Gespeichert von InternationaleRevue am
Was war die Natur des Systems das in unserem Land während der ”sowjetischen” Periode existierte?
Dies ist sicherlich eine der wichtigsten Fragen der Geschichte und in einem gewissen Masse auch für die anderen Gesellschaftswissenschaften. Und es ist mitnichten eine akademische Frage - sie ist stark mit der heutigen Zeit verknüpft, da die gegenwärtige Realität ohne eine Kenntnis der Vergangenheit nicht verstanden werden kann.
Die Frage kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Welche Natur hatte das für das ”sowjetischen” System zentrale, die Entwicklung des Landes bestimmende Subjekt, d.h. die herrschende Bürokratie? Welches war ihr Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Schichten? Welche Motivationen und Bedürfnisse bestimmten ihr Handeln?
Es ist unmöglich, diese Fragen gewissenhaft zu studieren, ohne die Werke Leo Trotzkis zu kennen, einem der ersten Autoren, welche versuchten, die Natur des ”sowjetischen” Systems und seiner herrschenden Schicht zu verstehen und zu analysieren. Trotzki widmete diesem Problem mehrere Werke, doch seine weitreichendsten und konzentriertesten Ansichten über die Bürokratie finden sich in seinem vor 60 Jahren erschienenen Buch Verratene Revolution.
Die grundlegenden Charakterzüge der Bürokratie
Erinnern wir uns an die Hauptcharakterzüge der Bürokratie, wie sie Trotzki in seinem Buch beschreibt:
1. Die obersten Etagen der gesellschaftlichen Pyramide der UdSSR sind besetzt durch ”die einzige im vollen Sinne des Wortes privilegierte und kommandierende Schicht”, und diese Schicht, ”die, ohne selbst eine produktive Arbeit zu vollbringen, kommandiert, verwaltet, dirigiert und verteilt Züchtigung und Strafen.” Laut Trotzki umfaßte sie zwischen 5 und 6 Millionen Personen[i].
2. Diese Schicht, die alles dirigiert, befindet sich außerhalb jeglicher Kontrolle durch die Massen, welche alle gesellschaftlichen Güter produzieren. Die Bürokratie beherrscht die ”folgsamen und schweigenden” arbeitenden Massen[ii].
3. Diese Schicht hält die materiellen Ungleichheiten in der Gesellschaft aufrecht: ”Limousinen für die ”Aktivisten”, gute Parfums für ”unsere Frauen”, Margarine für die Arbeiter, ”Lux”-Läden für die Vornehmen, der Anblick der Delikatessen durch die Fensterscheiben für den Pöbel”[iii]. Grundsätzlich sind die Lebensbedingungen der herrschenden Schicht dieselben wie die der Bourgeosie: sie unfasst ”alle Stufen vom Kleinbürgertum des Krähwinkels bis zur hauptstätdischen Grossbourgeoisie” [iv].
4. Diese Schicht herrscht nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv, indem sie sich als einzigen Leiter der Gesellschaft sieht. Laut Trotzki besitzt sie ”das spezifische Bewusstsein der herrschenden ”Klasse””[v].
5. Die Herrschaft dieser Schicht wird durch die Repression aufrechterhalten, und ihr Wohlstand durch ”verschleierte Aneignung fremder Arbeit”. ”Eine privilegierte Minderheit der Aktionäre lebt auf Kosten der untervorteilten Mehrheit” schreibt Trotzki[vi].
6. Es existiert ein permanenter gesellschaftlicher Kampf zwischen dieser herrschenden Schicht und der unterdrückten Mehrheit von Arbeitern[vii].
Trotzki zeichnet somit folgendes Bild: Es existiert eine zahlenmäßig große gesellschaftliche Schicht, welche die Produktion sowie auch das Produzierte in einer monopolistischen Art und Weise kontrolliert und sich auch einen Großteil dieses Produktes aneignet (mit anderen Worten: eine Form der Ausbeutung). Ihre gemeinsamen materiellen Interessen und deren Widerspruch gegenüber der produzierenden Klasse hält sie zusammen.
Was ist für den Marxismus eine gesellschaftliche Schicht, welche all diese Charakteristiken in sich trägt? Darauf gibt es nur eine Antwort: Es ist die wortwörtliche Beschreibung der herrschenden gesellschaftlichen Klasse.
Trotzki führt die Leser zu derselben Schlußfolgerung. Er selbst jedoch macht sie nicht, auch wenn er schreibt, daß die Bürokratie in der UdSSR ”etwas mehr ist als nur eine Bürokratie”[viii]. ”Etwas mehr als das”, doch was nun? Trotzki gibt darauf keine Antwort. Noch mehr, er widmet ein ganzes Kapitel seines Buches dem Anliegen, die bürgerliche Klassennatur der Bürokratie zu widerlegen. Trotzki sagt A, doch nachdem er die ausbeutende herrschende Klasse ausführlich beschrieben hat, zögert er im letzten Moment und weigert sich, B zu sagen.
Stalinismus und Kapitalismus
Bei Trotzkis Vergleich zwischen der stalinistischen Bürokratie und dem kapitalistischen System finden wir dieselbe Zurückhaltung. ”Mutatis mutandis ist die Stellung der Sowjetregierung gegenüber der Gesamtwirtschaft die eines Kapitalisten gegenüber dem Einzelunternehmen”, schreibt Trotzki im zweiten Kapitel seines Buches Verratene Revolution[ix].
Im neunten Kapitel schreibt er jedoch: ”Die Aushändigung der Fabriken an den Staat hat die Lage des Arbeiters nur juristisch (Hervorhebung durch AG) verändert; in Wirklichkeit ist er, während er eine bestimmte Anzahl von Stunden für einen bestimmten Lohn arbeitet, gezwungen zu darben. (...) Die Arbeiter verloren jeglichen Einfluß auf die Leitung der Betriebe. Beim Akkordlohn, schweren materiellen Daseinsbedingungen, Fehlen der Freizügigkeit, einem fürchterlichen Polizeiapparat, der in das Leben jedes Betriebes eindringt, fühlt sich der Arbeiter schwerlich als ”freier Werkmann”. Im Beamten sieht er den Vorgesetzten, im Staat den Herrn.”[x]
Im selben Kapitel beschreibt Trotzki, daß die Verstaatlichung des Besitztums die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den herrschenden und den unterworfenen Schichten nicht aufhebt: Erstere genießen den größtmöglichen Luxus, zweitere leben in derselben Armut wie zuvor und verkaufen ihre Arbeitskraft. Dasselbe beschreibt er auch im vierten Kapitel: ”Das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln verwandelt nicht Mist in Gold und umgibt nicht das Schwitzsystem, das mit der Hauptproduktivkraft, dem Menschen, Raubbau treibt mit einem Heiligenschein”.[xi]
Diese Thesen scheinen die grundlegenden Phänomene sehr klar aus marxistischer Sicht zu beschreiben. Marx hat immer hervorgehoben, daß der Hauptcharakterzug eines gesellschaftlichen Systems nicht durch sein Recht und seine ”Eigentumsformen” bestimmt wird, da eine derartig isolierte Analyse unbrauchbar und abstrakt ist[xii]. Der entscheidende Faktor sind die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Stellung der gesellschaftlichen Schichten zum gesellschaftlichen Mehrprodukt.
Eine Produktionsweise kann auf verschiedenen Formen des Eigentums gründen. Das Beispiel des Feudalismus zeigt dies deutlich. Während des Mittelalters basierte er in den westlichen Ländern auf dem privaten Feudaleigentum des Bodens und in den Ländern des Ostens auf dem staatlichen Feudaleigentum. Dennoch waren die gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Fällen feudal und stützten sich auf die feudale Ausbeutung der Bauernschaft.
Im dritten Band des Kapitals beschreibt Marx als Hauptcharakteristik jeglicher Gesellschaft "die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird". Was schlußendlich bestimmt, ist das Verhältnis zwischen denjenigen, die den Ablauf und die Früchte der Produktion kontrollieren, und denjenigen, welche letztere hervorbringen; die Stellung der Eigentümer der Produktionsbedingungen gegenüber den unmittelbaren Produzenten: Darin finden ”wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion"[xiii].
Wir haben bereits aufgezeigt, wie Trotzki das Verhältnis zwischen der herrschenden Schicht und den Produzenten beschreibt. Auf der einen Seite die tatsächlichen ”Eigentümer der Produktionsmittel”, verkörpert im Staat (der organisierten Bürokratie) und auf der anderen Seite die Eigentümer de iure, in Tat und Wahrheit die jeglicher Rechte beraubten Arbeiter, die Lohnarbeiter, aus denen ”die unbezahlte Arbeit ausgesogen wird”. Daraus können wir nur eine einzige logische Schlußfolgerung ziehen: es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied in der Natur der stalinistischen Bürokratie und des ”klassischen” Kapitalismus.
Auch hier, nachdem er A gesagt, nachdem er die grundsätzliche Identität beider Systeme aufgezeigt hat, sagt Trotzki nicht B. Im Gegenteil stemmt er sich kategorisch gegen eine Gleichstellung der stalinistischen Gesellschaft mit dem Staatskapitalismus und kommt zur These, daß in der UdSSR eine spezielle Form von ”Arbeiterstaat” existiere, in der das Proletariat vom ökonomischen Standpunkt her gesehen eine herrschende Klasse darstelle und keiner Ausbeutung unterliege außer, daß sie ”politisch entmachtet” sei.
Um diese These aufrecht zu erhalten, führt Trotzki die Verstaatlichung des Bodens, der Produktions-, Handels-, und Transportmittel an sowie das Aussenhandelsmonopol. Mit anderen Worten, er gebraucht dieselbe ”juristische” Argumentation, welche er selbst zuvor in überzeugender Art und Weise zurückgewiesen hat (siehe die oben zitierte Stelle). Auf Seite 72 (russische Ausgabe) der Verratenen Revolution bestreitet er die Verwandlung von ”Mist in Gold” durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel, doch auf Seite 206 behauptet er ganz im Gegenteil, daß alleine die Tatsache der Verstaatlichung genüge, um die unterdrückte Arbeiterklasse in eine herrschende Klasse zu verwandeln.
Das Schema ersetzt die Wirklichkeit
Wie kann man sich dies erklären? Weshalb widerspricht Trotzki, der Publizist, der erbarmungslose Kritiker des Stalinismus, der die Fakten anführt, welche beweisen, daß die Bürokratie eine herrschende und kollektiv ausbeutende Klasse ist, dem Trotzki, der als Theoretiker diese Fakten zu analysieren versucht?
Wir können zwei Hauptgründe anführen, die Trotzki daran hinderten, diesen Widerspruch zu überwinden; einen theoretischen und einen politischen Faktor.
In seinem Buch Verratene Revolution versucht Trotzki die These über die bürgerliche Klassennatur der Bürokratie mit dem schwachen Argument, sie habe ”weder Aktien noch Obligationen”, zu widerlegen[xiv]. Doch weshalb soll die herrschende Klasse dies notwendigerweise besitzen? Der Besitz von Aktien und Obligationen ist an sich bedeutungslos: Der entscheidende Punkt liegt in der Frage, ob sich eine bestimmte gesellschaftliche Schicht das Mehrprodukt der Arbeit der direkten Produzenten aneignet oder nicht. Wenn ja, besteht die Funktion der Ausbeutung unabhängig davon, ob die Verteilung des Mehrwerts via Dividenden und Anteilscheine oder durch einen Lohn und Privilegien, die an einen Arbeitsplatz gebunden sind, geschieht. Der Autor der Verratenen Revolution überzeugt ebensowenig, wenn er sagt, daß die Repräsentanten der herrschenden Schicht ihre privilegierte Stellung nicht weitervererben können[xv]. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Trotzki ernsthaft davon ausging, die Kinder der Elite würden Arbeiter oder Bauern werden.
Unserer Ansicht nach ist es falsch, in solch oberflächlichen Argumenten den Grund von Trotzkis Weigerung, die Bürokratie als herrschende gesellschaftliche Klasse zu anerkennen, zu suchen. Der Grund liegt vielmehr in seiner tiefen Überzeugung, die Bürokratie könne nicht das zentrale Element eines beständigen Systems werden, sondern sie sei nur fähig, die Interessen anderer Klassen ”auszudrücken”, allerdings indem sie diese entstellt.
Schon während der 20er Jahre war diese Überzeugung Grundlage für Trotzkis Schema über die gesellschaftlichen Widersprüche der ”sowjetischen” Gesellschaft geworden. Für ihn beschränkte sich der Rahmen aller Widersprüche auf die strikte Zweiteilung zwischen Proletariat und privatem Kapital. In diesem Schema gab es keinen Platz für eine ”dritte Kraft”. Der Aufstieg der Bürokratie wurde als Resultat des Drucks des ländlichen und städtischen Kleinbürgertums auf die Partei und den Staat gesehen. Die Bürokratie wurde als zwischen den Interessen der Arbeiter und denen der ”neuen Besitzer” schwankende Gruppe bezeichnet, unfähig den einen oder den anderen wirklich zu dienen. Ein solches durch eine instabile Gruppe ”zwischen den Klassen” geführtes Regime kann bei der ersten drohenden Instabilität nur zusammenbrechen und diese Gruppe sich nur aufspalten. Genau dies prophezeite Trotzki Ende der 20er Jahre[xvi].
Doch in der Realität entwickelten sich die Ereignisse anders. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Bauernschaft und dem Kleinbürgertum war die Bürokratie weder gestürzt, noch hatte sie sich zersplittert. Nachdem die Kapitulation einer internen, bedeutungslosen ”Rechten” ohne Schwierigkeiten erreicht worden war, begann die Bürokratie, die NEP und ”die Kulaken als Klasse” zu liquidieren, und führte ein Regime mit verstärkten Kollektivierungen und Industrialisierungen ein. Überzeugt, daß die ”zentristischen” Apparatschiks durch ihre Natur zu so etwas unfähig seien, waren diese Ereignisse für Trotzki und seine Anhänger eine Überraschung! So ist es nicht erstaunlich, wenn der Bankrott der politischen Einschätzungen der trotzkistischen Opposition ihre katastrophale Kapitulation in Rußland und den politischen Bankrott auf internationaler Ebene nach sich zog[xvii].
Auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg schrieb Trotzki Briefe und Artikel aus dem Exil, in denen er aufzeigte, daß die Bürokratie lediglich einen Weg kenne und ”notgedrungen kollabiert, lange bevor sie ein wirkliches Resultat erzielt”[xviii]. Auch wenn der Führer der Opposition die praktische Inkohärenz seiner Idee einer ”abhängigen” Rolle der ”zentristischen” Bürokratie sah, so klammerte er sich dennoch weiter an sein bankrottes Schema. Seine theoretischen Analysen über die Zeit der ”großen Wende” stechen durch ihren realitätsfremden Zug ins Auge. Ende 1928 schrieb er beispielsweise: ”Zentrismus ist eine offizielle Linie des Apparates. Der Träger dieses Zentrismus ist der Parteifunktionär. Die Funktionäre bilden keine Klasse. Welche Klassengrenze also soll durch den Zentrismus gebildet werden?” Nachdem Trotzki eine eigene Linie der Bürokratie verneinte, kam er zu folgendem Schluß: ”Die aufsteigenden Besitzer von Eigentum finden ihren hinterhältigen Ausdruck in der rechten Fraktion. Die proletarische Linie wird durch die Opposition verkörpert. Was bleibt da noch dem Zentrismus? Nach Abzug des oben Beschriebenen...die mittlere Bauernschaft”[xix]. All dies schrieb er, während der stalinistische Apparat eine gewaltsame Kampagne gegen die mittlere Bauernschaft führte, um damit deren Zerstörung als wirtschaftlichen Faktor einzuleiten!
Daraufhin fuhr Trotzki mit seiner Hoffnung auf eine bevorstehende Spaltung der Bürokratie in proletarische und bürgerliche Elemente und die, welche ” beiseite bleiben”, fort. Er prophezeite den Machtverlust des ”Zentrismus” einerseits wegen des Scheiterns einer ”totalen Kollektivierung” und andererseits aufgrund einer ökonomischen Krise am Ende des ersten Fünfjahresplanes. In seinem 1931 geschriebenen Plattformentwurf für die internationale linke Opposition über die russische Frage sah er sogar die Möglichkeit eines Bürgerkrieges, wenn die Elemente des Staats- und Parteiapparates ”auf die zwei Seiten der Barrikaden” gespalten würden[xx].
All dieser Voraussagen zum Trotz überlebte das stalinistische Regime, und die Bürokratie blieb nicht nur geeint, sondern baute ihre totalitäre Macht aus. Dennoch fuhr Trotzki fort, das bürokratische System in der UdSSR als sehr angreifbar zu betrachten, und während der 30er Jahre dachte er, die Macht der Bürokratie könne jeden Moment zusammenbrechen. Mit anderen Worten, sie könne nicht als eine Klasse betrachtet werden. Trotzki drückte diesen Gedanken am deutlichsten in seinem Artikel Die UdSSR im Krieg (September 1939) aus: ”Brächten wir uns nicht selbst in eine lächerliche Lage, wenn wir der bonapartistischen Bürokratie die Bezeichnung einer neuen herrschenden Klasse aufdrücken würden, gerade ein paar Jahre oder sogar ein paar Monate vor ihrem unrühmlichen Untergang?"[xxi].
Alle Voraussagen Trotzkis über den bevorstehenden Fall der ”sowjetischen” Bürokratie wurden eine nach der anderen durch die Ereignisse selbst widerlegt. Dennoch war er nicht bereit, seine Auffassungen zu ändern. Für ihn wog die Verknüpfung mit einem theoretischen Schema mehr als alles andere. Doch dies ist nicht der einzige Grund, denn Trotzki war mehr ein politischer denn ein theoretischer Mensch, und er verwendete im Allgemeinen den ”konkreten politischen” Bezug zu einer Frage eher als einen ”abstrakt soziologischen”. Wir werden hier einen weiteren wichtigen Grund betrachten für seine hartnäckige Weigerung, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen.
Terminologie und Politik
Wenn wir die Geschichte der trotzkistischen Opposition während der 20er und zu Beginn der 30er Jahre betrachten, sehen wir, daß ihre gesamte politische Strategie auf einer bevorstehenden Ausbootung des Staatsapparates der UdSSR gründete. Trotzki dachte, eine Allianz zwischen einer hypothetischen ”linken Tendenz” und der Opposition wäre notwendig, um die Partei und den Staat zu erneuern. Ende 1928 schrieb er: ”Ein Block mit den Zentristen (der stalinistische Teil des Apparates - AG) ist im Prinzip zulässig und möglich. Nochmehr, alleine solch eine Umgruppierung innerhalb der Partei kann die Revolution retten”[xxii]. Da sie auf einen solchen Block zählten, versuchten die Führer der Opposition, die ”progressiven” Bürokraten nicht hinauszuwerfen. Diese Taktik erklärt die höchst fragwürdige Haltung der Führer der Opposition gegenüber dem Klassenkampf der Arbeiter gegen den Staat, ihr Nein zur Gründung einer eigenen Partei etc.
Selbst nach seinem Exil aus der UdSSR fuhr Trotzki fort, seine Hoffnungen auf eine Annäherung mit den ”Zentristen” zu setzen. Seine Hoffnung, die Unterstützung eines Teils der herrschenden Bürokratie zu erhalten, war dermaßen groß, daß er (unter bestimmten Bedingungen) zu einem Kompromiß mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KP bereit war. Die Geschichte des Slogans ”Stalin absetzen!” ist ein treffendes Beispiel. Im März 1932 veröffentlichte Trotzki einen offenen Brief an das Zentralexekutivkomitee der UdSSR mit dem Appell: ”Es ist notwendig endlich Lenins letzten Ratschlag zu befolgen: Stalin absetzen”[xxiii]. Einige Monate später, im Herbst desselben Jahres, machte er eine Schritt zurück und erklärte: ”Das Problem ist nicht Stalin als Individuum, sondern seine Fraktion... Der Slogan ”Nieder mit Stalin” könnte (und wird zwangsläufig) möglicherweise als ein Aufruf zur Überwindung der Fraktion verstanden werden, die heute an der Macht ist, und in einem weiteren Sinne des Apparates. Wir wollen das System nicht überwinden, sondern reformieren”[xxiv].
Seine Haltung gegenüber den Stalinisten brachte Trotzki in einem nichtveröffentlichten Interviewartikel, der im Dezember 1932 geschrieben wurde, auf den Punkt: ”Heute wie Gestern sind wir zu einer vielfältigen Zusammenarbeit mit der gegenwärtig herrschenden Fraktion bereit. Frage: Sind sie demnach zu einer Zusammenarbeit mit Stalin bereit? Antwort: Zweifellos”[xxv].
Während dieser Periode verknüpfte Trotzki den möglichen Schwenker eines Teils der stalinistischen Bürokratie hin zu einer ”vielfältigen Zusammenarbeit” mit der Opposition mit der für ihn, wie bereits oben beschrieben, aus Gründen der gesellschaftlichen ”Ungewißheit” der Bürokratie unabwendbar bevorstehenden Katastrophe des Regimes[xxvi]. Aufgrund dieser Katastrophe betrachteten die Führer der Opposition die Zusammenarbeit mit Stalin als Mittel, die Partei, die Verstaatlichung und die ”Planwirtschaft” vor der bürgerlichen Konterrevolution zu retten.
Doch die Katastrophe trat nicht ein. Die Bürokratie war stärker und viel verankerter als Trotzki dachte. Das Politbüro antwortete nicht auf seine Aufrufe zu Festigung ”einer ehrlichen Zusammenarbeit der historischen Fraktionen” innerhalb der Kommunistischen Partei[xxvii]. Schlußendlich, im Herbst 1933, verlor Trotzki nach langem Zögern jegliche Hoffnung auf eine in jedem Falle utopische Reform des bürokratischen Systems unter Beteiligung der Stalinisten und rief zu einer ”politischen Revolution” in der UdSSR auf.
Doch dieser Wechsel der trotzkistischen Slogans brachte keine wirkliche Veränderung ihrer Sicht über die Natur der Bürokratie, der Partei und des Staates, ebensowenig wie es kein definitives Verwerfen der Hoffnungen auf eine mögliche Zusammenarbeit mit deren ”fortschrittlichen” Flügeln bedeutete. Als Trotzki sein Buch Verratene Revolution schrieb, und auch noch danach, betrachtete er die Bürokratie nachwievor theoretisch als ein unsicheres, von wachsenden Widersprüchen zerfressenes Gebilde. Im Übergangsprogramm der 4. Internationalen (1938) erklärte er, der Staatsapparat in der UdSSR beinhalte alle politischen Tendenzen und sogar eine ”wirklich bolschewistische”. Trotzki dachte bei letzterer an eine Minderheit innerhalb der Bürokratie, jedoch an eine nicht unbedeutende: er sprach nicht nur von einigen Apparatschiks, sondern von einer linken ”Fraktion”, die 5-6 Millionen Personen umfasse. Laut Trotzki sei diese ”wirklich bolschewistische” Fraktion ein Reservoir für die linke Opposition. Doch nicht genug, der Führer der 4. Internationalen zog im Falle einer kapitalistischen Konterrevolution, welche er 1938 als ”kurz bevorstehend” einschätzte, weiterhin eine ”Einheitsfront” mit dem stalinistischen Teil des Apparates in Betracht[xxviii].
Es ist diese politische Orientierung, erst hin zu einer Zusammenarbeit und einem Block mit den ”Zentristen” - also der Mehrheit der herrschenden ”Sowjet”-Bürokratie (in den späten 20er und frühen 30er Jahren), dann in Richtung einer Allianz mit der ”wirklich bolschewistischen” Fraktion und einer ”Einheitsfront” mit der herrschenden stalinistischen Fraktion (nach 1933), die wir im Auge haben müssen, wenn wir die Ideen Trotzkis über die Natur der bürokratischen Oligarchie und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR untersuchen, die in seinem Buch Verratene Revolution wohl am komplettesten dargestellt sind.
Stellen wir uns vor, Trotzki hätte die totalitäre ”sowjetische” Bürokratie als ausbeutende, herrschende Klasse und bitteren Feind des Proletariates anerkannt. Was wären die politischen Konsequenzen gewesen? Als Erstes hätte er die Idee einer Vereinigung mit einem Teil dieser Klasse zurückweisen müssen - auch die Idee von der Existenz einer ”wirklich bolschewistischen Fraktion” innerhalb der ausbeuterischen bürokratischen Klasse wäre damit genauso absurd erschienen wie die Existenz einer solchen Fraktion innerhalb der Bourgeoisie zum Beispiel. Zweitens wäre die vorgeschlagene ”Einheitsfront” mit den Stalinisten zur Bekämpfung der ”kapitalistischen Konterrevolution” zu einer ”Volksfront” geworden. Eine Politik die von den Trotzkisten kategorisch abgelehnt wurde, da sie zu einem Block verfeindeter Klassen anstelle einer ”Einheitsfront” innerhalb der eigenen Klasse, eine in der bolschewistisch-leninistischen Tradition stehende Auffassung, geführt hätte. Kurzum, ein Begreifen der Klassennatur der Bürokratie wäre ein starker Anstoß für die politischen Grundlagen von Trotzkis Strategie gewesen. Doch dies hatte er nicht gewollt.
Somit war die Frage über der Natur der Bürokratie weit mehr als nur ein Wortgefecht über Theorie oder Terminologie.
Das Schicksal der Bürokratie
Um Trotzki gerecht zu werden: Gegen Ende seines Lebens begann er seine Ansichten über die stalinistische Bürokratie zu revidieren. Dies ist ersichtlich in seinem Buch Stalin, dem reifsten seiner Werke, wenn auch unvollendet. Bei der Untersuchung der entscheidenden Ereignisse Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre, als die Bürokratie die Macht und das Eigentum vollständig monopolisierte, begann Trotzki den Staats- und Parteiapparat schon als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte im Kampf um ”die Kontrolle des Mehrwerts der Nation” zu betrachten. Bei seiner Kriegserklärung an die ”kleinbürgerlichen Elemente” war dieser Apparat weder durch den ”Druck” des Proletariates noch ”durch die Opposition angetrieben” (wie Trotzki einst erklärt hatte)[xxix]. Die Bürokratie war nicht ”Vertreter” der Interessen anderer, noch ”balancierte” sie zwischen zwei Polen, sondern bildete eine gesellschaftliche Klasse mit einem Bewußtsein über ihre eigenen Interessen. Nachdem sie alle ihre Rivalen geschlagen hatte, war sie Siegerin im Kampf um Macht und Profit. Sie alleine monopolisierte die Verteilung des Mehrwertes (mit anderen Worten, die Funktion des tatsächlichen Eigentümers der Produktionsmittel). Nachdem Trotzki dies erkannt hatte, konnte er der Frage der Klassennatur der Bürokratie nicht länger ausweichen. So schrieb er bezüglich der 20er Jahre: ”Die Substanz des (sowjetischen) Termidor... Sie war die Kristallisierung einer neuen privilegierten Schicht, die Schöpfung eines neuen Unterbaus für die ökonomisch herrschende Klasse (hervorgehoben von AG). Zwei Anwärter auf diese Rolle waren vorhanden: das Kleinbürgertum und die Bürokratie selbst”[xxx]. Ernährte dieser Unterbau beide Anwärter auf die Rolle der herrschenden Klasse? Es bleibt uns lediglich festzustellen, wer gewann - der Gewinner war die Bürokratie. Die Schlußfolgerung daraus ist sehr einfach: es war die Bürokratie welche zur neuen, gesellschaftlich herrschenden Klasse geworden war. Trotzki, zu dieser Schlußfolgerung an sich gerüstet, war in Wirklichkeit nicht fähig dazu, da er es vorzog seine Reflexionen politisch nicht zu vollenden. Doch er hatte einen großen Schritt vorwärts gemacht.
In seinem 1939 veröffentlichten Artikel Die UdSSR im Krieg machte er einen Schritt weiter in diese Richtung: Er dachte, es sei theoretisch möglich, daß ”das stalinistische Regime die erste Stufe einer neuen Gesellschaft der Ausbeutung darstellt”. Gewiß, wie immer unterstrich er, es gebe noch einen anderen Standpunkt: Das ”sowjetische” System und seine herrschende Bürokratie wären lediglich eine ”Episode” in der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische. Dennoch zeigte er seinen guten Willen, seine Ansichten unter gewissen Umständen zu ändern, dann nämlich, wenn die UdSSR in den bereits entfachten Weltkrieg eintreten und ihn in andere Länder ausbreiten sollte[xxxi].
Wir wissen, was danach geschah. Die Bürokratie hatte laut Trotzki keine historische Mission, befand sich ”zwischen den Klassen”, besaß keine Selbständigkeit, war unsicher und stellte somit eine ”vorübergehende Episode” dar. Doch in Tat und Wahrheit wälzte sie die gesellschaftliche Struktur der UdSSR radikal um, indem sie Millionen von Bauern und Kleinbürgern proletarisierte, eine Industrialisierung auf der Basis der Überausbeutung der Arbeiter vorantrieb, das Land in eine militärische Großmacht verwandelte, es in einen schrecklichen Krieg führte und seine Herrschaftsform nach Zentral- und Osteuropa und nach Südostasien exportierte. Hätte Trotzki nach alledem seine Sichtweise über die Bürokratie geändert? Es ist schwer zu sagen: Er hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt und die Bildung des ”sozialistischen Blocks” nicht mitverfolgen können. Doch nach dem Krieg sollte die Mehrheit seiner politischen Anhänger während Jahrzehnten die theoretischen Dogmen, welche in seinem Buch Verratene Revolution zu finden sind, Wort für Wort wiederkäuen.
Der Gang der Geschichte hat alle zentralen Punkte der trotzkistischen Analyse über das gesellschaftliche System der UdSSR widerlegt. Um dies zu verstehen ist eines wichtig: keine dieser ”Errungenschaften” der Bürokratie stimmt mit Trotzkis theoretischem Schema überein. Und selbst heute gibt es einige Gelehrte (ganz zu schweigen von den Repräsentanten der trotzkistischen Bewegung), die weiterhin behaupten, die Konzeptionen des Autors der Verratenen Revolution einer herrschenden ”Kaste” und seine Voraussagen über deren Schicksal seien durch den Zusammenbruch des Regimes der KPdSU und die darauffolgenden Ereignisse in der UdSSR und im ”sowjetischen Block” bestätigt worden. Hier sprechen sie über Trotzkis Voraussage, daß die Macht der Bürokratie unweigerlich fallen werde; entweder als Resultat einer ”politischen Revolution” durch die arbeitenden Massen oder durch einen gesellschaftlichen ”Staatsstreich” der konterrevolutionären Bourgeoisie[xxxii]. V.Z. Rogovin[xxxiii] zum Beispiel schreibt, daß die ”konterrevolutionäre Variante” von Trotzkis Voraussagen ”mit 50jähriger Verspätung, jedoch mit extremer Genauigkeit eingetreten ist” [xxxiv].
Wo finden wir diese Genauigkeit und vor allem ihren ”extrem genauen” Charakter?
Die Grundlage der ”konterrevolutionären Variante” von Trotzkis Prognosen lag vor allem in seinen Voraussagen über den Fall der Bürokratie als herrschende Schicht. ”Die Bürokratie ist im ökonomischen Sinne untrennbar mit der herrschenden Klasse verbunden (damit meinte er das Proletariat), ernährt sich an denselben gesellschaftlichen Wurzeln und steht und fällt mit ihr (hervorgehoben durch AG)[xxxv]. Angenommen, es hätte eine gesellschaftliche Konterrevolution in den Ländern des ehemaligen Ostblocks stattgefunden und die Arbeiterklasse dadurch ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht verloren, so wäre laut Trotzki die herrschende Bürokratie mit ihr gefallen.
Ist sie in der Realität gefallen, um einer Bourgeoisie Platz zu machen, die von sonst irgendwo herkam? Laut dem Soziologischen Institut der russischen Akademie der Wissenschaften haben mehr als 75% der russischen ”politischen Elite” und mehr als 61% der ”Wirtschaftselite” ihre Wurzeln in der Nomenklatura der ”sowjetischen” Periode[xxxvi]. Demnach befinden sich die gleichen Leute in den führenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Positionen der Gesellschaft. Die Herkunft des anderen Teils der Elite kann leicht erklärt werden. O. Krychtanovskaya schreibt: ”Nebst der direkten Privatisierung ..., deren hauptsächliche Profiteure der technokratische Teil der Nomenklatura (Ökonomen, Bankiers, ect.) ist, beobachteten wir das fast spontane Entstehen kommerzieller Strukturen welche keine Beziehungen zur Nomenklatura zu haben scheinen. An der Spitze dieser Strukturen findet man junge Leute deren Biographien keine Verbindungen zur Nomenklatura haben. Ihr großer finanzieller Erfolg kann nur so erklärt werden: auch wenn kein Teil der Nomenklatura, so genießen sie deren Vertrauen, sind ihre ”Vertrauensagenten”, mir anderen Worten ihre Gesandten. " (Hervorhebungen durch AG)[xxxvii].
All dies zeig sehr klar, daß es keine ”bürgerliche Partei” war (woher könnte diese auch kommen, wenn die Bourgeoisie in einem totalitären Regime fehlt), welche die Macht ergriff und Erfolg hatte, indem sie einige Individuen der früheren herrschenden ”Kaste” zu ihren Dienern machte. Es war die Bürokratie selbst, welche die politischen und wirtschaftlichen Formen ihrer Herrschaft organisiert veränderte, während sie an der Spitze des Systems blieb.
Im Gegensatz zu Trotzkis Vorhersagen ist die Bürokratie nicht gestürzt. Und was ist mit dem anderen Teil seiner Prophezeiung: der bevorstehenden Spaltung der herrschenden gesellschaftlichen ”Schicht” in proletarische und bürgerliche Elemente und der Bildung einer ”wirklich bolschewistischen” Fraktion in ihr? Tatsächlich nehmen die heutigen Führer der ”kommunistischen” Parteien verschiedenster Färbung, die aus den Überresten der KPdSU entstanden sind, für sich in Anspruch, ”echte” Bolschewiki zu sein und die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Doch es ist höchst unwahrscheinlich, daß Trotzki in Leuten wie Zhuganov oder Ampilow[xxxviii] seine ”proletarischen Elemente” sehen würde, da das Ziel ihres ”antikapitalistischen” Kampfes nichts anderes als die Restaurierung des alten bürokratischen Regimes in seiner klassisch stalinistischen oder ”staatspatriotischen” Form ist.
Trotzki beschrieb die ”konterrevolutionäre” Version der Machtenthebung der Bürokratie in fast apokalyptischen Worten: ”Der Kapitalismus kann, was eher zweifelhaft ist, in Rußland nur restauriert werden durch einen unbarmherzigen konterrevolutionären Staatsstreich der mehr Opfer fordern würde als die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg. Sollte das Sowjetregime fallen, so könnte sein Platz nur durch einen russischen Faschismus eingenommen werden, neben dem die grausamen Regimes von Mussolini und Hitler als menschenfreundliche Institutionen wirken würden.”[xxxix] Diese Voraussage sollte nicht als zufällige Übertreibung betrachtet werden, da sie zwangsläufig aus Trotzkis gesamter theoretischer Einschätzung über die Natur der UdSSR herrührt, und vor allem aus seiner festen Überzeugung, das ”sowjetische”, bürokratische System diene den arbeitenden Massen auf seinem Weg, da es ihnen ihre ”sozialen Errungenschaften” sichere. Eine solche Sichtweise ging natürlich davon aus, daß eine konterrevolutionäre Umwandlung des Stalinismus in den Kapitalismus von einem Aufbäumen der proletarischen Massen begleitet sein würde, um den ”Arbeiterstaat” und "ihr" verstaatlichtes Eigentum zu verteidigen. Und natürlich könne nur ein eisernes, faschistisches Regime den gewaltigen Widerstand der Arbeiter gegen die ”Wiedereinführung des Kapitalismus” niederringen und schlagen.
Selbstverständlich konnte Trotzki nicht wissen, daß 1989-90 die Arbeiterklasse das staatliche Eigentum und den ”kommunistischen” Staatsapparat nicht verteidigt, sondern vielmehr zu dessen Abschaffung beigetragen hat. Da die Arbeiter im alten System nichts gesehen haben, das seine Verteidigung rechtfertigen würde, führte die Umwandlung in die Marktwirtschaft und die Aufhebung des Staatseigentums nicht zu blutigen Klassenkämpfen, und kein faschistisches oder halb-faschistisches System stand auf der Tagesordnung. Es gibt somit keinen Grund, Trotzkis Voraussagen über diese Frage als bestätigt zu betrachten.
Wenn die ”sowjetische” Bürokratie keine herrschende Klasse gewesen ist, sondern, wie Trotzki gemeint hat, ein ”Polizist” im Verteilungsprozess, hätte die Wiedereinführung des Kapitalismus in der UdSSR eine ursprüngliche Akkumulation des Kapitals erfordert. Und tatsächlich, zeitgenössische russische Kommentatoren benützen oft den Ausdruck der ”ursprünglichen Akkumulation des Kapitals”. Damit meinen sie im Allgemeinen die Bereicherung dieser oder jener Person, die Anhäufung von Geld, Produktionsmitteln oder anderen Werten in den Händen der ”neuen Russen”. Wie auch immer, dies hat nichts zu tun mit einem wissenschaftlichen Verständnis von ursprünglicher Akkumulation, wie sie von Marx in seinem Buch Das Kapital beschrieben wurde. In seiner Untersuchung über die Entstehung des Kapitals unterstrich Marx, daß ”die sog. ursprüngliche Akkumulation also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmitteln” ist[xl]. Das Entstehen einer Armee von Lohnarbeitern durch die Konfiszierung des Eigentums der Produzenten ist eine der Hauptvoraussetzungen für die Entstehung einer herrschenden Klasse. War in den Ländern der ehemaligen UdSSR während der 90er Jahre bei der ”Wiedereinführung des Kapitalismus” die Bildung einer Lohnarbeiterklasse mittels Enteignung der Produzenten notwendig? Ganz sicher nicht: Diese Klasse existierte bereits, die Produzenten hatten keinerlei Kontrolle über die Produktionsmittel - da gab es niemanden zu enteignen. Demnach ist die Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals bereits vorbei.
Trotzki hatte zweifelsohne recht, wenn er die ursprüngliche Akkumulation mit einer grausamen und blutigen Diktatur gleichsetzte. Auch Marx schrieb, dass ”das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" zur Welt kommt und daß es in seiner ersten Phase eine ”blutige Disziplin” benötigt[xli]. Trotzkis Fehler bestand nicht darin, die ursprüngliche Akkumulation mit der Konterrevolution gleichzusetzen, sondern darin, nicht zu sehen, wie sich die Konterrevolution unter seinen Augen abspielte mit all ihren Charakteristiken wie Massakern und einer monströsen politischen Tyrannei. Die Millionen von ausgeplünderten und an Hunger und Armut gestorbenen Bauern, die jeglicher Rechte beraubten und zu einer ihre Kräfte weit übersteigenden Arbeit verdammten Proletarier, deren Gräber das Fundament für die unter den Fünfjahresplänen erstellten Gebilde waren, die unzähligen Gefangenen des Gulag, dies waren die wirklichen Opfer der ursprünglichen Akkumulation in der UdSSR. Die heutigen Besitzer brauchen kein Kapital zu akkumulieren, sondern sie müssen es lediglich unter sich neu verteilen, indem sie staatliches Kapital in privates Aktienkapital verwandeln[xlii]. Doch dieser Akt bedeutet weder eine Veränderung der Gesellschaft, noch der herrschenden Klasse, und es braucht dazu auch keine große gesellschaftliche Umwälzung. Wenn wir dies nicht verstehen, so verstehen wir weder die ”sowjetische” Geschichte noch das Rußland von heute.
Fassen wir zusammen: Die trotzkistische Auffassung über die Bürokratie, die die grundlegenden theoretischen Standpunkte und politischen Perspektiven Trotzkis zusammengefasst hat, ist unfähig, die Realität des Stalinismus und seine Entstehung zu erklären. Über die anderen Elemente der trotzkistischen Analyse des gesellschaftlichen Systems in der UdSSR (zum ”Arbeiterstaat”, zur ”postkapitalistischen” Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse und der ”Doppelrolle” des Stalinismus, etc.) können wir dasselbe sagen. Dennoch machte Trotzki Fortschritte bei der Klärung einer Frage: Dieser bewundernswerte Kommentator machte eine vernichtende Kritik an den Thesen über den ”Aufbau des Sozialismus” in der UdSSR. Und dies war viel für die damalige Zeit.
AG
[i] Trotzki, Verratene Revolution, S. 242, Veritas Verlag, 1957
[ii] ebenda.
[iii] ebenda, S. 119.
[iv] ebenda, S. 138.
[v] ebenda, S. 133.
[vi] ebenda, S. 234.
[vii] ebenda, S. 121f.
[viii] ebenda, S. 242.
[ix] ebenda, S. 45.
[x] ebenda, S. 235.
[xi] ebenda, S. 84.
[xii] Marx, ”Das Elend der Philosophie” MEW Bd. 4
[xiii] MEW Bd. 25 S. 799ff.
[xiv] Trotzki, Verratene Revolution, S. 243.
[xv] ebenda, S. 243f.
[xvi] Siehe den Artikel ”Vers la nouvelle étape”, Russisches Dokumentations und Sammelzentrum zur Neuen Geschichte (RDSNG), Fach 325, Liste 1, Dossier 369, Seite 1-11.
[xvii] Bis 1930 verlor die Opposition 2/3 ihrer Mitglieder, mitsamt ihrer ”historischen Führung” (10 von 13 Personen welche 1927 die ”Plattform der Bolschewiki-Leninisten” unterschrieben hatten)
[xviii] RDSNG, F. 325, L. 1, D. 175, S. 4, 32-34.
[xix] ebenda, D. 371, S. 8.
[xx] Oppositions-Bulletin (OB), 1931, Nr. 20, Seite 10.
[xxi] ebenda, 1939, Nr. 79-80, S. 6./ Siehe auch Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Verlag Neuer Kurs 1973, S. 20.
[xxii] RDSNG, F. 325, L. 1, D. 499, S. 2.
[xxiii] OB, 1932, Nr. 27, S. 6.
[xxiv] ebenda, 1933, Nr. 33, S. 9-10.
[xxv] Siehe Pierre Broué, Trotzki et le bloc des oppositions de 1932, Cahiers Leon Trotzki, 1980, Nr. 5, S. 22.
[xxvi] Siehe L.Trotzki, Briefe und Korrespondenz, Moskau, 1994, S. 54-55.
[xxvii] ebenda.
[xxviii] OB, 1938, Nr. 66-67, S. 15.
[xxix] Leo Trotzki, ”Stalin” , Rowohlt Verlag, Bd. 2, 1971.
[xxx] ebenda, Seite 253.
[xxxi] Siehe Trotzki, Die UdSSR im Krieg, 1939.
[xxxii] Siehe Trotzki, Verratene Revolution, S. 243f.
[xxxiii] Vadim Rogovin war in der ”sowjetischen” Epoche einer der wichtigsten offiziellen Propagandisten und Kommentatoren der Politik der KPdSU und zugleich Professor am Russischen Soziologischen Institut. Während der Perstroika verwandelte er sich selbst in einen ”Anti-Stalinisten” und bedingungslosen Bewunderer Trotzkis. Er schrieb verschiedene apologetische, selbstrechtfertigende Bücher über Trotzki und dessen Ideen.
[xxxiv] V.Z. Rogovin, Die stalinistische Neo-NEP, Moskau, 1994, S. 344.
[xxxv] OB, 1933, Nr. 36-37, S. 7.
[xxxvi] O. Krychtanovskaja, Die Finanzoligarchie in Russland, Isvestia, 10. Jan. 1996.
[xxxvii] ebenda.
[xxxviii] Zhuganov ist der Chef der ”erneuerten” Kommunistischen Partei und war Hauptrivale Jelzins bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Victor Ampilov ist der führende Kopf der ”harten” stalinistischen Bewegung in Russland und Gründer der ”Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei”. Er propagiert die Wiedereinführung des ”klassischen” Totalitarismus à la 30er Jahre.
[xxxix] OB, 1935, Nr. 41, S. 3.
[xl]Karl Marx, Das Kapital, I. Band; MEW Bd. 23 S. 742.
[xli] ebenda. S. 788 und 770.
[xlii] Nach konkreten soziologischen Studien bei derselben Schlussfolgerung angelangt, schreibt O. Krychtanovskaja: ”Wenn wir die Situation in Russland während der 90er Jahre vorsichtig analysieren (...), so stellen wir fest, dass einzig die unglücklichen Physiker die sich entschieden ”Broker” zu werden oder die Ingenieure und Techniker welche einen Kiosk kauften oder Handelskooperativen gründeten ”ursprüngliche Akkumulation” betrieben. Diese Akkumulation endete meist im Kauf von ”MMM”-Aktien (eine Finanzpyramide) (das Resultat ist wohlbekannt) und hat im seltensten Falle zur ”erweiterten Akkumulation” geführt.” (Isvestia, 10. Jan. 1996).