürlich die riesigen Massen Jugendlicher nicht mit gerechnet, die bald auf dem Arbeitsmarkt auftauchen werden.“ (Paradoxe Modernisierung Chinas, Le Monde Diplomatique, März 1997)

(2) Die Arbeitslosenstatistiken dieses Landes sind überhaupt nicht aussagekräftig. So betrug 1996 die offizielle Zahl 9.3%, während das BSP in Rußland zwischen 1986 und 1996 ungefähr um 45% gefallen ist. In Wirklichkeit halten sich zahlreiche Beschäftigte an den Arbeitsplätzen auf, ohne zu arbeiten (weil es keine Aufträge für die Betriebe gibt), gegen Bezahlung eines Hungerlohns (der im Vergleich zu den Arbeitslosenzahlungen der westlichen Staaten viel niedriger liegt), der sie zur Schwarzarbeit, zur Annahme einer zweiten Stelle, zwingt, um überleben zu können.

(3) Beschäftigungsperspektiven, Juli 1993

(4) Robert B. Reich, ‘Kann eine offene Wirtschaft den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten?’, Bilanz der Welt, Ausgabe 1998

(5) Unemployment and Non-employment, American Economic Review, Mai 1997

(6) ‘Die Beschäftigungslosen in den USA’, ‘Die Lage der Welt 1998’, Editions La Découverte, Paris,

(7) ‘International Comparisons of Unemployment Indicators’, Monthly Labor Review, Washington, März 1993

(8) Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Jahresbericht, Basel, Juni 1997

(9) Seumas Milne, „Wie London die Statistiken manipuliert“, Le Monde Diplomatique, Mai 97

(10) „Frankreich sollte sich durch das niederländische Wirtschaftsmodell inspirieren lassen“ (Jean-Claude Trichet, Gouverneur der Banque de France, zitiert in Le Monde Diplomatique, Sept. 97, „Die Beispiele Dänemarks und der Niederlande beweisen, daß es möglich ist, die Löhne zu reduzieren und relativ stabile Löhne zu behalten“ (Jahresbericht der Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Basel, Juni 97)

(11) ‘Ein Wunder oder Trugbild in den Niederlanden’, Le Monde Diplomatique, Juli 97

(12) ‘Die Niederlande 1995-96’, Wirtschaftsberichte der OECD, Paris 1996

(13) Quelle: Enzyklopädie Universalis, Artikel über ‘Die Wirtschaftskrisen’, und Maddison ‘Economic Growth in the West’, 1981

(14) siehe „Bericht zur Wirtschaftskrise für den 12. Kongreß der IKS“, in dieser Nummer der Imternationalen Revue.

(15) siehe insbesondere unsere Beilage: ‘Der Kapitalismus hat für die Arbeitslosigkeit keine Lösung’, Mai 1994 franz.

(16) „Der Zerfall - letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“, Internationale Revue Nr. 13

(17) siehe dazu unsere Artikel in der Revue Internationale Nr. 84, 85, 86 (frz., engl., span.)

(18) siehe dazu den Artikel zu Mai 1968 in der Revue Internationale Nr. 93 (frz., engl., span.

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [2]

Bericht über die Wirtschaftskrise für den 12. Kongreß der IKS

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Aktuelles und Laufendes: 

  • Soziale Foren [3]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [2]

Deutsche Revolution Teil V

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5. Von der Fraktionsarbeit zur Gründung der KPD

Im vorangegangenen Artikel dieser Serie haben wir gezeigt, wie angesichts des Verrats der Sozialdemokratie die Revolutionäre in Deutschland mit der Organisationsfrage umgegangen waren. Ihre Devise lautete, zunächst den Kampf und die Fraktionsarbeit innerhalb der alten Partei konsequent fortzusetzen und, als das nicht mehr möglich war, den Aufbau einer eigenen Partei vorzubereiten. Diese verantwortungsvolle Vorgehensweise gegenüber der SPD, die sich die Spartakisten zu Eigen gemacht hatten, veranlasste sie schließlich dazu, im Gegensatz zu den Bremer Linksradikalen, die die sofortige Gründung einer eigenen Partei forderten, mehrheitlich der zentristischen USPD beizutreten. In diesem Artikel werden wir uns mit der Gründung der KPD und den organisatorischen Schwierigkeiten dieser jungen Partei beschäftigen.

 

Die Linksradikalen und der gescheiterte Versuch einer Parteigründung

In einer Stellungnahme vom 5. Mai 1917 warfen die Bremer und Hamburger Linksradikalen den Spartakisten vor, ihre organisatorische Selbständigkeit mit dem Eintritt in den USPD aufgegeben zu haben; sie meinten, „die Zeit ist reif für die Gründung einer linksradikalen Organisation, der Internationalen Sozialistischen Partei Deutschlands.“

Bereits im Sommer trafen sie erste Vorkehrungen für die neue Parteigründung. Für Anfang August 1917 war eine Gründungskonferenz in Berlin geplant. 13 Delegierte kamen, fünf aus Berlin, die restlichen acht aus anderen Städten Deutschlands. Doch die Polizei war auf dem Posten, sie sprengte das Treffen! Es zeigte sich, dass der Wille allein nicht ausreichte, es bedurfte auch organisatorischer Fähigkeiten. „Es reicht eben nicht, das ‚reine Banner‘ aufzupflanzen, die Aufgabe jedoch ist, es zu den Massen zu tragen, um sie zu gewinnen“, stellte Rosa Luxemburg im Duisburger Kampf fest.

Am 2. September wurde ein zweiter Versuch unternommen. Diesmal erhielt die neue Organisation den Namen „Internationaler Sozialistischer Arbeiterbund“. Seine Statuten sahen vor, dass jeder Ortsverein Autonomie erhalten solle. Es wurde behauptet, die „Zweiteilung in politische und wirtschaftliche Organisationen sei geschichtlich überholt“ – ein weiteres Indiz für die große Heterogenität in der Organisationsfrage. Die Behauptung, die Bremer Linksradikalen seien in der Organisationsfrage am klarsten in der revolutionären Bewegung in Deutschland gewesen, entspricht daher nicht den Tatsachen.

Die Dresdner Linken um Otto Rühle begannen gar, organisationsfeindliche Ansätze zu entwickeln. Die Geburt des künftigen Rätekommunismus rückte immer näher. Aus seiner Abneigung gegen eine organisatorische Zusammenfassung machte das rätekommunistische Embryo keinen Hehl.

Während die Spartakisten auf immer mehr Aufmerksamkeit stießen, gelang es den Bremer Linken und dem ISD nie, über den kleinen Kreis von Eingeweihten hinaus zu gelangen. Auch wenn die Arbeit der Spartakisten in der USPD nach anderthalb Jahren nicht die erwarteten Früchte trug, so gab die Spartakusgruppe entgegen der Behauptung der ISD zumindest nicht ihre Unabhängigkeit auf. Bei ihren Interventionen in den Reihen der USPD ließen sich die Spartakisten keinen Maulkorb anlegen.

Ob in den Auseinandersetzungen über die deutsch-russischen Verhandlungen von Brest-Litowsk im Winter 1917 oder während der riesigen Streikwelle im Januar 1918, als ca. eine Million Arbeiter die Arbeit niederlegten und z.T. Arbeiterräte gründeten – immer standen die Spartakisten an vorderster Front.

Zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Imperialismus sich ein letztes Mal aufbäumte und noch mehr Kanonenfutter ins Feuer des schon verlorenen Krieges zu werfen beabsichtigte[1], baute die Spartakusgruppe ihr Organisationsnetz weiter aus. Sie veröffentlichte acht Publikationen in Auflagen von 25.000 bis 100.000 Exemplaren. Und dies zu einer Zeit, als nahezu die gesamte Führung der Spartakisten im Gefängnis saß[2].

Auch nachdem die Bremer Linksradikalen sich für die Gründung einer eigenständigen Partei entschieden hatten, blieb die Spartakusgruppe ihrer Linie treu und verfolgte weiterhin die Umgruppierung und Bündelung aller revolutionären Kräfte in Deutschland.

Am 7. Oktober 1918 lud Spartakus zu einer Reichskonferenz, an der auch Abgesandte mehrerer Ortsgruppen anderer linksradikaler Gruppen teilnahmen. Es wurde eine organisatorische Zusammenarbeit zwischen Spartakisten und anderen Linksradikalen beschlossen, ohne dass dies den Eintritt letzterer in die USPD zur Folge hatte. Jedoch wurde auf dieser Konferenz trotz der heraufziehenden revolutionären Entwicklung noch nicht entschieden genug die Notwendigkeit einer eigenen Partei hervorgehoben. Lenin hatte dies betont: „Das größte Unglück und die größte Gefahr für Europa bestehen darin, dass es dort keine revolutionäre Partei gibt (...) Gewiss, die revolutionäre Bewegung der Massen kann diesen Mangel beheben, er bleibt aber (...) eine große Gefahr.“

 

Die Intervention der Spartakisten in den revolutionären Kämpfen

Als die revolutionären Kämpfe im November 1918 ausbrachen, leisteten die Spartakisten eine heroische Arbeit. Auch inhaltlich waren ihre Interventionen in den Kämpfen auf der Höhe. Sie traten dafür ein, eine Brücke zur russischen Arbeiterklasse zu schlagen, entblößten, ohne zu zögern, die Manöver und Sabotage der Bourgeoisie und erkannten die Rolle der Arbeiterräte sowie die Notwendigkeit an, die Bewegung nach Beendigung des Krieges durch die Verstärkung des Drucks aus den Fabriken auf eine neue Stufe zu hieven. (Aus Platzgründen können wir hier nicht näher auf ihre Interventionen eingehen.)

Trotz ihrer inhaltlichen Stärke besaßen die Spartakisten während der Kämpfe aber noch nicht einen ausschlaggebenden Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse. Um der Rolle einer kommunistischen Partei jedoch gerecht zu werden, reicht es nicht aus, politisch korrekte Positionen innezuhaben, unabdingbar ist auch ein entsprechender Einfluss auf die Arbeiterklasse. Die Partei muss der Steuermann sein, der die Bewegung an den Untiefen vorbei sicher in den Hafen lotst.

Hatte der lose Zusammenschluss der Spartakusgruppe während des Krieges noch ausgereicht, um eine hervorragende Propagandaarbeit zu leisten, fehlte den Spartakisten bei Ausbruch der revolutionären Kämpfe jetzt ein verlässliches organisatorisches Netzwerk. Erschwerend kam hinzu, dass sie immer noch der USPD angehörten und damit für viele Arbeiter nicht unterscheidbar waren gegenüber den Zentristen. Die SPD schlug insofern Gewinn daraus, als dass sie mit noch mehr Überzeugungskraft von der „Einheit“ zwischen den Arbeiterparteien sprechen konnte.

Der organisatorische Ausbau der Spartakisten wurde erst nach dem Ausbruch der Kämpfe beschleunigt. Am 11. November wurde die Spartakusgruppe in „Spartakusbund“ umbenannt. Gleichzeitig wurde eine Zentrale aus zwölf Genossen gebildet.

Im Gegensatz zur SPD, die allein über ca. 100 Zeitungen verfügte und sich auf einen umfangreichen Funktionärsapparat stützen konnte, waren die Spartakisten bei Ausbruch der Kämpfe nicht einmal im Besitz einer Zeitung. In der entscheidenden Woche vom 11. bis zum 18. November standen die Spartakisten ohne eigene Presse da, denn die Rote Fahne konnte nicht erscheinen. Nachdem die Spartakisten eine bürgerliche Zeitung besetzt hatten, setzte die SPD alle Hebel in Bewegung, um ein Erscheinen der Roten Fahne zu verhindern. Erst nachdem eine andere Druckerei besetzt worden war, konnte die Rote Fahne wieder erscheinen.

Nachdem die Forderung der Spartakisten nach Einberufung eines Parteitages der USPD auf keine Mehrheit gestoßen war, beschlossen sie die Gründung einer eigenen Partei. Die Genossen der ISD, mittlerweile in IKD umbenannt, veranstalteten bereits am 24. Dezember eine Reichskonferenz in Berlin, an der Delegierte von der Küste, aus dem Rheinland, aus Sachsen, Bayern, Württemberg und Berlin teilnahmen. Radek drängte auf dieser Konferenz auf die Verschmelzung der IKD mit den Spartakisten. Zwischen dem 30. Dezember 1918 und dem 1. Januar 1919 wurde schließlich die KPD gegründet.

Die KPD war also das Ergebnis der Vereinigung von IKD und Spartakusbund.

 

Die Gründung der KPD

Als erster Punkt stand die Bilanz der Arbeit der Spartakisten in der USPD auf der Tagesordnung. Bereits am 29. November 1918 hatte Rosa Luxemburg die Schlussfolgerung gezogen, dass es „für eine Partei der Halbheit und Zweideutigkeit in der Revolution keinen Platz mehr“ gibt. Zentristische Parteien wie die USPD würden in revolutionären Zeiten auseinanderbrechen.

„Wir haben der USPD angehört, um aus der USPD herauszuschlagen, was herausgeschlagen werden konnte, um die wertvollen Elemente der USPD voranzutreiben, um sie zu radikalisieren, um auf diese Weise schließlich bei einem Zersetzungsprozess, bei weiterem Fortgang des Zersetzungsprozesses zu erreichen, dass möglichst starke revolutionäre Kräfte gewonnen werden könnten für die Zusammenfassung in einer geschlossenen, einheitlichen, revolutionären proletarischen Partei. (...) Das, was erreicht wurde, war außerordentlich gering (...) (Mittlerweile dient die USPD) als Feigenblatt für die Ebert-Scheidemann. Sie haben in den Massen das Gefühl für einen Unterschied zwischen der Politik der USPD und der Mehrheitssozialisten geradewegs verwirkt (...) Jetzt hat die Stunde geschlagen, in der alle proletarischen revolutionären Elemente der USPD den Rücken kehren müssen, um eine neue, selbständige Partei mit klarem Programm, festem Ziel, einheitlicher Taktik, höchster revolutionärer Entschlossenheit und Tatkraft zu schaffen, als ein starkes Instrument zur Durchführung der beginnenden sozialen Revolution.“ (Rosa Luxemburg, Protokoll des Gründungsparteitages, S. 84, 92)

Beseitigung der zentristischen Hürde, klarste Abgrenzung gegenüber dem Zentrismus, Zusammenschluss aller Revolutionäre in der KPD – das waren die Aufgaben des Tages.

Bei der Einschätzung des aktuellen Standes der revolutionären Kämpfe bewies Rosa Luxemburg in ihrem Referat über Unser Programm und die politische Situation den klarsten Überblick über die Lage. Sie sprach sich dagegen aus, überstürzt zu handeln und die Schwierigkeiten zu unterschätzen. Sie erkannte, dass man sich „mit voller Klarheit alle Schwierigkeiten und Komplikationen dieser Revolution vor Augen führen“ müsse. „Wenn ich es so schildere, nimmt sich der Prozess vielleicht etwas langwieriger aus, als man geneigt wäre, ihn sich im ersten Moment vorzustellen. (...) ich hoffe, wie auf mich, so wirkt auf keinem von Euch die Schilderung der großen Schwierigkeiten, der sich auftürmenden Aufgaben dahin, dass Ihr etwa in Eurem Eifer oder Eurer Energie erlahmt.“

Wie wichtig für sie die Rolle der Partei war, beweist folgende Aussage: „Die jetzige Revolution, die erst in ihrem Anfangsstadium steht, die gewaltige Perspektiven vor sich und weltgeschichtliche Probleme zu bewältigen hat, muss einen untrüglichen Kompass haben, der in jedem Teilstadium des Kampfes, in jedem Siege und in jeder Niederlage unbeirrbar nach demselben großen Ziele weist: nach der sozialistischen Weltrevolution, nach dem rücksichtslosen Machtkampf des Proletariats um die Befreiung der Menschheit vom Joch des Kapitals. Dieser richtungsweisende Kompass, dieser vorwärtstreibende Keil, der proletarisch-sozialistische Sauerteig der Revolution zu sein – das ist die spezifische Aufgabe des Spartakusbundes in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zweier Welten.“ (29. Dezember 1918)

„Wir müssen die Massen erst darin schulen, dass der Arbeiter- und Soldatenrat der Hebel der Staatsmaschinerie nach allen Richtungen sein soll, dass er jede Gewalt übernehmen muss und sie alle in dasselbe Fahrwasser der sozialistischen Umwälzung leiten muss. Davon sind auch noch diejenigen Arbeiter, die schon in den Arbeiter- und Soldatenräten organisiert sind, meilenwert entfernt, ausgenommen natürlich einzelne kleine Minderheiten von Proletariern, die sich ihrer Aufgabe klar bewusst sind.“ (Rosa Luxemburg, Unser Programm und die politische Situation, Ges. Werke Bd. 4, S. 511)

Lenin betrachtete das Programm der Spartakisten (Was will der Spartakusbund?), das er Ende Dezember erhielt, als Eckpfeiler bei der Gründung der Kommunistischen Internationale. „Dazu muss man die Grundsätze für eine Plattform formulieren (ich denke, man kann a) die Theorie und Praxis des Bolschewismus nehmen (...) ferner b) ‚Was will der Spartakusbund?‘ nehmen). Aus a + b gehen die Grundsätze für eine Plattform klar genug hervor.“ (Lenin, Briefe, Ges. Werke Bd. 5, S. 221, Dezember 1918)

 

Die Organisationsfrage auf dem Parteitag

Die Zusammensetzung dieses Parteitages – aus 46 Orten kamen 83 Delegierte zusammen, die zu einem Großteil über kein richtiges Mandat verfügten – spiegelte die ganze Unreife der Organisation wider. Der Kampf gegen den Krieg hatte die verschiedensten Kräfte in eine gemeinsame Front geworfen. Neben dem alten Stamm von revolutionären Parteiarbeitern, die bereits vor dem Krieg der linksradikalen Opposition um Rosa Luxemburg angehört hatten, saßen jetzt junge Arbeiter, die erst im Verlaufe des Krieges zu Trägern der revolutionären Propaganda und Aktion geworden waren und demzufolge noch wenig politische Erfahrung besaßen, Soldaten, die durch die Erbitterung über die Leiden und Entbehrungen des Krieges angestachelt waren, Pazifisten, die wacker gegen den Krieg gekämpft hatten, durch ihre Verfolgung nach links getrieben worden waren und die nun in der radikalen Arbeiterbewegung ein fruchtbares Feld für ihre Ideen erblickten, Künstler und Intellektuelle, die vom Sog der Revolution erfasst worden waren – kurzum: Elemente, wie sie in jeder Revolution in die Bewegung gespült werden. Hinzu kam, dass die Repression viele revolutionäre Führer eingekerkert hatte, dass viele erfahrene Parteimitglieder ihr Leben an der Front gelassen hatten und durch junge, radikalisierte Elemente ersetzt worden waren, die über wenig Organisationserfahrung besaßen. Wie man sieht, liefert der Krieg selbst nicht notwendigerweise die besten Bedingungen für den Aufbau einer revolutionären Partei.

Schnell kristallisierten sich auf dem Parteitag in der Organisationsfrage ein von Luxemburg und Jogiches angeführter marxistischer Flügel, ein organisationsfeindlicher Flügel, der später in die rätekommunistische Strömung münden sollte, und ein aktionistischer, in Organisationsfragen schwankender Flügel um Karl Liebknecht heraus. Der Kongress zeigte die große Kluft in der programmatischen Klarheit, in den Auffassungen über die Grundsatzpositionen, wie sie Rosa Luxemburg in Unser Programm umrissen hatte, und in den Auffassungen zur Organisationsfrage auf.

 

Die Schwächen in der  Organisationsfrage

Zunächst nahm die Diskussion über die Organisationsfrage auf dem Gründungsparteitag einen zeitlich nur begrenzten Raum ein; zudem waren einige Delegierte schon abgereist. Der Bericht Eberleins auf dem Parteitag bot ein Spiegelbild der Schwächen der KPD in dieser Frage. Zunächst zog Eberlein als Berichterstatter eine Bilanz der bisherigen Arbeit der Revolutionäre.

„Die alten Organisationen waren schon ihrem Namen und ihrer Tätigkeit nach Wahlvereine. Die neue Organisation soll nicht ein Wahlverein, sondern eine politische Kampforganisation werden. (...) Die sozialdemokratischen Organisationen waren Wahlvereine. Ihre ganze Organisation beruhte darauf, die Vorarbeiten und die Agitation zu den Wahlen einzuleiten und durchzuführen, und es war faktisch so, dass ein bisschen Leben in den Organisationen auch nur dann vorhanden war, wenn man vor Wahlen oder mitten in den Wahlen stand. Die übrige Zeit war es in den Organisationen öde und ausgestorben.“ (aus dem Bericht Eberleins zur Organisationsfrage, S. 260)

Diese Beurteilung der Vorkriegs-SPD gibt das Absterben jeglichen Lebens in den sozialdemokratischen Organisationen infolge der Versumpfung durch den Reformismus trefflich wieder. Die ausschließliche Orientierung auf die Parlamentswahlen erstickte jegliches Leben in den Ortsvereinen. Durch diese Fixierung auf die parlamentarische Tätigkeit (parlamentarischer Kretinismus) sowie die damit einhergehende Bindung an die bürgerliche Demokratie konnte die gefährliche Illusion entstehen, Hauptachse des Kampfes der Partei sei die parlamentarische Tätigkeit. Erst der Verrat der SPD-Reichstagsfraktion zu Kriegsbeginn bewirkte ein Aufbäumen in etlichen Ortsvereinen.

Doch während des Krieges „mussten wir jahrelang eine illegale Tätigkeit ausüben, so dass aufgrund dieser illegalen Tätigkeit eine feste Organisationsform nicht möglich war“.

In der Tat war Liebknecht vom Sommer 1915 bis zum Oktober 1916 entweder von der Armee eingezogen oder saß im Gefängnis, wodurch ihm die „freie Meinungsäußerung“ und der Kontakt zu den anderen Genossen untersagt werden sollte. Rosa Luxemburg war drei Jahre und vier Monate eingekerkert, Leo Jogiches ab 1918; die Mehrzahl der Mitglieder der im Jahre 1916 gebildeten Zentrale befand sich ab 1917 hinter Gittern. Insbesondere kurz vor Ausbruch der entscheidenden Kämpfe 1918 war ein Großteil der führenden Genossen immer noch im Gefängnis. Zwar konnte Spartakus damit nicht zum Schweigen gebracht werden, doch dem organisatorischen Aufbau der Partei wurde ein schwerer Schlag zugefügt, indem einer organisatorisch noch nicht ausgereiften Bewegung die Führung genommen wurde.

Doch auch wenn die objektiven Bedingungen – Illegalität und Repression – den Aufbau eines Organisationsnetzes immens erschwerten, darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass vielerorts die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Organisation unterschätzt wurde. Eberlein meinte:

„Sie alle wissen, dass wir in unserem Optimismus der Auffassung sind, dass die kommenden Wochen und Monate uns Dinge bringen werden, die alle diese Diskussionen überflüssig machen können. Deshalb will ich bei der vorgeschrittenen Zeit, die uns heute zur Verfügung steht, Sie nicht weiter aufhalten. (...) wir stehen jetzt mitten drin im politischen Kampf, da ist zu Paragraphenfuchserei (gemeint ist die Diskussion über die Statuten, die Red.) keine Zeit (...) wir dürfen und sollen in diesen Tagen unser Hauptgewicht nicht auf die kleinen Dinge der Organisation legen. Wir wollen, soweit es möglich ist, in den nächsten Wochen und Monaten Ihnen in den Orten das alles selbst überlassen (...) (wenn wir mehr und überzeugte Mitglieder haben), die für die kommenden Tage der Aktion bereit sind, die ihre ganzen Gedanken auf die Aktion der nächsten Zeit lenken. Dann werden wir über die kleinen Schwierigkeiten der Organisierung und der Organisationsform leicht hinwegkommen.“ (S. 272)

Natürlich ist in der Stunde revolutionärer Entscheidungen Klarheit und Einheit in den revolutionären Aufgaben geboten, alles eilt und drängt, der Faktor Zeit spielt eine ausschlaggebende Rolle. Es liegt also auf der Hand, dass die Klärung der Organisationsfragen vor Ausbruch der revolutionären Kämpfe wünschenswert und notwendig gewesen wäre. Angesichts der Beschleunigung der revolutionären Entwicklung, die ein Großteil der Delegierten für die nächsten Wochen erwartete, verbreitete sich jedoch in jenem Flügel, der der Partei misstrauisch gegenüber eingestellt war, die Auffassung, die Partei werde durch die Entwicklung der Dinge von allein überflüssig gemacht werden.

Die Aussagen Eberleins bringen nicht nur die Ungeduld, sondern auch eine dramatische Unterschätzung der Organisationsfrage zum Ausdruck. „Wir hatten in diesen vier Jahren keine Zeit, um uns zu überlegen, wie wir uns organisieren wollten. Wir wurden in diesen vier Jahren einfach von Tag zu Tag vor Tatsachen gestellt und mussten aufgrund der feststehenden Tatsachen entscheiden, ohne zu fragen, ob dabei ein Organisationsstatut geschaffen werden kann.“ (S. 264)

Zwar trifft es zu, dass die Spartakisten, wie Lenin meinte, „unter den schwierigen Umständen eine systematische revolutionäre Propaganda“ betrieben, aber es ist dennoch unübersehbar, dass sie den Fehler begingen, ihre Organisation in der Klassenintervention zu verausgaben. So mutig und glasklar die revolutionäre Propaganda der Spartakisten war, ihre ausschließliche Fixierung auf die Interventionen führte letztendlich zu einer Lähmung der inneren Aktivitäten der Organisation selbst.

Die Revolutionäre können in einer solch dramatischen Situation wie die des Krieges noch so entschlossen und heldenhaft intervenieren – wenn im Moment des Ausbruchs von Arbeiterkämpfen kein festes organisatorisches Gefüge existiert, wenn dem Proletariat keine schlagkräftige Kampforganisation zur Seite steht, dann können sich all die Jahre aufopfernder Interventionen als unzureichend erweisen. Der Aufbau eines Organisationsnetzes, die Klärung der Funktion der Organisation, die Ausarbeitung von organisatorischen Regeln (Statuten) sind unerlässliche Bausteine für die Errichtung, das Funktionieren und die Intervention einer Organisation. Diese Aufbauarbeit darf durch die Klasseninterventionen nicht behindert werden. Eine Intervention in der Klasse wird nur dann Früchte tragen, wenn sie nicht auf Kosten des Aufbaus der Organisation geht. Der Aufbau und die Verteidigung der Organisation ist eine ständige Pflicht der Revolutionäre, ob in Zeiten der Grabesruhe an der Klassenfront oder in einer Epoche heranflutender Wellen des Klassenkampfes.

Darüber hinaus gab es einen Flügel in der KPD, der angesichts seiner Erfahrungen mit der SPD wie ein gebranntes Kind auf den Zentralismus reagierte. Es trifft zu, dass innerhalb des Parteikörpers ein ungeheurer bürokratischer Apparat entstanden war, der, von der Parteiführung eingesetzt, die Initiativen an der Basis immer mehr behindert hat. Aus Furcht vor der Erstickung des Organisationslebens durch eine neue Zentrale machte sich nun ein Teil der KPD zum Fürsprecher des Föderalismus. Auch Eberlein stimmte in diesen Chor mit ein: „Es wäre notwendig, dass bei dieser Organisationsform den einzelnen Orten von Seiten der Gesamtorganisation die weitmöglichste Freiheit gelassen wird, dass nicht von oben herunter schematisch verordnet wird (...) Wir sind weiter der Meinung, dass das alte System der Unterordnung der einzelnen Orte unter die Zentrale aufhören muss, dass die einzelnen örtlichen Organisationen, die einzelnen Betriebsorganisationen eine völlige Autonomie haben müssen. Sie müssen selbständig sein in ihrer Tätigkeit, (...) sie müssen die Möglichkeit haben, selbst in die Aktion einzutreten, ohne dass die Zentrale immer das Recht hat zu sagen: ‚Das dürft Ihr tun, oder das dürft Ihr nicht tun.‘.“ (S. 269)

Diese Politik des Zentralismus-feindlichen Flügels der jungen KPD und der späteren rätekommunistischen Strömung war nichts anderes als ein Rückschritt in der Organisationsgeschichte der revolutionären Bewegung. Dies kam auch in der Frage der Presse zum Ausdruck. „Wir sind weiter der Meinung, dass die Frage der Presse nicht zentral geregelt werden kann, dass die örtlichen Organisationen überall die Möglichkeit haben müssen, ihre eigene Zeitung zu gründen (...) Einige Genossen haben (die Zentrale) angegriffen und uns gesagt: Ihr gebt eine Zeitung heraus, was sollen wir damit machen, wir können sie nicht gebrauchen, wir geben selbst eine Zeitung heraus.“ (S. 263)

Aus den Ausführungen Eberleins geht hervor,  wie stark die Heterogenität der frisch gegründeten KPD in der Organisationsfrage war.

 

Der marxistische Flügel zur Organisationsfrage – eine Minderheit

Als entschieden marxistischer Flügel trat auf dem Gründungskongress hauptsächlich die Gruppe um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches auf; sie blieb jedoch in der Minderheit. Als direkter Gegenpol wirkte der organisationsfeindliche Flügel, die Rätekommunisten, die die Rolle der politischen Organisation grundsätzlich unterschätzten und in ihrem Misstrauen gegenüber der Organisation vor allem die Zentralisierung ablehnten und auf die Selbständigkeit der örtlichen Sektionen drängten. Rühle war ihr prominentester Vertreter[3]. Ein weiterer, jedoch mit keiner klaren Alternative auftretender Flügel war der um Karl Liebknecht. Dieser Flügel zeichnete sich durch seine beispiellose Kampfbereitschaft aus. Doch um als Partei zu wirken, reichte der Wille zur Intervention allein nicht aus; es bedurfte auch der programmatischen Klarheit und eines festen Organisationskörpers. Liebknechts Flügel richtete seine Aktivitäten nahezu ausschließlich auf die Klassenintervention aus. Am deutlichsten wurde dies, als Liebknecht am 23. Oktober 1918 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ca. 20.000 Arbeiter warteten am Anhalter Bahnhof auf seine Ankunft.  Seine erste Tat war, vor die Fabriktore zu gehen und unter den Arbeitern zu agitieren. Dabei war im Oktober 1918, als es in der Klasse ohnehin brodelte, nicht die Intervention die dringlichste Aufgabe der Revolutionäre, sondern die Auferbietung aller Kräfte für den Aufbau der Partei, zumal die Spartakisten erst eine lose Organisation ohne feste Strukturen waren. Liebknechts Haltung in der Organisationsfrage unterschied sich stark von Lenins Position. Nachdem letzterer im April 1917 im Petrograder Bahnhof eingetroffen und triumphal empfangen worden war, verkündete er flugs seine Aprilthesen und tat alles, um die bolschewistische Partei auf einem Sonderparteitag aus ihrer Krise herauszuhelfen und ihr ein klares Programm zu verleihen. Liebknechts Hauptsorge galt dagegen nicht so sehr der Organisation und ihrem Aufbau. Ja, er schien eine Organisationsauffassung zu haben, in deren Mittelpunkt die Idee stand, dass ein revolutionärer Militanter ein Held, ein herausragendes Individuum sein müsse, und die völlig übersah, dass eine proletarische Kampforganisation vor allem von ihrer kollektiven Stärke lebt. Dass er später dann zu Aktionen auf eigene Faust neigte, war nur die logische Konsequenz aus seiner fehlerhaften Organisationsauffassung. Rosa Luxemburg beklagte später denn auch oft, dass „Karl ständig unterwegs war, von einer Rede zu den Arbeitern zur anderen eilte, er kam oft nur zu den Redaktionssitzungen der ‚Roten Fahne‘, sonst war es schwer, ihn zu einer Sitzung der Organisation aufzutreiben.“ Er verstand nicht, dass seine größte Effektivität, sein größter Beitrag in der Festigung der Organisation bestand.

 

Die Sünden der Vergangenheit

Die SPD war bereits seit Jahren von der parlamentarischen Arbeit zernagt worden. Die Dominanz der parlamentarisch-reformistischen Tätigkeit hatte der illusorischen Auffassung Auftrieb verliehen, die Teilnahme an der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie sei die Hauptwaffe des proletarischen Klassenkampfes, und hatte völlig den Blick dafür verstellt, dass der Parlamentarismus allenfalls vorübergehend ein Instrument zur Ausnutzung der Widersprüche zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals war und dass er nur vorübergehend die Möglichkeit bot, dem Kapital Konzessionen abzuringen. Durch den Parlamentarismus „verwöhnt“, neigte man dazu, die Stärke der SPD an ihrem Stimmenanteil im Reichstag zu messen. Hier unterschieden sich die Bolschewiki und der linke Flügel in Deutschland grundsätzlich voneinander. Aufgrund ihrer Kampferfahrungen von 1905 und angesichts der Repressionen und den Bedingungen der Illegalität, die es ihnen nur gestattete, eine weitaus kleinere Anzahl von Abgeordneten in die Duma zu entsenden, sahen die Bolschewiki den Schwerpunkt ihrer Tätigkeiten keineswegs im parlamentarisch-gewerkschaftlichen Kampf. Während die SPD eine vom Opportunismus zerfressene Massenpartei geworden war, waren die Bolschewiki eine relativ kleine, schlagkräftige Partei geblieben, die dem Opportunismus trotz der Krisen, die auch sie durchlitten hatte, besser widerstand. Es ist kein Zufall, dass der marxistische Flügel in der SPD, mit Rosa Luxemburg und Leo Jogiches an der Spitze, aus der polnisch-litauischen SDKPL hervorgegangen war, d.h. aus einem Teil der revolutionären Bewegung, der seine Erfahrungen in den Kämpfen von 1905 gesammelt hatte und nicht im parlamentarischen Sumpf abgeglitten war.

 

Der Parteiaufbau kann nur international erfolgen

Schließlich brachte der Kongress noch eine weitere Schwäche der revolutionären Bewegung zum Ausdruck. Während die deutsche Bourgeoisie sofort  Schützenhilfe von der Bourgeoisie auch jener Länder erhielt, die sie noch im Krieg bekämpft hatte, während das Kapital in seinem Kampf gegen die revolutionäre Arbeiterklasse also international vereinigt vorging (im Bürgerkrieg gegen die Arbeitermacht in Russland schlossen sich  weiße Armeen aus 21 Ländern zusammen), hinkten die Revolutionäre bei ihrem organisatorischen Zusammenschluss noch weit hinterher. Zum einen ist dies auf Rudimente alter Auffassungen aus der Zeit der II. Internationale zurückzuführen. Die Parteien der II.Internationale waren föderalistisch aufgebaut. Es war die föderalistische Auffassung, wonach „jeder für sich“ in der Organisation wirken sollte, welche die Revolutionäre davon abgehalten hatte, die Organisationsfrage international und zentralistisch zu stellen. Der linke Flügel in den Parteien der II. Internationale hatte daher noch getrennt voneinander gekämpft.

„Diese Fraktionsarbeit Lenins fand nur innerhalb der russischen Partei statt, ohne zu versuchen, diese auf internationale Ebene auszudehnen. Man muss nur seine verschiedenen Interventionen auf den verschiedenen Kongressen lesen, um sich davon zu überzeugen, und man kann sehen, dass diese Arbeit außerhalb der russischen Kreise vollkommen unbekannt blieb.“ („Das Problem der Fraktion in der III.Internationalen“, Bilan, Nr. 24, 1935)

So war Radek der einzige ausländische Delegierte, der auf dem Gründungskongress der KPD anwesend. Dabei hatte er nur mit viel Glück und Geschick durch die Maschen der Grenzkontrollen schlüpfen können, die die SPD-geführte Regierung errichtet hatte. Wieviel anders hätte der Kongress ausgesehen, wenn nicht nur Radek, sondern auch prominentere Führer der revolutionären Bewegung wie Lenin oder Trotzki, und andere bekannte Führer wie Bordiga aus Italien oder Pannekoek und Gorter aus Holland beteiligt gewesen wären.

Wir können heute die Lehre daraus ziehen, dass es keinen Parteiaufbau in einem Land geben kann, wenn nicht gleichzeitig die Revolutionäre international und zentralisiert die gleiche Aufgabe angehen.

Die Parallele zur Revolution insgesamt ist offensichtlich: Auch der Kommunismus kann nicht isoliert in einem Land durchgesetzt werden. Die Konsequenzen für heute liegen auf der Hand: Der Aufbau einer kommunistischen Partei kann nur international erfolgen.

Mit der KPD war dagegen eine Partei entstanden, die in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen und programmatisch gespalten war, in der der marxistische Flügel in der Minderheit und das Misstrauen gegen die Organisation im allgemeinen und gegen die Zentralisierung im besonderen unter vielen Delegierten bereits verbreitet war und die noch nicht genügend Ausstrahlung und Einfluss besaß, um der Bewegung ihren Stempel aufzudrücken.

Die Erfahrung der KPD lehrt, dass die Partei auf ein festes organisatorisches Gerüst aufgebaut werden muss. Die Ausarbeitung organisatorischer Prinzipien, das Einhauchen einer Parteiseele kann nicht per Proklamation, auf Anordnung erfolgen, sondern ist das Ergebnis einer langjährigen Ausübung und Praktizierung dieser Prinzipien. Der Aufbau einer Organisation braucht lange Zeit und viel Ausdauer. Es liegt auf der Hand, dass die Revolutionäre von heute die Lehren aus den Schwächen der deutschen Revolutionäre ziehen müssen.

 

                                                        Dv.



[1] Von März bis November 1918 verzeichnete Deutschland  ca. 200.000 Tote, 860.000 Verwundete und 450.000 Vermisste und Gefangene allein an der Westfront.

[2] Nach der Verhaftung von Liebknecht im Sommer 1916 fand am 4. Juni 1916 eine Besprechung des linken sozialdemokratischen Flügels statt.  Um die durch die Repression abgerissene Verbindung zwischen den revolutionären Gruppen wiederherzustellen, wurde ein fünfköpfiger Aktionsausschuss (dem u.a. Duncker, Meyer und Mehring angehörten) gebildet. Otto Rühle wurde zum Vorsitzenden bestimmt. Wie stark die Spartakisten durch die Repression in Bedrängnis geraten waren,  wird dadurch ersichtlich, dass einem der Zentralisierung und der marxistischen Organisationsauffassung  ablehnend gegenüberstehenden Genosse wie Otto Rühle der Vorsitz anvertraut wurde.

[3] Borchardt hatte schon 1917 verkündet: „Worauf es uns ankommt, ist die Beseitigung jeglichen Führertums in der Arbeiterbewegung. Was wir brauchen, um zum Sozialismus zu gelangen, ist reine Demokratie unter den Genossen, d.h. Gleichberechtigung und Selbständigkeit, Wille und Kraft zur eigenen Tat bei jedem Einzelnen. Nicht Führer dürfen wir haben, sondern nur ausführende Organe, die, anstatt ihren Willen den Genossen aufzuzwingen, umgekehrt nur als deren Beauftragte handeln.“ ((Arbeiterpolitik, 1917, Nr. 10)

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [4]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [5]

Die Verantwortung der Revolutionäre angesichts der Degeneration der Internationalen

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Wenn es einen Kampf gibt, den marxistische Revolutionäre, die dieses Namens würdig sind, selbst unter den schwierigsten Bedingungen stets bis zum bitteren Ende ausgefochten haben, dann den um die Bewahrung ihrer Organisation - ob Partei oder Internationale - vor dem Griff des Opportunismus und um die Verhütung ihres Sturzes in die Degeneration oder, schlimmer noch, in den Verrat.

Der lange Kampf der Linken in der Kommunistischen Internationale

Die Krise in der kommunistischen Bewegung kam 1923 offen ans Tageslicht. Einige Ereignisse zeigen dies: nach dem Dritten Kongreß der KI, der das wachsende Gewicht des Opportunismus enthüllte, und nachdem die Repression in Rußland auf Kronstadt ausgeübt wurde, während sich besonders in Petrograd und Moskau Streiks entwickelten. Zur gleichen Zeit wurde die Arbeiteropposition innerhalb der russischen Kommunistischen Partei geschaffen.

Trotzki faßte das allgemeine Gefühl zusammen, als er erklärte, daß ''der Hauptgrund der Krise der Russischen Revolution in der Verspätung der Weltrevolution liegt'' (7). Und tatsächlich wog die Verzögerung der Weltrevolution schwer auf der gesamten Arbeiterbewegung. Letztere war auch durch die staatskapitalistischen Maßnahmen unter der NEP (Neue Ökonomische Politik) desorientiert. Die letzten Niederlagen, die das Proletariat in Deutschland erlitten hatte, machten zudem noch jede Hoffnung auf eine Ausweitung der Revolution in Europa zunichte. Revolutionäre, unter ihnen Lenin (8), begannen, am Erfolg zu zweifeln. 1923 wurde die Russische Revolution von einem Kapitalismus stranguliert, der den Planeten beherrschte. Unter dieser Voraussetzung war die Lage der UdSSR katastrophal, und das Problem, das sich der Führung stellte, war, ob die NEP in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten oder durch Hilfen an die Industrie korrigiert werden soll.

Der Beginn von Trotzkis Kampf

Trotzki begann seinen Kampf (9) innerhalb des KPdSU-Politbüros, wo eine Mehrheit den Status quo aufrechterhalten wollte. Er versagte seine Zustimmung in der Frage der ökonomischen Situation in Rußland und der inneren Organisation der KPdSU. Über die Meinungsverschiedenheit innerhalb des Politbüros wurde kein Wort verlautbart, um den Bruch der Parteieinheit zu vermeiden. Sie wurde erst im Herbst 1923 öffentlich gemacht, in Trotzkis Buch "Der neue Kurs" (10).

Auch andere Ausdrücke der Opposition kamen zutage:

 

- ein Brief vom 15. Oktober 1923, adressiert an das Politbüro und von 46 wohlbekannten Persönlichkeiten unterzeichnet, einschließlich linker und oppositioneller Kommunisten (Pjatakow und Preobrashenski, aber auch Ossinski, Sapronow, Smirnow etc.). Sie riefen zur Einberufung einer Sonderkonferenz auf, die erforderliche Maßnahmen ergreifen soll, ohne auf den Kongreß zu warten;

- die Schaffung der Gruppe Demokratischer Zentralismus durch Sapronow, Smirnow und andere;

- die Reaktivierung der Arbeiteropposition mit Schljapnikow;

- die Bildung der Arbeitergruppe von Miasnikow, Kusnezow und anderen (siehe das ''Manifeste du groupe ouvrier du PCUS'', Februar 1923, veröffentlicht in Invariance, Nr. 6 1975).

Zur gleichen Zeit übte Bordiga aus dem Gefängnis heraus, in seinem ''Manifest an alle Genossen der KPI'', seine erste ernsthafte Kritik an der KI, insbesondere hinsichtlich der Frage der ''Einheitsfront''. Aufgrund dieser Ablehnung bat er darum, von all seinen Funktionen als ein Führer der Italienischen Kommunistischen Partei (KPI) entbunden zu werden, damit er nicht Positionen vertreten müsse, denen er nicht zustimme (11).

Wie Trotzki war auch Bordiga in seinem Verhalten behutsam, stets darauf bedacht, einen noch wirksameren politischen Kampf zu entwickeln. Zwei Jahre später erklärte er den Schlüssel zu dieser Methode in einem Brief an Korsch (26. Oktober 1926): ''Sinowjew und Trotzki sind Männer mit einem Sinn für die Realität; sie haben verstanden, daß wir immer noch Schläge einstecken müssen, ohne in die Offensive gehen zu können.'' So handeln Revolutionäre: mit Geduld. Sie sind imstande, einen langen Kampf zu führen, um ihr Ziel zu erreichen. Sie lernen, Schläge einzustecken, vorsichtig voranzuschreiten und vor allem sich die Lehren für die künftigen Kämpfe der Arbeiterklasse zu erarbeiten.

Dieses Verhalten ist meilenweit entfernt von jenem der ''Feiertagsrevolutionäre'', die gierig nach dem unmittelbaren Erfolg sind, oder jenem unserer ''Schreibtischrevolutionäre'', die nur daran interessiert sind, ''ihre eigenen Seelen zu retten'', wie ein gewisser RV, der vor seiner Verantwortung davongerannt ist und sich gleichzeitig darüber beschwert, daß die IKS während der letzten Debatten, an denen er teilnahm, ihn einem Los ausgeliefert habe, das schlimmer sei, als was Stalin der Linksopposition angetan hatte! Ganz abgesehen von ihrem verleumderischen Charakter wäre eine solche Beschuldigung lachhaft, ginge es nicht um eine ernste Sache. Und niemand, der etwas über die Linksopposition und ihr tragisches Ende weiß, wird solch einem Märchen auch nur einen Augenblick lang glauben.

 

Die Krise von 1925/26

Die Periode, die dem Fünften Kongreß der KI folgte, war charakterisiert durch:

- die fortgesetzte ''Bolschewisierung'' der KPs und den ''Ruck nach rechts'' der KI, wie es genannt wurde. Das Ziel von Stalin und seiner Gefolgsleute war es, insbesondere die Führung der französischen und deutschen Parteien zu eliminieren, mit anderen Worten, jene von Treint und Ruth Fischer, welche Sinowjews Speerspitze auf dem 5. Kongreß waren und die nicht bereit waren, den Schwenk nach rechts mitzumachen;

- die ''Stabilisierung'' des Kapitalismus, was für die Führung der KI bedeutete, daß eine ''Anpassung'' notwendig sei. Der Bericht über die politischen Aktivitäten des Zentralkomitees an den 14. Kongreß der KPdSU (Dezember 1925) stellt fest: ''Was wir seinerzeit als eine kurze Pause ansahen, hat sich in eine ganze Periode verwandelt.''

Abgesehen von den Debatten des Kongresses war das wichtigste Ereignis für die Arbeiterbewegung die Auflösung des Triumvirats von Stalin, Sinowjew und Kamenew Ende 1925, die die Internationale und die KPdSU angeführt hatten, nachdem Lenin gezwungen worden war, seine politischen Aktivitäten einzustellen. Warum passierte dies ? Tatsächlich war die Existenz des Triumvirats an dem Kampf gegen Trotzki gebunden. Nachdem letzterer und die erste oppositionelle Bewegung erst einmal zum Schweigen gebracht worden waren, benötigte Stalin die ''alten Bolschewiki'' um Sinowjew und Kamenew nicht mehr, um die Kontrolle über Partei und Staat in Rußland und über die Internationale zu übernehmen. Die Situation der ''Stabilisierung'' gab ihm die Gelegenheit, den Kurs zu ändern.

Obwohl er in der inneren Sowjetpolitik gegen Stalin opponierte, drückte Sinowjew dieselbe Sichtweise der Weltpolitik aus: ''Die erste Schwierigkeit liegt in der Vertagung der Weltrevolution. Zu Beginn der Oktoberrevolution waren wir davon überzeugt, daß die Arbeiter anderer Länder uns innerhalb einiger Monate, schlimmstenfalls Jahre zu Hilfe kommen. Heute ist die Vertagung der Weltrevolution traurigerweise eine unumstößliche Tatsache, es ist gewiß, daß die teilweise Stabilisierung des Kapitalismus eine ganze Epoche darstellt und daß diese uns eine neue, größere und komplexere Reihe von Schwierigkeiten präsentiert.''

Während die Führung der Partei und der KI diese ''Stabilisierung'' anerkannte, erklärte sie jedoch im gleichen Atemzug, daß die Vision und die Politik des Fünften Kongresses korrekt gewesen seien. Sie machte eine politische Kehrtwendung, ohne dies offen zu sagen.

Während Trotzki ruhig blieb, nahm die ''Italienische Linke'' eine politischere Haltung ein, indem sie den Kampf offen fortsetzte. Bordiga stellte die russische Frage und die ''Frage Trotzki'' in einem Artikel der Unita.

Die Linke der PCI schuf das ''Entente-Komitee'', um sich der ''Bolschewisierung'' der Partei zu widersetzen (März-April 1925). Bordiga trat dem Komitee nicht sofort bei, um zu vermeiden, von der Führung unter Gramsci aus der Partei ausgeschlossen zu werden. Erst im Juni bekannte er sich zu den Ansichten Damens, Fortichiaris und Repossis. Das Komitee war jedoch nur ein Organisationsmittel, nicht eine reale Fraktion. Am Ende wurde die ''Linke'' gezwungen, das Komitee aufzulösen, um den Ausschluß aus der Partei zu vermeiden, obwohl sie in ihr eine Mehrheit besaß.

In Rußland sah das Frühjahr 1926 die Bildung der Vereinten Opposition um die erste Opposition Trotzkis herum, der Sinowjew, Kamenew und Krupskaja mit Blick auf die Vorbereitung des 15. Kongresses der KPdSU beitraten.

Stalin steigerte die Repression, der sich in dieser Zeit die neue Opposition ausgesetzt sah:

- Serebriakow und Preobrashenski (12) wurden aus der Partei ausgeschlossen;

- andere (wie Miasnikow von der Arbeitergruppe) wurden ins Gefängnis geworfen oder waren mit einem Bein im Gefängnis (z.B. Fichelew, Direktor der nationalen Druckereien);

- einige der ersten Kämpfer des Bürgerkriegs wurden aus der Armee geworfen (wie Grünstein, Direktor der Luftfahrtschule, und der Ukrainer Okhotnikow);

- im ganzen Land, im Ural, in Moskau, Leningrad, enthauptete die GPU die lokalen Organisationen der Opposition, indem sie ihre Mitglieder aus der Partei ausschloß.

Dann, im Oktober 1927, wurden Trotzki und Sinowjew aus dem Zentralkomitee der KPdSU ausgeschlossen.

 

Nach 1927: Der Kampf wird fortgesetzt

Die Kapitulation von Sinowjew und seinen Anhängern hinderte die russische Linke nicht daran, ihren Kampf fortzusetzen. Weder Verleumdungen noch Drohungen noch Parteiausschlüsse konnten diese wahren Militanten der Arbeiterklasse stoppen.

''Der Ausschluß aus der Partei beraubt uns unserer Rechte als Parteimitglieder, aber er kann uns nicht von den Verpflichtungen entbinden, die jeder von uns eingegangen ist, als wir der Kommunistischen Partei beitraten. Obgleich wir aus der Partei ausgeschlossen worden sind, werden wir nichtsdestotrotz ihrem Programm, ihren Traditionen, ihrem Banner treu bleiben. Wir werden fortfahren, an der Stärkung der Kommunistischen Partei und ihres Einflusses in der Arbeiterklasse zu arbeiten.''

Rakowski erteilt uns hier eine bemerkenswerte Lehre in revolutionärer Politik. Es handelt sich hier um die marxistische Methode, um unsere Methode. Revolutionäre verlassen niemals ihre Organisationen, es sei denn, sie werden ausgeschlossen, und selbst dann fahren sie fort, darum zu kämpfen, die Organisation wiederherzustellen.

Während der folgenden Jahre taten die Mitglieder der Opposition alles, was sie konnten, um in die Partei zurückzukehren. Sie waren tatsächlich davon überzeugt, daß ihr Auschluß nur vorläufig sei.

Im Januar 1928 begannen jedoch die Deportationen. Dies war äußerst schlimm, da den Deportierten keinerlei Überlebensmittel in den ihnen zugewiesenen Wohnsitzen gewährleistet wurde. Verleumdungen und Schlechtigkeiten ergossen sich über die Familien, die in Moskau blieben und oftmals ihr Anrecht auf eine Wohnung verloren. Trotzki reiste nach Alma Ata ab, 48 Stunden später erfolgte die Abfahrt Rakowskis nach Astrakhan. Und noch immer wurde der Kampf wie auch die im Exil organisierte Opposition fortgesetzt.

Trotz einer Reihe neuer Schläge, trotz der aufeinanderfolgenden Kapitulationen und des Rauswurfs Trotzkis aus der UdSSR, setzten die Mitglieder der Opposition und ihr beachtenswertester Repräsentant, Rakowski, ihren unermüdlichen Kampf fort.

In dieser Periode ließ die GPU listigerweise Gerüchte zirkulieren, daß Stalin zuguterletzt doch die Politik der Opposition ausführen würde. Damit setzte sofort die Auflösung der Opposition ein, ein Prozeß, in dem Radek die Rolle des Provokateurs gespielt zu haben scheint (13). Die Schwächsten gaben auf. Die an der Macht befindlichen Stalinisten waren in der Lage, die Zauderer ausfindig zu machen und den günstigsten Moment zu nutzen, um sie entweder niederzuschlagen oder zur Kapitulation zu veranlassen.

Angesichts dieser neuen Schwierigkeiten entwarf Rakowski im August 1929 eine Erklärung: ''Wir appellieren an das Zentralkomitee (...), indem wir es bitten, uns mit der Freilassung der Bolschewiki-Leninisten (...) und mit dem Aufruf an Trotzki, aus dem Exil zurückzukehren (...), bei der Rückkehr in die Partei zu helfen. Wir sind vollkommen bereit, die fraktionellen Kampfmethoden aufzugeben und uns den Statuten der Partei unterzuordnen, die jedem Mitglied das Recht gewährleisten, seine kommunistischen Auffassungen zu vertreten.''

Diese Erklärung hatte keine Chance, akzeptiert zu werden, zunächst weil sie zur Rückkehr Trotzkis aus dem Exil aufrief, aber auch weil sie auf eine Weise die Doppelzüngigkeit und Verantwortung Stalins in dieser Angelegenheit enthüllte. Doch sie erreichte ihr Ziel und brach die Welle der Panik in den Reihen der Opposition. Die Kapitulationen hörten auf.

Trotz der Fallen, Zermürbungen und Anschläge fuhren Rakowski und das Zentrum der Opposition mit ihrem Kampf bis 1934 fort. Die meisten von ihnen setzten ihren Widerstand selbst in den Lagern fort (14).

Als Rakowski den Kampf aufgab, geschah dies nicht auf dieselbe beschämende Weise wie bei Sinowjew und seinen Anhängern. Zunächst einmal erklärte Bilan klar und deutlich: ''Genosse Trotzki (...) hat eine Note veröffentlicht, in der er, nachdem er erklärt, daß dies keine ideologische oder politische Kapitulation sei, schreibt: 'Wir haben viele Male wiederholt, daß der einzige Weg zu einer Wiederherstellung der KP in der UdSSR ein internationaler ist. Der Fall Rakowski bestätigt dies auf eine negative, aber schlagende Weise.' Wir drücken unsere Solidarität mit dieser Bewertung des Falles Rakowski aus, da seine letzte Handlung nichts mit der beschämenden Kapitulation von Radek, Sinowjew, Kamenew und anderen zu tun hat...''

(13)

Ein internationaler Kampf

Der Kampf entfaltete sich auch auf weltweiter Ebene, und zwar mit der Bildung der internationalen Linksopposition, die nach dem Ausschluß Trotzkis aus der UdSSR 1929 erfolgte. Die 6. Erweiterte Exekutive der KI sah Bordigas letztes Auftreten auf einem Treffen der Internationalen. In seiner Rede erklärte er: ''Es ist wünschenswert, daß ein linker Widerstand gegen derartige Gefahren von rechts international gebildet wird, aber ich sage ganz offen, daß diese gesunde, nützliche und notwendige Reaktion nicht in Form von Manövern und Intrigen oder von auf den Korridoren verbreiteten Gerüchten auftreten wird.''

Ab 1927 wurde der Kampf der Italienischen Linken im Exil in Frankreich und Belgien fortgesetzt. Jene Militanten, die nicht in der Lage waren, Italien zu verlassen, befanden sich im Gefängnis oder wurden wie Bordiga mit Verbannung auf den Inseln verurteilt. Die Linke kämpfte auch weiterhin innerhalb der kommunistischen Parteien und der Internationalen, trotz der Tatsache, daß viele ihrer Militanten ausgeschlossen worden waren. Ihr prinzipielles Bestreben galt der Intervention innerhalb dieser Organisationen, um den vermeidbaren Kurs zur Degeneration zu korrigieren. ''Die kommunistischen Parteien sind die Organe, in denen wir den Opportunismus bekämpfen müssen. Wir sind davon überzeugt, daß die Situation die Führung dazu zwingen wird, uns als eine organisierte Fraktion zu reintegrieren, es sei denn, sie will den totalen Niedergang der kommunistischen Parteien bezwecken. Wir sehen dies als äußerst unwahrscheinlich an, aber auch in diesem Falle werden wir immer noch in der Lage sein, unsere Pflichten als Kommunisten zu erfüllen.'' (16)

Diese Sichtweise enthüllt den Unterschied zwischen Trotzki und der Italienischen Linken. Im April 1928 konstituierten letztere eine Fraktion als Antwort auf die Resolution der 9. Erweiterten Exekutive der KI (9. - 25.Februar 1928), die den Beschluß verkündete, daß es nicht möglich sei, Mitglied der KI zu bleiben, wenn man die Positionen Trotzkis unterstützt. Von diesem Moment an hörten die Mitglieder der Italienischen Linken auf, Mitglied der KI zu sein, und wurden gezwungen, eine Fraktion zu bilden.

In ihrer Gründungsresolution verschrieb sich die Fraktion folgenden Aufgaben:

''1) die Reintegration all jener aus der Internationalen Ausgeschlossenen, die das Kommunistische Manifest unterstützen und die Thesen des 2. Weltkongresses akzeptieren;

2) die Einberufung des 6. Weltkongresses unter der Führung von Leo Trotzki;

3) die Behandlung des Ausschlusses all jener Elemente, die ihre Solidarität mit den Resolutionen des 15. Kongresses der KPdSU erklären

(17), als Tagesordnungspunkt des 6. Weltkongresses''. (18)

Während die russische Opposition hoffte, in die Partei reintegriert zu werden, bezweckte die italienische Linke also vor allem, als eine Fraktion innerhalb der KPs und der Internationalen zu überleben, weil sie dachte, daß deren Regeneration nun von ihrer Arbeit als Fraktion abhängt. ''Unter Fraktion verstehen wir einen Organismus, der die Kader entwickelt, welche die Kontinuität des revolutionären Kampfes sicherstellen und dazu berufen sind, die Träger des künftigen proletarischen Sieges zu werden (...). Dagegen erklärt (die Opposition), daß wir nicht auf der Notwendigkeit der Bildung von Kadern bestehen sollten: denn die Lösung der Geschehnisse liege in den Händen der Zentristen und nicht in jenen der Fraktionen.'' (19)

Heute mag diese Politik der wiederholten Forderungen nach Wiederherstellung der KI (die die Italienische Linke erst nach 1928 aufgab) unrichtig scheinen, da er ihr nicht gelang, die Degeneration der kommunistischen Parteien und der Internationalen aufzuhalten. Aber ohne sie wäre die Opposition außerhalb der KI und ihre Isolation noch schlimmer gewesen. Die Mitglieder der Opposition wären von den Massen der kommunistischen Militanten abgeschnitten und nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Entwicklung zu beeinflussen (20). Es war diese Methode, welche die Italienische Linke später theoretisieren sollte und es ihr ermöglichte, die Verbindung zur Arbeiterbewegung aufrechtzuerhalten und die Errungenschaften der Linken auf die heutigen Linkskommunisten zu übertragen, an denen die IKS teilhat.

Im Gegensatz dazu sollte sich die isolationistische Politik einer Gruppe wie Réveil Communiste (21) zum Beispiel als so katastrophal erweisen, daß die Gruppe nicht überlebte. Sie war unfähig, einer organisierten Strömung Leben einzuhauchen. Vor allem hat dies die klassische Methode und das Prinzip der Arbeiterbewegung bestätigt: Man spaltet sich nicht leichten Herzens von einer proletarischen Organisation ab, ohne vorher alle Möglichkeiten erschöpft und jedes Mittel genutzt zu haben, um die politischen Divergenzen zu klären und ein Maximum an gesunden Elementen zu überzeugen.

 

Die Lehren der Italienischen Linken

Wir haben dieses breite historische Feld nicht skizziert, um hier den Historiker zu mimen, sondern um die notwendigen Lehren für die Arbeiterbewegung und unsere Klasse heute daraus zu ziehen. Diese lange Entwicklung lehrt uns, daß ''die Geschichte der Arbeiterbewegung die Geschichte ihrer Organisationen ist'', wie Lenin sagte. Heute ist es Mode, sich ohne jegliche Prinzipien und aus trivialen Gründen von einer Organisation abzuspalten und eine neue auf denselben programmatischen Fundamenten zu gründen. Ohne das Programm und die Praxis der Organisation einer kritischen Untersuchung zu unterziehen, wird sie als degeneriert erklärt. Eine kurze Erinnerung an die Geschichte der Dritten Internationale zeigt uns, wie die richtige Haltung von Revolutionären aussehen sollte. Es sei denn, wir sind der Ansicht, daß revolutionäre Organisationen unnötig sind oder daß ein Einzelner für sich all dies entdecken kann, was die Organisationen der Vergangenheit uns hinterlassen haben. Wir sind nicht dieser Ansicht. Ohne die theoretische und politische Arbeit der Italienischen Linken würden weder die IKS noch die anderen Gruppen der kommunistischen Linken ( das IBRP und die verschiedenen PCIs) heute existieren.

Während wir uns klar mit dem Verhalten der Opposition und der Italienischen Linken identifizieren, können wir dies mit den Auffassungen der Opposition und Trotzkis nicht so vorbehaltlos tun. Im Gegensatz dazu stimmen wir den Ideen zu, die Bilan zu Beginn der 30er Jahre vorgestellt hat:

''Es ist vollkommen richtig, daß die Rolle der Fraktionen vor allem eine erzieherische ist, die von ihren Kadern mittels der gelebten Ereignisse und dank einer rigorosen Konfrontation mit der Bedeutung dieser Ereignisse ausgeübt wird (...). Ohne die Arbeit der Fraktionen wäre die Russische Revolution unmöglich gewesen. Ohne Fraktionen wäre Lenin selbst ein Bücherwurm geblieben und nie zu einem revolutionären Führer geworden.

Die Fraktionen sind also der einzige historische Ort, wo das Proletariat fortfährt, für seine Klassenorganisation zu arbeiten. Von 1928 bis heute hat Genosse Trotzki diese Arbeit der Fraktionsbildung vollkommen vernachlässigt und folglich darin versagt, zur Schaffung wirklicher Bedingungen für die Massenbewegung beizutragen.''

Wir stimmen auch mit dem überein, was die Italienische Linke über den Verlust der politischen Organisationen während der Periode eines historischen Abflauens der Arbeiterbewegung (in ihrem Fall der Kurs zum Krieg während der 30er Jahre) gesagt hat, was heute natürlich nicht der Fall ist:

''Der Tod der Kommunistischen Internationalen rührt von der Vernichtung ihrer Funktion her: Das Totenglocken der KI wurden durch den Sieg des Faschismus in Deutschland eingeläutet; dieses Ereignis hat historisch ihre Funktion erschöpft und das erste positive Ergebnis der zentristischen Politik gezeitigt.

Der Sieg des Faschismus in Deutschland bedeutet, daß sich die Ereignisse in die der Revolution entgegengesetzten Richtung bewegen, hin zum Weltkrieg.

Die Partei hört selbst nach dem Tod der Internationalen nicht auf zu existieren. DIE PARTEI STIRBT NICHT, SIE BEGEHT VERRAT.''

All jene, die ihre Übereinstimmung mit den Positionen und Prinzipien der Italienischen Linken erklären und die eine Organisation der Degeneration beschuldigen, haben die Pflicht und Verantwortung, alles zu tun, um diese Dynamik aufzuhalten und sie daran zu hindern, sich dem Verrat zuzuwenden, wie es die Genossen von Bilan vor ihnen taten.

Aber indem sie Trotzki kritisierte, übte die Italienische Linke auch an all jenen prinzipienlosen Individuen (oder an jenen, die den Kurs der Geschichte nicht anerkennen wollten) Kritik, die nichts anderes im Kopf hatten, als, abseits der bereits existierenden, neue Organisationen aufzubauen oder - wie wir anhand der Entwicklung des Parasitismus heute sehen können - jene zu zerstören, die sie gerade verlassen haben:

''In ähnlicher Weise machten die Sportsleute der 'Großen Aktion', was die Gründung neuer Parteien angeht

Es ist offensichtlich, daß Demagogie und flüchtiger Fortschritt eine Art Sport darstellen, aber keine revolutionäre Arbeit.''

Wir möchten all jene feinen Herren, jene neuen ''Sportsleute'', jene unverantwortlichen Gründer neuer Sekten, jene Welt- und Parteiverbesserer, die lautstark die existierenden proletarischen Organisationen denunzieren, an die geduldige revolutionäre Arbeit der Opposition und vor allem der italienischen Linken während der 20er und 30er Jahre erinnern, mit der diese ihre Organisationen retten wollten und die Kader auf die künftige Partei vorbereiteten, statt ihre Organisationen zu verlassen, um sich selbst zu ''retten''. OR.

 

1) Siehe die Artikel über die deutsche Revolution in früheren Ausgaben der Internationalen Revue (Nr. 17 ff.)

2) Die Revolutionäre, die die KAPD gründen sollten, spalteten sich nicht von der KPD ab, sondern wurden aus ihr ausgeschlossen.

3) Pierre Naville hat hervorgehoben, daß Rakowski, den er 1927 in Moskau traf, keine Illusionen über die Periode hatte. Er sah nur Jahre des Leidens und der Repression voraus, was der Entschlossenheit dieses wahren Kämpfers für die Arbeiterklasse jedoch keinen Abbruch tat. Siehe dazu Rakowski ou la révolution dans tous les pays von Pierre Broué (Fayard) und Pierre Navilles Trotsky vivant.

4) Siehe unsere Texte und unser Buch über die Italienische Linke

5) Solch ein Verrat kann nie völlig ausgeschlossen werden, wenn z.B. die Konfusion über die Frage der nationalen Befreiung eine proletarische Gruppe auf das linksextremistische, d.h. bürgerliche Terrain drängt, indem sie in den unter dem Deckmantel der ''nationalen Befreiung'' auftretenden Konflikten zwischen den Mächten das eine imperialistische Lager gegen das andere unterstützt. Dies passierte einigen Sektionen der (bordigistischen) Internationalen Kommunistischen Partei zu Beginn der 80er Jahre.

6) Siehe unsere Broschüre: La prétendue paranoïa du CCI

7) Trotzki: Die Kommunistische Internationale nach Lenin

8) s. Philippe Robrieux: Histoire intérieure du Parti Communist Francais, Bd. 1, S.122ff.

9) Zunächst kämpfte er in der Frage der inneren Parteiorganisation und der Bürokratie an der Seite Lenins. Aber dann erlitt Lenin seine zweite Attacke und kehrte nie mehr zur Arbeit zurück. Siehe dazu Rosmers Einleitung zu De la révolution, eine Sammlung von Artikeln und Texten Trotzkis, erschienen in Editions de Minuit, S.21-22

10) Erschienen im Dezember 1923

11) Die Linke der KPI repräsentierte die Mehrheit der Partei.

12) Parteisekretär vor Stalin

13) Siehe: Pierre Broué (Fayard): Rakosky, ou la révolution dans tous les pays

14) Ciliga: 10 ans au pays du mensonge déconcertant, Champ Libre, Paris, S.223ff.

15) Bilan, Nr. 5, März 1934

16) Antwort der Italienischen Linken am 8.7.1928 gegenüber der Kommunistischen Opposition von Paz, siehe Contre le Courant, Nr. 13

17) Und insbesondere mit der Resolution, die all jene ausschließt, die ihre Solidarität mit Trotzki erklären

18) Prometeo, Nr. 1, Mai 1928

19) Bilan, Nr. 1, November 1933

20) H. Chazé z.B. blieb in der französischen KP bis 1931-32 als Sekretär des Puteaux-Rayon. Siehe dazu sein Buch Chronique de la révolution espagnole, Spartacus

21) Siehe unser Buch über die Italienische Kommunistische Linke

22) Bilan, Nr. 1, November 1933, ''Hin zur 23/4 -Internationalen ?''

(hier dachte die Italienische Linke an Trotzki, der 1933 die Bildung neuer Parteien vorschlug), eine Menge Lärm über die Notwendigkeit, keine unnötige Zeit verstreichen zu lassen und sich an die Arbeit zu machen, statt die Organisation für die politische Aktion auszubauen (...)(22)
(22)
(22)

Dies war die Methode von Marx und Engels in der Ersten Internationale. Es war die Methode der ''Linken'' in der Zweiten Internationale. Wir sollten uns daran erinnern, daß Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und die Spartakisten (1) sich Zeit nahmen, bevor sie sich für den Bruch mit der alten Partei, ob mit den deutschen Sozialdemokraten oder mit der USPD, entschieden. Im günstigsten Fall hofften sie, die opportunistische Führung niederzuwerfen, indem sie die Mehrheit der Partei für sich gewinnen. Im schlimmsten Fall, wenn es keine Hoffnung auf die Wiedereroberung der Partei mehr gab, hofften sie, so viele Militante wie möglich mit sich zu nehmen. Sie setzten ihren Kampf fort, solange es noch den kleinsten Funken Leben in der Partei gab und sie noch die besten Elemente für sich gewinnen konnten. Dies war stets die Methode, die einzige Methode der marxistischen Revolutionäre gewesen. Darüberhinaus hat die historische Erfahrung gezeigt, daß die ''Linken'' gewöhnlich solange Widerstand leisteten, bis sie von der alten Partei ausgeschlossen wurden (2). Trotzki zum Beispiel kämpfte mehr als sechs Jahre innerhalb der bolschewistischen Partei, bevor er schließlich ausgeschlossen wurde.

Der Kampf der ''Linken'' innerhalb der Dritten Internationale ist besonders aufschlußreich, um so mehr, als er während der fürchterlichsten Periode der Arbeiterbewegung ausgefochten wurde: jene der längsten und fürchterlichsten Konterrevolution in der Geschichte, die Ende der 1920er Jahre begann. Und noch inmitten dieser konterrevolutionären Situation, dieser mächtigen Flaute in der Arbeiterbewegung, sollten die Militanten auf der Linken der Kommunistischen Internationale einen unvergeßlichen Kampf aufnehmen. Manche unter ihnen sahen ihn als von Anbeginn aussichtslos an, aber dies entmutigte oder hinderte sie nicht daran, sich dem Kampf zu stellen (3). Und so sahen sie es, solange die leiseste Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Partei und der Kommunistischen Internationalen (KI) blieb, als ihre Pflicht an, zu retten, was zu retten war vor dem Griff des triumphierenden Stalinismus. Heute hat sich der Kampf im besten Fall vermindert oder ist im schlimmsten Fall von jenen Elementen völlig vergessen worden, die ihre Organisation bei der ersten Unstimmigkeit oder wegen ihrer ''verletzten Ehre'' verlassen. Dieses Verhalten ist eine Beleidigung gegenüber der Arbeiterklasse und drückt deutlich die Geringschätzung des Kleinbürgers gegenüber dem harten Kampf von Generationen von Arbeitern und Revolutionären, manchmal auf Kosten ihres Lebens, aus, den diese Herrschaften vielleicht als nicht beachtenswert ansehen.

Die Italienische Linke setzte diese Methode nicht nur in die Praxis um, sie bereicherte sie auch politisch und theoretisch. Auf der Grundlage dieses Erbes hat die IKS diese Frage bei zahlreichen Gelegenheiten weiterentwickelt und aufgezeigt, wann und wie es passiert, daß die Partei die Klasse verrät (4). Die Positionen einer Organisation zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Revolution erlauben es uns zu bestimmen, ob sie die Klasse unwiderruflich verraten hat oder nicht. Solange der Verrat der Organisation noch nicht evident ist, solange die Partei noch nicht mit Sack und Pack zum feindlichen Lager übergegangen ist, ist es die Rolle wahrhafter Revolutionäre, mit Zehen und Klauen darum zu kämpfen, sie innerhalb des proletarischen Lagers zu halten. Genau dies taten die Linken in der KI unter den schwierigsten Bedingungen einer letztlich triumphierenden Konterrevolution.

Diese Politik ist auch heute noch gültig. Sie ist heute umso leichter durchzuführen, angesichts eines Kurses hin zu Klassenkonfrontationen, angesichts einer alles in allem leichteren Situation für den Kampf des Proletariats und der Revolutionäre. Im gegenwärtigen historischen Rahmen, in dem weder ein Weltkrieg noch die Revolution auf der Tagesordnung stehen, ist es weitaus weniger wahrscheinlich, daß eine proletarische Organisation Verrat begeht (5). Jeder bewußte und konsequente Revolutionär sollte daher dieselbe Methode anwenden, wenn er denkt, daß seine eigene Organisation im Begriff ist zu degenerieren: Mit anderen Worten, er sollte innerhalb der Organisation um ihre Wiedergesundung kämpfen. Es sollte ihm nicht in den Sinn kommen, sich kleinbürgerlich zu verhalten, indem er etwa versucht, ''seine eigene Seele zu retten'', was die Tendenz von einigen Schreibtisch-Revolutionären ist, deren individualistische und streitsüchtige Neigungen sie bereitwillig den Sirenen des politischen Parasitismus empfänglich machen. Daher sind all jene, die ihre Organisation unter der Beschuldigung aller Arten von Fehlern verlassen, ohne den Kampf bis zum bitteren Ende ausgefochten zu haben - wie im Fall von RV zum Beispiel (6) -, verantwortungslos und verdienen es, als arme, kleine prinzipienlose Kleinbürger behandelt zu werden.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Dritte Internationale [6]

Diskussionsbeitrag aus Russland - Die nicht-identifizierte Klasse -Die sowjetische Bürokratie aus der Sicht Leo Trotzkis

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Was war die Natur des Systems das in unserem Land während der ”sowjetischen” Periode existierte?

 

Dies ist sicherlich eine der wichtigsten Fragen der Geschichte und in einem gewissen Masse auch für die anderen Gesellschaftswissenschaften. Und es ist mitnichten eine akademische Frage - sie ist stark mit der heutigen Zeit verknüpft, da die gegenwärtige Realität ohne eine Kenntnis der Vergangenheit nicht verstanden werden kann.

 

Die Frage kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Welche Natur hatte das für das ”sowjetischen” System zentrale, die Entwicklung des Landes bestimmende Subjekt, d.h. die herrschende Bürokratie? Welches war ihr Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Schichten? Welche Motivationen und Bedürfnisse bestimmten ihr Handeln?

 

Es ist unmöglich, diese Fragen gewissenhaft zu studieren, ohne die Werke Leo Trotzkis zu kennen, einem der ersten Autoren, welche versuchten, die Natur des ”sowjetischen” Systems und seiner herrschenden Schicht zu verstehen und zu analysieren. Trotzki widmete diesem Problem mehrere Werke, doch seine weitreichendsten und konzentriertesten Ansichten über die Bürokratie finden sich in seinem vor 60 Jahren erschienenen Buch Verratene Revolution.

 

Die grundlegenden Charakterzüge der Bürokratie

 

Erinnern wir uns an die Hauptcharakterzüge der Bürokratie, wie sie Trotzki in seinem Buch beschreibt:

 

1. Die obersten Etagen der gesellschaftlichen Pyramide der UdSSR sind besetzt durch ”die einzige im vollen Sinne des Wortes privilegierte und kommandierende Schicht”, und diese Schicht, ”die, ohne selbst eine produktive Arbeit zu vollbringen, kommandiert, verwaltet, dirigiert und verteilt Züchtigung und Strafen.” Laut Trotzki umfaßte sie zwischen 5 und 6 Millionen Personen[i] [7].

 

2. Diese Schicht, die alles dirigiert, befindet sich außerhalb jeglicher Kontrolle durch die Massen, welche alle gesellschaftlichen Güter produzieren. Die Bürokratie beherrscht die ”folgsamen und schweigenden” arbeitenden Massen[ii] [7].

 

3. Diese Schicht hält die materiellen Ungleichheiten in der Gesellschaft aufrecht: ”Limousinen für die ”Aktivisten”, gute Parfums für ”unsere Frauen”, Margarine für die Arbeiter, ”Lux”-Läden für die Vornehmen, der Anblick der Delikatessen durch die Fensterscheiben für den Pöbel”[iii] [7]. Grundsätzlich sind die Lebensbedingungen der herrschenden Schicht dieselben wie die der Bourgeosie: sie unfasst ”alle Stufen vom Kleinbürgertum des Krähwinkels bis zur hauptstätdischen Grossbourgeoisie” [iv] [7].

 

4. Diese Schicht herrscht nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv, indem sie sich als einzigen Leiter der Gesellschaft sieht. Laut Trotzki besitzt sie ”das spezifische Bewusstsein der herrschenden ”Klasse””[v] [7].

 

5. Die Herrschaft dieser Schicht wird durch die Repression aufrechterhalten, und ihr Wohlstand durch ”verschleierte Aneignung fremder Arbeit”. ”Eine privilegierte Minderheit der Aktionäre lebt auf Kosten der untervorteilten Mehrheit” schreibt Trotzki[vi] [7].

 

6. Es existiert ein permanenter gesellschaftlicher Kampf zwischen dieser herrschenden Schicht und der unterdrückten Mehrheit von Arbeitern[vii] [7].                  

 

Trotzki zeichnet somit folgendes Bild: Es existiert eine zahlenmäßig große gesellschaftliche Schicht, welche die Produktion sowie auch das Produzierte in einer monopolistischen Art und Weise kontrolliert und sich auch einen Großteil dieses Produktes aneignet (mit anderen Worten: eine Form der Ausbeutung). Ihre gemeinsamen materiellen Interessen und deren Widerspruch gegenüber der produzierenden Klasse hält sie zusammen.

 

Was ist für den Marxismus eine gesellschaftliche Schicht, welche all diese Charakteristiken in sich trägt? Darauf gibt es nur eine Antwort: Es ist die wortwörtliche Beschreibung der herrschenden gesellschaftlichen Klasse.

 

Trotzki führt die Leser zu derselben Schlußfolgerung. Er selbst jedoch macht sie nicht, auch wenn er schreibt, daß die Bürokratie in der UdSSR ”etwas mehr ist als nur eine Bürokratie”[viii] [7]. ”Etwas mehr als das”, doch was nun? Trotzki gibt darauf keine Antwort. Noch mehr, er widmet ein ganzes Kapitel seines Buches dem Anliegen, die bürgerliche Klassennatur der Bürokratie zu widerlegen. Trotzki sagt A, doch nachdem er die ausbeutende herrschende Klasse ausführlich beschrieben hat, zögert er im letzten Moment und weigert sich, B zu sagen.

 

Stalinismus und Kapitalismus

 

Bei Trotzkis Vergleich zwischen der stalinistischen Bürokratie und dem kapitalistischen System finden wir dieselbe Zurückhaltung. ”Mutatis mutandis ist die Stellung der Sowjetregierung gegenüber der Gesamtwirtschaft die eines Kapitalisten gegenüber dem Einzelunternehmen”, schreibt Trotzki im zweiten Kapitel seines Buches Verratene Revolution[ix] [7].

 

Im neunten Kapitel schreibt er jedoch: ”Die Aushändigung der Fabriken an den Staat hat die Lage des Arbeiters nur juristisch (Hervorhebung durch AG)  verändert; in Wirklichkeit ist er, während er eine bestimmte Anzahl von Stunden für einen bestimmten Lohn arbeitet, gezwungen zu darben. (...) Die Arbeiter verloren jeglichen Einfluß auf die Leitung der Betriebe. Beim Akkordlohn, schweren materiellen Daseinsbedingungen, Fehlen der Freizügigkeit, einem fürchterlichen Polizeiapparat, der in das Leben jedes Betriebes eindringt, fühlt sich der Arbeiter schwerlich als ”freier Werkmann”. Im Beamten sieht er den Vorgesetzten, im Staat den Herrn.”[x] [7]

 

Im selben Kapitel beschreibt Trotzki, daß die Verstaatlichung des Besitztums die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den herrschenden und den unterworfenen Schichten nicht aufhebt: Erstere genießen den größtmöglichen Luxus, zweitere leben in derselben Armut wie zuvor und verkaufen ihre Arbeitskraft. Dasselbe beschreibt er auch im vierten Kapitel: ”Das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln verwandelt nicht Mist in Gold und umgibt nicht das Schwitzsystem, das mit der Hauptproduktivkraft, dem Menschen, Raubbau treibt mit einem Heiligenschein”.[xi] [7]

 

Diese Thesen scheinen die grundlegenden Phänomene sehr klar aus marxistischer Sicht zu beschreiben. Marx hat immer hervorgehoben, daß der Hauptcharakterzug eines gesellschaftlichen Systems nicht durch sein Recht und seine ”Eigentumsformen” bestimmt wird, da eine derartig isolierte Analyse unbrauchbar und abstrakt ist[xii] [7]. Der entscheidende Faktor sind die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Stellung der gesellschaftlichen Schichten zum gesellschaftlichen Mehrprodukt.

 

Eine Produktionsweise kann auf verschiedenen Formen des Eigentums gründen. Das Beispiel des Feudalismus zeigt dies deutlich. Während des Mittelalters basierte er in den westlichen Ländern auf dem privaten Feudaleigentum des Bodens und in den Ländern des Ostens auf dem staatlichen Feudaleigentum. Dennoch waren die gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Fällen feudal und stützten sich auf die feudale Ausbeutung der Bauernschaft.

 

Im dritten Band des Kapitals beschreibt Marx als Hauptcharakteristik jeglicher Gesellschaft "die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird". Was schlußendlich bestimmt, ist das Verhältnis zwischen denjenigen, die den Ablauf und die Früchte der Produktion kontrollieren, und denjenigen, welche letztere hervorbringen; die Stellung der Eigentümer der Produktionsbedingungen gegenüber den unmittelbaren Produzenten: Darin finden ”wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion"[xiii] [7].

 

Wir haben bereits aufgezeigt, wie Trotzki das Verhältnis zwischen der herrschenden Schicht und den Produzenten beschreibt. Auf der einen Seite die tatsächlichen ”Eigentümer der Produktionsmittel”, verkörpert im Staat (der organisierten Bürokratie) und auf der anderen Seite die Eigentümer de iure, in Tat und Wahrheit die jeglicher Rechte beraubten Arbeiter, die Lohnarbeiter, aus denen ”die unbezahlte Arbeit ausgesogen wird”. Daraus können wir nur eine einzige logische Schlußfolgerung ziehen: es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied in der Natur der stalinistischen Bürokratie und des ”klassischen” Kapitalismus.

 

Auch hier, nachdem er A gesagt, nachdem er die grundsätzliche Identität beider Systeme aufgezeigt hat, sagt Trotzki nicht B. Im Gegenteil stemmt er sich kategorisch gegen eine Gleichstellung der stalinistischen Gesellschaft mit dem Staatskapitalismus und kommt zur These, daß in der UdSSR eine spezielle Form von ”Arbeiterstaat” existiere, in der das Proletariat vom ökonomischen Standpunkt her gesehen eine herrschende Klasse darstelle und keiner Ausbeutung unterliege außer, daß sie ”politisch entmachtet” sei.

 

Um diese These aufrecht zu erhalten, führt Trotzki die Verstaatlichung des Bodens, der Produktions-, Handels-, und Transportmittel an sowie das Aussenhandelsmonopol. Mit anderen Worten, er gebraucht dieselbe ”juristische” Argumentation, welche er selbst zuvor in überzeugender Art und Weise zurückgewiesen hat (siehe die oben zitierte Stelle). Auf Seite 72 (russische Ausgabe) der Verratenen Revolution bestreitet er die Verwandlung von ”Mist in Gold” durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel, doch auf Seite 206 behauptet er ganz im Gegenteil, daß alleine die Tatsache der Verstaatlichung genüge, um die unterdrückte Arbeiterklasse in eine herrschende Klasse zu verwandeln.

 

Das Schema ersetzt die Wirklichkeit

 

Wie kann man sich dies erklären? Weshalb widerspricht Trotzki, der Publizist, der erbarmungslose Kritiker des Stalinismus, der die Fakten anführt, welche beweisen, daß die Bürokratie eine herrschende und kollektiv ausbeutende Klasse ist, dem Trotzki, der als Theoretiker diese Fakten zu analysieren versucht?

 

Wir können zwei Hauptgründe anführen, die Trotzki daran hinderten, diesen Widerspruch zu überwinden; einen theoretischen und einen politischen Faktor.

 

In seinem Buch Verratene Revolution versucht Trotzki die These über die bürgerliche Klassennatur der Bürokratie mit dem schwachen Argument, sie habe ”weder Aktien noch Obligationen”, zu widerlegen[xiv] [7]. Doch weshalb soll die herrschende Klasse dies notwendigerweise besitzen? Der Besitz von Aktien und Obligationen ist an sich bedeutungslos: Der entscheidende Punkt liegt in der Frage, ob sich eine bestimmte gesellschaftliche Schicht das Mehrprodukt der Arbeit der direkten Produzenten aneignet oder nicht. Wenn ja, besteht die Funktion der Ausbeutung unabhängig davon, ob die Verteilung des Mehrwerts via Dividenden und Anteilscheine oder durch einen Lohn und Privilegien, die an einen Arbeitsplatz gebunden sind, geschieht. Der Autor der Verratenen Revolution überzeugt ebensowenig, wenn er sagt, daß die Repräsentanten der herrschenden Schicht ihre privilegierte Stellung nicht weitervererben können[xv] [7]. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Trotzki ernsthaft davon ausging, die Kinder der Elite würden Arbeiter oder Bauern werden.

 

Unserer Ansicht nach ist es falsch, in solch oberflächlichen Argumenten den Grund von Trotzkis Weigerung, die Bürokratie als herrschende gesellschaftliche Klasse zu anerkennen, zu suchen. Der Grund liegt vielmehr in seiner tiefen Überzeugung, die Bürokratie könne nicht das zentrale Element eines beständigen Systems werden, sondern sie sei nur fähig, die Interessen anderer Klassen ”auszudrücken”, allerdings indem sie diese entstellt.

 

Schon während der 20er Jahre war diese Überzeugung Grundlage für Trotzkis Schema über die gesellschaftlichen Widersprüche der ”sowjetischen” Gesellschaft geworden. Für ihn beschränkte sich der Rahmen aller Widersprüche auf die strikte Zweiteilung zwischen Proletariat und privatem Kapital. In diesem Schema gab es keinen Platz für eine ”dritte Kraft”. Der Aufstieg der Bürokratie wurde als Resultat des Drucks des ländlichen und städtischen Kleinbürgertums auf die Partei und den Staat gesehen. Die Bürokratie wurde als zwischen den Interessen der Arbeiter und denen der ”neuen Besitzer” schwankende Gruppe bezeichnet, unfähig den einen oder den anderen wirklich zu dienen. Ein solches durch eine instabile Gruppe ”zwischen den Klassen” geführtes Regime kann bei der ersten drohenden Instabilität nur zusammenbrechen und diese Gruppe sich nur aufspalten. Genau dies prophezeite Trotzki Ende der 20er Jahre[xvi] [7].

 

Doch in der Realität entwickelten sich die Ereignisse anders. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Bauernschaft und dem Kleinbürgertum war die Bürokratie weder gestürzt, noch hatte sie sich zersplittert. Nachdem die Kapitulation einer internen, bedeutungslosen ”Rechten” ohne Schwierigkeiten erreicht worden war, begann die Bürokratie, die NEP und ”die Kulaken als Klasse” zu liquidieren, und führte ein Regime mit verstärkten Kollektivierungen und Industrialisierungen ein. Überzeugt, daß die ”zentristischen” Apparatschiks durch ihre Natur zu so etwas unfähig seien, waren diese Ereignisse für Trotzki und seine Anhänger eine Überraschung! So ist es nicht erstaunlich, wenn der Bankrott der politischen Einschätzungen der trotzkistischen Opposition ihre katastrophale Kapitulation in Rußland und den politischen Bankrott auf internationaler Ebene nach sich zog[xvii] [7].

 

Auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg schrieb Trotzki Briefe und Artikel aus dem Exil, in denen er aufzeigte, daß die Bürokratie lediglich einen Weg kenne und ”notgedrungen kollabiert, lange bevor sie ein wirkliches Resultat erzielt”[xviii] [7]. Auch wenn der Führer der Opposition die praktische Inkohärenz seiner Idee einer ”abhängigen” Rolle der ”zentristischen” Bürokratie sah, so klammerte er sich dennoch weiter an sein bankrottes Schema. Seine theoretischen Analysen über die Zeit der ”großen Wende” stechen durch ihren realitätsfremden Zug ins Auge. Ende 1928 schrieb er beispielsweise: ”Zentrismus ist eine offizielle Linie des Apparates. Der Träger dieses Zentrismus ist der Parteifunktionär. Die Funktionäre bilden keine Klasse. Welche Klassengrenze also soll durch den Zentrismus gebildet werden?” Nachdem Trotzki eine eigene Linie der Bürokratie verneinte, kam er zu folgendem Schluß: ”Die aufsteigenden Besitzer von Eigentum finden ihren hinterhältigen Ausdruck in der rechten Fraktion. Die proletarische Linie wird durch die Opposition verkörpert. Was bleibt da noch dem Zentrismus? Nach Abzug des oben Beschriebenen...die mittlere Bauernschaft”[xix] [7]. All dies schrieb er, während der stalinistische Apparat eine gewaltsame Kampagne gegen die mittlere Bauernschaft führte, um damit deren Zerstörung als wirtschaftlichen Faktor einzuleiten!

 

Daraufhin fuhr Trotzki mit seiner Hoffnung auf eine bevorstehende Spaltung der Bürokratie in proletarische und bürgerliche Elemente und die, welche ” beiseite bleiben”, fort. Er prophezeite den Machtverlust des ”Zentrismus” einerseits wegen des Scheiterns einer ”totalen Kollektivierung” und andererseits aufgrund einer ökonomischen Krise am Ende des ersten Fünfjahresplanes. In seinem 1931 geschriebenen Plattformentwurf für die internationale linke Opposition über die russische Frage sah er sogar die Möglichkeit eines Bürgerkrieges, wenn die Elemente des Staats- und Parteiapparates ”auf die zwei Seiten der Barrikaden” gespalten würden[xx] [7].

 

All dieser Voraussagen zum Trotz überlebte das stalinistische Regime, und die Bürokratie blieb nicht nur geeint, sondern baute ihre totalitäre Macht aus. Dennoch fuhr Trotzki fort, das bürokratische System in der UdSSR als sehr angreifbar zu betrachten, und während der 30er Jahre dachte er, die Macht der Bürokratie könne jeden Moment zusammenbrechen. Mit anderen Worten, sie könne nicht als eine Klasse betrachtet werden. Trotzki drückte diesen Gedanken am deutlichsten in seinem Artikel Die UdSSR im Krieg (September 1939) aus: ”Brächten wir uns nicht selbst in eine lächerliche Lage, wenn wir der bonapartistischen Bürokratie die Bezeichnung einer neuen herrschenden Klasse aufdrücken würden, gerade ein paar Jahre oder sogar ein paar Monate vor ihrem unrühmlichen Untergang?"[xxi] [7].

 

Alle Voraussagen Trotzkis über den bevorstehenden Fall der ”sowjetischen” Bürokratie wurden eine nach der anderen durch die Ereignisse selbst widerlegt. Dennoch war er nicht bereit, seine Auffassungen zu ändern. Für ihn wog die Verknüpfung mit einem theoretischen Schema mehr als alles andere. Doch dies ist nicht der einzige Grund, denn Trotzki war mehr ein politischer denn ein theoretischer Mensch, und er verwendete im Allgemeinen den ”konkreten politischen” Bezug zu einer Frage eher als einen ”abstrakt soziologischen”. Wir werden hier einen weiteren wichtigen Grund betrachten für seine hartnäckige Weigerung, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen.

 

Terminologie und Politik

 

Wenn wir die Geschichte der trotzkistischen Opposition während der 20er und zu Beginn der 30er Jahre betrachten, sehen wir, daß ihre gesamte politische Strategie auf einer bevorstehenden Ausbootung des Staatsapparates der UdSSR gründete. Trotzki dachte, eine Allianz zwischen einer hypothetischen ”linken Tendenz” und der Opposition wäre notwendig, um die Partei und den Staat zu erneuern. Ende 1928 schrieb er: ”Ein Block mit den Zentristen (der stalinistische Teil des Apparates - AG) ist im Prinzip zulässig und möglich. Nochmehr, alleine solch eine Umgruppierung innerhalb der Partei kann die Revolution retten”[xxii] [7]. Da sie auf einen solchen Block zählten, versuchten die Führer der Opposition, die ”progressiven” Bürokraten nicht hinauszuwerfen. Diese Taktik erklärt die höchst fragwürdige Haltung der Führer der Opposition gegenüber dem Klassenkampf der Arbeiter gegen den Staat, ihr Nein zur Gründung einer eigenen Partei etc.

 

Selbst nach seinem Exil aus der UdSSR fuhr Trotzki fort, seine Hoffnungen auf eine Annäherung mit den ”Zentristen” zu setzen. Seine Hoffnung, die Unterstützung eines Teils der herrschenden Bürokratie zu erhalten, war dermaßen groß, daß er (unter bestimmten Bedingungen) zu einem Kompromiß mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KP bereit war. Die Geschichte des Slogans ”Stalin absetzen!” ist ein treffendes Beispiel. Im März 1932 veröffentlichte Trotzki einen offenen Brief an das Zentralexekutivkomitee der UdSSR mit dem Appell: ”Es ist notwendig endlich Lenins letzten Ratschlag zu befolgen: Stalin absetzen”[xxiii] [7]. Einige Monate später, im Herbst desselben Jahres, machte er eine Schritt zurück und erklärte: ”Das Problem ist nicht Stalin als Individuum, sondern seine Fraktion... Der Slogan ”Nieder mit Stalin” könnte (und wird zwangsläufig) möglicherweise als ein  Aufruf zur Überwindung der Fraktion verstanden werden, die heute an der Macht ist, und in einem weiteren Sinne des Apparates. Wir wollen das System nicht überwinden, sondern reformieren”[xxiv] [7].

 

Seine Haltung gegenüber den Stalinisten brachte Trotzki in einem nichtveröffentlichten Interviewartikel, der im Dezember 1932 geschrieben wurde, auf den Punkt: ”Heute wie Gestern sind wir zu einer vielfältigen Zusammenarbeit mit der gegenwärtig herrschenden Fraktion bereit. Frage: Sind sie demnach zu einer Zusammenarbeit mit Stalin bereit? Antwort: Zweifellos”[xxv] [7].

 

Während dieser Periode verknüpfte Trotzki den möglichen Schwenker eines Teils der stalinistischen Bürokratie hin zu einer ”vielfältigen Zusammenarbeit” mit der Opposition mit der für ihn, wie bereits oben beschrieben, aus Gründen der gesellschaftlichen ”Ungewißheit” der Bürokratie unabwendbar bevorstehenden Katastrophe des Regimes[xxvi] [7]. Aufgrund dieser Katastrophe betrachteten die Führer der Opposition die Zusammenarbeit mit Stalin als Mittel, die Partei, die Verstaatlichung und die ”Planwirtschaft” vor der bürgerlichen Konterrevolution zu retten.

 

Doch die Katastrophe trat nicht ein. Die Bürokratie war stärker und viel verankerter als Trotzki dachte. Das Politbüro antwortete nicht auf seine Aufrufe zu Festigung ”einer ehrlichen Zusammenarbeit der historischen Fraktionen” innerhalb der Kommunistischen Partei[xxvii] [7]. Schlußendlich, im Herbst 1933, verlor Trotzki nach langem Zögern jegliche Hoffnung auf eine in jedem Falle utopische Reform des bürokratischen Systems unter Beteiligung der Stalinisten und rief zu einer ”politischen  Revolution” in der UdSSR auf.

 

Doch dieser Wechsel der trotzkistischen Slogans brachte keine wirkliche Veränderung ihrer Sicht über die Natur der Bürokratie, der Partei und des Staates, ebensowenig wie es kein definitives Verwerfen der Hoffnungen auf eine mögliche Zusammenarbeit mit deren ”fortschrittlichen” Flügeln bedeutete. Als Trotzki sein Buch Verratene Revolution schrieb, und auch noch danach, betrachtete er die Bürokratie nachwievor theoretisch als ein unsicheres, von wachsenden Widersprüchen zerfressenes Gebilde. Im Übergangsprogramm der 4. Internationalen (1938) erklärte er, der Staatsapparat in der UdSSR beinhalte alle politischen Tendenzen und sogar eine ”wirklich bolschewistische”. Trotzki dachte bei letzterer an eine Minderheit innerhalb der Bürokratie, jedoch an eine nicht unbedeutende: er sprach nicht nur von einigen Apparatschiks, sondern von einer linken ”Fraktion”, die 5-6 Millionen Personen umfasse. Laut Trotzki sei diese ”wirklich bolschewistische” Fraktion ein Reservoir für die linke Opposition. Doch nicht genug, der Führer der 4. Internationalen zog im Falle einer kapitalistischen Konterrevolution, welche er 1938 als ”kurz bevorstehend” einschätzte, weiterhin eine ”Einheitsfront” mit dem stalinistischen Teil des Apparates in Betracht[xxviii] [7].

 

Es ist diese politische Orientierung, erst hin zu einer Zusammenarbeit und einem Block mit den ”Zentristen” - also der Mehrheit der herrschenden ”Sowjet”-Bürokratie (in den späten 20er und frühen 30er Jahren), dann in Richtung einer Allianz mit der ”wirklich bolschewistischen” Fraktion und einer ”Einheitsfront” mit der herrschenden stalinistischen Fraktion (nach 1933), die wir im Auge haben müssen, wenn wir die Ideen Trotzkis über die Natur der bürokratischen Oligarchie und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR untersuchen, die in seinem Buch Verratene Revolution wohl am komplettesten dargestellt sind.

 

Stellen wir uns vor, Trotzki hätte die totalitäre ”sowjetische” Bürokratie als ausbeutende, herrschende Klasse und bitteren Feind des Proletariates anerkannt. Was wären die politischen Konsequenzen gewesen? Als Erstes hätte er die Idee einer Vereinigung mit einem Teil dieser Klasse zurückweisen müssen - auch die Idee von der Existenz einer ”wirklich bolschewistischen Fraktion” innerhalb der ausbeuterischen bürokratischen Klasse wäre damit genauso absurd erschienen wie die Existenz einer solchen Fraktion innerhalb der Bourgeoisie zum Beispiel. Zweitens wäre die vorgeschlagene ”Einheitsfront” mit den Stalinisten zur Bekämpfung der ”kapitalistischen Konterrevolution” zu einer ”Volksfront” geworden. Eine Politik die von den Trotzkisten kategorisch abgelehnt wurde, da sie zu einem Block verfeindeter Klassen anstelle einer ”Einheitsfront” innerhalb der eigenen Klasse, eine in der bolschewistisch-leninistischen Tradition stehende Auffassung, geführt hätte. Kurzum, ein Begreifen der Klassennatur der Bürokratie wäre ein starker Anstoß für die politischen Grundlagen von Trotzkis Strategie gewesen. Doch dies hatte er nicht gewollt.

 

Somit war die Frage über der Natur der Bürokratie weit mehr als nur ein Wortgefecht über Theorie oder Terminologie. 

 

Das Schicksal der Bürokratie

 

Um Trotzki gerecht zu werden: Gegen Ende seines Lebens begann er seine Ansichten über die stalinistische Bürokratie zu revidieren. Dies ist ersichtlich in seinem Buch Stalin, dem reifsten seiner Werke, wenn auch unvollendet. Bei der Untersuchung der entscheidenden Ereignisse Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre, als die Bürokratie die Macht und das Eigentum vollständig monopolisierte, begann Trotzki den Staats- und Parteiapparat schon als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte im Kampf um ”die Kontrolle des Mehrwerts der Nation” zu betrachten. Bei seiner Kriegserklärung an die ”kleinbürgerlichen Elemente” war dieser Apparat weder durch den ”Druck” des Proletariates noch ”durch die Opposition angetrieben” (wie Trotzki einst erklärt hatte)[xxix] [7]. Die Bürokratie war nicht ”Vertreter” der Interessen anderer, noch ”balancierte” sie zwischen zwei Polen, sondern bildete eine gesellschaftliche Klasse mit einem Bewußtsein über ihre eigenen Interessen. Nachdem sie alle ihre Rivalen geschlagen hatte, war sie Siegerin im Kampf um Macht und Profit. Sie alleine monopolisierte die Verteilung des Mehrwertes (mit anderen Worten, die Funktion des tatsächlichen Eigentümers der Produktionsmittel). Nachdem Trotzki dies erkannt hatte, konnte er der Frage der Klassennatur der Bürokratie nicht länger ausweichen. So schrieb er bezüglich der 20er Jahre: ”Die Substanz des (sowjetischen) Termidor... Sie war die Kristallisierung einer neuen privilegierten Schicht, die Schöpfung eines neuen Unterbaus  für die ökonomisch herrschende Klasse (hervorgehoben von AG). Zwei Anwärter auf diese Rolle waren vorhanden: das Kleinbürgertum und die Bürokratie selbst”[xxx] [7]. Ernährte dieser Unterbau beide Anwärter auf die Rolle der herrschenden Klasse? Es bleibt uns lediglich festzustellen, wer gewann - der Gewinner war die Bürokratie. Die Schlußfolgerung daraus ist sehr einfach: es war die Bürokratie welche zur neuen, gesellschaftlich herrschenden Klasse geworden war. Trotzki, zu dieser Schlußfolgerung an sich gerüstet, war in Wirklichkeit nicht fähig dazu, da er es vorzog seine Reflexionen politisch nicht zu vollenden. Doch er hatte einen großen Schritt vorwärts gemacht.

 

In seinem 1939 veröffentlichten Artikel Die UdSSR im Krieg machte er einen Schritt weiter in diese Richtung: Er dachte, es sei theoretisch möglich, daß ”das stalinistische Regime die erste Stufe einer neuen Gesellschaft der Ausbeutung darstellt”. Gewiß, wie immer unterstrich er, es gebe noch einen anderen Standpunkt: Das ”sowjetische” System und seine herrschende Bürokratie wären lediglich eine ”Episode” in der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische. Dennoch zeigte er seinen guten Willen, seine Ansichten unter gewissen Umständen zu ändern, dann nämlich, wenn die UdSSR in den bereits entfachten Weltkrieg eintreten und ihn in andere Länder ausbreiten sollte[xxxi] [7].

 

Wir wissen, was danach geschah. Die Bürokratie hatte laut Trotzki keine historische Mission, befand sich ”zwischen den Klassen”, besaß keine Selbständigkeit, war unsicher und stellte somit eine ”vorübergehende Episode” dar. Doch in Tat und Wahrheit wälzte sie die gesellschaftliche Struktur der UdSSR radikal um, indem sie Millionen von Bauern und Kleinbürgern proletarisierte, eine Industrialisierung auf der Basis der Überausbeutung der Arbeiter vorantrieb, das Land in eine militärische Großmacht verwandelte, es in einen schrecklichen Krieg führte und seine Herrschaftsform nach Zentral- und Osteuropa und nach Südostasien exportierte. Hätte Trotzki nach alledem seine Sichtweise über die Bürokratie geändert? Es ist schwer zu sagen: Er hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt und die Bildung des ”sozialistischen Blocks” nicht mitverfolgen können. Doch nach dem Krieg sollte die Mehrheit seiner politischen Anhänger während Jahrzehnten die theoretischen Dogmen, welche in seinem Buch Verratene Revolution zu finden sind, Wort für Wort wiederkäuen.

 

Der Gang der Geschichte hat alle zentralen Punkte der trotzkistischen Analyse über das gesellschaftliche System der UdSSR widerlegt. Um dies zu verstehen ist eines wichtig: keine dieser ”Errungenschaften” der Bürokratie stimmt mit Trotzkis theoretischem Schema überein. Und selbst heute gibt es einige Gelehrte (ganz zu schweigen von den Repräsentanten der trotzkistischen Bewegung), die weiterhin behaupten, die Konzeptionen des Autors der Verratenen Revolution einer herrschenden ”Kaste” und seine Voraussagen über deren Schicksal seien durch den Zusammenbruch des Regimes der KPdSU und die darauffolgenden Ereignisse in der UdSSR und im ”sowjetischen Block” bestätigt worden. Hier sprechen sie über Trotzkis Voraussage, daß die Macht der Bürokratie unweigerlich fallen werde; entweder als Resultat einer ”politischen Revolution” durch die arbeitenden Massen oder durch einen gesellschaftlichen ”Staatsstreich” der konterrevolutionären Bourgeoisie[xxxii] [7]. V.Z. Rogovin[xxxiii] [7] zum Beispiel schreibt, daß die ”konterrevolutionäre Variante” von Trotzkis Voraussagen ”mit 50jähriger Verspätung, jedoch mit extremer Genauigkeit eingetreten ist” [xxxiv] [7].

 

Wo finden wir diese Genauigkeit und vor allem ihren ”extrem genauen” Charakter?

 

Die Grundlage der ”konterrevolutionären Variante” von Trotzkis Prognosen lag vor allem in seinen Voraussagen über den Fall der Bürokratie als herrschende Schicht. ”Die Bürokratie ist im ökonomischen Sinne untrennbar mit der herrschenden Klasse verbunden (damit meinte er das Proletariat), ernährt sich an denselben gesellschaftlichen Wurzeln und steht und fällt mit ihr (hervorgehoben durch AG)[xxxv] [7]. Angenommen, es hätte eine gesellschaftliche Konterrevolution in den Ländern des ehemaligen Ostblocks stattgefunden und die Arbeiterklasse dadurch ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht verloren, so wäre laut Trotzki die herrschende Bürokratie mit ihr gefallen.

 

Ist sie in der Realität gefallen, um einer Bourgeoisie Platz zu machen, die von sonst irgendwo herkam? Laut dem Soziologischen Institut der russischen Akademie der Wissenschaften haben mehr als 75% der russischen ”politischen Elite” und mehr als 61% der ”Wirtschaftselite” ihre Wurzeln in der Nomenklatura der ”sowjetischen” Periode[xxxvi] [7]. Demnach befinden sich die gleichen Leute in den führenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Positionen der Gesellschaft. Die Herkunft des anderen Teils der Elite kann leicht erklärt werden. O. Krychtanovskaya schreibt: ”Nebst der direkten Privatisierung ..., deren hauptsächliche Profiteure der technokratische Teil der Nomenklatura (Ökonomen, Bankiers, ect.) ist, beobachteten wir das fast spontane Entstehen kommerzieller Strukturen welche keine Beziehungen zur Nomenklatura zu haben scheinen. An der Spitze dieser Strukturen findet man junge Leute deren Biographien keine Verbindungen zur Nomenklatura haben. Ihr großer finanzieller Erfolg kann nur so erklärt werden: auch wenn kein Teil der Nomenklatura, so genießen sie deren Vertrauen, sind ihre ”Vertrauensagenten”, mir anderen Worten ihre Gesandten. " (Hervorhebungen durch AG)[xxxvii] [7].

 

All dies zeig sehr klar, daß es keine ”bürgerliche Partei” war (woher könnte diese auch kommen, wenn die Bourgeoisie in einem totalitären Regime fehlt), welche die Macht ergriff und Erfolg hatte, indem sie einige Individuen der früheren herrschenden ”Kaste” zu ihren Dienern machte. Es war die Bürokratie selbst, welche die politischen und wirtschaftlichen Formen ihrer Herrschaft organisiert veränderte, während sie an der Spitze des Systems blieb.

 

Im Gegensatz zu Trotzkis Vorhersagen ist die Bürokratie nicht gestürzt. Und was ist mit dem anderen Teil seiner Prophezeiung: der bevorstehenden Spaltung der herrschenden gesellschaftlichen ”Schicht” in proletarische und bürgerliche Elemente und der Bildung einer ”wirklich bolschewistischen” Fraktion in ihr? Tatsächlich nehmen die heutigen Führer der ”kommunistischen” Parteien verschiedenster Färbung, die aus den Überresten der KPdSU entstanden sind, für sich in Anspruch, ”echte” Bolschewiki zu sein und die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Doch es ist höchst unwahrscheinlich, daß Trotzki in Leuten wie Zhuganov oder Ampilow[xxxviii] [7] seine ”proletarischen Elemente” sehen würde, da das Ziel ihres ”antikapitalistischen” Kampfes nichts anderes als die Restaurierung des alten bürokratischen Regimes in seiner klassisch stalinistischen oder ”staatspatriotischen” Form ist.

 

Trotzki beschrieb die ”konterrevolutionäre” Version der Machtenthebung der Bürokratie in fast apokalyptischen Worten: ”Der Kapitalismus kann, was eher zweifelhaft ist, in Rußland nur restauriert werden durch einen unbarmherzigen konterrevolutionären Staatsstreich der mehr Opfer fordern würde als die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg. Sollte das Sowjetregime fallen, so könnte sein Platz nur durch einen russischen Faschismus eingenommen werden, neben dem die grausamen Regimes von Mussolini und Hitler als menschenfreundliche Institutionen wirken würden.”[xxxix] [7] Diese Voraussage sollte nicht als zufällige Übertreibung betrachtet werden, da sie zwangsläufig aus Trotzkis gesamter theoretischer  Einschätzung über die Natur der UdSSR herrührt, und vor allem aus seiner festen Überzeugung, das ”sowjetische”, bürokratische System diene den arbeitenden Massen auf seinem Weg, da es ihnen ihre ”sozialen Errungenschaften” sichere. Eine solche Sichtweise ging natürlich davon aus, daß eine konterrevolutionäre Umwandlung des Stalinismus in den Kapitalismus von einem Aufbäumen der proletarischen Massen begleitet sein würde, um den ”Arbeiterstaat” und "ihr" verstaatlichtes Eigentum zu verteidigen. Und natürlich könne nur ein eisernes, faschistisches Regime den gewaltigen Widerstand der Arbeiter gegen die ”Wiedereinführung des Kapitalismus” niederringen und schlagen.

 

Selbstverständlich konnte Trotzki nicht wissen, daß 1989-90 die Arbeiterklasse das staatliche Eigentum und den ”kommunistischen” Staatsapparat nicht verteidigt, sondern vielmehr zu dessen Abschaffung beigetragen hat. Da die Arbeiter im alten System nichts gesehen haben, das seine Verteidigung rechtfertigen würde, führte die Umwandlung in die Marktwirtschaft und die Aufhebung des Staatseigentums nicht zu blutigen Klassenkämpfen, und kein faschistisches oder halb-faschistisches System stand auf der Tagesordnung. Es gibt somit keinen Grund, Trotzkis Voraussagen über diese Frage als bestätigt zu betrachten.

 

Wenn die ”sowjetische” Bürokratie keine herrschende Klasse gewesen ist, sondern, wie Trotzki gemeint hat, ein ”Polizist” im Verteilungsprozess, hätte die Wiedereinführung des Kapitalismus in der UdSSR eine ursprüngliche Akkumulation des Kapitals erfordert. Und tatsächlich, zeitgenössische russische Kommentatoren benützen oft den Ausdruck der ”ursprünglichen Akkumulation des Kapitals”. Damit meinen sie im Allgemeinen die Bereicherung dieser oder jener Person, die Anhäufung von Geld, Produktionsmitteln oder anderen Werten in den Händen der ”neuen Russen”. Wie auch immer, dies hat nichts zu tun mit einem wissenschaftlichen Verständnis von ursprünglicher Akkumulation, wie sie von Marx in seinem Buch Das Kapital beschrieben wurde. In seiner Untersuchung über die Entstehung des Kapitals unterstrich Marx, daß ”die sog. ursprüngliche Akkumulation also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmitteln” ist[xl] [7]. Das Entstehen einer Armee von Lohnarbeitern durch die Konfiszierung des Eigentums der Produzenten ist eine der Hauptvoraussetzungen für die Entstehung einer herrschenden Klasse. War in den Ländern der ehemaligen UdSSR während der 90er Jahre bei der ”Wiedereinführung des Kapitalismus” die Bildung einer Lohnarbeiterklasse mittels Enteignung der Produzenten notwendig? Ganz sicher nicht: Diese Klasse existierte bereits, die Produzenten hatten keinerlei Kontrolle über die Produktionsmittel - da gab es niemanden zu enteignen. Demnach ist die Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals bereits vorbei.

 

Trotzki hatte zweifelsohne recht, wenn er die ursprüngliche Akkumulation mit einer grausamen und blutigen Diktatur gleichsetzte. Auch Marx schrieb, dass ”das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" zur Welt kommt und daß es in seiner ersten Phase eine ”blutige Disziplin” benötigt[xli] [7]. Trotzkis Fehler bestand nicht darin, die ursprüngliche Akkumulation mit der Konterrevolution gleichzusetzen, sondern darin, nicht zu sehen, wie sich die Konterrevolution unter seinen Augen abspielte mit all ihren Charakteristiken wie Massakern und einer monströsen politischen Tyrannei. Die Millionen von ausgeplünderten und an Hunger und Armut gestorbenen Bauern, die jeglicher Rechte beraubten und zu einer ihre Kräfte weit übersteigenden Arbeit verdammten Proletarier, deren Gräber das Fundament für die unter den Fünfjahresplänen erstellten Gebilde waren, die unzähligen Gefangenen des Gulag, dies waren die wirklichen Opfer der ursprünglichen Akkumulation in der UdSSR. Die heutigen Besitzer brauchen kein Kapital zu akkumulieren, sondern sie müssen es lediglich unter sich neu verteilen, indem sie staatliches Kapital in privates Aktienkapital verwandeln[xlii] [7]. Doch dieser Akt bedeutet weder eine Veränderung der Gesellschaft, noch der herrschenden Klasse, und es braucht dazu auch keine große gesellschaftliche Umwälzung. Wenn wir dies nicht verstehen, so verstehen wir weder die ”sowjetische” Geschichte noch das Rußland von heute.

 

Fassen wir zusammen: Die trotzkistische Auffassung über die Bürokratie, die die grundlegenden theoretischen  Standpunkte und politischen Perspektiven Trotzkis zusammengefasst hat, ist unfähig, die Realität des Stalinismus und seine Entstehung zu erklären. Über die anderen Elemente der trotzkistischen Analyse des gesellschaftlichen Systems in der UdSSR (zum ”Arbeiterstaat”, zur ”postkapitalistischen” Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse und der ”Doppelrolle” des Stalinismus, etc.) können wir dasselbe sagen. Dennoch machte Trotzki Fortschritte bei der Klärung einer Frage: Dieser bewundernswerte Kommentator machte eine vernichtende Kritik an den Thesen über den ”Aufbau des Sozialismus” in der UdSSR. Und dies war viel für die damalige Zeit.

 

AG

 

                                                                       

 


[i] [7] Trotzki, Verratene Revolution, S. 242, Veritas Verlag, 1957

[ii] [7] ebenda.

[iii] [7] ebenda, S. 119.

[iv] [7] ebenda, S. 138.

[v] [7] ebenda, S. 133.

[vi] [7] ebenda, S. 234.

[vii] [7] ebenda, S. 121f.

[viii] [7] ebenda, S. 242.

[ix] [7] ebenda, S. 45.

[x] [7] ebenda, S. 235.

[xi] [7] ebenda, S. 84.

[xii] [7] Marx, ”Das Elend der Philosophie” MEW Bd. 4

[xiii] [7] MEW Bd. 25 S. 799ff.

[xiv] [7] Trotzki, Verratene Revolution, S. 243.

[xv] [7] ebenda, S. 243f.

[xvi] [7] Siehe den Artikel ”Vers la nouvelle étape”,  Russisches Dokumentations und Sammelzentrum zur Neuen Geschichte (RDSNG), Fach 325, Liste 1, Dossier 369, Seite 1-11.

[xvii] [7] Bis 1930 verlor die Opposition 2/3 ihrer Mitglieder, mitsamt ihrer ”historischen Führung” (10 von 13 Personen welche 1927 die ”Plattform der Bolschewiki-Leninisten” unterschrieben hatten)

[xviii] [7] RDSNG, F. 325, L. 1, D. 175, S. 4, 32-34.

[xix] [7] ebenda, D. 371, S. 8.

[xx] [7] Oppositions-Bulletin (OB), 1931, Nr. 20, Seite 10.

[xxi] [7] ebenda, 1939, Nr. 79-80, S. 6./ Siehe auch Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Verlag Neuer Kurs 1973, S. 20.

[xxii] [7] RDSNG, F. 325, L. 1, D. 499, S. 2.

[xxiii] [7] OB, 1932, Nr. 27, S. 6.

[xxiv] [7] ebenda, 1933, Nr. 33, S. 9-10.

[xxv] [7] Siehe Pierre Broué, Trotzki et le bloc des oppositions de 1932, Cahiers Leon Trotzki, 1980, Nr. 5, S. 22.

[xxvi] [7] Siehe L.Trotzki, Briefe und Korrespondenz, Moskau, 1994, S. 54-55.

[xxvii] [7] ebenda.

[xxviii] [7] OB, 1938, Nr. 66-67, S. 15.

[xxix] [7] Leo Trotzki, ”Stalin” , Rowohlt Verlag, Bd. 2, 1971.

[xxx] [7] ebenda, Seite 253.

[xxxi] [7] Siehe Trotzki, Die UdSSR im Krieg, 1939.

[xxxii] [7] Siehe Trotzki, Verratene Revolution, S. 243f.

[xxxiii] [7] Vadim Rogovin war in der ”sowjetischen” Epoche einer der wichtigsten offiziellen Propagandisten und Kommentatoren der Politik der KPdSU und zugleich Professor am Russischen Soziologischen Institut. Während der Perstroika verwandelte er sich selbst in einen ”Anti-Stalinisten” und bedingungslosen Bewunderer Trotzkis. Er schrieb verschiedene apologetische, selbstrechtfertigende Bücher über Trotzki und dessen Ideen.

[xxxiv] [7] V.Z. Rogovin, Die stalinistische Neo-NEP, Moskau, 1994, S. 344.

[xxxv] [7] OB, 1933, Nr. 36-37, S. 7.

[xxxvi] [7] O. Krychtanovskaja, Die Finanzoligarchie in Russland, Isvestia, 10. Jan. 1996.

[xxxvii] [7] ebenda.

[xxxviii] [7] Zhuganov ist der Chef der ”erneuerten” Kommunistischen Partei und war Hauptrivale Jelzins bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Victor Ampilov ist der führende Kopf der ”harten” stalinistischen Bewegung in Russland und Gründer der ”Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei”. Er propagiert die Wiedereinführung des ”klassischen” Totalitarismus à la 30er Jahre. 

[xxxix] [7] OB, 1935, Nr. 41, S. 3.

[xl] [7]Karl Marx, Das Kapital, I. Band; MEW Bd. 23 S. 742.

[xli] [7] ebenda. S. 788 und 770.

[xlii] [7] Nach konkreten soziologischen Studien bei derselben Schlussfolgerung angelangt, schreibt O. Krychtanovskaja: ”Wenn wir die Situation in Russland während der 90er Jahre vorsichtig analysieren (...), so stellen wir fest, dass einzig die unglücklichen Physiker die sich entschieden ”Broker” zu werden oder die Ingenieure und Techniker welche einen Kiosk kauften oder Handelskooperativen gründeten ”ursprüngliche Akkumulation” betrieben. Diese Akkumulation endete meist im Kauf von ”MMM”-Aktien (eine Finanzpyramide) (das Resultat ist wohlbekannt) und hat im seltensten Falle zur ”erweiterten Akkumulation” geführt.” (Isvestia, 10. Jan. 1996).   

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Trotzkismus [8]

Moskauer Konferenzen - Der Beginn einer proletarischen Debatte in Rußland

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Der Beginn einer proletarischen Debatte in Rußland

 

Im Gefolge des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes in Osteuropa entstand in Rußland ein Komitee für das Studium des Vermächtnisses von Leo Trotzki. Dieses Komitee hielt eine Reihe von Konferenzen über verschiedene Aspekte im Werk jenes großen marxistischen Revolutionärs ab. Im Verlaufe des Studiums von Trotzkis Beitrags wurde nicht nur klar, daß Trotzki selbst weder der einzige noch der radikalste und entschlossenste Vertreter der ''trotzkistischen'' Linksopposition gewesen war, sondern auch daß es andere oppositionelle Strömungen innerhalb wie außerhalb Rußlands gegeben hat, die noch viel weiter links angesiedelt waren. Genauer gesagt: Es stellte sich heraus, daß es eine andere alternative Tradition im proletarischen Kampf gegen den Stalinismus gibt, jene des Linkskommunismus, deren Vertreter noch heute existieren. Auf Initiative der russischen Mitglieder des Komitees wurde unsere Organisation, die Internationale Kommunistische Strömung, zur Konferenz von 1996 in Moskau eingeladen, die sich der Bewertung von Trotzkis Buch Verratene Revolution widmete. Auf Vorschlag der IKS wurden auch andere Gruppen der Kommunistischen Linken eingeladen, die es jedoch entweder versäumten zu kommen, wie im Fall des Internationalen Büros für eine Revolutionäre Partei, oder sich aufgrund eines tiefsitzenden Sektierertums verweigerten, wie im Fall der ''Bordigisten''. Dennoch war die Intervention der IKS längst nicht der einzige Ausdruck des lebendigen Proletariats auf dieser Konferenz. Die Kritik an Trotzkis Weigerung, den staatskapitalistischen Charakter des stalinistischen Rußlands anzuerkennen, die auf der Konferenz von einem russischen Mitglied des Organisationskomitees vorgetragen wurde und die wir in dieser Ausgabe unserer Internationalen Revue veröffentlichen, ist ein Beweis dafür. Ferner wurde ein Jahr später die Anwesenheit linkskommunistischer Gruppen auf der 1997er Konferenz über Trotzki und die Oktoberrevolution durch die Teilnahme eines anderen Repräsentanten des proletarischen Milieus, zusammen mit der IKS, nachdrücklich untermauert: die Communist Workers Organisation, die zusammen mit Battaglia Comunista das oben erwähnte Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) bildet.

 

 

Das Vermächtnis von Trotzki und die Aufgaben in der gegenwärtigen Periode

 

Die Konferenzen über das Vermächtnis Trotzkis fanden im Schatten von Ereignissen weltweiter Bedeutung statt: dem Zusammenbruch der stalinistischen Regimes Osteuropas (und somit der gesamten Nachkriegsweltordnung von Yalta) und der UdSSR selbst. Die Tatsache, daß der Stalinismus nicht vom Klassenkampf des Proletariats gekippt wurde, sondern sich unter dem Gewicht der historischen Krise des Weltkapitalismus und seiner spezifischen Schwächen als ökonomisch und politisch rückständige Fraktion der Bourgeoisie auflöste, erlaubte es der herrschenden Klasse, diese Ereignisse als Bankrott nicht des Stalinismus, sondern des Kommunismus und insbesondere des Marxismus darzustellen. Indem er seine eigene historische Auflösung als die des Marxismus präsentierte, war der Todfeind des Proletariats, der Stalinismus, im Endeffekt selbst in seinem Scheitern in der Lage, dem Weltkapitalismus noch einen letzten, großen Dienst zu erweisen. Denn diese Ereignisse wurden dazu benutzt, das Bewußtsein der Arbeiter in aller Welt in einer höchst kritischen Frage zu attackieren: jener nach dem historischen Ziel ihres Kampfes - dem Kommunismus selbst. Aber auch wenn die weltweiten historischen Ereignisse von 1989-92 somit in einen Rückgang auf der Ebene des Klassenbewußtseins innerhalb des Proletariats als Ganzes mündeten, so bedeutete dies noch keine historische Niederlage der Arbeiterklasse, deren Kampfkraft und Fähigkeit zur kollektiven Reflexion intakt blieben. Während sie also einen Rückgang im Bewußtsein der proletarischen Massen bewirkten, enthielten diese Ereignisse gleichzeitig auch die Perspektive einer quantitativen Entwicklung und qualitativen Heranreifung kleiner revolutionärer Minderheiten der Klasse. Indem sie unverfroren Stalinismus mit Kommunismus gleichsetzt, zwingt die Bourgeoisie jene suchenden proletarischen Minderheiten, die diese Gleichsetzung ablehnen, die folgende Frage zu stellen: Welche politischen Strömungen in der Geschichte der Arbeiterklasse widersetzten sich im Namen des Kommunismus und des Proletariats dem Stalinismus, und welcher Teil dieses Erbes kann heute als Grundlage für revolutionäre Aktivitäten dienen? Nun ist es eine zentrale These des Marxismus, daß das Klassenbewußtsein des Proletariats vor allem ein historisches Bewußtsein ist und daß daher revolutionäre Minderheiten ihre Aufgaben nur erfüllen können, wenn sie die Anpassung und kritische Synthese all der Beiträge der vergangenen Generationen von Marxisten zum Ausgangspunkt ihres Kampfes machen. Insbesondere die marxistische Auffassung über die Rolle einer Fraktion, die in einer Periode der Niederlage des Proletariats die unersetzliche Verantwortung dafür hat, alle Lehren aus jener Niederlage zu ziehen und sie an künftige revolutionäre Generationen weiterzureichen (Lenin und die Bolschewiki nach der Niederlage der Revolution von 1905 in Rußland; Luxemburg und die Spartakisten nach der Niederlage, die die Unterstützung des I.Weltkrieges durch die Sozialdemokraten 1914 verkörperte; die italienische Fraktion rings um die Publikation Bilan nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 etc.), ist eine zentrale Konkretisierung dieses Verständnisses. Von den vielen Tausenden von revolutionären Elementen, die, angestoßen von den proletarischen Massenkämpfen einer neuen und unbesiegten Generation der Klasse nach 1968, international aufgetaucht waren, verschwanden, durchdrungen von Ungeduld und einem einseitigen Vertrauen in die ''Spontaneität'' des Klassenkampfes zum Nachteil einer langfristigen theoretischen und organisatorischen Arbeit, die meisten von ihnen spurlos, genau aus dem Grunde, weil sie daran scheiterten, sich in den früheren Positionen und Traditionen der Arbeiterbewegung zu verankern. Obwohl die Bedingungen für die Entwicklung von revolutionären Minderheiten in der Phase nach 1989 in gewisser Weise schwieriger geworden sind, da es ihr an dem unmittelbaren Beispiel eines proletarischen Massenkampfes mangelt, der die Generation nach 1968 inspirierte, eröffnet die Tatsache, daß suchende proletarische Elemente sich heute gezwungen fühlen, nach vergangenen revolutionären Traditionen zu suchen und sich mit ihnen zu verbinden, um der bürgerlichen Kampagne über den ''Tod des Kommunismus'' zu widerstehen, die Perspektive einer breiten und tiefgehenden Wiederentdeckung des großen marxistischen Vermächtnisses der Linkskommunisten. In Rußland selbst, dem zentralen und allerersten Opfer der stalinistischen Konterrevolution, konnte erst mit dem Zusammenbruch der Herrschaft und der Hegemonie des Stalinismus eine neue Generation von Revolutionären entstehen - über 30 Jahre nachdem derselbe Prozeß im Westen begonnen hatte. Ferner wogen die zerstörerischen weltweiten Auswirkungen jener ein halbes Jahrhundert lang währenden Konterrevolution - die Zerstörung der organischen Verbindung zu den vergangenen revolutionären Generationen, die Vergrabung der wirklichen Geschichte jener Bewegung unter Tausenden von Leichen und Lügen - besonders schwer im Land der Oktoberrevolution. Das Auftreten fragender proletarischer Elemente in Rußland heute bestätigt, was das Wiederaufleben des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre nicht nur im Westen, sondern auch in Polen, Rumänien, China und gar in Rußland selbst bereits demonstriert hat: das Ende der stalinistischen Konterrevolution. Doch wenn die Bedingungen für die Wiederentdeckung der wahren Geschichte der proletarischen Bewegung dort auch besonders schwer sind, so ist es dennoch unvermeidlich, daß in einem Land, in dem es kaum eine Arbeiterfamilie gibt, die nicht wenigstens ein Mitglied im stalinistischen Terror verloren hatte, die Enthüllung der historischen Wahrheit den Ausgangspunkt bilden muß. Wenn mit der Perestroika die Frage der ''Rehabilitierung'' der Opfer des Stalinismus zum Slogan der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Dissidenten-Opposition wurde, so wurden die Vertreter des Proletariats vor eine sehr wichtige Aufgabe gestellt: die Wiederherstellung der revolutionären Tradition der besten dieser Opfer, der verschworenen Klassenfeinde des Stalinismus. Es ist daher alles andere als ein Zufall, daß die ersten sich entfaltenden Versuche russischer Revolutionäre, die Interessen ihrer Klasse zu definieren und zu debattieren und Kontakte zu den linkskommunistischen Organisationen im Ausland herzustellen, im Zusammenhang mit der Frage des Vermächtnisses des proletarischen Kampfes gegen den Stalinismus und insbesondere des Vermächtnisses von Trotzki entstanden. Von all den Führern der Opposition gegen die Degeneration der Russischen Revolution und der Kommunistischen Internationale war Trotzki weit und breit der bekannteste. Seine Rolle bei der Gründung der Dritten Internationalen, in der Oktoberrevolution selbst und im darauffolgenden Bürgerkrieg war so gigantisch (vergleichbar selbst mit jener Lenins), daß selbst in der UdSSR die stalinistische Bourgeoisie nie in der Lage war, seinen Namen vollständig aus den Geschichtsbüchern oder aus dem kollektiven Gedächtnis des russischen Proletariats zu radieren. Aber genauso unvermeidlich rückte das Vermächtnis Trotzkis in den Brennpunkt einer politischen Auseinandersetzung. Dies deshalb, weil Trotzki, der couragierte Verteidiger des Marxismus, Gründer einer politischen Strömung war, die nach einem langen Prozeß der opportunistischen Degeneration schließlich die Arbeiterklasse verriet, indem sie den proletarischen Internationalismus Lenins abschaffte und aktiv am zweiten imperialistischen Weltkrieg teilnahm. Die trotzkistische Strömung, die aus diesem Verrat entstand, war zu einer Fraktion der Bourgeoisie geworden, mit einem klar definierten (dirigistischen) Programm für das nationale Kapital, mit einer bürgerlichen Außenpolitik (im allgemeinen zur Unterstützung des ''sowjetischen'' Imperialismus und des Ostblocks) und mit der besonderen Aufgabe der radikalen Sabotage der Arbeiterkämpfe und der marxistischen Reflexion aufstrebender revolutionärer Elemente. Hinter Trotzki gibt es also nicht nur ein Vermächtnis, sondern zwei: das proletarische Vermächtnis Trotzkis selbst und das bürgerliche, ''kritische'' stalinistische Vermächtnis des Trotzkismus.

 

 

Die Widersprüche auf der Konferenz über Trotzkis Vermächtnis

 

Von Anbeginn enthielt die Konferenz, weit davon entfernt, eine wirkliche Einheit im Willen und in der Herangehensweise zu bilden, zwei sich widersprechende Tendenzen. Die erste, die bürgerliche Tendenz, wird von Mitgliedern trotzkistischer Organisationen und auch von einigen sich ihrer Sache verschriebenen Historikern repräsentiert, die vorwiegend aus dem Westen kommen und versuchen, in Rußland Fuß zu fassen, wobei diese Organisationen sogar Mitglieder entsenden, um dort zu leben etc. Auch wenn sie an den Konferenzen teilnehmen und behaupten, daß es ihnen um die wissenschaftliche Untersuchung ginge, gilt ihr tatsächliches Bestreben der Verfälschung der Geschichte (eine Spezialität, aber kein Monopol des Stalinismus). Ihr Ziel ist es, die Linksopposition als einzigen proletarischen Gegner des Stalinismus, Trotzki als den einzigen Repräsentanten der Linksopposition und den heutigen Trotzkismus als den Erben des Vermächtnisses von Trotzki darzustellen. Aus diesem Grund sind sie dazu gezwungen, die meisten Beiträge des proletarischen Kampfes gegen den Stalinismus mit Stillschweigen zu übergehen, einschließlich vieler von der Linksopposition gemachter, einschließlich einiger Beiträge von Trotzki. Und sie sind gezwungen, selbst das Vermächtnis Trotzkis zu verfälschen. Sie tun dies, wie dies die bürgerlichen Trotzkisten immer getan haben, indem sie Trotzki in eine harmlose Ikone, in einen Gegenstand der Verehrung, und seine politischen Fehler in nicht in Frage zu stellende Dogmen umwandeln, während sie die kritische, dynamische, revolutionäre Herangehensweise, die Loyalität zum Proletariat, die das Kennzeichen von Trotzkis Marxismus gewesen war, liquidieren. Mit anderen Worten: Sie ''verwandeln'' Trotzki auf dieselbe Weise, wie die Stalinisten Lenin ''verwandelten''. Nicht genug damit, daß die Agenten Stalins Trotzki in Mexiko ermordeten - die Trotzkisten machten sich daran, die revolutionäre Tradition, für die er stand, zu eliminieren.

 

Die zweite Tendenz im Komitee und auf den Konferenzen, die die Interessen des Proletariats repräsentierte, sträubte sich rasch gegen die trotzkistischen Verfälschungen. Auch wenn sie aufgrund der stalinistischen Konterrevolution nicht in der Lage war, von klar definierten proletarischen programmatischen Positionen auszugehen, so zeigte diese Tendenz doch durch ihre Entschlossenheit, die gesamte Geschichte des proletarischen Kampfes gegen den Stalinismus komplett, ohne jegliche Tabus und Kompromisse, aufzudecken und die verschiedenen Beiträge auf die Tagesordnung einer offenen und kritischen Debatte zu setzen, ihre Sorge um die Arbeiterklasse. Diese Elemente bestanden besonders darauf, daß die Aufgabe der Konferenzen nicht die Propagierung des Trotzkismus in Rußland ist, sondern die kritische Würdigung seines Vermächtnisses im Verhältnis zu anderen proletarischen Beiträgen. Dieses proletarische Verhalten im Komitee, insbesondere von seiten des Autors des in dieser Revue veröffentlichten Beitrages, erhielt gleich von zwei Seiten unter den russischen Teilnehmern Unterstützung. Einerseits von jungen anarcho-syndikalistischen Elementen, die sich der Untersuchung des Vermächtnisses nicht nur des Anarchismus, sondern auch des Linkskommunismus verpflichtet hatten. Andererseits von gewissen russischen Historikern, die sich zwar nicht in den heutigen organisierten politischen Aktivitäten engagieren, aber den besten Traditionen der Loyalität gegenüber der wissenschaftlichen Wahrheit treu geblieben sind. Einige Manöver der Trotzkisten im Komitee und auf den Konferenzen, die Stimmen des Proletariats zum Schweigen zu bringen, erinnerte diese Historiker unfreiwillig an die Art der stalinistischen Druckausübung, unter der sie in der UdSSR so lange gelitten hatten.

 

Die Sabotage der ersten Schritte der proletarischen Klärung in Rußland und die Etablierung einer trotzkistischen Präsenz zur Verhinderung einer Wiederaneignung der Lehren des proletarischen Kampfes in jenem Land sind ein wichtiges Ziel der Bourgeoisie. Für den Trotzkismus und die Linke des internationalen Kapitals, die jahrzehntelang die UdSSR verteidigten, obwohl ihnen und ihrer Presse der Eintritt in jenes Land stets verwehrt worden war, ist ihre eigene Etablierung in Rußland und die Verhinderung einer proletarischen Debatte dort unverzichtbar für ihr eigenes Image als die wahren und einzigen Erben der Oktoberrevolution. (1)

 

Während der Perestroika begann die stalinistische KP den Zugang zu den historischen Archiven des Landes zu erlauben. Diese Maßnahme, Teil von Gorbatschows Politik der Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen den Widerstand innerhalb der Staatsbürokratie gegen seine ''Reform''politik, enthüllte sich bald als ein Ausdruck des Kontrollverlusts und der allgemeinen Auflösung des stalinistischen Regimes. Nachdem sich das Jelzin-Regime an der Macht etabliert hatte, schränkte es schnell den Zugang zu den Staatsarchiven, besonders in Bezug auf den Linkskommunismus und die Opposition links von Trotzki, ein. Obwohl die Jelzin-Regierung das private kapitalistische Eigentum neben dem bereits existierenden staatskapitalistischen Eigentum in Rußland wiedereinführte, verstand sie weitaus besser als Gorbatschow, daß jedes historische Infragestellen ihrer Vorgänger, von Stalin bis Breschnew, und jede Rehabilitierung des proletarischen Kampfes gegen den Staat der UdSSR ihre eigene Autorität nur untergraben kann.

 

Scheinbar im Gegensatz dazu, symphatisieren Teile der heutigen russischen Bourgeoisie mit der Idee, eine ikonisierte bürgerliche Fälschung Trotzkis, der als ''kritischer Anhänger'' einer geringfügig ''demokratisierten'' Nomenklatura dargestellt wird, zu benutzen, um ihr eigenes historisches Image aufzupolieren. Diese Sorge spiegelte sich in der Anwesenheit von stalinistischen Parteidissidenten auf der Konferenz wider, einschließlich eines Ex-Mitglieds von Suganows Zentralkomitee.

 

 

Die Konferenz von 1996 über die Verratene Revolution

 

Trotzkis berühmte Studie der Natur der UdSSR unter Stalin, in welcher er behauptete, daß einige ''Errungenschaften der Oktoberrevolution'' 1936 immer noch existierten, wurde von den Trotzkisten auf der Moskauer Konferenz von 1996 genutzt, um zu ''beweisen'', daß ein ''degenerierter Arbeiterstaat'' mit ''Elementen der sozialistischen Ökonomie'' bis in die 90er Jahre dort existiert hätte! Mitte der 30er Jahre glaubte Trotzki (der trotz der Zerschlagung des deutschen Proletariats 1933 nicht begriffen hatte, daß die revolutionäre Periode einer Epoche der Niederlage und der Konterrevolution gewichen war, und der die Kraft der russischer Arbeiteropposition innerhalb wie außerhalb der stalinisierten KP völlig überschätzt hatte), daß die Weltrevolution erst begonnen hätte und die Arbeiteropposition an die Macht zurückbringen würde. Im letzten Abschnitt seines Buches erklärt er: “Auf der Pyrenäenhalbinsel, in Frankreich, Belgien, wird augenblicklich das Los der Sowjetunion entschieden'' und schließt daraus, daß allein die siegreiche Revolution in diesen Ländern jetzt “den ersten Arbeiterstaat für die sozialistische Zukunft retten'' kann. Obwohl die Ereignisse in Spanien, Frankreich und Belgien mit dem kompletten Sieg der Konterrevolution und der Mobilisierung des westeuropäischen Proletariats für den imperialistischen Weltkrieg endeten, obwohl sie den Krieg und den ihm vorauseilenden Terror, die endgültige physische Liquidierung der letzten Überbleibsel der organisierten proletarischen Opposition in der UdSSR und den totalen Sieg der stalinistischen Konterrevolution nicht nur in der UdSSR, sondern auch in China und ganz Osteuropa bewirkten, wandelt der heutige Trotzkismus Trotzkis Fehler in ein religiöses Dogma um, indem er behauptet, daß Jelzins angebliche ''Wiederherstellung des Kapitalismus'' die Vorhersagen des ''Propheten'' Trotzki vollkommen bestätigt habe!

 

Gegen die bürgerliche Kanonisierung der Fehler Trotzkis zitierte die IKS seine Erklärung zu Beginn seines Buches Verratene Revolution: ''Mit den Herren bürgerlichen Ökonomisten braucht man sich nicht mehr zu streiten: der Sozialismus bewies sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten des “Kapital”, sondern auf einer Wirtschaftsarena, die einen Sechstel der Erdoberfläche bildet, bewies es nicht in der Sprache der Dialektik, sondern in der Sprache des Eisens, des Zements und der Elektrizität.” Wenn dies zuträfe, würde die Desintegration der stalinistischen Ökonomie uns dazu zwingen, die Überlegenheit des Kapitalismus über den ''Sozialismus'' zuzugeben - eine Schlußfolgerung, die die Weltbourgeoisie jetzt genüßlich daraus zieht. In der Tat begann Trotzki gegen Ende seines Lebens, hoffnungslos verfangen in seiner eigenen unrichtigen Definition der UdSSR, selbst das ''historische Scheitern des Sozialismus'' als Hypothese in Erwägung zu ziehen.

 

Es ist kein Zufall, daß ein wichtiger Teil der Argumentation in Verratene Revolution der ''Widerlegung'' gewidmet ist, daß Stalins Rußland staatskapitalistisch ist - diese Position wurde nicht nur innerhalb des Linkskommunismus, sondern auch in der Linksopposition selbst, sowohl in Rußland als auch im Ausland, ständig geltend gemacht. Der hier veröffentlichte Beitrag des Genossen AG aus Moskau stellt eine fundamentale Widerlegung der Position Trotzkis zur UdSSR vom Standpunkt des revolutionären Marxismus dar. Dieser Beitrag demonstriert nicht nur die staatskapitalistische Natur des stalinistischen Rußlands. Er enthüllt auch die grundsätzliche Schwäche in Trotzkis Verständnis der Degeneration des Roten Oktober. Während Trotzki die Konterrevolution, wenn sie denn nicht durch eine ausländische Invasion triumphieren würde, von der Bauernschaft erwartete, weshalb er auch in den Bucharinisten und nicht in den Stalinisten die Hauptgefahr in den 20er Jahren erblickte und Stalins Bruch mit Bucharin zunächst als einen Schritt hin zur revolutionären Politik ansah, war er gegenüber dem Hauptinstrument einer Konterrevolution von innen mit Blindheit geschlagen: dem ''Sowjet''staat, der die Sowjets ausgelöscht hatte. In der Tat enthüllte bereits seine Debatte mit Lenin über die Gewerkschaftsfrage, in der Lenin das Recht der Arbeiter, gegen ihren ''eigenen Staat'' zu streiken, verteidigte und Trotzki es verneinte, Trotzkis Schwäche in dieser Frage. Im Gegensatz zu Trotzkis unkritischem Glauben in den ''Arbeiterstaat'', hob Lenin bereits 1921 hervor, daß der Staat auch andere Klassen, die dem Proletariat antagonistisch gegenüberstehen, repräsentiere und ''bürokratisch deformiert'' sei. Hinzu kommt noch ein anderes, wichtiges Unverständnis Trotzkis - sein Glauben an die ''ökonomischen Errungenschaften'' und an die Möglichkeit, die sozialistische Umgestaltung zumindest in einem Land zu beginnen -, was mithalf, den Weg für den Verrat des Trotzkismus durch die Unterstützung des Sowjetimperialismus im 2. Weltkrieg zu ebnen.

 

Diese Debatte war nicht akademisch. Während der Konferenz riefen die Trotzkisten, indem sie zur Verteidigung der ''noch verbliebenen sozialistischen Errungenschaften'' in einem Kampf gegen den ''Privatkapitalismus'' aufriefen, den sie als ''noch immer nicht entschieden'' beurteilten, die russischen Arbeiter tatsächlich dazu auf, ihr Blut für die Verteidigung der Interessen jenes Teils der stalinistischen Nomenklatura zu vergießen, der durch den Zusammenbruch des Regimes verloren hatte. Überdies leugnen sie, indem sie die Kriege in Ex-Jugoslawien als ein Mittel zur ''Wiederherstellung des Kapitalismus'' in jenem Land darstellen, die imperialistische Natur dieses Konflikts und rufen die Arbeiter zur Unterstützung der sogenannten ''antikapitalistischen'' Seite auf (im allgemeinen die pro-russische serbische Fraktion, die auch vom britischen und französischen Imperialismus unterstützt wird). Während des offenen Forums am Ende der Konferenz intervenierte die IKS, um den imperialistischen Charakter der UdSSR, der Kriege in Jugoslawien und in Tschetschenien und der Linken des Kapitals zu entlarven. Unsere Stimme war jedoch nicht die einzige, die sich zur Verteidigung des proletarischen Internationalismus erhob. Einer der jungen russischen Anarchisten intervenierte ebenfalls, zunächst um die Manöver der Kollaborationspolitik des russischen Zweiges der militanten Tendenz innerhalb des Trotzkismus mit anderen linken, aber auch rechten Tendenzen zu denunzieren. Doch vor allem entlarvte der Genosse den imperialistischen Charakter des 2. Weltkriegs und der Teilnahme Rußlands an ihm - wahrscheinlich die erste öffentliche und somit historische internationalistische Erklärung dieser Art durch eine neue Generation von Revolutionären in Rußland.

 

 

Die Konferenz von 1997 über Trotzki und die Russische Revolution

 

Diese Konferenz wurde hauptsächlich durch eine unmittelbarere Konfrontation zwischen dem Trotzkismus und dem Linkskommunismus beherrscht. Der Einfluß des letztgenannten wurde größtenteils durch die Anwesenheit und die mutigen Interventionen der Communist Workers Organisation, aber auch durch einen anderen Beitrag des Genossen G. gesteigert. Dieser Beitrag erinnerte nicht nur an die Existenz linkskommunistischer Strömungen in Rußland, wie die Kommunistische Arbeitergruppe von Gabriel Miasnikow, der sich der stalinistischen Degeneration viel früher und weitaus entschlossener als Trotzki widersetzte. Er verwies auch, auf der Basis einer Untersuchung historischer Dokumente, auf die Existenz einer massiven Unzufriedenheit und sogar offener Gegnerschaft gegenüber Trotzkis halbherziger Politik, die in Forderungen nach einer sozialen Revolution gegen die stalinistische Bourgeoisie zum Ausdruck kam.

 

Die CWO und die IKS erinnerten daran, daß die Kommunistische Internationale von den Bolschewiki und den kommunistischen Linken im wesentlichen gegründet wurde, um die Weltrevolution zu verbreiten. Lenin und Trotzki übertrugen den bekanntesten Mitgliedern des holländischen Linkskommunismus, Pannekoek und Gorter, die Leitung des westeuropäischen Büros der Internationalen (in Amsterdam). Die wichtigsten kommunistischen Parteien dort wurden von Linkskommunisten gegründet: die KPD von den Spartakisten und den Bremer Linksradikalen und die italienische Partei von den Genossen um Bordiga. Überdies wurde die Komintern 1919 auf der Grundlage der Positionen der kommunistischen Linken gegründet. Das Manifest des Gründungskongresses, verfaßt von Trotzki, ist der deutlichste Ausdruck dafür; er zeigt auf, daß in der Epoche des dekadenten Staatskapitalismus der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf, die nationale Befreiung und die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie nicht mehr möglich sind und daß die Sozialdemokratie zum linken Flügel der Bourgeoisie geworden ist. Wenn Lenin und Trotzki, im Gegensatz zum Linkskommunismus, diesen Positionen nicht treu geblieben sind, dann hauptsächlich deshalb, weil sie nach 1917 in der Verteidigung der Interessen des russischen Übergangsstaates verstrickt waren. Daher ist der Linkskommunismus der wahre Verteidiger des großen revolutionären Erbes von Lenin und Trotzki zwischen 1905 und 1917. Dies beweist die Tatsache, daß die Kommunistische Linke den internationalistischen Positionen Lenins während des 2. Weltkriegs, als der Trotzkismus Verrat beging, treu geblieben war.

 

Die CWO und die IKS verteidigten den gigantischen Beitrag von Rosa Luxemburg für den Marxismus gegen den britischen Neotrotzkisten Hillel Tiktin, der, um russische Militante am Studium ihrer Werke zu hindern, behauptete, daß sie gestorben sei, weil sie ''keine Parteikonzeption'' gehabt habe, mit anderen Worten, es sei ihr eigener Fehler gewesen, daß sie von der sozialdemokratischen Konterrevolution ermordet wurde. (2)

 

Diese Konferenz enthüllte den russischen Genossen vor allem, daß der Trotzkismus die Stimme des Proletariats nicht tolerieren kann. Während der Konferenz selbst versuchten sie wiederholt, die Darstellungen und Interventionen der CWO und der IKS zu verhindern. Nach der Konferenz versuchten sie, die ''Feinde des Trotzkismus'' von künftigen Treffen auszuschließen und jene russischen Mitglieder aus dem Organisationsbüro des Komitees zu entfernen, die die Teilnahme von nicht-trotzkistischen politischen Strömungen auf den Konferenzen verteidigten. Zuvor schon hatten sie die Veröffentlichung der IKS-Beiträge auf der Konferenz von 1996 auf russisch mit dem Vorwand sabotiert, daß sie von ''keinem wissenschaftlichen Interesse'' seien.

 

 

Perspektiven

 

Wir müssen wohl kaum die internationale und historische Bedeutung der langsamen und schwierigen Entwicklung von proletarischen Positionen im Lande der Oktoberrevolution betonen. Es liegt auf der Hand, daß die Entwicklung eines solchen Klärungsprozesses enormen Hindernissen und Gefahren ausgesetzt ist. Als Ergebnis insbesondere einer über ein halbes Jahrhundert währenden stalinistischen Konterrevolution, deren Zentrum genau in jenem Land lag, und der extremen Manifestation der kapitalistischen Krise dort, sind die suchenden proletarischen Elemente in Rußland noch immer isoliert und unerfahren, weiterhin abgeschnitten von großen Teilen der wahren Geschichte des Proletariats und der marxistischen Bewegung sowie den enormen materiellen Schwierigkeiten und der Gefahr der Ungeduld und Demoralisierung ausgesetzt. Hinzu kommt die Tatsache, daß die Linke des Kapitals ganz sicher damit fortfahren wird, diesen Prozeß um alles in der Welt zu sabotieren.

 

Die wahre Aufgabe der Revolutionäre in Rußland heute, nach Jahrzehnten der furchtbarsten Konterrevolution in der Geschichte, die nicht nur zwei Generationen von proletarischen Revolutionären ausgelöscht hat, sondern auch unserer Klasse ihre wahre Geschichte ''gestohlen'' hat, besteht in der politischen Klärung von Positionen. Die Entwicklung einer revolutionären Perspektive für die Arbeiterklasse von heute kann nur eine äußerst langfristige, schwere Aufgabe sein. Das Proletariat braucht keine Revolutionäre, die nach kurzer Zeit wieder verschwinden, sondern Organisationen, die fähig sind, eine historische Arbeit und Perspektive zu entwickeln. Daher wird von Revolutionären vor allem ein Marxismum an Klarheit und Standfestigkeit in proletarischen Positionen und die Fähigkeit verlangt, die wahren Traditionen der Arbeiterklasse zu verteidigen.

 

Die IKS hat sich selbst dazu verpflichtet, die Unterstützung aller Bemühungen in diese Richtung fortzusetzen. Insbesondere wollen wir die russischen Genossen ermuntern, die Beiträge des Linkskommunismus zu studieren, den sie selbst als einen echten und wichtigen Ausdruck des historischen Kampfes unserer Klasse anerkennen.

 

Nach unserer Auffassung war die Art von Konferenzen, wie sie bis dahin stattgefunden haben, ein wichtiges Moment in der Debatte und Konfrontation gewesen, hat aber nun ihre Grenzen erreicht, insofern als es nicht mehr möglich ist, angesichts von Sabotage und Verfälschungen der Art, wie wir sie bei den Trotzkisten gesehen haben, die Klärung fortzusetzen. Der Klärungsprozeß selbst jedoch kann und muß weitergehen, und dies ist nur in internationalem Rahmen möglich.

 

Nicht nur die russischen Revolutionäre, sondern auch das internationale Proletariat wird von diesem Prozeß nutznießen. Der im Folgenden veröffentlichte Text ist ein klares Anzeichen dafür, wie reich dieser Beitrag sein kann. (3) KR

 

 

(1)  So nahm der französische Trotzkist Krivine ein TV-Team des deutsch-französischen Kanals Arte zur Konferenz mit und blieb nur einige Sitzungen lang, um vor der Kamera zu posieren.

 

(2) Die trotzkistische (und stalinistische) Lüge, derzufolge die Deutsche Revolution von 1918-23 infolge Rosa Luxemburgs angeblicher Unterschätzung der Partei und der Notwendigkeit diese zum richtigen Zeitpunkt zu gründen gescheitert sei, wurde von Trotzki, der eine marxistische Erklärung zum Rückstand und zur Schwäche der damaligen politischen Avantgarde in Deutschland gab, nicht geteilt. “Die Geschichte hat der Menschheit einmalmehr eine ihrer dialektischen Widersprüche präsentiert: genau weil die deutsche Arbeiterklasse in der vorangegangenen Periode ihre größte Energie dem Aufbau einer unabhängigen Organisation gewidmet hat, welche innerhalb der Zweiten Internationalen als Partei und auch als Gewerkschaftsapparat den ersten Rang einnahm, genau aus diesem Grunde hat sich die deutsche Arbeiterklasse in einer neuen Epoche, im Moment des Wechsels zum offenen revolutionären Kampf um die Macht als organisatorisch sehr verletzlich offenbart.” (“Die kriechende Revolution”, “Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationalen”) In der Tat war die Fraktionsarbeit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, welche Rosa Luxemburg und der Spartakusbund gegen den Verrat der Führung und mit dem Ziel die Partei der Zukunft zu bilden führten, nicht nur einer der kühnsten und entschlossensten Kämpfe für die Partei in der bisherigen Geschichte, sondern er entsprach auch den von Lenin verwirklichten Traditionen der Fraktionsarbeit.

 

(3) Wir sind im Ganzen mit der Analyse und den in diesem Dokument entwickelten Argumenten einverstanden. Doch dies heißt nicht, daß wir damit auch alle Formulierungen als richtig erachten. So scheint uns die Idee, nach der “die Arbeiterklasse (in Rußland) zur  Abschaffung des staatlichen Eigentums und des kommunistischen Staatsapparates beigetragen hat” als falsch. In keiner Weise war die Arbeiterklasse als Klasse selbst ein aktiver Faktor in den Umwälzungen, die in den sogenannt sozialistischen Ländern damals stattgefunden haben. Die Tatsache, daß eine Mehrheit der Arbeiter, als Opfer von demokratischen Illusionen, hinter die Ziele der “liberalen” Fraktion der Bourgeoisie gegen die stalinistische gezogen wurde heißt absolut nicht, daß die Arbeiterklasse eine aktive Rolle spielte. Die imperialistischen Weltkriege haben Dutzende von Millionen Arbeiter erfaßt. Doch dies bedeutet nicht, die Arbeiterklasse hätte sich aktiv an den Massakern beteiligt. Als sich die Arbeiterklasse als Klasse erhoben hat, wie 1917 in Rußland und 1918 in Deutschland, hatte dies zum Ziel, dem Krieg ein Ende zu setzen. Auch trotz einiger unglücklicher Formulierungen ist dies ein hervorragender Text den wir begrüßen.                   

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Stalinismus [9]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/bordigismus [2] https://de.internationalism.org/en/tag/3/49/politische-konomie [3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/soziale-foren [4] https://de.internationalism.org/en/tag/1/223/deutsche-revolution [5] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1919-deutsche-revolution [6] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/dritte-internationale [7] https://de.internationalism.org/content/1362/diskussionsbeitrag-aus-russland-die-nicht-identifizierte-klasse-die-sowjetische [8] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/trotzkismus [9] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/stalinismus