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Internationale Revue - 1981

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Internationale Revue Nr. 6

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Die internationale Dimension der Kämpfe in Polen

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1. In der INTERNATIONALEN REVUE Nr. 5  haben wir die vor uns liegenden 80er Jahre als die „Jahre der Wahrheit“ bezeichnet, in denen über die historische Alternative, die von der Krise des Kapitalismus präsentiert wird, entschieden werden würde, nämlich zwischen einem Weltkrieg oder der proletarischen Revolution.
Das erste Jahr dieses Jahrzehnts hat diese Perspektive deutlicher denn je bestätigt.  Nachdem das erste Halbjahr ungeachtet wichtiger sozialer Bewegungen wie die Kämpfe in der britischen Stahlindustrie durch eine beträchtliche Zuspitzung der interimperialistischen Spannungen nach der Invasion in Afghanistan gekennzeichnet war, zeichnet sich das zweite Halbjahr durch eine bisher unerreichte Verschärfung des Arbeiterkampfes aus. In Polen erreichten die Kämpfe seit dem Wiedererstarken der Weltarbeiterklasse 1968 das höchste Niveau.
Sechs  Monate lang schien die Bourgeoisie freie Hand zu haben, um ihre kriegerischen Kampagnen durchzuführen und um einen dritten Weltkrieg vorzubereiten. Heute dagegen sind die Sorgen, die heute die herrschende Klasse aller Länder angesichts der Arbeiterkämpfe in Polen beherrschen, und die Einheit, die sie bewiesen hat, um diese Arbeiterkämpfe zum Schweigen zu bringen, eine weitere Veranschaulichung der Tatsache, dass das Proletariat die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die den Kapitalismus daran hindern kann, erneut einen Krieg als „Lösung“ für seine Krise durchzusetzen.
2.  Es ist noch nicht die Zeit, eine endgültige Bilanz der proletarischen Kämpfe in Polen zu ziehen, da die Bewegung immer noch im Gange ist und das Potential der gegenwärtigen Lage noch nicht erschöpft ist. Doch fünf Monate nach dem Beginn der Kämpfe können wir bereits eine Reihe von wichtigen Lehren ziehen. Ferner ist es wichtig zu begreifen, wie es heute um Polen bestellt ist.
Für den Moment möchten wir zwei Punkte unterstreichen:
- die enorme Bedeutung dieser Bewegung und der beträchtliche Schritt nach vorn, den sie für das Proletariat eines jeden Landes darstellt;
- die Tatsache, dass die Kämpfe in Polen und die Lehren aus den Kämpfen nur in einem internationalen Zusammenhang verstanden werden können.
3.  Überall hat die Bourgeoisie und ihre Lakaien in der Presse versucht zu zeigen, dass die Kämpfe in Polen allein durch die besonderen Bedingungen in Polen oder allenfalls durch die spezifischen Bedingungen in Osteuropa erklärt werden können. In Moskau lautet der Vers, daß, wenn es in Polen "Probleme" gebe (was sie in der Tat nicht mehr leugnen können), sie das Resultat der "Fehler" der alten Führung seien. Jedenfalls haben sie nichts mit der Situation in Rußland zu tun! In Paris, Bonn, London und Washington lautet die favorisierte Erklärung, daß die Arbeiter in Osteuropa unzufrieden seien, weil sie der Warteschlangen vor den Geschäften überdrüssig seien sowie "Freiheit" und Demokratie wie im Westen wünschten. Im Westen hätten die Arbeiter natürlich überhaupt keinen Grund, um sich zu beschweren! Dass die Arbeiter in Polen sich den Auswirkungen derselben Krise widersetzen und gegen dieselbe Ausbeutung kämpfen wie die Arbeiter im Westen und überall... was für ein absurder Gedanke!
Wenn Ereignisse in einem Teil der Welt uns eine Ahnung vom kommenden Alptraum der Bourgeoisie - den generalisierten proletarischen Kampf gegen den Kapitalismus - verschaffen, dann heißt es, daß dies alles nur eine "Ausnahme" sei! Die Bourgeoisie versucht fieberhaft herauszufinden, was diesen besonderen Fall von den Bedingungen anderswo unterscheidet. Es ist schon richtig, daß sie diese Unterschiede nicht einmal erfinden muss: Die Bedingungen sind in keinem Land der Welt identisch. Es trifft zu, daß bestimmte Charakteristiken der Bewegung in Polen das Produkt der spezifischen ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen wie auch der besonderen historischen Faktoren sind. Auch ist die Bewegung in Polen das Produkt des allgemeinen Rahmens, der von den Bedingungen in den osteuropäischen Ländern und im russischen Block vorgegeben wird. Doch gleichzeitig müssen die Revolutionäre und die Arbeiterklasse klar verstehen, daß diese besonderen Merkmale eine rein nebensächliche Bedeutung haben und selbst nur von einem Standpunkt aus begriffen werden können, der die gesamte kapitalistische Welt im Blick hat - auch wenn es notwendig ist, das unterschiedliche Entwicklungstempo der Krise in den verschiedenen Ländern zu berücksichtigen.
4.  Der allgemeine Rahmen, in dem sich die Ereignisse in Polen entfaltet haben, setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen:
a) aus dem weltweiten und allgemeinen Charakter der Wirtschaftskrise;
b) aus der unerbittlichen Vertiefung der Krise und den immer unerträglicheren Opfern, die sie den Ausgebeuteten abverlangt;
c) aus dem historischen Wiederaufleben des proletarischen Kampfes seit Ende der 60er Jahre;
d) aus der Art der Probleme und der Schwierigkeiten, vor denen die Arbeiterklasse steht, und der Bedürfnisse, die sich für das Proletariat aus der Erfahrung ergeben haben:
- die Konfrontation mit den Gewerkschaften;
- die Selbstorganisation der Klasse in ihrem Kampf (die Bedeutung der Vollversammlungen);
- die Ausweitung des Kampfes durch den Massenstreik.
e) aus den Mitteln, die von der Bourgeoisie verwendet werden, um den proletarischen Kampf zu brechen und der Klasse die ökonomischen und militärischen Bedürfnisse des nationalen Kapitals aufzuzwingen:
- die immer systematischere Anwendung der staatliche Repression;
- der Gebrauch eines ganzen Arsenals von Mystifikationen, die das Ziel verfolgen, entweder den Ausbruch von Klassenkämpfen zu verhindern oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, sie in Sackgassen zu leiten.
Die verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Länder teilen sich heute im allgemeinen die Arbeit auf: Zur Zeit erleben wir allgemein die Rechte an der Regierung und die Linke in der Opposition.
5.  Die besonderen Bedingungen, die eine Rolle bei der Entwicklung der Ereignisse in Polen spielten, rühren erstens aus der Mitgliedschaft Polens im Ostblock und zweitens aus den spezifischen Besonderheiten des Landes her.
Die Lage in Polen kennzeichnet sich wie auch in allen anderen Ostblockländern aus:
a) durch das ungeheure Ausmaß der Krise, die heute Millionen von Proletariern in eine Armut stürzt, die an Hunger grenzt;
b) durch die große Starrheit der Institutionen, die praktisch keinen Spielraum für das Entstehen politischer Oppositionskräfte innerhalb der Bourgeoisie zulässt, Kräfte, die als Auffangbecken dienen könnten: in Russland und seinen Satelliten droht jede Protestbewegung zu einem Brennspiegel der massiven Unzufriedenheit zu werden, die im Proletariat siedet. Diese Unzufriedenheit hat sich in einer Bevölkerung aufgebaut, die seit Jahrzehnten die furchtbarste Konterrevolution hat erleiden müssen. Die Intensität dieser Konterrevolution entsprach dem Ausmaß der beeindruckenden Klassenbewegung, die es zu zerschlagen galt, die Russische Revolution von 1917;
c) durch die große Bedeutung des Polizeiterrors als praktisch einziges Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung.
Darüber hinaus unterscheidet sich Polen:
- durch die mehr als hundert Jahre währende nationale Unterdrückung vor allem durch Russland, die heute noch unter anderen Formen fortgesetzt wird, was dem Nationalismus ein großes Gewicht unter den Mystifikationen verleiht, die innerhalb der Arbeiterklasse wirksam sind;
- durch die Bedeutung der Katholizismus, der seit Jahrhunderten als ein Ausdruck des Widerstands gegen diese Unterdrückung und als ein Symbol der nationalen Identität Polens (das das einzige römisch-katholische Land innerhalb der slawischen Welt ist) betrachtet wird. Ein Gutteil des Widerstandes gegen den Stalinismus in den vergangenen dreißig Jahren ist von der Katholischen Kirche kanalisiert worden.
6.  Die Besonderheiten der Situation in Polen können einige der Mystifikationen erklären, die in die Köpfe des Proletariats einzupflanzen der Kapitalismus in der Lage ist :
- die demokratischen Illusionen, die ein direktes Produkt des totalitären Charakters der Regimes in Osteuropa sind;
- nationalistische und religiöse Mystifikationen, die größtenteils das Produkt der Geschichte der polnischen Nation sind.
Im Grunde sind die Aspekte der Arbeiterbewegung in Polen, die man den spezifisch polnischen Bedingungen zurechnen kann, genau jene, die auch die Schwächen der Bewegung ausmachen.
Der fortdauernde Einfluß bürgerlicher Ideen und das Gewicht der Vergangenheit, das auf das Proletariat lastet, ergeben sich in hohem Maße aus diesen nationalen Besonderheiten, da sie ein klarer Ausdruck einer in Nationen, Klassen und vielen anderen Kategorien gespaltenen Welt ist. Vor allem sind sie ein Ausdruck jener Klasse, die nur überleben kann, indem sie diese Spaltungen fortsetzt - die Bourgeoisie.
Im Gegensatz dazu drückte sich die wahre Stärke des Proletariats in Polen nicht in irgendwelchen spezifischen Charakteristiken der Kämpfe dort aus. Die Stärke des Proletariats ist das Produkt von allem, was seine Klassenautonomie, sein Bruch mit der Atomisierung und den Spaltungen der Vergangenheit ausdrückt, was die allgemeinen Zwischenetappen und das Endziel der Bewegung zum Ausdruck bringt, alle lokalen und verinnerlichten Formen der Entfremdung verneint und es wagt, sich der einzig möglichen Zukunft für die gesamte Menschheit zuzuwenden: dem Kommunismus, der durch die Schaffung einer menschlichen Gemeinschaft alle zwischenmenschlichen Antagonismen abschaffen wird.
In diesem Zusammenhang bestand das wichtigste Ergebnis der besonderen Bedingungen in Polen darin, daß sie erlaubten, daß all die fundamentalen und allgemeinen Charakteristiken des proletarischen Kampfes in der gegenwärtigen Epoche unübersehbar in Erscheinung traten, während sie gleichzeitig die klassischen Bedingungen für eine Krise innerhalb der herrschenden Klasse generierten. In Polen wurde die Zukunft des Klassenkampfes mit einer Klarheit veranschaulicht, die bisweilen am Rande einer Karikatur schien.
Das extreme Ausmaß der wirtschaftlichen Lage, die Brutalität der Angriffe gegen die Arbeiterklasse, Massenstreiks, die politischen Erschütterungen der Bourgeoisie... nichts von dem ist spezifisch polnisch. Sie sind "spezifische" Charakteristiken der heutigen Epoche und betreffen die gesamte Gesellschaft.
7.  Die katastrophale Lage der Wirtschaft der Ostblockländer und insbesondere Polens kann nur innerhalb des Rahmens der allgemeinen Krise des Kapitalismus verstanden werden (dies wird selbst jenen Kretins sowohl im Osten auch im Westen bewusst, die sich Ökonomen nennen). Darüber hinaus illustrieren viele Aspekte der Lage im Ostblock die Richtung, in der sich mehr und mehr alle Länder bewegen, die großen Industrieländer eingeschlossen, die bislang mehr oder weniger ausgespart blieben. Der immer unerträglichere Zustand der Elends des polnischen Proletariats heute deutet an, was immer größere Teile des Proletariats der großen Industrieländer erwartet. Auch wenn kurzfristig die Verelendung der Arbeiterklasse eine andere Form annimmt (Niedriglöhne  und Unterversorgung im Osten, Arbeitslosigkeit im Westen), je nachdem ob das Regime in der Lage ist, ganze Sektoren der Arbeiterklasse ins Elend zu werfen, oder ob es aufgrund der Gefahr, daß dies zu einem weiteren wirtschaftliche Kollaps  und zu einem Verlust der Kontrolle über die Arbeiter führt, sobald diese aus den Industriekasernen geschmissen wurden, daran gehindert wird.
So wie die Aushöhlung der Bedingungen der Arbeiterklasse in Polen (insbesondere durch einen starken Preisanstieg für Nahrungsmittel) ein entscheidender Faktor war, um das Proletariat zur Revolte zu treiben, trotz eines Ausmaßes des Polizeiterrors, der mit dem Ausnahmezustand im Krieg vergleichbar ist, so wird letztendlich die Verschlimmerung der Bedingungen für das Proletariat in anderen Ländern das selbige dazu zwingen, das Joch der Repression und der bürgerlichen Mystifikationen abzuschütteln.
8.  Indem die völlige und offensichtliche Integration der Gewerkschaften in den Staatsapparat, typisch für stalinistische Regimes, die polnischen Arbeiter dazu veranlaßt hat, die Notwendigkeit einzusehen, diese Organisationen abzulehnen, haben sie den Arbeitern in anderen Ländern, wo die Gewerkschaften ihren kapitalistischen Charakter noch nicht so deutlich enthüllt haben, den Weg gewiesen. Doch die Bewegung in Polen ging über die bloße Anprangerung der offiziellen Gewerkschaften hinaus. Sie tendierte zunehmend dazu, auch über die "freien" Gewerkschaften hinauszugehen, jener Idee, die auf die polnischen Arbeiter eine Anziehungskraft ausübte, weil sie die Notwendigkeit für Organisationen sahen, die unabhängig vom Staat und in der Lage waren, sie gegen den unvermeidlichen Gegenangriff durch die Bourgeoisie zu verteidigen. In nur wenigen Monaten zeigte die lebendige Erfahrung der Arbeiter in Polen die Unmöglichkeit für die Arbeiterklasse im dekadenten Kapitalismus, permanente, gewerkschaftsartige Organisationen zu schaffen, ohne dass diese zu einem Hindernis für den Kampf zu werden. Auch hier hat das Proletariat in Polen dem Rest der Arbeiterklasse den Weg gewiesen, die im Gegenzug in ihren Kämpfen gegen das Kapital gezwungen wird, sich dem verführerischen Charme aller Arten von "radikalem", "militantem" oder "Basis"-Gewerkschaftstum zu widersetzen.
9.  Polen ist eine weitere Illustration der Tatsache, daß in Zeiten einer akuten gesellschaftlichen Krise der Verlauf der Geschichte sich beschleunigt. Was die Notwendigkeit anbelangte, die Gewerkschaften zu entlarven, so haben die polnischen Arbeiter in einigen wenigen Wochen einen Weg zurückgelegt, für den das Proletariat anderer Länder einen Zeitraum von mehreren Generationen benötigt hatte. Jedoch beschränkt sich diese Beschleunigung nicht auf die Gewerkschaftsfrage. Auch in zwei anderen Fragen - die Selbstorganisationn der Arbeiter und die Verallgemeinerung des Kampfes (beides selbstverständlich mit der Gewerkschaftsfrage verknüpft) - ist die Arbeiterklasse in Polen nun die Avantgarde des Weltproletariats.
Auch hier haben die "Besonderheiten" der Lage in Polen und Osteuropa (die lediglich die allgemeinen Charakteristiken des dekadenten Kapitalismus in einer etwas fortgeschritteneren Form als anderswo sind) die polnischen Arbeiter gezwungen, Wege zu erkundschaften, auf denen nun das Proletariat der gesamten Welt folgen muss.
So drängten der gewohnheitsmäßige Gebrauch einer Propaganda, die auf einer massiven und systematischen Verzerrung der Realität basierte, wie auch die totalitäre Kontrolle des Staates über jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens die polnischen Arbeiter dazu, einen Grad an Selbstorganisation zu entwickeln, der einen immensen Schritt nach vorn im Vergleich zu den bisherigen Kämpfen darstellt. Die erfolgreiche Verwendung moderner Technik (z.B. Lautsprecher, die mit den Verhandlungssälen verbunden waren, und Kassettenrekorder, die es allen Arbeitern erlaubten, die Diskussionen in der Zentralversammlung zu verfolgen), um die Kontrolle der Zentralversammlungen über die von ihnen selbst geschaffenen Organisation zu erleichtern und um es allen Arbeitern zu erlauben, sich an ihrem eigenen Kampf zu beteiligen, ist ein Beispiel, dem die Arbeiter aller Länder folgen sollten.
Gleichfalls hat das Proletariat in Polen angesichts eines Staates, der einen starke Hang hat zur blutigen Repression hat, der durch Terror und eine extreme Atomisierung der Individuen regiert, und trotz der Versuche der Regierung, die Bewegung zu spalten, es verstanden, jene Waffe wirkungsvoll zu verwenden, die so wichtig ist für Kämpfe in der heutigen Zeit und die allein der Repression und der Atomisierung Einhalt gebieten kann: den Massenstreik, die Generalisierung der Kämpfe. Die Fähigkeit der polnischen Arbeiterklasse, sich massiv mobilisieren, nicht nur um spezifische Forderungen zu vertreten, sondern auch aus Solidarität mit dem Kampf anderer Bereiche der Klasse, ist ein Ausdruck des wahren Wesens der Arbeiterklasse - jener Klasse, die die Saat des Kommunismus in sich trägt und die überall auf der Welt diese Einheit zeigen muss, um den Herausforderungen ihre historischen Aufgabe gerecht zu werden.
10.  Nicht nur wegen der Kämpfe des Proletariats kündigen die Ereignisse in Polen an, was zunehmend zur allgemeinen Lage in allen Industrieländern werden wird. Die inneren Erschütterungen der Bourgeoisie, die wir heute in Polen sehen können, einschließlich ihrer überspitzten Aspekte, sind ein Anzeichen für unter der Oberfläche ablaufende Entwicklungen in der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. Seit August sind die herrschenden Kreise in Polen von einer echten Panik erfasst. In den vergangenen fünf Monaten löst ein Minister den anderen ab. Dies ging gar so weit, dass ein Ministerium einem Katholiken anvertraut worden war! Aber diese Erschütterungen treten am stärksten in der wichtigsten Kraft innerhalb der herrschenden Klasse, der Partei, auf. Gegenwärtig vermittelt die polnische Arbeiterpartei den Eindruck eines gewaltigen Rummelplatzes, auf dem die verschiedenen Cliquen sich gegenseitig um die Wette in die Beine schießen, Rechnungen miteinander begleichen, persönlich Rache nehmen und die Interessen des nationalen Kapitals ihren persönlichen Interessen unterordnen. In der Bürokratie folgt eine Säuberungen der anderen. Das oberste Organ, das Politbüro, ist aus den Fugen geraten. Der Mann, der „mit den Arbeiten reden konnte“, Gierek, hat das gleiche Schicksal wie Gomulka 1971 erlitten. Er ist sogar aus dem Zentralkomitee der Partei gefegt worden, und dies gegen alle Parteiregularien. Überall sind so viel Sündenböcke gefunden worden, daß die alte, diskreditierte Garde gerufen werden mußte, um sie zu ersetzen - zum Beispiel der bösartige Antisemit Moczar. Selbst die Parteibasis, die normalerweise unterwürfig ist, ist von diesen Erschütterungen erfasst worden. Mehr als die Hälfte der Arbeiter-Mitglieder haben die offiziellen Gewerkschaften (diese „gesunden Kräfte“, wie die PRAWDA sie nennt) verlassen; um sich den unabhängigen Gewerkschaften anzuschließen. Es gab sogar Koordinationsansätze zwischen Parteisektionen auf Graswurzelebene, außerhalb der offiziellen Strukturen; mit diesen Bemühungen einher ging das Anprangern der "Führungsbürokratie“.
Diese Panik, die die Partei ergriffen hat, spiegelt die Sackgasse wider, in der sich die polnische Bourgeoisie befindet. Angesichts des Wutausbruchs der Arbeiter war sie gezwungen, das Auftreten und die Entwicklung von oppositionellen Kräften - den unabhängigen Gewerkschaften - zu gestatten. Die Funktion dieser Gewerkschaften entsprach der Linken in der Opposition in den meisten westlichen Ländern. Sie haben die gleiche "radikale Arbeitersprache", deren Funktion es ist, die Kampfbereitschaft der Arbeiter aus der Spur zu bringen, und die gleiche grundlegende Solidarität mit dem „nationalen Kapital“. Doch ein stalinistisches Regime kann nicht die Existenz solcher oppositioneller Kräfte tolerieren, ohne sich ernsthaft zu selbst zu gefährden; dies ist heute so wahr wie gestern. Die traditionelle Zerbrechlichkeit und Starrheit dieser Regimes sind nicht durch den Ausbruch von Arbeiterkämpfen weggezaubert worden. Ganz im Gegenteil! Das Regime ist gezwungen, einen Fremdkörper in seinem Eingeweide zu tolerieren, den es für sein Überleben braucht. Jedoch ist dieser Körper schwerlich in der Lage, seine Funktion zu erfüllen, und wird vom Organismus des Regimes mit all seinen Fasern abgelehnt. So wird das Regime heute von den größten Erschütterungen seit seinem Bestehen heimgesucht.
Antagonismen innerhalb einer herrschenden Klasse eines Landes sind nichts Neues. Diese sehr realen Antagonismen werden gegenwärtig im Westen dazu benutzt, um die Arbeiterklasse zu desorientieren, mit einer rechten Regierung, die immer schärfere Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse ergreift, und einer Linken, die diese lautstark anprangert, um sie für die Arbeiterklasse akzeptabler zu machen. In „normalen“ Zeiten sind diese Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse einerseits zwar eine Schwäche vor allem im internationalen Wettbewerb, andererseits aber auch ein Faktor, der die Bourgeois gegenüber der Arbeiterklasse stärkt, vorausgesetzt, daß sie korrekt als eine Quelle der Mystifikation benutzt werden. Wenn diese Spaltungen und die Macht der Arbeiterklasse eine bestimmte Stufe erreicht haben, wenden sie sich gegen die herrschende Klasse selbst. Wenn die Bourgeoisie weiterhin unfähig ist, für die Akzeptanz eine der falschen Alternativen, die sie anbietet, unter den Arbeitern zu sorgen, dann wird der offene Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse zum Beweis dafür, dass sie nicht mehr in der Lage ist, die Gesellschaft zu regieren. Diese Antagonismen hören dann auf, ein Faktor zu sein, der das Proletariat lähmt, und werden zu einer Stimulanz für die Entwicklung des Klassenkampfes.
So erlaubte das Zögern der Führung, ehe sie (Ende August), vor der Registrierung ihrer Statuten, die schließlich Ende Oktober stattfand, im Prinzip unabhängige Gewerkschaften akzeptierte, der Bourgeoisie, den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter zu schwächen, indem sie deren Aufmerksamkeit auf diese Frage lenkte. Doch die Verhaftung zweier Mitglieder von SOLIDARNOSC (Ende November) endete in einem demütigenden Rückzug des Regimes, selbst in solch einer heiklen Frage wie die Kontrolle der Repressionskräfte, weil diesmal der Staat mit der Gefahr einer neuen allgemeinen Streikwelle konfrontiert war.
Das Beispiel der Erschütterungen der polnischen Bourgeoisie läßt uns erahnen, wie eine herrschende Klasse aussieht, wenn sie durch den Klassenkampf in die Enge getrieben wird. In den letzten Jahren hat es an politischen Krisen nicht gefehlt (wie in Portugal 1974-75), aber bislang war das Proletariat nirgendwo ein so bedeutsamer Faktor in den inneren Erschütterungen der Bourgeoisie gewesen. Politische Krisen innerhalb der herrschenden Klasse, die direkt durch den Klassenkampf hervorgerufen werden - dies ist ein weiteres Phänomen, das in der Zukunft noch viel häufiger auftreten wird!
11.  Das Ausmaß der Krise der polnischen Bourgeoisie zeigt sich nicht nur in der Zerbrechlichkeit des Regimes, sondern auch und auf fundamentalere Weise in der Kraft der Arbeiterbewegung in Polen, die fünf Monate lang das Land heimsuchte und die Aufmerksamkeit Europas und der gesamten Welt auf sich zog.
Wir haben bereits die Aufmerksamkeit auf die Stärke dieser Bewegung gelenkt - auf ihre Fähigkeit, aus einem gewerkschaftlichen Rahmen auszubrechen, über alternative Gewerkschaften hinauszugehen, Formen einer wirklichen Arbeiterselbstorganisation zu entwickeln und erfolgreich sowie wirkungsvoll den Kampf zu generalisieren.
Doch die Stärke der Bewegung zeigt sich auch in ihrer Dauer: fünf Monate einer mehr oder weniger permanenten Mobilisierung, der pausenlosen Diskussionen und Reflexionen über die Probleme, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist.
In diesen fünf Monaten ist die Bewegung, weit davon entfernt, auszuklingen, stärker geworden. Anfangs noch eine simple Reaktion auf den Anstieg der Fleischpreise, wurde der Kampf zu einer Reihe von Kraftproben mit dem Staat und kulminierte in der Mobilisierung jenes Sektors der Arbeiterklasse, dessen Gewicht entscheidend ist - das heißt die Arbeiter aus der Hauptstadt -, um die Behörden zur Kapitulation zu zwingen und die inhaftierten Arbeiter zu entlassen.
In diesen fünf Monaten hat der Kampf eine zunehmend politische Bedeutung erlangt: Wirtschaftliche Forderungen sind im Umfang und in der Tiefe gewachsen, während politische Forderungen zunehmend radikal wurden. Zunächst reflektierten die politischen Forderungen der Arbeiter noch den Einfluss der bürgerlichen Ideologie, zum Beispiel in der Forderung nach freien Gewerkschaften oder nach Fernsehsendezeit für die Kirche. Doch die späteren Forderungen nach Kontrolle und Einschränkung des Repressionsapparates können natürlich von keiner Regierung in der Welt geduldet werden, da sie auf eine Forderung nach einer Doppelherrschaft hinauslaufen.
In diesen fünf Monaten haben Figuren wie Walesa, die zunächst "radikal" und "extremistisch" zu sein schienen, die Rolle der Feuerwehr angenommen, die von den Behörden von einem Brandherd zum nächsten geschickt wurde, wohingegen die kleine Minderheit, die gegen die Akzeptanz des Übereinkommens von Danzig gestritten hatte, nun zur großen Mehrheit geworden ist, auf die nicht mehr gesetzt werden konnte, wenn es darum ging, all die Kurons und Walesas zusammen zu unterstützen. Zwar konnten die "Führer" ihre Popularität bewahren, aber die Dynamik der Bewegung ging nicht in Richtung einer Stärkung ihrer Autorität, sondern hin zu einer wachsenden Infragestellung des "verantwortungsvollen" Verhaltens, das sie den Arbeiterversammlung anzunehmen rieten. Diese Arbeitervollversammlungen lassen sich nicht mehr in wenigen Minuten von der „Notwendigkeit des Kompromisses“ überzeugen, wie sie es noch am 30.8. in Danzig getan hatten. Stattdessen stellen sie sich stundenlang taub gegenüber all den Sirenenrufen des "Realitätssinns", wie in der Fabrik "Huta Warszawa" am 27. November.
Dies waren fünf Monate schließlich, in denen das Proletariat gegenüber all den stümperhaften und inkohärenten Reaktionen der Bourgeoisie die Initiative behalten hat.
12.  Es gibt jene, die viel Aufhebens um die - realen - Schwächen der Arbeiterbewegung in Polen machen, wie die demokratischen und neu-gewerkschaftlichen Illusionen, der Einfluß der Religion und des Nationalismus, und daraus schließen, daß der Bewegung kein großer Tiefgang und keine große Bedeutung beigemessen werden könne. Es ist klar: wenn man darauf wartet, bis die Arbeiterklasse, wann und wo immer sie zu kämpfen anfängt, völlig mit den Mystifikationen gebrochen hat, die der Kapitalismus der Gesellschaft seit Jahrhunderten aufgezwungen hat, und eine klare Vision der Endziele des Kampfes hat und wie man sie erreicht - wenn man, mit anderen Worten, solange wartet, bis die Arbeiterklasse ein kommunistisches Bewußtsein besitzt , dann kann man kaum begreifen, was in Polen und anderswo bis zum Triumph der Revolution geschieht. Das Problem mit dieser Sichtweise, die im allgemeinen einen sehr "radikalen" Zungenschlag hat, ist, dass abgesehen davon, daß sie auch eine Ungeduld und Skepsis zum Ausdruck bringt, die typisch ist für das Kleinbürgertum, sie die lebende Bewegung der Klasse völlig auf den Kopf stellt.
Die proletarische Bewegung ist ein schmerzhafter Prozeß der Loslösung vom Griff der kapitalistischen Herrschaft, unter der sie zur Welt kam. Wie Revolutionäre und besonders Marx häufig betont haben, bleiben die Mäntel der alten Welt am Leib hängen, und erst nach einem harten Kampf und etlichen Versuchen beginnen sie abzufallen, um den wahren Charakter der Bewegung darunter zu enthüllen. Die Katheder-"Revolutionäre" bringen den Beginn mit dem Ende einer Bewegung durcheinander. Sie wollen ankommen, bevor sie losgegangen sind. Sie haben ein Foto gemacht und verwechseln das Bild mit dem Modell, beschuldigen Letzteres, nicht vom Fleck zu kommen. Im Falle Polens sehen sie - statt die Geschwindigkeit zu erkennen, mit der die Bewegung von einer Stufe zur nächsten voranschreitet, die Überwindung von Furcht und Vereinzelung, die zunehmende Solidarität und Selbstorganisation, den Ausbruch von Massenstreiks - nur den Nationalismus und die Religion, zu deren Überwindung die Erfahrung der Arbeiter noch nicht ausreicht. Statt die Dynamik zu sehen, die die Arbeiter dazu brachte, die gewerkschaftliche Organisationsform abzulehnen und darüber hinaus zu gehen, erblicken sie nur die noch verbleibenden gewerkschaftlichen Illusionen. Statt die beträchtliche Wegstrecke zu sehen, die die  Bewegung zurückgelegt hat, schauen sie nur, wie weit sie noch zu gehen hat, und lassen die Köpfe hängen.
Revolutionäre verbergen vor ihrer Klasse niemals, wie lang und beschwerlich der vor uns liegende Weg ist. Sie schauen nicht immer auf die "angenehmen Seiten". Doch weil es die Rolle der Revolutionäre ist, den Klassenkampf zu stimulieren und einen realen Beitrag zum Wachstum des Bewusstseins des Proletariats über seine Macht zu leisten, gucken sie auch nicht immer auf die "unangenehmen Seiten".
Jene Leute, die die Errungenschaften der polnischen Arbeitern schmälern wollen, hätten auch im März 1871 gesagt: "Oh, die Pariser Arbeiter sind alles Nationalisten!" oder im Januar 1905: "Nun gut, alles, was die russischen Arbeiter tun, ist, irgendwelchen Heiligenbildern hinterherzulaufen!"... und die beiden wichtigsten revolutionären Erfahrungen vor 1917 wäre an ihnen vorbeigegangen.
13.  Eine andere Art, die Bedeutung der gegenwärtigen Bewegung in Polen zu unterschätzen, besteht darin zu behaupten, dass sie hinter den Kämpfen von 1970 und 1976 zurückgeblieben sei, weil sie nicht zu einer gewaltsamen Konfrontation mit den staatlichen Repression geführt hatte. Diese Auffassung lässt außer Acht, dass:
- die Anzahl der Arbeiter, die in einem Kampf getötet wurden, noch nie ein Maß für ihre Stärke war;
- nicht der Brand einiger Parteigebäude 1970 und 1976 die Bourgeoisie zum Rückzug veranlasst hatte, sondern die Gefahr einer Generalisierung der Bewegung, insbesondere nach den Massakern;
- die Bourgeoisie 1980 bislang keine blutigen Unterdrückungsmaßnahmen angewendet hat, weil dies das beste Mittel wäre, die Aufwärtskurve der Bewegung zu beschleunigen;
- die Arbeiter auf Grundlage der Erfahrungen aus der Vergangenheit wussten, dass ihre wirkliche Stärke nicht in sporadischen Zusammenstößen mit der Polizei, sondern in der Organisation und Ausdehnung der Streikbewegung lag;
- die bewaffnete Erhebung, die eine unerlässliche Stufe für das Proletariat auf seinem Weg zur Machtergreifung und Emanzipation ist, etwas völlig anderes ist als die Ausschreitungen, die stets Bestandteil seines Kampfes gegen die Ausbeutung gewesen waren.
Ausschreitungen wie die von 1970 und 1976 in Gdansk, Gdynia und Radom sind eine elementare Reaktion der Arbeiterklasse. Sie sind sporadisch und verhältnismäßig unorganisiert. Sie sind ein Ausdruck der Wut oder der Verzweiflung. Auf militärischer Ebene endeten sie stets in Niederlagen, selbst wenn sie vorübergehend die Bourgeoisie zum Rückzug zwingen konnten. Der Aufstand jedoch tritt auf dem Höhepunkt eines revolutionären Prozesses wie 1917 ein. Er ist eine  überlegte, durchdachte, organisierte und bewusste Handlung durch die Arbeiterklasse.  Weil seine Zielsetzung die Machtübernahme ist, zielt er nicht darauf ab, die Bourgeoisie zum Rückzug zu zwingen oder Zugeständnisse zu erlangen, sondern die Bourgeoisie und den gesamten Apparat der bürgerlichen Macht und Repression militärisch zu schlagen und vollständig zu zerstören. Doch der Aufstand ist mehr als nur ein militärisches oder technisches Problem; er ist ein politisches Problem: seine maßgeblichen Waffen sind die Organisation und das Bewusstsein des Proletariats. Daher ist, wie auch immer es oberflächlich erscheint und wie lang auch immer der Weg ist, ehe dieser Punkt erreicht ist, das Proletariat in Polen heute dem Aufstand näher als 1970 oder 1976, weil es organisierter, erfahrener und bewusster ist.
14.  Die These, dass die Kämpfe 1980 weniger wichtig seien als jene von 1970, schien im Juli oder zu Beginn der Bewegung noch zutreffend, war aber fünf Monate später völlig unhaltbar. Ob man die gegenwärtige Bewegung nun anhand ihrer Dauer, ihrer Forderungen, ihres Umfangs, ihrer Organisation, ihrer Dynamik oder anhand der Zugeständnisse durch die Bourgeoisie und des Ausmaßes ihrer politischen Krise beurteilt, es ist unschwer zu erkennen, dass die Bewegung weitaus machtvoller ist als 1970.
Der Unterschied zwischen den beiden Bewegungen lässt sich mit der Erfahrung erklären, die die polnischen Arbeiter seit 1970 dazugewonnen haben. Jedoch ist dies nur eine Teilerklärung und für sich genommen unzureichend. In der Tat kann man die Größe der heutigen Bewegung nur innerhalb des Kontextes des historischen Wiederauflebens des Weltproletariats seit Ende der Sechziger und durch die Berücksichtigung der verschiedenen Phasen dieses Wiedererwachens verstanden werden.
Der polnische Winter 1970 war Teil der ersten Welle von Kämpfen - einer Welle, die den Beginn des historischen Wiederauflebens markierte und von Mai '68 in Frankreich bis zu den Streiks in Großbritannien 1973-74 dauerte, einschließlich des "heißen Herbstes" 1969 in Italien, der "Cordobazo" in Argentinien, der wilden Streiks in Deutschland im gleichen Jahr und vieler anderer Kämpfe, die alle Industrieländer betrafen. In einer Zeit entstehend, als die Auswirkungen der Krise gerade erst um sich griffen (obwohl in Polen die Lage bereits damals katastrophal war), überraschte diese Offensive der Arbeiterklasse die Bourgeoisie (so wie sie das Proletariat selbst überraschte). Die Bourgeoisie war mithin mehr oder weniger überall zeitweilig entwaffnet. Doch die Bourgeoisie erholte sich sehr schnell; dank aller Arten von Mystifikationen gelang es ihr, die zweite Welle von Kämpfen bis 1978 hinauszuzögern. Diese zweite Welle wurden von den US-amerikanischen Bergarbeitern 1978, den französischen Stahlarbeitern Anfang 1979, den Rotterdamer Hafenarbeitern im Herbst '79, den britischen Stahlarbeitern Anfang 1980 und den brasilianischen Metallarbeiter angeführt. Die gegenwärtige Bewegung des polnischen Proletariats gehört zu dieser zweiten Welle von Kämpfen.
Diese Bewegungen unterschieden sich von Anfang an durch:
-  eine weitaus katstrophalere Krisenentwicklung des Kapitalismus;
-  durch die Tatsache, dass die Bourgeoisie besser vorbereitet war, um auf den Klassenkampf zu antworten;
-  die größere Erfahrung der Arbeiterklasse, besonders bezüglich des Problems der Gewerkschaften. Ein Beweis für diesen Zugewinn an Erfahrung wurde in letzten paar Jahren durch die ausdrückliche Anprangerung der Gewerkschaften durch bedeutsame Minderheiten von Arbeitern wie auch durch die Klärung von Klassenpositionen in dieser Frage durch einige revolutionäre Gruppen demonstriert.
Unter diesen Umständen hat die zweite Welle von Kämpfen weitaus größere Proportionen angenommen als die vorherige Welle, trotz aller Fallen, die von einer vorgewarnten Bourgeoisie gelegt wurden. Dies wird durch die Arbeiterkämpfe in Polen bestätigt.
15.  Der beispiellose Umfang der Kämpfe in Polen, der Ernst der politischen Krise der Bourgeoisie und die Tiefe der Weltwirtschaftskrise könnten zu der Annahme verleiten, dass in Polen eine revolutionäre Situation eingetreten sei. Dies ist keineswegs der Fall.
Lenin definierte die revolutionäre Krise durch die Tatsache, dass "jene, die oben sind, nicht mehr so regieren können wie früher, und jene, die unten sind, nicht mehr so leben können wie früher".  Auf den ersten Blick ist dies die Lage in Polen. Jedoch wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der historischen Erfahrungen, die von der Bourgeoisie gesammelt wurden, besonders im Oktober 1917, eine Illusion zu glauben, die Bourgeoisie würde es zulassen, dass ihre schwächsten Glieder allein dem Proletariat gegenübertreten. So wie wir sahen, wie die Weisen vom westlichen Block ihre Geschenke zur Krippe der neugeborenen "Demokratie" in Spanien 1976 brachten, um sie vor dem damals kämpferischsten Teil des Weltproletariats zu schützen, so sehen wir heute, dass "die da oben" nicht nur in Warschau sitzen, sondern auch und vor allem in Moskau sowie in anderen bedeutenden Hauptstädten. Diese Einheit, die von der Bourgeoisie vor allem im Rahmen ihres Blocks gegenüber der Bedrohung durch das Proletariat demonstriert wird, zeigt, dass eine revolutionäre Periode solange nicht wirklich denkbar ist, bis das Proletariat am Rande eines offenen Klassenkriegs in all jenen Ländern steht, die imstande sind, anderen Sektionen der Bourgeoisie  zu helfen, falls sie Probleme haben.
Diese internationale Reife der Bewegung ist auch auf einer anderen Ebene eine unerlässliche Vorbedingung für die Eröffnung einer revolutionären Periode. Sie allein kann es dem Proletariat in Polen ermöglichen, vollständig mit dem Nationalismus zu brechen, der noch ihren Blick verdunkelt und sie davon abhält, jenen Grad an Bewusstsein zu erlangen, ohne dem eine Revolution ein Unding ist.
Schließlich wird solch eine Bewusstseinsstufe zwangsläufig durch das Auftreten von kommunistischen politischen Organisationen innerhalb der Klasse ausgedrückt. Die fürchterliche Konterrevolution in Russland und in den Ostblockländern hatte zur völligen Liquidierung aller politischen Strömungen des Proletariats in diesen Ländern geführt. Erst wenn das Proletariat beginnt, sich vom Griff der Konterrevolution zu lösen, wie es heute im Begriff ist, wird es in der Lage sein, diese Organisationen neu zu bilden.
Auch wenn die Zeit für einen Aufstand in Polen noch nicht reif ist, so hat sich dennoch ein erster Durchbruch in den Ostblockländern eröffnet, nach einem halben Jahrhundert der Konterrevolution. Der Prozess, der zur Rekonstituierung revolutionärer, politischer Organisationen führen wird,  hat bereits begonnen.
16.  Wie die Ursachen und die Eigenschaften der gegenwärtigen Bewegung in Polen nur innerhalb eines internationalen Rahmens verstanden werden können, so können auch die Perspektiven für die Zukunft nur in diesem Rahmen entworfen werden.
Noch ehe sie sich auf der Ebene des Klassenkampfes herausstellte, ist die internationale Dimension der Ereignisse in Polen durch die derzeitigen Manöver der Bourgeoisie aller Großmächte demonstriert worden. Die Bourgeoisien dieser Länder betonten entweder ihre Besorgnis über die "Bedrohung des Sozialismus" in Polen oder sagten, dass sie darauf "vorbereitet sind, auf das Vorgehen der polnischen Behörden in den verschiedenen Gebieten, wo es erforderlich ist, einzugehen" (Giscard d'Estaing beim Empfang von Jagielski am 21. November), und warnten die UdSSR vor jeglicher Intervention in Polen.
Die Besorgnis der Bourgeoisie aller Länder ist real und fundiert. Denn während sie Ereignisse dieser Art dulden kann, sofern sie sich in zweitrangigen Ländern abspielen (so wie sie zulassen kann, dass die Krise die peripheren Ländern dezimiert), wäre eine ähnliche Situation in einer der wichtigsten kapitalistischen Metropolen wie Russland, Frankreich, Großbritannien oder Deutschland unerträglich für die Bourgeoisie. Polen ist wie eine brennende Lunte, die zu einer Explosion führen könnte, die ganz Osteuropas, einschließlich Russlands, in Mitleidenschaft ziehen und ebenso jene westeuropäischen Länder in Brand setzen könnte, die am stärksten von der Krise betroffen sind. Deshalb hat die Weltbourgeoisie die Regie bei der Entwicklung in Polen übernommen.
Für diese Operation haben sich die beiden Blöcke die Arbeit aufgeteilt:
- dem Westen fällt die Verantwortung zu, der ponischen Wirtschaft Beistand zu leisten, die sich am Rande des Bankrotts befindet: Es gibt keine Möglichkeit einer Rückzahlung der Anleihen, die sich auf 20 Milliarden Dollar belaufen und von den USA, Frankreich und Deutschland gewährt wurden. Jeder weiß, dass diese Kredite niemals zurückgezahlt werden und dass ihr Zweck es ist, die polnischen Arbeiter im Winter mit Nahrungsmittel zu versorgen und so weitere Revolten zu vermeiden.
- Russlands Rolle ist es, heute Drohungen auszustoßen und später der polnischen Bourgeoisie militärischen, "brüderlichen Beistand" zu gewähren, wenn die Dinge sich nicht von selbst erledigen.
Ungeachtet der Warnungen seitens des Westens gegen jegliches “Abenteuer“ der UdSSR und der russischen Anprangerung der"Intrigen des amerikanischen Imperialismus und seiner Marionetten in Bonn" gibt es eine grundlegende Solidarität zwischen den beiden Blöcken, deren gemeinsames Bestreben es ist, das Proletariat in Polen so schnell wie möglich  zum Schweigen zu bringen.
Die russischen, tschechischen und ostdeutschen Tiraden sind ein klassisches Beispiel für den Gebrauch der Propagandawaffe. Sie verraten eine gewisse Angst, dass der Westen den finanziellen Zugriff, den er auf Polen und die anderen osteuropäischen Länder hat, zu seinem Gunsten nutzen wird. Doch ihre Hauptfunktion ist es, den Arbeitern in Polen zu drohen und das Terrain für eine mögliche Intervention zu bereiten, auch wenn diese “Lösung“ nur als letzte Zuflucht (d.h. wenn der polnische Staat zusammenbricht) betrachtet wird, weil die Furcht bleibt, dass solch eine Aktion eine soziale Explosion in ganz Osteuropa entzünden könnte.
Was die Warnungen des Westens angeht, gehören sie teilweise zwar zur klassischen anti-russischen Propaganda, aber sie haben auch eine andere Bedeutung - was bei früheren Warnungen dieser Art nicht der Fall war, z.B. bezüglich der Lage im Persischen Golf oder als Antwort auf die Invasion in Afghanistan. Polen ist ein integraler Bestandteil des Ostblocks, und eine Intervention, wie massiv auch immer (und jede Intervention würde ebenfalls Fronteinheiten aus Ostdeutschland miteinbeziehen), würde nicht zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Blöcken führen. In der Tat hat NATO-Generalsekretär Luns unmissverständlich erklärt, dass seine Organisation im Falle einer russischen Invasion nichts unternehmen werde. Im Grunde genommen ist der Adressat dieser wiederholten Warnungen nicht die russische Regierung, obwohl es zutrifft, dass sie in gewissem Maße ein Versuch sind, einer Bourgeoisie, die weniger raffiniert und  erfahren ist wie die westliche herrschende Klasse, davon abzuraten, sich auf solch ein "Abenteuer" einzulassen, das unvorhersehbare soziale Konsequenzen nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen haben könnte.Diese Warnungen sind im Kern eine ideologische Barriere, die auf das westliche Proletariat abzielt. Sie sind ein Versuch, die wirkliche Bedeutung einer russischen Intervention in Polen vorzuenthalten - die Tatsache zu verbergen, dass, wenn sie stattfindet, sie eine Polizeioperation des Kapitalismus in seiner Gesamtheit gegen die internationale Arbeiterklasse ist. Die westliche Bourgeoisie würde eine Invasion als neues Beispiel der "sowjetischen Barbarei und des sowjetischen Totaalitarismus" gegen die "Menschenrechte" präsentieren. Die Bourgeoisie würde versuchen, die Wut und die Empörung, die solch eine Intervention unter westlichen Arbeitern hervorrufen würde, gegen die “bösen Russen“ zu lenken. Sie würde diese Wut benutzen, um im "demokratischen" Lager "Solidarität" zwischen sämtlichen Gesellschaftsklassen zu schaffen, und dies alles, um zu verhindern, dass das Proletariat seine Klassensolidarität ausspielt, indem es den Kampf gegen den wahren Feind aufnimmt: das Kapital.
Trotz ihres dramatischen Tonfalls sind die westlichen Warnungen kein Hinweis auf eine weitere Verschärfung der Spannungen zwischen den beiden imperialitischen Blöcken. Um absolute Klarheit zu schaffen und die guten Absichten der USA zu zeigen, entsandte Reagan seinen eigenen, persönlichen Gesandten Percy Ende November nach Moskau, um den Führern des Ostblocks mitzuteilen, dass sein Land bereit sei, die SALT-Verhandlungen in einem mpositiveren Sinne neu zu prüfen. In Wirklichkeit hat der Kampf der polnischen Arbeiter die Ost-West-Beziehungen ungeachtet einiger oberflächlicher Erscheinungen wieder auf Temperatur gebracht, nachdem sie nach der Invasion Afghanistans vor einem Jahr merklich abgekühlt waren.
Wir sehen also einmal mehr eine Veranschaulichung der Tatsache, dass das Proletariat die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die im Stande ist, den Kapitalismus durch ihren Kampf daran zu hindern, einen neuen, dritten imperialistischen Weltkrieg auszulösen.
17.  Die Ereignisse in Polen werfen ein Schlaglicht auf die beiden großen Gefahren‚ die das Proletariat bedrohen:
- die Kapitulation vor der Bourgeoisie: die Arbeiter lassen es zu, eingeschüchtert zu werden, Walesas Argumente über die "nationalen Interessen" zu akzeptieren und den fürchterlichen Opfern zuzustimmen, derer es bedarf, um die Wirtschaft zu kurieren (wenn auch nur  zeitweilig), ohne in irgendeiner Weise von der stetig wachsenden Repression ausgespart zu bleiben;
- die blutige, physische Niederschlagung: die Truppen des Warschauer Paktes (denn die polnischen Polizei- und Armeekräfte wären weder ausreichend noch verlässlich genug) würden „dem Sozialismus und den Arbeitern in Polen (d.h. dem Kapitalismus und der Bourgeoisie) brüderliche Hilfe" zuteil werden lassen.
Gegen diese beiden Bedrohungen kann das Proletariat in Polen nur:
- mobilisiert bleiben gegen die Versuche der Bourgeoisie, die Lage zu "normalisieren"; die Solidarität und Einheit bewahren, die bis jetzt seine Stärke gewesen war; den Vorteil dieser Mobilisierung für sich nutzen, nicht indem man sich sofort in eine entscheidende militärische Konfrontation stürzt, die voreilig wäre, solange die Arbeiter der anderen osteuropäischen Länder noch nicht ihren Kampfgeist gezeigt haben, sondern indem es seine Versuche der Selbstorganisation fortsetzt; die Erfahrungen seines Kampfes aufnimmt; die größtmögliche Zahl an politischen Lehren aus dem Kampf zieht; die Kämpfe von Morgen vorbereitet und weiterkommt mit der Aufgabe, revolutionäre politische Organisationen zu bilden;
- einen Appell an die Arbeiter in Russland und den Satellitenländer richten, da nur deren Kampf den mörderischen Bestrebungen der Bourgeoisie Einhalt gebieten und den Arbeitern in Polen ermöglichen kann, die Manöver solch falscher Freunde wie Walesa, die den Weg für die „Normalisierung“ unter Kania vorbereiten, zunichtezumachen.
Das Proletariat in Polen ist nicht allein. Überall auf der Welt entstehen die Bedingungen, die seine Klassenbrüder in den anderen Ländern antreiben werden, sich seinem Kampf anzuschließen. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre, aller bewussten Proletarier, der Solidarität der Bourgeoisie aller Länder bei ihrem Versuch, die polnischen Arbeiter zum Schweigen zu bringen, die Solidarität der Weltarbeiterklasse entgegenzusetzen.
Das Proletariat muss genau das tun, was die Bourgeoisie verzweifelt zu verhindern versucht: die Schlachten in Polen dürfen nicht isoliert und ohne Zukunft bleiben, sondern müssen im Gegenteil die Vorboten eines neuen Sprungs im Kampfgeist und Bewusstsein der Arbeiter aller Länder sein.
Wenn die Bewegung in Polen eine gewisse Ebene erreicht hat, dann ist dies keinesfalls ein Zeichen ihrer Schwäche. Im Gegenteil, diese Ebene ist bereits sehr hoch gelegen; in diesem Sinne hat die Arbeiterklasse in Polen bereits auf die Notwendigkeit für das Weltproletariat geantwortet, die Kriegsgefahr zurückzudrängen, indem "sie ihren Kampf auf ein höheres Niveau bringt", wie die IKS in ihrer Stellungnahme zur Invasion der Sowjetunion in Afghanistan (20. Januar 1980) gesagt hatte. Und außerdem wird die Bewegung in Polen nur dann dazu verurteilt sein, auf dieser Ebene zu verharren, wenn sie isoliert bleibt. Jedoch es gibt keinen Grund, warum sie zu solch einer Isolation verurteilt sein sollte. Daher können wir, Rosa Luxemburg mit ihrer Äußerung zur Russischen Revolution 1918 paraphrasierend, nur hoffnungsvoll sagen: „In Polen konnte das Problem nur gestellt werden; es liegt am Weltproletariat, es zu lösen.“

IKS, 4.12.80
Quell-URL: https://de.internationalism.org/rint6/polen1 [1]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Vor 30 Jahren Massenstreiks in Polen [2]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [3]

Historische Ereignisse: 

  • 1980 Massenstreiks in Polen [4]

OKtober 1917: Anfang der proletarischen Revolution (Teil 2)

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Im ersten Teil dieses Artikels versuchten wir aufzuzeigen, dass der Charakter der Russischen Revolution nicht durch die besonderen Eigenschaften Russlands zur Zeit der Revolution bestimmt wur­de, sondern durch die allgemeine Entwicklung des Weltkapitalismus, dessen Eintritt in die Epoche seines historischen Verfalls durch den imperialistischen Krieg von 1914 markiert wurde. Die objektiven Bedingungen für die proletarische Revolution bestanden international, und die Russische Revolution konnte nur ein Teil dieser Weltrevolution sein. Somit lehnten wir die Theorie der "Rätekommunisten" ab, aus deren Sicht die Russische Re­volution eine "bürgerliche" Revolution war. Wir haben aufgezeigt, dass solch eine Analyse zu folgendem führt:
- entweder zur Auffassung der Menschewiki und Kautskys, die zu einem Verrat an der Arbeiterklasse führen
- oder zur stalinistischen Theorie der Mög­lichkeit des "Sozialis­mus in einem Land"
- oder zur anarchistischen Auffassung, die den Sozialismus mit der Arbeiterselbstverwaltung in einzelnen Unterneh­men gleichsetzt,
- oder zur Auffassung der rechten Sozialdemo­kraten, für die die proletarische Revolu­tion 1917 in keinem Land auf der Tages­ord­nung stand.                         -
Schließlich haben wir aufgezeigt, wie ihre Analyse die Rätekom­munisten zu einer Ab­kehr vom Marxismus verleitet, obgleich sie selbst davon überzeugt sind, dass ihre Analyse auf dem Mar­xismus beruht.
Im Grunde sind die Verirrungen des Rätekommunismus ein elementarer Ausdruck des schrecklichen Gewichts, das auf all den proletarischen Strömungen der Klasse lastete und das von der längsten Periode der Konterrevo­lution ausging, die die Arbeiterklasse jemals durchlebt hat. Mit dem riesigen Staatsap­parat konfrontiert, der sich in Russland nach der Degeneration der Re­volution entwickelt hatte, und - im Gegensatz zu den Stalinisten und Trotzkisten - dazu gezwungen, das konterrevolutionäre Wesen dieses Staates zu brandmarken, hatten die verschiedenen Strö­mungen der kommunistischen Linken große Schwierigkeiten, die Ursprünge und Ursachen der Niederlage der Arbeiterklasse in Russland zu begrei­fen. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass die Rätekommunisten die einzigen gewesen waren, die sich in dieser schwierigen Lage verirrt hätten. Wenn man einmal vom Trotzkismus und dessen Theorie des "Bonapartismus" zur Erklärung des stalinistischen Phänomens und gleichzeitig zur Rechtfertigung der fortdauernden Verteidigung der UdSSR absieht, muss man feststellen, dass auch die anderen Strömun­gen der Linkskommunisten sehr konfus in dieser Frage waren. So leistete zwar die Italienische Linke durch ihre Publikation BILAN viele wichtige Beiträge zu einem besseren Verständnis des nachrevolutionären Russland und blieb dennoch lange Zeit in der Auffas­sung von Russland als  einem „entarteten Arbeiterstaat" gefan­gen. Eine der größten Konfusionen in der linkskom­munistischen Bewegung kam jedoch mit dem Erscheinen der bordigistiscben Theorie der "Doppel­revolution" auf, die eine teilweise Rückkehr zu den Absurditäten der Rätekommunisten darstellte.


Die heilige Dualität gemäß der bordigistischen Doktrin


„So lautet die marxistische Erklärung der 'Degenerierung der UdSSR': die Okto­berrevolution, in der das kom­munisti­sche Proletariat die Macht ergriff, konnte nur die Überbleibsel des Feudalismus zertrümmern, die eine Barriere der kapitalistischen Entwicklung der Produk­tivkräfte waren. Politische Diktatur des Proletariats mit einer kapitalistischen Ökonomie: das beschreibt Russland zur Zeit der NEP. Mit der Unter­stützung der Weltrevolution hätte die bolschewistische Partei die merkantile Wirt­schaft verdrängen und danach den So­zialismus einfüh­ren können. Isoliert an der Spitze einer eindrucksvollen kapitalistischen Ma­schinerie, allein auf weiter Flur, wurde die bolschewistische Partei gezwungen, sich der merkantilen Maschinerie unterzuordnen, und wurde zu einem Rädchen im Getriebe der kapitalis­tischen Akkumulation". (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 57, S. 39)[2]
Man erkennt auf den ersten Blick, was die "bordigistische" Auf­fassung von der "rätekommunistischen" unterscheidet. Für Letztgenannte sind die wirtschaftlichen und politischen Aspekte der Revolu­tion eng miteinander verbunden: Die Installation des Kapitalismus zeich­net sich durch die Machtübernahme durch eine Partei aus, die der Rätekommunismus als bürgerlich bezeichnet. Für Erstgenannte hingegen sind die beiden Aspekte völlig unterschiedlich: Die Bordigisten erkennen den prole­tarischen Charakters des Oktobers auf po­liti­scher Ebene an, aber sie stimmen mit den Rätekommunisten überein, wenn sie behaupten, dass es sich auf wirtschaftli­cher Ebene um eine bürgerliche Revolution handelte. Darüber hinaus könnte man eine ganze Reihe von Zitaten finden, die die Kon­vergenz der beiden Analysen demonstrieren, obgleich sich die Bordigisten stets sehr verächtlich über die Räte­kommunisten äußern. Zum Beispiel:                
"Wenn man überhaupt von einem 'Wendepunkt'  im April 1917 reden kann, dann muss man dabei verstehen, dass dieser mit dem Prozess, der ein fortgeschrittenes kapitalistisches Land zur kommunistischen Revolution führt,  nichts zu tun hat; er markiert nicht mehr als den entscheidenden Augenblick einer bürgerlichen und Volksrevolution in einem feudalen Land, das sich im fortgeschrittenen Stadium des Verfalls befindet." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 39, S. 21)
Man glaubt Pannekoek zu lesen! Und in der Tat erweist sich die bordigistische Auf­fassung der "Doppelrevolution" als prinzipiell doppel­deu­tig. Ihre Vertreter sind gezwungen, sich von einem Artikel zum anderen zu wi­dersprechen, wenn nicht gar von einem Satz zum anderen. So stammt das obige Zitat aus einem Artikel mit dem Titel:  "Die Aprilthesen des Jahres 1917: Programm der proletarischen Revolu­tion in Russland." In dem gleichen Artikel liest man in dem Kom­mentar zur gleichen These:
"Lenin fügt hier kein Adjektiv dem Wort Revolu­tion bei, aber wir können dies ohne Zö­gern tun  (...) es handelt sich stets um eine bürgerliche und demokrati­sche Revolution, um eine antifeudalistische Revolution und nicht um eine sozialistische". (S.24)
In einem anderen Artikel, genannt "Der Marxis­mus und Russland'' (S. 85 der deutschen Auf­lage) , kann man lesen: "Für uns war die Oktoberrevolution sozialistisch". Wir können also klar und eindeutig die bordigistische Auffassung in folgenden Worten zusammenfassen: Die Oktoberrevolution war eine nichtprole­tarische prole­tarische Revolution, eine nichtsozialistische sozialistische Revolu­tion. Welche trübe Klarheit!
Doch die Widersprüchlichkeit und Inkohärenz, die diese Konzeption Bordigas und seiner Epigonen auszeichnen, stört Letztere nicht so sehr; sie sind daran gewöhnt. Dahingegen fällt es ihnen wirklich schwer zu ertragen, dass sie eine Interpretation der Oktoberrevolution vorstellen, die in direk­tem Widerspruch zu jener Lenins steht. Denn ge­mäß des bordigistischen Credos hat Lenin nur zwei Fehler in seinem Leben begangen (und dies waren "kleine", "taktische" Fehler: in den Fragen der "Einheitsfront" und des "revolutionären Parlamenta­rismus".
"Im April 1917 ging es nur darum, die so­zialen Kräfte der antiza­ristischen Revo­lution zu gewinnen, nicht um mehr zu machen, als man sich 1905 vorgenommen hatte, sondern um die Tatsache zu berichtigen, dass bisher weniger erreicht worden war; das Programm der kapitalistischen Revolution unter der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauern musste erst noch verwirklicht werden." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 39, S. 25)
Für Lenin dagegen kann "diese ganze Revolution über­haupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proleta­rischen Re­volutionen, die durch den impe­rialistischen Krieg hervorgerufen werden." (Vorwort zu "Staat und Revolution") Für Lenin kam es somit darauf an, 1917 „mehr zu tun“  als 1905, deren Zielsetzungen er bescheidener de­finiert hatte:
"Ein solcher Sieg wird aus unserer bürger­lichen Revolution noch keineswegs eine so­zialistische machen; die demokratische Um­wälzung wird über den Rahmen der bürgerli­chen gesellschaftlich ökonomischen Ver­hältnisse nicht unmittelbar hinausgehen; aber nichtsdestoweniger wird die Bedeutung eines solchen Sieges für die künftige Ent­wicklung sowohl Russlands als auch der gan­zen Welt gigantisch sein." ("Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution", in Ausge­wählte Werke, Band I, S. 567).
Man könnte noch viele andere Beispiele bringen, in denen die bordigistischen Schriften das Gegenteil der Leninschen Auffassun­gen behaupten. Wir wollen uns hier mit einer weiteren zufrieden geben:
"So darf die Partei des Proletariats den Sowjet nicht ablehnen, diese aus der bürgerlichen russischen Revolution entstan­dene historische Form (...) Sie (die Sowjets) drücken aus, was Lenin als demokratische Diktatur definiert hatte (...) Die  besondere Form der antifeudalen russischen Revolution kann nicht eine parlamentarische Versammlung wie in Frankreich sein, sondern ein andersartiges Or­gan, das sich allein auf die Klasse der Arbeiter in den Städten und auf dem Lande stützt." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 39, S. 28)
Für Lenin dagegen:
"Nur muss eine praktische Form gefunden werden, die das Proleta­riat in den Stand setzt, seine Herrschaft zu verwirklichen. Diese Form ist das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats! Das war bisher Latein für die Massen. Mit der Ausbreitung des Sowjetsys­tems in der ganzen Welt ist dieses Latein in alle modernen Spra­chen übersetzt worden: die praktische Form der Diktatur ist durch die Arbeitermassen gefunden." (Rede bei der Eröffnung des Kon­gresses, 2. März,S.469, Bd. 28)
"... die Form der Diktatur des Proletariats, die schon praktisch ausgearbeitet ist, d.h. die Sowjetmacht in Russland, das Rätesystem in Deutschland (...) und andere analoge Sowjet-Institutionen in ande­ren Ländern." ("Thesen und Referat über die bürgerlich Demokratie und die Diktatur des Proletariats", in: Ausgewählte Werke, Bd. 3, S. 17l).
Wir haben dem Leser die verschiedenen Zitate nicht aufgeführt, um uns hinter der  Autorität Lenins zu verstecken, sondern um aufzuzeigen, dass der von den Bordigisten im Namen  der Treue gegenüber den Positionen Lenins vorgebrachte Unfug mit den Auffassungen Lenins absolut nichts zu tun hat, auch wenn Lenin Fehler gemacht hat, auch wenn seine Auffassung über den Oktober 1917 in mancherlei Hinsicht zweideutig war.


Widerlegung der "Doppelrevolution"


Wir werden hier nicht das im vorausgegangenen Artikel Gesagte wiederholen, in dem wir gezeigt haben, dass in Russland wie im Rest der Welt 1917 die bürgerliche Revolution nicht mehr auf der Tagesordnung der Geschichte stand, da die materiel­len Bedingungen der kommunistischen Revolution auf Weltebene bereits existierten. Was wir zu den rätekommunisten und mesnschewistischen Auffassungen gesagt haben, trifft auch auf die bordigistische Auffassung zu. Es ist jedoch notwendig, einige konfuse Ideen zurückzuweisen, die sich aus dem Begriff der "Doppelrevolution" ergeben.
Erstens: die Idee, dass das Proletariat die bürgerliche Revolution ausführt, ist falsch. Selbst wenn Marx solch eine Auffassung l848 vertreten konnte, die von Lenin 1905 wieder aufgegriffen wurde, gibt es in der Geschichte kein Beispiel, in dem eine Klasse eine andere Klasse bei der Erfül­lung ihrer historischen Aufgaben ersetzen konnte. Eine Revolution ist ein Akt, bei dem eine Klasse, die zum Träger der neuen, durch die Entwicklung der Produktivkräfte notwendig gewordenen Produktionsverhältnis­se geworden ist, die politische Macht über­nimmt. Nun hat die Geschichte vielfach be­wiesen, dass die revolu­tionäre Klasse die politische Macht allgemein erst ergreifen kann, nachdem die Notwendigkeit und die materiellen Bedingungen der Revolution lan­ge offenkundig geworden sind. Es handelt sich hier um das klassische, vom Marxismus eindeutig demonstrierte Phänomen der langsamen Anpassung des gesellschaftlichen Überbaus an Veränderungen in seiner Infrastruktur. Insbesondere dieses Phänomen er­möglicht uns zu begreifen, warum es in der Geschichte der Menschheit Zeiträume der Dekadenz gegeben hat, in denen die alten Produktionsverhältnisse zu Fesseln der Ent­wick­lung der Produktivkräfte geworden wa­ren, während die als Träger der neuen Produktionsverhältnisse wirkende Klasse noch nicht genügend Macht - insbesondere politische Macht - erlangt hatte, um die alte, bestehende Gesell­schaftsordnung zu zerstören. Das heißt,  wenn eine Klasse ausreichend stark ist, um die politische Macht zu ergreifen, bestehen die ökonomischen und sozialen Aufgaben, vor denen sie steht, darin, die Produktionsverhält­nisse zu entwickeln, deren historischer Träger sie ist, und nicht darin, anstelle der vorherigen historischen Klasse Aufgaben zu erfüllen, die faktisch nicht mehr auf der Tagesordnung stehen. Das Proletariat konnte sich wie die Bauern und Handwerker an den bür­gerlichen Revolutionen beteiligen, aber nur als Hilfskraft, nie als der Hauptprotagonist. Das Proletariat hat selbst eine sehr akti­ve Rolle in der Radikalisierung dieser Re­volutionen gespielt, indem es die energischsten Kräften der Bourgeoisie unterstützt hat. Doch sobald die eige­nen Klasseninteressen sichtbar wurden, standen diese sofort den Interessen aller, einschließlich der radikalsten Fraktion der Bourgeoisie entgegen: die "Levellers" gegen Cromwell in der englischen Revolution, Babeuf gegen die Montagnards in der französischen Revolution, das Pariser Proletariat gegen die provisorische Regierung im Juni 1848.
Der andere Aspekt des Begriffs der "Doppelrevolution" betrifft das bordigistische Verständnis der Art von ökono­mischen Maßnahmen, die das Proletariat am Anfang der Revolu­tion ergreifen kann. Die Bordigisten kritisieren zurecht die trotz­kistische Auffassung, dass "Arbeitslosenunterstützung" oder die "Abschaffung des Privateigentums in der Großindustrie" sozialistische Maßnahmen sind. Für sie sind diese Maßnahmen nichts anderes als "Wohlfahrts"-Maßnahmen im ersten Fall und "staatskapitalistische" Maßnahmen im zweiten Fall. Die "sozialistische Ökonomie beginnt mit der Kapitalvernichtung" (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 57, S. 25). In dieser Hinsicht ha­ben die Bordigisten verstanden, dass die wirtschaftlichen Maßnahmen, die von der proletarischen Macht in Russland ergriffen wurden, noch immer kapitalistische Maßnahmen waren, und glorifizierten sie nicht als "sozialistisch", wie die Stalinisten und Trotzkisten es tun. Jedoch wird der bordigistische Irrtum in der folgenden Passage enthüllt:
"In den fortgeschrittenen Ländern wird die Diktatur des Proleta­riats in der Lage sein, sofort  einen zahlenmäßig ausgearbeiteten Produk­tionsplan aufzustellen. In den anderen Ländern wird das Proletariat, während es auf die Ausdehnung der Revolution wartet, den Kapitalismus verwalten, wobei die Produktivkräfte  soweit wie möglich in den Händen des Staates zusam­mengefasst und Schutzmaßnahmen für die lohn­abhängige Klasse getroffen  würden, alles Maßnahmen, die unter den gleichen Be­dingungen unmöglich wären für eine bürgerliche Partei. In allen Fällen be­deutet die Machtübernahme durch das Proleta­riat nichts anderes als die erste Stufe der Weltrevolution, die siegen muss oder besiegt wird. Entweder generiert sie andere Revo­lutionen, oder sie wird im Bürgerkrieg untergehen, oder es wird, in dem Fall, wo das Proletariat einen jungen Kapitalismus verwalten muss, zu einer bürgerlichen Macht degenerieren." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 57,  S. 36)
Da haben wir's! Nur in den Ländern, wo das "Proletariat einen jungen Kapitalis­mus verwalten muss" (als ob der Kapitalismus, dessen Senilität ein internationales Phänomen ist, irgendwo noch jung sein könn­te!), "degeneriert die Revolution zu einer bürgerlichen Macht." So ist die Revolution in Russland dege­neriert, weil sie in einem schwach industrialisierten Land (das KOMMUNISTISCHES PROGRAMM fälschlicherweise als "jungen Kapitalismus" bezeichnet) isoliert geblieben ist . Wäre die Revolution dage­gen in einem hoch industrialisierten Land isoliert geblieben, wäre sie gemäß dieser Argumentationsweise nicht degeneriert und die  etablierenden Produktionsverhältnisse  wären auch nicht mehr kapi­talistisch gewesen. Kurzum, Sozialismus in einem Land wäre möglich ... unter der Bedingung, dass es sich um einen "alten Ka­pitalismus" handelt. Eben­so wie bei den Rätekommunisten führt die Auffassung der Bordigisten, wenn man sie zu Ende denkt, zwangsläufig zu der stalinistischen These. Die Bordigisten müssen sich entscheiden: Entweder ist in allen Fällen "die Machtübernahme durch das Proletariat nichts anderes als die erste Stufe der Weltrevolution", oder sie ist es nur in bestimmten Fällen. Faktisch führt der Begriff der "Doppelrevolution" letztendlich zu einer "doppelten Auffassung":  eine Auffassung, die zwischen Internationlismus und Nationalismus hin und her schwankt.
In Wirklichkeit ist es so: wie immer der Entwicklungsgrad der Länder sein mag, in denen das Proletariat die Macht ergreift, es kann nicht auf sofortige "sozialistische" Maß­nahmen zu setzen. Es wird in der Lage sein, eine Reihe von Maßnahmen zu ergreifen, wie die Enteignung der Privatkapitalisten, gleiche Bezahlung, Unterstützung der Ärmsten, unentgeltliche Verteilung gewisser Konsumgüter, etc., die zu sozialistischen Maßnahmen führen, die aber in sich selbst  perfekt geeignet sind, um vom Kapitalismus vereinnahmt zu werden. Solange die Revolution in einem Land oder in einer kleinen Anzahl von Ländern isoliert bleibt, wird die Wirt­schaftspolitik, die sie verfolgen kann, überwiegend von den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Rest der kapitalistischen Welt  bestimmt sein, die dieses Land oder diese Länder aufrechterhalten muss/müssen. Diese Beziehungen können nur Handelsbeziehungen sein: Das Gebiet, in dem das Proletariat die Macht ergriffen hat, muss auf dem Weltmarkt einen Teil seiner Produkte verkaufen, um in der Lage zu sein, auf demselben Markt all die unerlässlichen Güter zu erwer­ben, die es nicht selbst herstellen kann.
Daher bleibt die gesamte Wirtschaft dieses Gebietes stark von der Notwendigkeit geprägt, Waren so billig wie möglich zu produzieren, um  Käufer zu finden gegen die Konkurrenz durch die Waren, die in den Ländern hergestellt werden, in denen das Proletariat die Macht noch nicht ergriffen hat. Das bedeutet, dass diese Wirtschaft dem Konsum der Arbeiterklasse Beschränkungen auferlegen muss; Beschränkungen, deren Zweck es nicht nur ist, die zukünftige Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu ermöglichen (die unverzichtbare Grundlage des Kommunismus), sondern auch und viel prosaischer, um einen Mehrwert zu erlangen, der auf dem Weltmarkt ausgetauscht werden und die Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann. Es ist offen­sichtlich, dass die proletarische Macht eine größtmögliche Anzahl von Vorkehrungen ge­gen die korrumpierenden Auswir­kungen tref­fen muss, die diese typisch kapitalisti­sche Praxis  im proletarischen Macht­bereich und in ihren Institutionen unvermeidlich erzeugen wird. Aber es ist ebenso offensicht­lich, dass der Fortbestand dieser Praxis im Falle einer an­dauernden Isolierung der Revolution nur zum Sturz der proletarischen Macht führen kann. Und was für den streng be­grenzten Bereich der Ökonomie zutrifft, gilt auch für den militärischen Be­reich. Allein auf weiter Flur, wird die Revo­lution dazu gezwungen, sich gegenüber den Versuchen des Kapitalismus, sie zu zerschlagen, zur Wehr zu setzen. Das bedeutet, dass von dem Tag an, an dem das Proletariat die Macht ergreift, viele Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig aufrechterhalten müssen: Waffenproduktion, die den Lebensstandard der Arbeiter drückt und die Entwick­lung der mate­riellen Bedin­gungen des Kommunismus verhindert, die Existenz einer Armee, die auch als "Rote Armee" weiterhin eine Institution mit einem im Kern kapitalistischen Charakter bleibt: eine Ma­schinerie, die dazu bestimmt ist, auf organisierte und systematische Weise zu töten und Zwang auszuüben. Auch hier ist die Trag­weite der Bedrohungen leicht zu verstehen, die solche Notwen­digkeiten auf die proletarische Macht ausüben. All dies trifft sowohl auf die fortge­schrittenen als auch auf die rückständigen Länder zu. In Wirklichkeit ist ein hoch industrialisiertes Land sogar noch abhän­giger vom kapitalistischen Weltmarkt. Es wäre nicht allzu absurd zu behaupten, dass die Revolution, wäre sie in einem Land wie Deutschland isoliert gewesen, noch schneller als in Russland degeneriert wäre. Es war also nicht schlicht die Rückständigkeit Russlands, die den kapitalistischen Charakter der wirtschaftlichen Maßnahmen erklärt, die in den ersten Jahren der Sowjetmacht ergriffen wurden. Wenn man die Maßnah­men, die in Deutschland im Falle eines proletarischen Sieges getroffen worden wären, untersucht, findet man eine große Ähnlichkeit:
"1.    Konfiskation aller dynastischen Vermögen und Einkünfte für die Allgemeinheit;
2.    Annullierung der Staats- und anderer öffentlichen Schulden sowie sämtlicher Kriegs­anleihen, ausgenommen Zeichnungen von einer bestimmten Höhe an, die durch den Zentralrat der A(rbeiter)- und S(oldaten)-Räte festzu­setzen ist)
3.    Enteignung des Grund und Bodens aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetrie­be, Bildung sozialistischer landwirtschaft­licher Genossenschaften unter einheitlicher zentraler Leitung im ganzen Reiche, bäuerliche Kleinbetriebe bleiben im Besitze ihrer Inhaber bis zu deren freiwilligem Anschluss an die sozialistischen Genossenschaften;
4.    Enteignung aller Banken, Bergwerke, Hüt­ten sowie aller Großbetriebe in Industrie und Handel durch die Räterepublik.
5.    Konfiskation aller Vermögen von einer bestimmten Hohe an, die durch den Zentralrat festzusetzen ist;
6.    Übernahme des gesamten öffentlichen Ver­kehrswesens durch die Räterepublik.
7.    Wahl von Betriebsräten in allen Betrieben, die im Einverneh­men mit den Arbeiterraten die inneren Angelegenheiten der Be­triebe zu ordnen, die Arbeitsverhältnisse zu regeln, die Produktion zu kontrollieren und schließ­lich die Betriebsleitung zu übernehmen haben." ("Was will der Spartakusbund?" (aus dem Programm des Spartakusbundes der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), zitiert aus dem Artikel von Rosa Luxemburg, "Was will der Spartakusbund?", in: Rosa Luxem­burg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 449)
Der große Fehler der Bordigisten ist es, davon auszugehen, dass die Welt in verschiedene geo-ökonomische Gebiete" aufge­teilt ist: in jene Gebiete, in denen der Kapitalismus reif und gar altersschwach geworden ist, und in jene, in denen der Kapitalismus "jung" oder "jugendlich" ist. Unfähig zu begreifen, dass der Kapitalismus als ein Weltsystem (und darin unterscheidet er sich von allen vergangenen Systemen) eine auf­stei­gende Phase und dann, seit 1914, eine dekadente Phase erlebt, sind sie gleichermaßen unfähig zu be­greifen, dass seit 1914 die Aufgaben des Proletariats in allen Weltregionen die gleichen sind: den Kapitalismus zu zerstören und neue Produktionsverhältnisse zu etablieren. Für die Bordigisten gibt es einige Weltregionen, in denen eine "reine“, proletarische Revo­lution auf der Tagesordnung steht, und andere Regionen, wo die "Doppelrevolution" erforderlich ist. Dieses Schema beinhaltet, dass:
-       einerseits die Aufgaben des Prole­tariats innerhalb eines Prozesses der sozia­listischen Umwälzung der Gesellschaft in den verschiedenen Gebieten als unter­schiedlich aufgefasst werden. Das Proletariat in den entwickelten Ländern kann sofort sozialistische Maßnahmen ergreifen, während das Proletariat in den rückständigen Ländern sich zunächst der Entwicklung des Kapitalismus widmen muss, um die Bedingungen für den Sozialismus zu schaffen;
- andererseits das Proletariat und die Revolutionäre kurzfristig die verschiedensten "nationalen Befreiungskämpfe" unterstützen muss, die die Bordigisten als die Grundlage für die Entwicklung eines "jugendlichen" Kapitalismus in diesen Ländern betrachten.
Erst kürzlich haben wir die Verirrungen gesehen, die aus letztgenannter Folgerung  in der bordigistischen Auffassung entstehen: eine Rechtfertigung der von den Roten Khmer an der kambodscha­nischen Bevölkerung verübten Massaker, die als Ausdruck des "radikalen Jakobinertums" ge­wertet werden; Einstimmen in die stalinistischen und trotzkistischen Lobeshymnen für Che Guevara, jenem "lebenden Symbol der demokratischen, antiimperialistischen Revolution (...) von den Yankee-Impe­rialisten und ihren lateinameri­kanischen Lakaien  feige umgebracht" (P.C., Nr. 75, S. 51), und viele andere Beweise für ihre mehr oder weniger kritische Unterstützung dieses oder jenen Mitwirkenden in den jüngsten inter-imperialistischen Konflikten (Vietnam, Angola, Mosambique, etc.)
Was die erstgenannte Folgerung angeht, so drückt sie die absurde bürgerliche Idee aus, dass das Proletariat ei­nes jeden Landes, sobald es die Macht über­nommen hat, sich um seine "eigenen Angelegenheiten kümmern muss". In Wirklichkeit ist es das gesamte Weltproletariat, das alle ökonomischen Probleme angehen muss, die sich in den vielen Weltregionen stellen. Diese Probleme sind durch die doppelte Aufgabe bestimmt, die sich dem Proletariat gleichzeitig stellt: die Produktivkräfte besonders in den rückständigen Ge­bieten weiterzuentwickeln und die Produktionsverhältnisse fortschreitend in Richtung Kommunismus zu transformieren. Sobald das Proletariat die Macht auf Weltebene übernommen hat, muss es somit nirgendwo auf der Welt kapitalisti­sche Aufgaben erfüllen. Im Rahmen der sozialisti­schen Umwandlung der Gesellschaft beginnt das Proletariat die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, die durch die historische Deka­denz der kapitalisti­schen Produktionsweise zur Stagnation ver­dammt waren. In diesem  Rahmen muss das Proletariat die Überreste der vorkapi­talistischen Gesellschaft auslöschen, die der Kapitalismus nicht integrieren konnte - durch die Integration der enormen Massen von agrarischen Kleinproduzenten und Handwerkern, die heute noch immer die breite Mehrheit der Weltbevölkerung bilden, in die assoziierte Produktion des vergesellschafteten Bereichs. Und diese Aufga­be muss nicht nur in den rückständigen Län­dern durchgeführt wanden, sondern auch in einer ganzen Reihe von fortgeschrittenen Ländern wie Japan, Frankreich, Spanien oder Italien, wo zig Millionen von Kleinbauern und Landarbeiter unter gesellschaftlichen Bedingungen schmachten, die dem Feudalismus sehr nahekommen. Warum sprechen die Bordigisten nicht von der "Doppelrevolution" für diese Länder? So stellen sie einerseits dem Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern, wo die Revolution noch isoliert ist, viel zu ehrgeizige Aufgaben und unterschätzen die historischen Aufgaben, denen sich das Proletariat gegenübersieht, sobald es überall auf der Welt die Macht übernommen hat, indem sie kapitalistische Bewegungen befürworten, und dies zu einer Zeit, wenn der Kapitalismus überall am Ende ist.
Im ersten Teil dieses Arti­kels haben wir gesehen, wie die Rätekommunisten, nach­dem sie die Errungenschaften der Oktoberre­volution begrüßt hatten, in den sozialdemokratischen und anarchistischen Chor mit einstimmten, der diese Revolution denunzierte. Die Bordigisten hingegen verteidigen kompromisslos die Revolution. Sie haben, woran es den Rätekommunisten mangelt,  ein Verständnis für den Vorrang der politischen über die ökonomischen As­pekte der Revolution, was gelegentlich klar zum Ausdruck kommt:
 „Die Oktoberrevolution darf an erster Stelle nicht unter dem Blickwinkel der unmittelba­ren Transformation der Gesellschaft (...) der Produktionsformen und ökonomischen Strukturen verstanden werden, sondern als eine Phase im internationalen politischen Kampf des Proletari­ats." (PROGRAMME COMMUNISTE, Nr. 68, S. 20)
Aber leider erweisen sie sich als unfähig, die menschewistische Behauptungen abzuweisen, die später von den Rätekommunisten wieder aufge­griffen wurden. Im Gegenteil, aufgrund einer religiösen Anhänglichkeit zu den Analysen Lenins (insbesondere in der nationalen Frage, deren Unrichtigkeit durch mehr als ein halbes Jahrhundert an Erfahrungen bewiesen worden ist) zeigen sie sich als unfähig, weder die grundlegenden Bei­träge Lenins und der Bolschewiki noch die Bedeutung der Erfah­rung der Oktoberre­volution für das proletarische Programm zu begreifen. Die Oktoberrevolution muss daher nicht nur die Lügen und die versuchte Vereinnahmung durch die Bourgeoisie, nicht nur die rätekommunistischen Angriffe erdulden, sondern auch die wohlmeinende, aber desaströse Analyse, die von ihren beflissensten Verteidigern, den Bordigisten, vorgebracht wird.

 

Charakter und Rolle der bolschewistischen  Partei


Eine Verteidigung des proletarischen Cha­rakters der Oktoberrevo­lution wäre unvoll­ständig, wenn sie sich nicht mit dem Charakter der bolschewistischen Partei als einem der Hauptträger der Revolution befassen würde. Wie bei der Revo­lution selbst, bestanden auch über den Klassencharakter der Partei keinerlei Zweifel unter den damaligen revolutionären Strömungen. Erst später kam die Idee einer nicht-prole­tarischen, bolschewistischen Partei auf, anders als bei Kautsky und der Sozialdemokratie. Die rätekommunistischen "Thesen über den Bolsche­wismus" sind ziemlich deutlich in dieser Hinsicht:
"Der Bolschewismus ist in seinen Prinzipien, Taktiken und in seiner Organisation eine Bewegung der bürgerlichen  Revolution in einem überwiegend bäuerlichen Land..." (These 66)[3]
Obgleich die Thesen einigermaßen widersprüchlich sind:
"Die russische sozialdemokratische Bewegung bildet in ihren berufs-revolutionären Führungselementen primär einen Bestandteil des revolutionären Kleinbürgertums." (These 66)
Ob bürgerlich, kleinbürgerlich oder "staatskapitalistisch" , die verschiedenen Versionen der rätekommunistischen Analysen stimmen alle in einem Punkt überein: jeglichen proletarischen Charakter der bolschewisti­schen Partei zu leugnen. Bevor wir fortfah­ren und die Gründe aufdecken, die hinter dieser Analyse stecken, ist es notwendig, einige elementare Gesichtspunkte über die Ursprünge und der Positionen der Bolschewiki sowie über die von ihnen gegen andere politische Tendenzen geführten Kämp­fe in Erinnerung zu rufen.
Der Bolschewismus entstand als eine marxis­tische Strömung, als ein integaler Be­standteil der russischen Sozialdemokratie, die als solche erfolgreiche Schlachten kämpfte:
1.    gegen die Volkstümler und den Agrarsozialismus;
2.    gegen den legalen Marxismus und die Vertreter des russischen Liberalismus;
3.    gegen den Terror als eine Kampfmethode, anstelle dessen sie den Mas­senkampf der Arbeiterklasse vertraten;
4.    gegen den arbeitertümlerischen Ökonomismus, der den proletari­schen Kampf einzig auf  ökonomische Forderungen innerhalb des Kapi­talismus reduzierte, anstelle dessen sie den globalen, politischen Kampf des Proletariats, die historischen Aufgaben des Marxismus vertraten;
5.    gegen den Intellektualismus, die Intelligentsia, gegen die dilettantischen, zweifelhaften Mitläufer der Arbeiterbewegung und für die Verteidigung der Idee des militanten Engagements der Revolutionäre innerhalb der Klasse;
6.    gegen den Menschewismus und seine als "Marxismus" verkleidete Unterstützung der liberalen Bourgeoisie in der Revolution von 1905;
7.    gegen die "Liquidatoren", die nach der Zerschlagung der Revolution von 1905 begannen, die Notwendigkeit der poli­tischen Organisation des Proletariats zu leugnen;
8.    gegen die Vertreter des imperialisti­schen Krieges, für einen echten Internatio­nalismus, der sich klar vom bloßen humanisti­schen Pazifismus abhob;
9.    gegen die Provisorische Regierung, die aus der Februarrevolu­tion von 1917 hervor­ging, gegen jegliche "kritische oder be­dingte Unterstützung" für die Regierung und für den Schlachtruf: "Alle Macht den Räten".ENDE
Diese Punkte ermöglichen uns, uns ein ge­naueres Bild von der bol­schewistischen Partei zu machen als das, das die Rätekommunisten vorgestellt haben. Tatsächlich befand sich die bolschewistische Frak­tion immer auf der Seite der Arbeiterklasse. Dies gilt beson­ders für die Revolution 1905, die die russi­sche Gesellschaft erschütterte. Die Bolschewiki spielten eine aktive Rolle:
-       im Kampf für die Zerstörung des zaristi­schen Systems,
-       in den Sowjets, an der Seite der Sowjets,
-       im Aufstand gegen die Menschewiki, die sich gegen die Bewaffnung der Arbeiter aussprachen.
Gewiss ist die Analyse der Bolschewiki von 1905 (die sie als eine bürgerliche Revolution betrachteten) falsch. Aber ihre Analyse war eine genaue Kopie der Marxschen Position zur bürgerlichen Revolu­tion in Deutschland l848: Sie be­tonten die aktive und autonome Rolle des Proletariats in der Revolution, anstatt es aufzurufen, sich hinter der Bourgeoi­sie einzuordnen. Dies markiert die Klassengrenze, und nicht das Verständnis, dass von da an keine bürgerliche Revolution mehr möglich war. Die Analyse der Bolschewiki hinkte der Realität hinterher, doch da dies ein Wendepunkt zwischen zwei Epochen war, war sich 1905 niemand darüber bewusst, dass man am Vorabend einer histori­schen Krise des Kapitalismus, seiner Niedergangsepoche stand. Erst 1910-11 warf Rosa Luxemburg die Frage einer Änderung in der historischen Perspektive auf.
Die Aktivitäten und die Positionen der Bol­schewiki befassten sich nicht nur mit den in Russland aufgeworfenen Problemen. Zusammen mit der gesamten russischen Sozialdemokratie waren sie ein integraler Bestandteil der II. Internationalen, innerhalb derer sie Teil des linken Flügels in allen Hauptfragen waren, die zur Diskussion standen. Sie sprachen sich gegen den Re­formismus, gegen den Revisionismus und den Kolonia­lismus aus. Insbesondere gehörten sie zur Vorhut im Kampf für den Internatio­nalismus.
1907, auf dem Kongress in Stuttgart, unter­zeichnete Lenin mit Rosa Luxemburg einen (später angenommenen) Ergänzungsent­wurf, der einer etwas zaghaften Resolution über den Krieg Nachdruck verlieh und der als Grundlage für die Position der Internationalisten 1914 diente:
"Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeige­führte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Be­seitigung der kapitalisti­schen Klassenherr­schaft zu beschleunigen." (R. Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 4, S. 130).
1912, auf dem Außerordentlichen Kongress in Basel, der sich mit der Gefahr eines imperialistischen Krieges auseinandersetzte, rief der linke Flügel die Arbeiter auf, sich der nationalen Verteidigung entgegenzu­stellen und am proletarischen Internationalismus festzuhalten.
1914 waren die Bolschewiki die ersten, die nach dem Zusam­menbruch der II. Interna­tionalen wieder auf die Beine kamen. Sie waren die ersten, die den Schlachtruf vorstell­ten, der den Sinn der Stuttgarter und der Baseler Resolutionen in die Praxis umsetzte: "Verwandelt den imperialistischen Krieg in ei­nen Bürgerkrieg!". Sie waren die ersten, die die Notwendigkeit verstanden, nicht nur mit den sozialdemokratischen Chauvinisten, sondern auch mit den "Zentristen" wie Kautsky zu brechen, und eine neue Internationale aufzubauen, die frei von Opportunismus war, der die II. Internationale korrumpiert hatte, und deren unmittelbare Aufgabe es war, die sozialistische Revolution vorzubereiten.
1915, auf der Zimmerwalder Konferenz (5.-8. September), standen Lenin und die Bolsche­wisten an der Spitze der Linken, deren Antrag, der von Radek geschrieben und von Lenin berichtigt wurde, feststellte:
"Ohne Verbindung mit dem revolutionären Klassenkampf des Proletariats ist der Kampf für den Frieden nur eine pazifistische Phrase sentimentaler oder das Volk betrügender Bour­geois" (Lenin, Werke, Band 21, S. 379, "An  die Internationale Sozialistische Kommission“).
Dieser Antrag wurde ohne Prüfung abgelehnt, und schließlich schloss sich die Linke (8 von 38 Delegierten) dem von Trotzki ge­schriebenen Manifest an (Trotzki war der Initiator des "Zentrums", dem damals auch die beiden Delegierten des Spartakus angehörten). Wobei sie jedoch ernste Vorbehalte gegen­über diesem Manifes äußerte: "ein zaghaftes, inkonsequentes Manifest" (aus dem Artikel "Der erste Schritt" in "So­zialdemokrat“ vom 11. Oktober 1915). Um die eige­nen Positionen zu verteidigen, eröff­nete die Linke ein "Ständi­ges Büro der Zimmerwalder  Linken", das neben der "Kommis­sion der Sozialistischen Internationalen" existierte. Dieses Büro wurde hauptsächlich von den Bolschewiki angeregt.
1916, auf der Kienthaler  Konferenz (24. 4.), standen die Bolsche­wisten erneut an der Spitze der Linken, die ihr Position ge­stärkt hatte (12 von 43 Delegierten), hauptsächlich weil die Spartakisten zur Position der Linken gelangt waren, was die von ihr in Zimmerwald eingenommene Haltung bestätigte.
1917 wurde die Vorbereitung der Oktoberre­volution von Lenin direkt mit dem Kampf ge­gen den imperialistischen Krieg und für den proletarischen Internationalismus verknüpft:
"Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demo­kratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, an das Proletariat (...)
Die internationalen Pflichten der Arbei­terklasse Russlands treten gerade jetzt  mit besonderem Nachdruck in den Vordergrund.
Es gibt nur einen wirklichen Internatio­nalismus: die hingebungs­volle  Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein, in aus­nahmslos allen Ländern." (Aus "Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution", April 1917, Lenin, in: Gesammelte Werke,Bd.2, S. 60, 67, 68).
"Dem russischen Proletariat wurde die große Ehre zuteil, zu be­ginnen, es darf aber nicht vergessen, dass seine Bewegung und sei­ne Revolution nur ein Teil der internatio­nalen, revolutionären, proletarischen Bewe­gung sind, die, wie zum Beispiel in Deutsch­land, von Tag zu Tag stärker und stärker wird. Nur unter diesem Gesichtswinkel kön­nen wir unsere Aufgaben bestimmen." (Eröff­nungsrede zur 7. Gesamtrussischen Konferenz des SDAPR, April 1917).
Im März 1919 wurde die Kommunistische Inter­nationale in Mos­kau gegründet. Ihre Haupt­aufgabe wurde in dem Namen, den sie sich gegeben hatte, zusammengefasst: "Weltpartei der kommunistischen Revolution". Dies war der Höhepunkt der von den Bolsche­wisten seit Zimmerwald geleisteten Arbeit. Es war die bolschewis­tische Partei (die zur "Kommunis­tischen Partei Russlands" gewor­den war), die den Kongress einberief; es waren zwei Bolsche­wiki, Lenin und Trotzki, die die beiden Haupt­texte schrieben: "Thesen und Referat über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Pro­letariats" und das "Manifest". Und nicht nur weil die Revolution in Russland stattfand, zählten bereits zwei Mitglieder des Exekutivkomitees der Ko­mintern (Lenin und Sinowjew) zu den drei Mitgliedern des "Ständigen Büros der Zimmerwalder  Linken". Dies war schlicht ein Ausdruck des konsequenten und untadeligen Internationalismus, für den die Bolschewiki eingetreten wa­ren, bis das Rückfluss der revolutionären Welle sie in das Lager des Feindes riss. So also handel­ten die Bolschewiki inmitten der Erschütterungen des kapitalistischen Systems am An­fang des Jahrhunderts. Und dennoch gibt es immer noch Revolutionäre, die behaupten, es habe sich um eine bürgerli­che Strömung ge­handelt.  Untersuchen wir ihre Argumente.
1) Der "Substitutionismus" der Bolschewiki
"Das tragende Prinzip der Politik des Bolschewismus ist jakobinisch: Machtergreifung und Machtausübung der Organisation." ("Thesen über den Bolschewismus", These 21) "Als Führerbewegung der jakobinischen Diktatur hat der Bolschewismus in allen seinen Phasen konsequent den Gedanken der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse bekämpft und die Unterwerfung des Proletariats unter die bürokratisierte Organisation verlangt." (These 42
Ehe wir fortfahren und um mit einigen Legenden aufzuräumen, wollen wir Lenin zi­tieren:
 „Wir sind keine Utopisten. Wir wissen: Nicht je­der ungelernte Arbeiter und jede Köchin sind imstande, sofort an der Verwaltung des Staates mitzuwirken. Darin stimmen wir sowohl mit den Ka­detten als auch mit der Breschkowsjkaja  und mit Zereteli  überein. Wir unterscheiden uns jedoch von diesen Bürgern dadurch, dass wir den sofortigen Bruch mit dem Vorurteil verlangen, als ob nur Reiche oder aus reichen Familien stammende Beamte imstande wären, den Staat zu verwalten, gewohnheitsmäßige, tägliche Ver­waltungsarbeit zu leisten. Wir verlangen, dass die Ausbildung für die Staatsverwaltung von klassenbewussten  Arbeitern und Soldaten besorgt und dass sie unverzüglich  in Angriff genommen werden, d.h. dass unverzüglich begonnen werde, alle Werktätigen, die ganze arme Bevölkerung, in diese Ausbildung einzubeziehen."
"Selbstverständlich sind bei den ersten Schrit­ten dieses neuen Appa­rats Fehler nicht zu ver­meiden. Kann  es denn einen anderen Weg geben, um das Volk zu lehren, sich selbst  zu regieren, um Fehler zu überwinden, als den Weg der Praxis, als den sofortigen Über­gang zu einer wirk­lichen  Selbstverwaltung des Volkes? (...) Die Hauptsache ist, den Unterdrückten und Werk­tätigen Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ein­zuflößen, ihnen in der Praxis zu zeigen, dass sie selbst die richtige, aufs strengste gere­gelte, organisierte Ver­teilung des Brotes, aller Nahrungsmittel, der Milch, der Kleidung, der Wohnungen usw. im Interesse der Armen in die Hand nehmen können und müssen (...) Nimmt man hingegen gewissenhaft, kühn und allerorts die Übergabe des Verwaltungswesens in die Hände der Proletarier und Halbproletarier in Angriff, so wird das einem in der Geschichte beispiellosen revolutionären Enthusiasmus in den Massen wec­ken und die Kräfte des Volkes im Kampf gegen das Elend derart vervielfachen, dass vieles von dem, was unsere alten, bürokratischen Kräften unmöglich erscheint, sich als durch führ­bar erweisen wird für die Kräfte der Millionenmasse, die beginnt, für sich selbst zu arbeiten, die  nicht für den Kapitalisten, nicht für das Herrensöhnchen, nicht für den Bürokraten, nicht unter Zwang  arbeitet." (Lenin, Gesammelte Werke, Band II, S. 470) zitiert aus: "Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?")
Das sind die Worte Lenins, dem "Jakobiner"! "Aber", werden einige Leute sagen, "dies war vor der Oktoberrevolution. Diese Sprache war reine Demagogie und hatte keinen ande­ren Zweck, als das Vertrauen der Massen zu gewinnen, um die Macht anstelle der Massen zu übernehmen. Nachher war alles anders!"  Schauen wir, was Lenin-Robespierre nach der Oktoberrevolution sagte:
"Mag die korrupte bürgerliche Presse jeden Fehler, den unsere Revolution begeht, in die Welt hinausposaunen. Wir fürchten un­sere Fehler nicht. Mit Beginn der Revolution sind die Menschen nicht zu Heiligen gewor­den. Makel- und fehlerlos die Revolution zu Ende zu führen, das können die werktätigen Klassen nicht, die Jahrhunderte hindurch ausgebeutet, gewaltsam niedergehalten und in den Schraubstock der Not, der Unwissen­heit und der Verwilde­rung gepresst wurden (...) Auf  je hundert unserer Fehler, von denen die Bourgeoisie und ihre Speichellecker (unsere Menschewiki und die Rechtssozialrevolutio­näre darunter) in die Welt hinausschreien, kommen zehntausend Heldenakte, die um so größer und um so heldenhafter sind, da sie einfach und unscheinbar sind, sich im Alltag des Fabrikviertels oder des entlegenen Dorfes abspielen und von Menschen vollbracht werden, die nicht gewohnt sind (und auch keine Mög­lichkeit dazu haben), jeden ihrer Erfolge in die Welt hinauszutrompeten.
Aber wenn auch das Gegenteil der Fall wäre, (...) wenn  selbst auf hundert unserer richti­gen Schritte zehntausend Fehler entfielen, ja, auch dann noch wäre unsere Revolution groß und unbesiegbar; und sie wird auch vor der Weltgeschichte groß und unbesiegt dastehen, denn zum ersten Mal geschieht es, dass nicht die Mino­rität, nicht die Reichen und Gebildeten, sondern die wirklichen Volksmassen, die ungeheure Majorität der Werktätigen selbst, ein neues Leben aufbauen, selbst, aus eigener Erfahrung, über die schwierigsten Fragen sozialistischer Organisation entschei­den.
Ein jeder Fehler in dieser Arbeit, in dieser gewissenhaftesten und aufrichtigsten Mitwir­kung von zehn Millionen einfacher Arbeiter und Bauern an der Neugestaltung ihres ganzen Lebens -, ein jeder solcher Fehler wiegt Tau­sende und Millionen 'fehlerloser' Erfolge der ausbeutenden Minorität auf (...) denn nur an die­sen Fehlern werden die Arbeiter und die Bauern lernen, das  neue Leben aufzubauen, wer­den lernen, ohne die Kapitalisten auszukommen; nur so werden sie sich den Weg, durch tausend Hindernisse hindurch, zum siegreichen Sozialismus bahnen." (Le­nin, in: "Brief an die amerikanischen Arbeiter", 20. August 1918, in "Die Kommunistische Internationale", Nr. 31-32, S. 53).
Dies mag das übliche Bild Lenins als dem bösen Buben abschwächen, dem es allein darum ging, seine eigene diktatorische Macht aufrechtzuerhalten und "konsequent den Gedanken der Selbstbestimmung der Arbeiterklasse zu bekämpfen". Man könnte Dutzende von anderen Texten aus den Jahren 1917, 19l8, 1919 zitieren, die die gleiche Idee ausdrücken. Allerdings trifft es zu, dass Lenin und die Bolschewiki der irrigen Auffassung waren, die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat bedeute die Machtergreifung durch seine Partei - ein Schema, das von der bürgerlichen Revolution stammte. Diese Auffassung wurde jedoch von allen Strömungen der II. Internati­onalen vertreten - den linken Flügel eingeschlossen. Gerade die Erfahrung der Revolution in Russ­land und ihrer Degeneration ermöglichte es, den grundlegenden Unterschied zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Revolu­tion zu begreifen. Zum Beispiel vertrat Rosa Luxemburg , de­ren Differenzen mit den Bolschewiki über die Organisationsfrage wohlbekannt sind, bis an ihr Lebensende im Januar 1919 die gleiche falsche Auffas­sung:
"Der Spartakus­bund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideu­tigen Willen der großen Mehrheit der prole­tarischen Masse." ("Was will der Sparta­kus­bund?", in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 450).
Muss man daraus schließen, dass auch Rosa Luxemburg eine "bür­gerliche Jakobinerin" war? Doch für welche Art von "bürgerlicher Revolu­tion" kämpfte sie und die Spartakisten im indus­trialisierten Deutschland von 1919? Vertrat sie vielleicht diese Position, weil sie selbst Führerin einer Partei gewesen war, nämlich der SDKP (Sozial­demokratie des Königreiches Polen), die ihre Aktivitäten in den polnischen und litauischen Provinzen des zaristischen Russlands ausübte, "wo allein eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung war"? So lächerlich dieses Argument sein mag, es ist nicht lächerlicher als jenes, das Lenin, der die meiste Zeit seines Lebens als Mili­tanter in Deutschland, der Schweiz, England und Frankreich (d.h. in den damals am weitesten entwickelten Ländern) verbracht hatte , als ein "reines Produkt der russischen Erde" und der bürgerlichen Revolution porträtiert, mit der dieses Land angeblich schwanger ging.
2) Die Agrarfrage
"Sie (die Bolschewiki, d.Red.) drückten in ihrer Agrarpraxis und ihren Bauernlosungen (Friede und Land) vollkommen das Interesse der um Sicherung von Kleinprivatbesitz, also auf kapitalistischer Linie kämpfenden Bauern aus und waren so in der Agrarfrage rückhaltlos Verfechter des kleinkapitalistischen, also nicht des sozialistisch-proletarischen Interesses gegen den feudalen und kapitalistischen Großgrundbesitz." (These 46).
Auch hier müssen wir einige Dinge gerade rücken. Wenn die Bolschewiki in dieser Frage Fehler begangen ha­ben, müssen wir ihre tatsächlichen Positionen kritisieren, so wie es Rosa Luxemburg in ihrer Schrift "Die Russische Revolution" getan hat, und nicht ihnen eine Position unterstellen, um die Richtigkeit eines Arguments zu beweisen. Dies stand in dem "Dekret über Grund und Boden", ein von Lenin eingebrachter Antrag, der auf dem 2. Gesamtrussischen Sowjetkongress genau am Tag des Oktoberaufstandes angenommen wurde:
„1. Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufge­hoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch ver­pfändet, noch auf irgendeine andere Weise ver­äußert werden.
Der gesamte Boden: die Staatsapanage-, Kabinetts-, Kloster-, Kirchenland usw. wird entschädigungslos enteignet, zum Gemein­eigentum des Volkes erklärt und allen, die ihn bear­beiten, zur Nutzung übergeben (...)
3. Lände­reien mit hoch entwickelten Wirtschaften: Gärten, Plantagen,  Pflanzschulen, Baumschulen, Gewächshäuser usw., unterliegen nicht der Auf­teilung, sondern werden in Musterwirtschaften umgewandelt und je nach ihrer Größe und Bedeu­tung dem Staat oder den Gemeinden zur aus­schließlichen Nutzung übergeben." (Gesammelte Werke, Band II, S. 536, Abschnitt über "Bäuerlicher Wählerauftrag zur Boden­frage")
Dies unterscheidet sich vollkommen von der Vertretung des "Kleinprivatbesitzes auf kapitalistischer Linie". Diese waren "für immer aufgehoben".
Die Verordnungen dieses Dekrets sind eine Konkretisierung des "Modell-Dekrets", das im August 1917 auf der Grundlage von 242 lokalen Bauernmandaten entworfen wurde. In seinem Bericht erklärt Lenin:
"Hier werden Stimmen laut, das  Dekret selbst und der Wählerauf­trag seien von den Sozialrevolutionären abgefasst worden. Sei's drum. Es ist einerlei, von wem sie abgefasst worden sind; als de­mokratische Regierung können wir einen Beschluss der Volksmas­sen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären. Wenn die Bauern das Dekret in der Pra­xis anwenden und an Ort und Stelle durch­führen, so werden sie in der lebendigen Wirk­lichkeit selbst erkennen, wo die Wahrheit liegt (...) Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird sich zeigen, wer recht hat; mögen die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem ei­nen Ende herangehen und wir von dem anderen." (ebenda, S. 537)
Die Position der Bolschewiki war eindeu­tig: Falls sie den Bauern Zugeständnisse machten, dann deshalb, weil sie ihr Pro­gramm nicht mit Zwangsmitteln durchsetzen wollten; doch sie gaben es damit nicht auf. Ferner hatten die Bauern in dem Augenblick, als das Dekret angenommen wurde, schon fast überall angefangen, das Land aufzuteilen. Was den Ruf "Das Land den Bauern" angeht, war es kein Produkt "skrupelloser Vertreter der klein­kapitalistischen Interessen", sondern ein Versuch, alle bürgerlichen und versöhnle­rischen Parteien zu entlarven, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die die Bauern mit dem Versprechen der Landre­form schlicht täuschen wollten, denn sie hatten weder die Absicht noch die Mittel, diese Reform durchzuführen. In dieser Hinsicht bestätigten diese Parteien nur das, was Lenin und die ganze marxistische Linke seit Jahren sagten: Die Bour­geoisie in den unterentwickelten Ländern war unfähig geworden, irgendeine "fortschrittliche" historische Aufgabe zu erfüllen, insbesondere die der Eliminierung der feudalen Struktu­ren und Gesetze und der Erzwingung von bäuerlichen Eigentum an Grund und Boden, so wie es die Bourgeoi­sie in den fortgeschrittenen Ländern zu Be­ginn des Kapitalismus gemacht hatte. Jedoch beging Lenin den Fehler, davon auszugehen, dass diese von der Bourgeoisie unvollendeten Aufga­ben vom Proletariat übernommen wer­den konnten. Die Bour­geoisie war unfähig geworden, diese Aufgaben zu erfüllen, weil diese Aufgaben historisch nicht mehr realisierbar waren; sie entsprachen nicht mehr einer Notwendigkeit, der Entwicklung der Produktivkräfte, und standen im Grunde in Widerspruch zu den neuen Auf­gaben, vor denen die Gesellschaft stand. Rosa Luxemburg betonte zurecht, dass die Aufteilung von Grund und Boden "vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialisti­schen Sinne unüberwindliche Schwie­rigkeiten auftürmte" (Ges.Werke, Bd. 4,S. 343).
Rosa Luxemburg rief zur "Nationalisie­rung des großen und mittleren Grundbesitzes und  zur Vereinigung von Industrie und Landwirt­schaft" auf. Statt die Bolschewiki als die "Vertreter von kleinkapitalistischen Interessen" anzuprangern, schrieb sie ganz richtig:
"Dass die Sowjetregierung in Russland diese gewaltigen Reformen nicht durchgeführt hat - wer kann ihr das zum Vorwurf machen? Es wäre ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft, mitten im reißenden Strudel der inneren und äuße­ren Kämpfe, von zahllosen Feinden und Wider­ständen ringsherum bedrängt, eine der schwie­rigsten, ja, wir können ruhig sagen, die schwierigste Aufgabe der sozialistischen Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten! Wir werden uns, einmal zur Macht gelangt, auch im Wes­ten und unter den günstigsten Bedingungen an dieser har­ten Nuss manchen Zahn ausbrechen, ehe wir nur aus den gröbsten der tau­send komplizier­ten Schwierigkeiten dieser Riesenaufgabe heraus sind." ("Zur Russischen Re­volution", in: Ges.Werke, Bd. 4, S. 343).
3) Die nationale Frage
"Der Appell des Bolschewismus an die internationale Arbeiterschaft war nur eine Seite einer großangelegten Politik der internationalen Stützung der russischen Revolution. Die andere Seite war die Politik und Propaganda der 'nationalen Selbstbestimmung' der Völker, in der der Klassenanschauung noch stärker als im Begriff der 'Volksrevolution' zu Gunsten eines allgemeinen Appells an alle Klassen bestimmter Völker aufgegeben wurde." ("Thesen über den Bolschewismus", These 46).
Es fällt schwer zu glauben, dass die russi­sche Sozialdemokratie (nicht nur die Bolschewiki) seit ihrer Gründung 1898 sich, der Führung der internationalen Sozialdemokratie folgend, den Schlachtruf vom "Recht auf nationale Selbstbestimmung" schlicht und einfach als eine Taktik zu eigen gemacht hat, um eine Revolution zu verteidigen, die erst 1917 stattfinden sollte, und dies in einem Land und auf eine Weise, das bzw. die niemand vorhergesehen hatte. Sollen wir glauben, dass Gorter und Pannekoek, die die Position Lenins in dieser Frage kritisierten, eine zukünftige Verteidigung der "bürgerlichen Revolution in Holland" vor Augen hatten, als sie eine Ausnahme in ihrer Analyse machten und zur Selbstbestimmung von Niederländisch-Indien aufriefen?
Was die Aufgabe von "Klassenperspektiven" angeht, sehen wir einmal nach, was Lenin inmitten seiner Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg zu dieser Frage meinte:
"Die Sozialdemokratie als Partei des Prole­tariats betrachtet es als ihre Hauptaufgabe, an der freien Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern der des Proletariats einer jeden Nationalität mitzuwirken. Wir haben stets das engste Bündnis des Proletariat aller Nationalitäten bedingungslos unterstützt und nur in besonderen, in Ausnahmefällen können wir Forderungen nach einem neuen Klassenstaat oder nach der Ersetzung einer umfassenden politischen Ein­heit des Staats durch eine lose föderative Union vortragen." (ISKR, Nrf. 44, Übersetzung von IKS)
Nach dieser notwendigen Richtigstellung - und es ist bemerkenswert, dass jene, die den Bolschewismus als bürgerlich denunzieren, meist noch weniger über ihn wissen als jene, die ihn buchstabengetreu verteidigen - ist festzustellen, dass das "Recht auf nationale Selbst­bestimmung" entschieden zurückgewiesen werden muss, wegen seines unrichtigen theoretischen Gehalts und erst recht weil die Erfahrung gezeigt hat, was dieser Schlachtruf in der Praxis bedeutet hat. Die IKS hat eine Reihe von Texten dieser Frage gewidmet (insbeson­dere die Broschüre "Nation oder Klasse"), sodass es nicht notwendig ist, hier erneut darauf einzugehen. Jedoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, welche Bedeutung dieser Schlachtruf für die Bolschewiki hatte, um den fundamentalen Unterschied zwischen einem Fehler und einem Verrat aufzuzeigen. Lenin und die Mehrheit der Bolschewiki, die von den Interessen der sozialistischen Weltrevolution ausgingen, glaubten, dass es möglich sei, die Position des "Rechts auf Selbstbestimmung" gegen den Kapitalismus zu verwenden. In dieser Hinsicht haben sie sich vollstän­dig getäuscht. Doch die Renegaten und Verräter aller Art, von den Sozialisten bis zu den Stalinisten, haben diese Position benutzt, um ihre konterrevolutionäre Politik zu vertreten, um den nationalen und inter­nationalen Kapitalismus zu bewahren und zu stärken. Hier liegt der Unterschied. Aber dieser Unterschied ist so schwerwiegend, dass er eine Klassengrenze ausmacht.
Es ist ganz natürlich, dass Renegaten und Verräter versuchen, sich zu tarnen, indem sie  diese oder jene fal­sche Aussage Lenins nutzen; doch sie enden bei Schlussfolgerungen, die dem revolutionären Geist völlig entgegengesetzt sind, von dem Lenins Handlungen sein ganzes Leben lang geleitet waren. Es ist jedoch geradezu dumm, wenn Revolutionäre auch noch dabei helfen, den Unterschied zwischen diesen Kanaillen und Le­nin zu verwischen, und behaupten, dass Lenin das Recht auf "Selbst­bestimmung" der Völker bis hin zur Loslö­sung von Russland gefordert hätte, um die nationalen Interessen der "bürgerlichen Revolution" zu verteidigen. Wenn wir sagen, dass die "Befreiung" der Kolonien, ihre formale "Unabhängigkeit"  mit den Interessen der Kolonialmächte nicht unvereinbar ist, so meinen wir damit, dass der Impe­rialismus sich sehr gut an diese formale Unabhängigkeit anpassen kann. Das heißt aber keineswegs, dass der Imperialismus diese Politik gutwillig oder gleichgültig verfolgt. All diese "Befreiun­gen" waren das Ergebnis interner Kämpfe, der Interessenkollisionen zwischen verschie­denen Bourgeoisien und der internationale In­trigen der antagonistischen imperialistischen Mächte gewesen. Stalin zeigte später auf blutige Weise, dass die Interessen Russlands nicht gerade der Unabhängigkeit der angrenzenden Länder entsprachen; im Gegenteil, diese Interessen verlangten die gewaltsame Einverleibung dieser Länder in das Großrussische Reich.
Erklären heißt nicht rechtfertigen. Aber jene, die, um eine falsche Position zu missbilligen, zwischen dem Recht der Völker auf Abspaltung und der gewaltsamen Einverleibung, die zwischen Lenin und Stalin eine Verbindung herstellen, verstehen überhaupt nichts und machen aus der Geschichte einen formlosen, faden Brei. Lenin sah im "Recht der Na­tionen auf Selbstbestimmung" vor allem eine Möglichkeit zur Verurteilung des Imperia­lismus - nicht so sehr des Imperialismus an­derer Länder als vielmehr den "seines" eigenen Landes, seiner eigenen Bourgeoisie. Dass die­se Position Lenins zu Widersprüchen führte, ist nicht zu leugnen, wie der folgende Ab­schnitt zeigt:
"Die Lage ist zweifellos sehr verwirrt, aber es gibt aus ihr einen Ausweg, bei dem alle Beteiligten Internationalisten blei­ben: die russischen und die deutschen So­zialdemokraten, indem sie die bedingungslo­se 'Freiheit der Lostrennung' Polens ver­langen, und die polnischen Sozialdemokraten, indem sie für die Einheit des proletarischen Kampfes in einem kleinen Lande und den großen Ländern kämpfen, ohne für die gege­bene Epoche oder die gegebene Periode die Losung der Unabhängigkeit Polens aufzustel­len." (Lenin: "Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung", in Gesammelte Werke, Bd. 22, S. 359).
Doch dieser Abschnitt hebt auch hervor, dass die Widersprüche, die "sehr verwirrte Lage", zu der ihn seine Analyse führte, zweifellos von einem kompromisslos inter­nationalistischen Bestreben ausgelöst wurde. Als Lenin diesen Text verfasste, war die Sozialdemokratie die wichtigste konterrevolutionäre Kraft. Er nannte sie "Sozial­imperialisten", "sozialistisch in Worten, imperialistisch in Taten." Ohne die Hilfe der Sozialdemokratie hätte der Kapitalismus die Arbeiter nie in das große Gemetzel des Weltkrieges führen können. Diese "Sozialisten" rechtfertigten den Krieg im Namen der nationalen Interessen, die die Arbeiter angeblich mit der Bourgeoisie gemeinsam hätten. Für sie bedeutete der imperialisti­sche Krieg die Verteidigung der Demokratie, der Freiheiten und Errungenschaften der Arbeiter, die von den bösar­tigen "ausländischen Imperialisten" bedroht seien. Diese Lügen und die falschen Sozialisten zu entlarven war die erste Pflicht, die unumgängliche Aufgabe eines jeden Revolutionärs. Für Lenin war das Recht der Völker auf Selbstbestimmung Teil dieser Aufgabe, nicht für die Interessen Russlands, sondern gegen die Beteiligung am imperialistischen Krieg. Was diese Losung zur Rechtfertigung der Beteiligung am imperialistischen Krieg anbelangte, so antwortete Lenin ziemlich deutlich:
"Wer sich jetzt auf Marx' Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx`s Worte 'die Arbeiter haben kein Vaterland' vergisst - diese Worte, die sich gerade auf die Epo­che der reaktionären, überlebten Bourgeoi­sie beziehen, auf die Epoche der sozialis­tischen Revolution -, der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche." (Lenin, "Sozialismus und Krieg", Gesammelte Werke, Bd. 21, S. 310).
4) Der "taktische" Internationalismus
"Ihr revolutionärer Internationalismus war jedoch ganz ebenso von ihrer Taktik im Kampf um die russische Revolution bestimmt, wie etwa später ihre Umstellung zur NEP-Politik in Russland selbst" (Thesen... Nr.50)
 "Die einzige wirkliche Gefahr, die der russischen Revolution drohte, war die Ge­fahr des Eingriffs der imperialistischen Mächte (...) Das Problem der aktiven Gegenwehr des Bolschewismus gegen den Weltimperialismus bestand also darin, den Angriff auf ihn in den Zentren seiner Macht selbst vorzutragen. Das geschah durch die doppel­seitige internationale Politik des Bolsche­wismus." (Nr. 51).
"Der Begriff der 'Weltrevolution' hat für die Bolschewiken also einen ganz anderen Klasseninhalt. Er hat nichts mehr mit dem Gedanken der internationalen proletari­schen Revolution gemein." (Nr. 54)
Das ist eine weitere gängige Legende über die Bolschewiki: da­nach war ihr Internationalismus nur "tak­tisch" und dazu bestimmt, erstens das Vertrauen der kriegsmüde gewordenen Volksmassen zu gewinnen und zweitens die Arbeiterbewegung der ganzen Welt einer Politik der Verteidigung des russischen kapitalistischen Staates zu unterwerfen.
Was das erste Argument angeht, verweisen wir die Leser auf die Stellungnahmen der Bolschewiki lange vor Kriegsausbruch, insbesondere auf den internationalen Kon­gressen 1907 und 1912. Ferner hatte der Kampf gegen den Krieg in der Konzeption der Bolschewiki nichts mit den Positionen der pazifistischen Bourgeoisie zu tun, die einige Sektoren der Arbeiterbewegung beein­flussten. Anstatt einen "demokratischen Frieden ohne Annexionen"  zu fordern, "dem Krieg den Krieg zu erklären", waren sie die ersten in der Arbeiterbewegung, die den wahrhaft revolutionären Schlachtruf "Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bür­gerkrieg" vorbrachten und unnachgiebig jegliche Illusion des Pazifismus anprangerten. Falls ihre einzige Sorge gewesen wäre, "die Massen zu gewinnen, um die Macht zu übernehmen", warum haben sie es dann für notwendig gehalten, Schlachtrufe aufzugreifen, die sie von den Massen, die in der Idee des "Kämpfens bis zum Ende" gefangen waren - zunächst in der chauvinistischen Form und danach in der Gewand der "revolutionä­ren Verteidigung" - isolierten? Die Verleumder der Bolschewiki antworten: "Weil sie vorausgesehen hatten, dass sich die Massen, ermüdet vom Krieg und vom Unglück, das er mit sich brachte, ihnen letztlich zuwenden würden." Aber warum haben dann Plechanow, die Menschewiki, die So­zialrevolutio­näre, Kerenski - alle Fraktio­nen der Bourgeoisie, die ebenfalls die Macht ergreifen wollten - nicht ebenso zum "revolutionären Defä­tismus" aufgerufen, d.h. erklärt, dass es auch im Interesse der russischen Arbeiter sei, dass ihr Land den Krieg verliert? Die­se Strömungen hätten ebenfalls die "internationalistische" Karte spie­len müssen, da diese die einzige Trumpfkarte war, die nicht mit den Interessen des russischen Kapitals kollidierte. Immerhin hatten diese Leute doch angeblich dieselben elementaren Interessen wie die Bolschewiki. Ist der Unterschied zwischen den Bolschewiki und all den an­deren kein Klassenunterschied, sondern schlicht ein Unterschied in der Scharfsichtigkeit, der Intelligenz? Darauf läuft die Ana­lyse dieser professionellen Verräter hinaus. Doch wie konnte es dann sein, dass all die fortschrittlichen Elemente des Weltproletariats (die Spartakisten und die Gruppe "Arbeiterpolitk" in Deutschland, die Elemente, die sich in Frankreich um Loirot gruppierten, die Gruppe von Russel Williams oder die "Trade Unionisten" in England, MacLean in Schottland, die "Sozialistische Arbeiterpartei" in den USA, die Gruppe "De Tribune" in Holland, die sozialistische Linke oder die sozialistische Jugend in Schweden, die "Tesnjaki" - Engherzigen - in Bulgarien, das "Nationa­le Büro" und das "allgemeine Büro" in Po­len, die Linkssozialisten in der Schweiz, die Gruppe des "Karl-Marx-Klubs" in Öster­reich usw.), von denen die große Mehrheit an der Spitze der großen Klassen­kämpfe nach dem Krieg stand - wie konnte es aloso sein, dass all diese Elemente (die zu­künftigen "Rätekommunisten" einge­schlossen) gleiche oder ähnli­che Positionen wie die Bolschewiki in der Frage des Krie­ges vertraten? Warum haben all diese Ele­mente mit den Bolschewiki innerhalb der Zimmerwalder und der Kienthaler Linken zusammengearbeitet?
Im allgemeinen bestreiten die Rätekommunisten den proletarischen Cha­rakter dieser Strömungen nicht (dies mit gutem Grund). Warum aber behaupten sie, dass das, was die Bol­schewisten von den Men­schewisten unterschied, nur eine Frage der Intelligenz war, während der gleiche Gegen­satz zwischen den Spartakisten und der So­zialdemokratie eine Klassengrenze ausdrückte? Deutschland, ein viel älterer, weitaus mächtigerer und erprobter Kapitalismus als Russland, war nicht in der Lage, das zu tun, was seinem viel schwächeren Rivalen gelungen war: eine politische Strömung hervorzubringen, die geschickt genug war, schon 1907 und insbe­sondere 1914 internationalis­tische Losungen vorzustellen, die es ihr im rechten Augenblick ermöglichten, die Un­zufriedenheit der Massen zu ihrem Vorteil und zum Vorteil des nationalen Kapitals zu nutzen. Das ist die logische Schluss­folgerung der Idee des "taktischen" Inter­nationalismus. Und dieses Paradoxon ist noch größer, wenn man bedenkt, dass es diese bür­gerliche Partei war, die in Zimmerwald die korrekteste Position vertrat, während die pro­letarischen Spartakisten in den Konfusionen des "Zentrums" versanken. Und wenn die große Revolutionärin Rosa Luxemburg diese Konfusion in ihre Broschüre gegen den Krieg, die „Junius Broschüre", hineinschreibt:
"Ja, die Sozialdemokraten sind verpflich­tet, ihr Land in einer großen historischen Krise zu verteidigen. Und darin liegt gera­de eine schwere Schuld der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, dass sie in ih­rer Erklärung vom 4. August 1914 feierlich verkün­dete: 'Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich', ih­re Worte aber im gleichen Augenblick ver­leugnete (...) Denn die erste Pflicht gegen­über dem Vaterland in jener Stunde war, ihm den wahren Hintergrund dieses imperia­listischen Krieges zu zeigen, das Gewebe von patriotischen und diplomatischen Lügen zu zerreißen, womit dieser Anschlag auf das Vaterland umwoben war (...),dem imperialis­tischen(...) Programm des Krieges das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von l848, das Programm von Marx, Engels und Lassalle, die Losung der einigen großen deutschen Republik, entge­genzustellen" (Rosa Luxemburg, Ges.V., Bd. 4, S. 147)
... dann ist es wirklich überraschend, dass gerade der "bürgerliche" Lenin diese Feh­ler wie folgt kritisiert:
"Das Irrige seiner Ausführungen springt in die Augen (...) Er schlägt vor, dem impe­rialistischen Krieg ein nationales Programm 'entge­genzustellen'. Der fortschrittlichen Klasse schlägt er vor, sich der Vergangenheit und nicht der Zukunft zuzuwenden! (...) Jetzt ist für die führenden, größten Staa­ten Europas die objektive Lage eine ande­re (als 1793 und 1848 - IKS). Die Vorwärts­entwicklung - wenn man von möglichen, vor­übergehenden Rückschlägen absieht -, ist zu verwirklichen nur in der Richtung der sozialistischen Gesell­schaft, der sozialis­tischen Revolution." (Lenin, Ges. Werke, Bd. 22, S. 321, "Über die Junius-Broschüre")
Schließlich läuft die These des "taktischen" Internationalismus auf die Behauptung hi­naus, dass die Haltung gegenüber dem impe­rialistischen Krieg damals ein zweitrangiger Punkt des proletari­schen Programms ge­wesen sei, der sich ebenso im Programm einer bürgerlichen Partei hätte befinden können. Das ist vollkom­men falsch. In Wirk­lichkeit steht von 1914 an das Problem des Krieges im Mittelpunkt des Lebens des Kapi­talismus. In dieser Frage werden all seine Widersprüche aufgedeckt. Der Krieg be­wies, dass das System in die Phase seines histo­rischen Niedergangs eingetreten war, eine Fessel für die Entwicklung der Produktiv­kräfte geworden war, das ohne fortlaufende Holocausts, ohne wiederholte und immer katastrophalere Zerstörungen nicht überleben konnte. Wie immer auch die Interessensgegensätze zwischen den ver­schiedenen Tei­len der Bourgeoisie in einem Land aussehen mochten, der Krieg zwang all diese Fraktionen der Bourgeoisie dazu, sich für die Ver­teidigung des gemeinsamen Erbes zu mobilisieren: das nationale Kapital und seinen höchsten Repräsentanten, den Staat. Des­halb trat 1914 ein Phänomen in Erscheinung, das kurz zuvor noch undenkbar schien: der "Burgfrieden", der Parteien und Organisationen zusammenband, die sich jahrzehntelang bekämpft hatten. Und auch wenn während des Krieges weiterhin Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse aufkamen, so stellten sie nie die Notwendigkeit in Frage, soviel wie möglich vom im­perialistischen Kuchen zu ergreifen; sie gingen nur um die Frage, wie dies in Angriff genommen werden soll. So gab die bürgerli­che Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution die Macht übernommen hat­te, keine der Zielsetzungen auf, die in den diplomatischen Vereinbarungen zwischen dem zaristischen Russland und den  Ländern der Entente getroffen worden waren. Im Gegenteil, weil sie erkannte, dass das zaristische Regime den Krieg zusammen mit Frankreich und England nicht entschlossen genug führte, dass der Zar versucht war, seine Bündnisse aufzukündigen und zu einer Vereinbarung mit Deutschland zu kommen, half die Fraktion der Bourgeoisie, die die Provisorische Regierung dominierte, mit, Nikolaus II. loszuwerden. Wenn die Oktoberrevolution wirklich eine „bürgerliche“ Revolution gewesen wäre, mit dem Ziel, das nationale Kapital noch wirkungsvoller zu verteidigen, hätte sie  nicht unmittelbar den Frieden als notwendig erklärt, die Veröffentlichung der  diplomati­schen Geheimverträge durchgeführt  und auf alle darin enthaltenen Kriegsziele verzichtet. Sie hätte im Gegenteil sofort die not­wendigen Maßnahmen für eine wirkungsvollere Kriegsführung ergriffen. Wenn die bolsche­wistische Partei bürgerlich gewesen wäre, hätte sie nicht an der Spitze aller dama­ligen proletarischen Parteien gestanden, den imperialistischen Krieg angeprangert und die Arbeiter dazu aufgerufen, dem Krieg durch die sozialistische Revolution ein Ende zu setzen. Im imperialisti­schen Krieg ist der Internationalismus kein zweitrangiger Punkt für die Arbeiterbewegung . Im Gegenteil: er bildet die Klassengrenze zwischen dem proletarischen und dem bürgerlichen Lager. Und dies war nur die Veranschaulichung einer allgemeineren Wahrheit: Der Internationalismus gehört zur Arbeiterklasse. Sie ist die einzige Klasse in der Geschichte, die kein Eigentum besitzt und deren Herr­schaft über die Gesellschaft das Ende aller Eigen­tumsformen beinhaltet. Als solche ist sie die einzige Klasse, die über die territorialen Spaltungen (regional für den Adel, national für die Bourgeoisie) hinauszugehen fähig ist, die der geopolitische Ausdruck der Existenz von Privateigentum sind, der Rahmen, innerhalb dessen die herrschende Klasse ihr Eigentum schützt und verteidigt. Und wenn die Bildung von Nationen dem Sieg der Bourgeoisie über den Adel entsprach, so kann die Abschaffung der Nationen nur mit dem Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie zustande gebracht werden.
Dies führt uns zum zweiten Argument, das die Rätekommunisten vorbringen, um zu zeigen, dass der Internationalismus der Bolschewiki nur "taktisch" gewesen sei, dass er nur ein Schlachtruf war, der darauf abzielte, die Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt einer Politik der Verteidi­gung des russischen kapitalistischen Staates zu unterwerfen, und dass die Kommunistische Internationale seit ihrer Gründung schlicht und einfach ein Instru­ment der sowjetischen Diplomatie gewesen sei. Solch eine Auffassung wird auch von G.Sabatier, Mitglied der Gruppe "PIC" (Für eine kommu­nistische Intervention) in seiner Schrift "Der Vertrag von Brest-Litovsk 19l8: Rück­schlag der Revolution" vertreten. Für diesen Genossen (der immerhin nicht dem Menschewismus der Rätekommunisten bezüglich des "bürgerlichen" Charakters der Russischen Revolution anheimfällt) wurde die "III. Internationale (...) mit der un­mittelbaren Aufgabe der Verteidigung des russi­schen Staates in allen Ländern verbunden und als Unterstützung der traditio­nellen Diplomatie auf gefasst." (S.32)
Obwohl Sabatier zugibt, dass:  "... etliche Texte das Vordringen der interna­tionalen proletarischen Bewegung widerspie­geln, wie z.B. das von Trotzki verfasste Ma­nifest 'An die Proletarier der ganzen Welt'",  geht er davon aus, dass "der vom Kongress verbreitete Aufruf 'An die Arbeiter aller Länder' das bedeutendste Do­kument (...) hinsichtlich der tatsächlichen Rolle (war), die diese Organisation hinter einer Nebelwand von Glaubensbekenntnissen einnahm:  Die Arbeiter wurden zuallererst da­zu aufgerufen, den Kampf des von kapi­talistischen Staaten bedrohten proletari­schen Staates vorbehaltlos zu unter­stützen; und um dies zu tun, sollten die Arbeiter alle Mittel einsetzen, um Druck auf ihre Regierungen auszuüben, 'einschließlich, falls not­wendig, revo­lutionärer Mit­tel (sic!)'. Ferner betonte die­ser Aufruf die 'Dankbarkeit', die 'dem revo­lutionären russischen Proletariat und sei­ner führenden Partei, der kommunistischen Partei der Bolschewiki' geschuldet sei, und bereitete so den Boden für die 'Verteidigung der UdSSR', für den Kult des Parteistaates." (S.34)
Wenn man einen Hund totschlagen will, muss man nur sagen, dass er tollwütig ist! Es ist etwas kurios, zu denken, dass das "bedeutendstes Dokument" insichtlich der tatsächlichen Rolle der KI ein simples Memoran­dum war, das von Sadoul als Er­klä­rung der franzosischen Delegation auf dem Kongress eingereicht wurde; es ist verlogen, diesen Text als einen "vom Kongress lancierten Appell" darzustellen, weil er nicht einmal zur Billigung dem Kongress vorgelegen hat. Somit soll die KI in einem zweitrangigen Text als Hauptauf­gabe des Weltproletariats die Verteidigung des russischen Staates ausgegeben haben! Dabei vertraten die wesentlichen Texte des Kongresses (verfasst von Bolschewiki, wie das "Manifest" von Trotzki, die "Thesen über die bürgerliche Demokratie und die proletarische Diktatur" von Lenin, die "Plattform" von Bucharin und Albert, die "Resolution über die Position bezüglich sozialistischer Strömungen und der Berner Konferenz" von Sinowjew) folgende Positionen:
-       eine Anprangerung der sozialistischen Partei­en als Agenten der Bour­geoisie und die absolute Notwendigkeit des Bruchs mit ihnen;
-       die Anprangerung aller demokratischen und parlamentarischen Illusionen, die noch auf die Arbeiter einwirkten;
-       die Notwendigkeit der gewaltsamen Zerstö­rung des kapitalisti­schen Staates;
-       die Machtübernahme durch die Arbeiterräte auf Weltebene und die Einrichtung der Dik­tatur des Proletariats.
In keinem dieser Texte findet man die ge­ringste Spur eines Aufrufs zur "Verteidi­gung der UdSSR", nicht weil es ein Fehler gewe­sen wäre, die Arbeiter anderer Länder dazu auf­zurufen, der Hilfe ihrer Regierun­gen an die Weißen Armeen und deren direkte Beteiligung am Bürgerkrieg entgegenzutreten, sondern weil dies nganz simpel nicht die Hauptfunktion der KI, die sich als "das Instrument für die internationale Räterepublik" und als "die Internationale der offenen Massenaktion, der revolutionären Verwirklichung, die Internationale der Tat" ("Manifest") begriff. Vielleicht behauptet man jetzt, Sadoul sei von den Bolschewiki "fernge­steuert" oder "manipuliert“ worden, um den Proletariern ihre Pflicht der "Verteidi­gung der UdSSR" aufzuzeigen, während die Bolschewiki das Kommando übernahmen und eine "Nebelwand kommunistischer Glaubensbekenntnisse" schufen. Dies wäre ein weiterer Be­weis für die viel gepriesene Doppelrolle der Bol­schewiki. Doch wenn eine  solche Hypothese zutreffend gewesen wäre, so ist es immer noch notwendig zu erklären, warum die Bolschewiki solch eine Taktik benutzt haben sollten. Wenn das wahre Ziel hinter der Gründung der Internationalen gewesen wäre, die Arbeiter für die "Verteidigung der UdSSR" zu mobilisieren, wäre es da nicht der bessere Weg zur Erlangung dieses Ziels gewesen, die Losung in die offiziellen Texte der Kongresses einzufügen und all ihre Autorität (eine Autorität, die beachtlich war unter den Arbeitern der ganzen Welt) dafür zu verwenden. Ist es wirklich plausibel, dass solch eine Losung mehr Einfluss auf die proletarischen Massen ausgeübt haben, wo sie fast schon vertraulich in einem zweitrangigen Dokument auftauchte, noch dazu von einem Militanten präsentiert, der nicht sehr bekannt war und der nicht einmal ein offizieller Delegierter war (der Repräsentant von Zimmerwald war Guilbeaux)? Die Schlichtheit dieser Argumentation ist ein weiterer Beweis für die Unhaltbarkeit der These, dass die Kommunistische Internationale von Anfang an ein Instrument der russischen kapitalis­tischen Diplomatie war.
Nein, Genosse Sabatier! Nein, liebe Bolschewiki-Verleumder! Die KI war bei ihrer Gründung nicht bürgerlich, sie ist es erst geworden. Doch damit starb sie als eine Internatio­nale, weil es keine Internationale der Bourgeoisie geben kann. Niemals hat eine bürgerliche Revolution eine Internationale hervorgebracht: die "bürgerliche" Revolu­tion von 1917 wäre die einzige Ausnahme. Da die Rätekommunisten wie die Stalinisten die russische Revolution auf die gleiche Stufe wie die so genannte chinesische „Revolution“ von 1949 stellen (siehe die"Thesen über die chinesische Revolution" von Cajo Brendel), schulden sie uns eine Erklärung dafür, warum die chinesische Revolution keine neue Internationale hervorgebracht hat.
Und wenn die KI von Anfang an nichts anderes als eine kapitalistische Institution war, so muss erklärt werden, warum sich all die vitalen Kräfte des Weltproletariats in ihr versammelt haben, einschließlich jener Elemente, die später die Kommunistische Linke werden sollten? Wurde das Büro der KI in Westeuropa nicht von Pannekoek und seinen Freunden geleitet? Wie konnte ein bürgerlicher Organismus diese kommunistischen Fraktionen absondern, die inmitten der fürchterlichsten Konterrevolution in der Geschichte die einzigen waren, die die Verteidigung proletarischer Prinzipien fortsetzten? Sollen wir uns vorstellen, dass während der großen revolutionären Welle nach dem Krieg Millionen von im Kampf befindlichen Arbeitern sowie all die bewusstesten und auf­geklärtesten Militanten der Arbeiterbewe­gung ganz einfach an der falschen Tür geklopft haben, als sie sich der Kommunistischen Internationalen anschlos­sen? Der Rätekommunismus hat eine Anzwort auf diese Fragen:
5) Der "Machiavellismus" der Bolschewiki
"... haben die Bolschewiki auch Parolen in die Arbeiterschaft geschleudert wie z.B. die Räteparole. Ent­scheidend für ihre Taktik war lediglich der momentane Erfolg einer Parole, die durchaus nicht als prinzipielle Verpflich­tung der Partei gegenüber den Massen be­trachtet wurde, sondern als propagandisti­sches Mittel einer Politik, die die Macht­er­greifung der Organisation zum letzten Inhalt erhebt." (Thesen... Nr. 31)
"Die Aufrichtung des Sowjet-Staates war die Aufrichtung der Herr­schaft der Partei des bolschewistischen Machiavellismus." (Th.57).
Der Rätekommunismus hat sich die Idee des "Machiavellismus" der Bolschewiki und Lenins nicht selbst ausgedacht. Die Bourgeoisie hat sie 1917 in die Welt gesetzt. Erst danach stimmten die Rätekommunisten, gefolgt von den Anarchisten, in diesem Chor mit ein. Vorweg sei gesagt, dass solch ein Standpunkt die Geschichtsauffassung eines Polizisten verrät, die charakteristisch ist für ausbeutende Klassen, für die jegliche soziale Bewegungen schlicht das Werk von "Manipulationen" oder "Rädelsführern" sind. Diese Auffassung ist vom marxistischen Standpunkt aus (und die Rätekommunisten nennen sich selbst Marxisten) so absurd, dass wir uns auf einige Zitate und Tatsachen über die Handlungen der Bolschewiki beschränken werden, um zu zeigen, wie unzutreffend sie ist. Geschah es aus "Demagogie" oder "Machiavellismus", als Lenin im April 1917 erklärte:
"Glaubt nicht an Worte. Lasst euch nicht von Versprechungen ködern. Überschätzt eure Kräf­te nicht. Organisiert euch in jedem Betrieb, in jedem Regiment, in jeder Kompanie, in je­dem Häuser­block. Arbeitet täglich und stünd­lich an der Organisation, arbeitet daran sel­ber, dieser Arbeit darf man niemanden anderen anver­trauen (…) Das ist der grundlegende Inhalt aller Beschlüsse dieser Konferenz. Das ist die Hauptlehre aus dem ganzen Verlauf der Re­volution. Das ist die einzige Gewähr für den Erfolg.
Genossen Arbeiter ! Wir rufen euch zu schwe­rer, ernster, uner­müdlicher Arbeit auf, die das klassenbewusste, revolutionäre Proletariat aller Länder zusammenschweißt. Dieser und nur die­ser Weg ist der Ausweg aus der Sack­gasse, nur er führt zur Erlö­sung der Mensch­heit von den Schrecken des Krieges, von dem Joch des Kapitals." (Einleitung zu den Resolu­tionen der 7. Gesamt­russischen Konferenz der SDAPR/Aprilkonferenz, Lenin, Ges. Werke, Bd. II, S. 156)
"Es kommt nicht auf die Zahl an, sondern auf den richtigen Aus­druck der Ideen und der Po­litik des wirklich revolutionären Prole­tariats (...) Lieber zu zweit bleiben, wie Liebknecht, und das heißt beim revolutionären Proletariat blei­ben." (Die Aufgaben des Pro­letariats in unserer Revolution, Lenin Ges. Werke, Band II, S.75,77)
Die Bolschewiki sagten nicht nur, dass es notwendig sei, im Stande zu sein, sich in die Isolation zu begeben;  sie taten es auch jedes Mal, wenn die Arbeiterklasse auf dem Ter­rain der Bourgeoisie mobilisiert wurde.
Doch es geschah wohl aus reiner "Demagogie", dass sie sich zusammen mit dem Proletariat oder an der Spitze der Klasse wiederfanden, als diese zur Revolution schritt. All das war reine "Taktik"; seit 1903 haben sie jeden zu täuschen versucht:
-       das russische Proletariat, um an die Macht zu kommen;
-       das Weltproletariat, um es zur Verteidigung ihrer Macht auszu­nutzen;
-       die russischen Bauern, indem sie ihnen das Land gaben, um es ihnen später wieder besser wegzunehmen;
-       die nationalen Minderheiten;
-       die russische Bourgeoisie;
-       die Weltbourgeoisie.
Und in Wirklichkeit war ihr "Machiavellismus" so groß, dass ihnen sogar die Glanzleistung gelang, sich selbst zu täuschen... Pannekoek kam dahinter, als er schrieb: „Lenin ("natürlich ein Schüler Marxens") hat den wirklichen Marxismus nie gekannt.“ (Pannekoek, „Lenin als Philosoph“)
Die Entwicklung des Klassenbewusstseins
Wir haben die Verteidigung des proletarischen Charakters der Bolschewiki und der Oktoberrevolution nicht unternommen, um ihr Andenken in frommen Ehren zu halten. Wir taten dies, weil die Auffassung des bürgerlichen Charakters der Bolschewiki oder der Oktoberrevolution einen Bruch mit dem Marxismus bedeutet, dem unverzichtbaren theoretischen Instrument des Klassenkampfes, ohne dem ein Sieg des Prole­tariats über den Kapitalismus undenkbar ist. Wir haben bereits gesehen, wie die rätekommunistische oder gar die bordigistische Auffassung über die Oktoberrevolution von 1917 zu menschewistischen oder stalinistischen Verirrungen führt. Gleichfalls verhindert jede Auffassung der Bolschewiki als eine bürger­liche Partei das Verständnis des lebendigen Prozesses der Bewusst­seinsentwicklung des Proletariats. Die Revolutionäre haben die Aufgabe, diesen Prozess zu beschleunigen, zu vertiefen und zu verallgemeinern. Dafür müssen sie diesen Prozess aber so klar wie möglich ver­stehen.
An diejenigen, die die Oktoberrevolution als proletarisch, die bol­schewistische Partei jedoch als bürgerlich betrachten, oder die sagen, die beide bourgeois waren, dennoch nicht leugnen  können, was Anton Pannekoek einst sagte:
"Die russische Revolution bildete eine wichtige Episode in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Erstens, wie bereits erwähnt, durch die Entfaltung neuer Formen des politischen Streiks als eines Werkzeuges der Revolution. Und dann noch in höherem Maße durch das erstmalige Erscheinen neuer Formen der Selbstorganisierung der kämpfenden Arbeiter , die als Sowjets, d.h. Räte, bekannt geworden sind" (Pannekoek, „Die Arbeiterräte“, S. 98, Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit)...
... an all jene Leute richten wir diese Frage: Wie drückte sich in einem so bedeutungsvollen Ereignis für das Leben und den Kampf der Arbeiterklasse das Klassenbewusstsein aus? Ist es möglich, dass solch ein Ereignis nicht von irgendeiner Entwicklung des Klassenbewusstseins begleitet war? Dass  sich die proletarischen Massen in Bewegung gesetzt haben, ganz neue, unbe­kannte Kampf- und Organisationsformen hervorgebracht haben und gleichzeitig dem Gewicht der bürgerlichen Ideologie so wie zuvor unterworfen blieben? Die Frage allein zeigt schon die Absurdität einer solchen Vorstellung. Aber fand diese Bewusstseinsentwick­lung dann in aller Stille statt? In welchen Militanten, Zeitungen und Flugblättern hat es seinen Ausdruck gefunden? Geschah die Ausbreitung durch Gedan­kenübertragung oder durch bloße Addition von Millionen identischer individueller Erfahrungen? War es möglich, dass alle Mitglieder und Berei­che der Klasse sich auf eine homogene, gleichartige Weise entwickelten? Selbstverständlich nicht!  Aber ist es dann möglich, dass die fortgeschrittensten Elemente und Bereiche isoliert, atomisiert blieben, ohne zu versuchen, sich zusammenzu­schließen, um ihre Positionen zu vertiefen und aktiv im Kampf und im allgemeinen Prozess der Bewusstwerdung einzugreifen? Selbstverständlich nicht! Wel­che Organisation oder Organisationen (ab­gesehen von den Räten, die die ganze Klasse und nicht nur die am weitesten fortgeschrit­tenen Elemente zusammenfassten) drückten diesen Bewusstwerdungsprozess aus und halfen, das Bewusstsein zu erweitern und zu vertiefen?
Die bolschwistische Partei? Manche von jenen Leuten, die denken, dass sie eine bürgerliche Partei ist, meinen, dass diese Par­tei "selbst dann" oder auf "verzerrte Weise" die­ses Bewusstsein ausdrückte. Solch eine Analyse ist unhaltbar. Entweder ist diese Partei ein Ausfluss des Kapitalismus, oder sie ist ein Ausfluss der Arbeiterklasse oder irgendeiner anderen Klasse in der Gesellschaft. Doch falls sie wirklich aus dem Kapitalis­mus hervorgegangen ist (in welcher Form auch immer), könnte sie nicht gleichzeitig das Leben des Todfeindes des Kapitalismus (des Proletariates) widerspiegeln. Sie könn­te nicht die bewusstesten Elemente dieser Klasse zusammenschließen, sondern im Ge­gen­teil nur die am meisten mystifizierten Elemente.
Die anarchistische Strömung? Diese Strömung war sehr zersplittert und heterogen. Zwischen einem Kropotkin, der zum Kampf gegen die "preußische Barbarei" aufrief, und einem Volin, der  selbst während der schlimmsten Zeit  des II. Weltkrieges ein Internationalist blieb, besteht eine große Kluft. Unfähig, sich zu organisieren, zersplittert in seine individualistischen, syndikalistischen und kommunistischen Varianten und unge­achtet sei­ner großen Anhängerschaft hinkte der Anarchismus entweder den Ereignissen hinterher oder verfolgte bis 1917 die glei­che Politik wie die Bolschewiki. Wenn die bewusstesten Elemente der Klasse sich schon innerhalb der bolschewistischen Partei nicht zusammenschließen konn­ten, konnten sie es noch weniger in der anar­chistischen Strömung.
Die linken Sozialrevolutionäre? Auch hier dasselbe: das Beste, was diese Strömung geleistet hat, war, dass sie zusammen mit den Bolschewiki zusammen gekämpft ha: Sie kämpfte gegen die provisorische Regierung Kerenskis, beteiligte sich am Oktoberaufstand, verteidigte die Macht der Räte. Doch ansonsten betrachtete sie sich hauptsäch­lich als Vertreter der Kleinbauern. Nach 1917 kehrte diese Strömung schnell zu ihren Ursprüngen zurück: dem Terrorismus. Falls die Bolschewisten keine Militanten der Klasse waren, dann waren es die linken Sozialrevolutionäre noch weniger.
Sollen wir somit die bewusstesten Elemente in den Parteien suchen, die an der bürger­lichen provisorischen Regierung teilgenom­men hatten, bei den Sozialrevolutionären und den Menschewiki? Vielleicht halten die Rätekommunisten, die die Analysen der   Menschewiki übernommen haben, diese Partei für den besten Ausdruck des prole­tarischen Bewusstseins?
In Wirklichkeit sind die Rätekommunisten vollkommen unfähig, irgendeine dieser Fra­gen zu beantworten; die einzige Schlussfolgerung, die sie ziehen können, ist, dass:
-       entweder die Ereignisse von 1917 überhaupt kein Klassenbewusstsein hervorge­bracht oder ausgedrückt ha­ben,
-       oder dieses Bewusstsein vollkommen sprachlos, atomisiert und "individuell" blieb.
Aber dies sind nicht die einzigen Abwege, inn die die räte­kommunistische Auffassung führt. Wie wir gesehen haben, stützt sich ihre Analyse des "bürgerlichen" Wesens der bolschewistischen Partei darauf, dass die Bolschewiki in bestimmten Fragen bür­gerliche Positionen vertraten:
- in der Frage des Substitutionismus,
- in der  Agrarfrage,
-  in der nationalen Frage.
Obwohl der Rätekommunismus, wie wir gesehen haben, den Bolschewiki Positionen zuschreibt, die diese niemals vertreten haben (zumin­dest nicht bis 1917 und auch nicht in den er­sten Jahren der Revolution), obgleich sie zwischen diesen Positionen einen Zusammenhang sehen, die völlig gegensätzlich zu dem ist, was die Bolschewiki wirklich vertraten, ist es notwendig, die Irrtümer der Bolschewiki anzuerkennen und nicht zu verstecken, wie es die Bordigisten beispielsweise tun. Die Bolschewiki waren die ersten, die ihre Fehler zugaben, insofern sie sich ihrer bewusst wurden. Doch der Rätekom­munismus weigert sich gerade anzuerkennen, dass die­se Positionen Irrtümer waren: Aus seiner Sicht handelt es sich um die klare Verdeutlichung des "bürgerlichen Charakters" der bolschewistischen Partei.
Man bemerke die systematische Voreingenommenheit der Rätekommunisten: Wenn in einem bestimmten Punkt die Bolschewiki von einem proletarischen Standpunkt aus die korrekteste Position vertraten (Bruch mit der Sozialdemokratie, Zerstörung des kapitalistischen Staates, Macht der Ar­beiterräte, Internationalismus), dann ge­schah dies aus reinem "Zufall" oder aus "taktischen Gründen". Wenn sie jedoch eine Position vertraten, die weniger korrekt als die anderer revolutionärer Strömungen war (Agrarfra­ge, nationale Frage), dann ist dies ein Beweis ihres "bürgerlichen Charakters". Im Grunde wird man, wenn man den Kriterien der Rätekommunisten folgt, zur Schlussfolgerung verleitet, dass alle da­mali­gen proletarischen Parteien der Kapitalistenklasse angehörten.
Für die Rätekommunisten waren die III. Inter­nationale und die Parteien, die ihr angehörten, von Anfang an kapitalisti­sche Organe. Was muss man dann von der II. Internationalen halten? Vertrat sie in den angeführten Punkten richtigere Positionen als die III. Internationale und die Bolschewiki? Was war ihre Position z.B. in der nationalen Frage und insbesondere in der polnischen Frage, die im Mittelpunkt der Kontro­verse zwischen Lenin und Luxemburg stand? Die Antwort wird klar, wenn wir uns entsinnen, dass Lenin sich in dieser Debatte ge­rade auf die Reso­lutionen des Kongresses der Internationalen stützte, die Luxemburg so vehement bekämpfte. In der Frage der Machtübernahme durch das Proletariat ging die offizielle Position der Internationalen davon aus, dass dies die Aufgabe der Arbeiterpartei sei; in dieser Hinsicht haben we­der Lenin noch Rosa etwas Neues erfunden. Dagegen waren sich die sozialistischen Parteien alle nicht sehr klar über die Notwendigkeit, den kapitalistischen Staat zu zerstören. Wir könnten noch viele weitere Beispiele nennen, um zu zeigen, dass die unrichtigen Positionen der Bolschewiki lediglich ein Erbe von der II. Internationalen waren. Der Ana­lyse der Rätekommunisten zufolge war daher auch diese Internationale ein bürger­liches Organ: Arme Engels, Luxemburg, Liebknecht, Pannekoek und Gorter, die so viele Jahre ihres militanten Lebens in einer Institution verbrachten, die den Kapitalismus verteidigte! Darüber hinaus ist es schwer begreif­lich, warum die I. Interna­tionale mehr "Arbeiterklasse" ist als ihre Nachfolger. Möglicherweise verlieh ihr die Anwesen­heit der Positivis­ten, Proudhonisten und der Anhänger Mazzinis eine proletarische Aura, die ihren Nachfolgern so sehr fehl­te? Oder sollen wir bis zum Bund der Kommunisten zurückgehen, um eine wirklich proletari­sche Strömung zu finden? Einige Rätekommunisten vertreten tatsächlich diese Idee. Wir empfehlen ihnen, das Manifest von 1848 noch einmal zu lesen. Sie könnten schockiert darüber sein, dass Klasse und Partei miteinander identifiziert werden und dass das Programm der konkreten Maßnahmen, das vorgeschlagen wurde, eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Staatskapita­lismus hat. Letztendlich führt die rätekommunistische Auffassung zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass es nie eine or­ganisierte Arbeiterbewegung gegeben hat. Oder vielmehr, dass eine solche Bewegung erst mit ihnen begann. Und außerdem hat es niemals vor ihnen Revolutio­näre gegeben. Marx und En­gels? Sie waren nur bürgerliche Demo­kraten. Wie sonst ist die Position Engels in der Frage der Machteroberung durch das Parlament in einer Einleitung aus dem Jahre l895 zu den "Klassenkämpfen in Frankreich" zu verstehen oder die Rede von Marx zum glei­chen Thema auf dem Haager Kongress im Jahre 1872, sein Glückwunschtelegramm an Lincoln, die Haltung von Marx und Engels während der Revolution l848 , als sie sich vom Bund der Kommunisten entfernten und mit der "De­mokratischen Gesellschaft" einließen...?
Wie die bordigistische Analyse, für die es seit 1848 ein "invariantes", "unveränderbares" Programm gibt, ist die rätekommunistische Vorgehensweise vollkom­men ahistorisch, weil sie nicht einsehen will, dass das Bewusstsein und die politi­schen Positionen des Proletariats Erzeugnisse sei­ner historischen Erfahrung sind. Die Auffas­sung, dass jeder Fehler, jegliche bürgerliche Position innerhalb einer poli­tischen Organisation die Zugehörigkeit dieser Organisation zur Bour­geoisie bedeutet, beruht auf der absurden Idee, dass ein voll ausgeprägtes kommunistisches Bewusstsein auf Anhieb existieren kann. Dies ist für einen marxistischen Standpunkt völlig abwegig. Das Klassenbewusstsein ist das Ergebnis eines langen Reifeprozesses, in dem theoretische Reflexionen und Praxis eng miteinander verbunden sind und in dem die Arbeiterbe­wegung sich vorwärtstastet und -kämpft, sich selbst prüft:
"Proletarische Revolutionen kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grau­samgründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versu­che, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schreckend stets von neuem zu­rück vor der unbe­stimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation ge­schaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht..." (Marx "Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", MEW Bd. 8, S. 118).
Als Ausdruck der Verwirrungen einer kommu­nistischen Strömung während der schrecklich­sten Konterrevolution der Geschichte schei­nen die rätekommunistischen Auffassungen zu einem Refugium für skeptische Akademiker geworden zu sein (es ist kein Zufall, dass Rätekommunisten vom Schlage eines Paul Mattick, Cajo Brendel oder Maximilian Rubel mehr daran inte­ressiert sind, Bücher zu verfas­sen, Konfe­renzen abzuhalten und Marxologie zu betrei­ben, statt kommunistische Gruppen zu animieren). Daran ist nichts Unge­wöhnliches: Ist diese Art, Geschichte zu beurteilen, nicht geradezu typisch für jene Intellektuellen, die vom Elfenbeinturm herab und auf der Grundlage nachträglicher Kriterien, im Rückblick die Irrtümer und Unzulänglichkeiten des Proletariats und der Revolutionäre verurteilen, statt die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, um den zukünftigen Kampf zu stärken? Der Rätekommunismus "entdeckte" hinterher, dass die Oktoberrevolution und die bolschewistische Partei bürgerlich waren, indem sie Kriterien verwendeten, die  erst im Nachhinein etabliert wurden, und größtenteils dank der Erfahrung dieser "bürgerlichen" Oktoberrevolution.
Wir haben in diesem und anderen, in unserer INTERNATIONALEN REVUE veröffentlichten Artikeln (besonders "Die Degeneration der Russischen Revolution" in Nr. 3 - engl., franz., span. Ausgabe) gesehen, dass die Existenz eines kapitalistischen Re­gimes in der UdSSR keinesfalls aus dem rückständigen Zu­stand dieses Landes 1917 und auch nicht aus der von den Bolschewiki nach der Machtübernahme ausge­übten Politik abgeleitet werden kann, auch wenn diese beiden Faktoren die spezifische Form des Kapitalismus in der UdSSR sowie dessen ideologische Rechtfertigung beeinflusst haben. Wir haben weiterhin gesehen, dass die Degeneration und das Scheitern der Revolution nicht das Resultat eines Mangels an "objektiven materiellen Bedin­gungen" war; Letztere existierten, weil der Kapitalismus in seiner Gesamtheit in seine Niedergangsepoche eingetreten war. Vielmehr liegen die Ursa­chen für das Schei­tern der Revolution in der Un­reife der "subjektiven Bedingungen", d.h. im Bewusstseinsgrad des Proletariats. Soll das heißen, dass das Proletariat zu früh die Revolution in Russland in Gang gesetzt hat, dass die Bolschewiki einen Fehler ge­macht haben, als sie die Arbei­terklasse in diese Richtung drängten?
Nur akademische Philister und Reformisten können dies bejahen. Revolutionäre können diese Frage nur verneinen. Erstens, weil das einzige Kriterium für die Beurteilung des Bewusstseinsniveaus in der Klasse, ihre Fähigkeit, sich der Situation zu stellen, die Tat und Praxis der Klasse selbst ist. Und zweitens, weil dieses Bewusstseinsniveau nur in und durch die Handlung verändert werden kann, wie Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Bernstein schrieb:
"... lässt sich das 'verfrühte' Ergreifen der Staatsgewalt auch deshalb nicht vermeiden, weil diese 'verfrühten' Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und zwar sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft, dass sie eben auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mit herbeifüh­ren und mitbestimmen. Von diesem Standpunk­te erscheint der Begriff selbst einer ver­frühten Eroberung der politischen Macht durch das arbeitende Volk als ein politi­scher Widersinn, der von einer mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt." (Rosa Luxemburg, "Sozialreform oder Revolution", l899 , in Gesammelten Werken, Bd.l, S. 435).
Die einzige Möglichkeit, dass die "verfrüh­te" Machtergreifung durch das Proletariat 1917, seine Erfahrungen und Irrtümer (und damit auch jene der Boolschewiki) zu einem "wichtigen Faktor im endgültigen Sieg" der Arbeiter­klasse werden kön­nen, liegt in der schonungslosen Kritik dieser Erfahrungen und Fehler durch das Proletariat und die heutigen Revolutionäre. Eine der ersten, die dies noch vor den spä­teren Rätekommunisten tat, war Rosa Luxem­burg mit ihrer Schrift "Die Russischen Revolution". Doch dies heißt, dass wir uns ihre Haltung gegen alle bösen Zungen der Oktoberrevolution und den Bolschewiki zu eigen machen müssen:
"... und wir sollen es nie vergessen, wenn man uns mit den Ver­leumdungen gegen die russischen Bolschewiki kommt, darauf zu antworten: Wo habt Ihr das Abc Eurer heutigen Revolution gelernt? Von den Russen habt Ihr's geholt: die Arbeiter- und Soldatenräte." (Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD 1918/1919, in Ges. Werke, Bd. 4, S. 496.)
"Was eine Partei in ge­schichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, re­volutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleis­tet. Die ganze revolutionä­re Ehre und Aktionsfähig­keit, die der Sozialdemo­kratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki ver­treten. Ihr Oktober­aufstand war nicht nur eine tatsäch­liche Rettung für die rus­sische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus." (Die Russische Revolution", S. 341)
"In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzunh zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben: in Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden: es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem 'Bolschewismus'." (ebenda, S. 365)

 (Übersetzt aus der IINTERNATIONAL REVIEW, Nr.13, 1978)

[1] Siehe Internationale Revue Nr.5

[2] Alle Übersetzungen der Zitate aus Pro­gramme Communiste wurden von der IKS an­gefertigt.

[3]Thesen über den Bolschewismus- aus: Rätekorrespondenz, Nr.3, August 1954 .

 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir6/1981_rusrev2 [5]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [6]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [7]

Internationale Revue Nr. 7

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Die Arbeiteraristokratie - Eine soziologische Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse

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Es gibt einen Klassengegensatz innerhalb der Arbeiterklasse, einen Widerspruch zwischen den "am meisten Ausgebeuteten" und den "privilegierten" Schichten. Es gibt eine "Arbeiteraristokratie", die höhere Löhne erhält und unter besseren Bedingungen arbeitet; ein Sektor der Arbeiterklasse, der einen Anteil der Extra-Profite erhält, den "sein Imperialismus"  aus den Kolonien zieht. So gibt es also eine Schicht in der Arbeiterklasse, die eigentlich nicht der Arbeiterklasse angehört, sondern der Bourgeoisie: eine Schicht von "Bürger-Arbeitern.»

Dies sind die Hauptaussagen, die alle Theorien über die "Arbeiteraristokratie" gemeinsam haben. Es handelt sich um ein theoretisches Werkzeug, das es ermöglicht, die Linie zu verwischen, die die Arbeiterklasse vom globalen Kapitalismus trennt - in welchem Umfang auch immer man es für nötig hält.

Diese Theorie macht es möglich, ganze Teile der Arbeiterklasse (Arbeiter der höchst industrialisierten Länder z.B.) als "bürgerlich" zu verurteilen und bürgerliche Organisationen (die "linken" Parteien und die Gewerkschaften z.B.) als "Arbeiterklasse" zu definieren.

Der Ursprung dieser Theorie lässt sich auf die Analyse zurückführen, die Lenin im Ersten Weltkrieg entwickelt hatte und die von der Dritten Internationalen aufgegriffen worden war. Einige proletarische, politische Strömungen, die sich selbst den seltsamen Titel "leninistisch"  geben, klammern sich noch immer an diese theoretische Kuriosität, ohne damit etwas Genaues anfangen zu können, abgesehen davon, daß sie eine große Verwirrung über grundsätzliche Fragen des Klassenkampfes stiften. Auch die Stalinisten haben seit Jahrzehnten Gebrauch von dieser Theorie gemacht, indem sie das Prestige Lenins ins Feld führten, um ihre konterrevolutionäre Politik zu legitimieren.

Aber diese Theorie ist auch, in vielfältigen Formen, von Gruppen aufgegriffen worden, die - via Maoismus - aus dem Stalinismus kamen und mit vielen der schlimmsten Lügen des offiziellen Stalinismus (insbesondere mit dem Mythos der Existenz sozialistischer Staaten, sei es die UdSSR, China oder andere) gebrochen hatten.
Diese Gruppen, wie OPERAI E TEORIA in Italien, LE BOLCHEVIK in Frankreich (mittlerweile Groupe Ouvriere Internationaliste, die REVOLUTION MONDIAL veröffentlicht) und MARXIST WORKERS' COMITTEE in den USA, treten mit sehr radikalen Positionen gegen die Gewerkschaften und die linken Parteien auf. Auf diese Weise erlangten sie einen gewissen Einfluß unter einigen Gruppen von militanten Arbeitern. Doch für diese Strömungen, ehemalige "Drittwelt"-Aktivisten, beruht die Kritik an den Gewerkschaften und den linken Parteien auf die begeisterte Unterstützung einer Spaltung der Arbeiterklasse zwischen den "niedrigsten Schichten" - ihnen zufolge das wirkliche Proletariat - und der "Arbeiteraristokratie".

So formuliert OPERAI E TEORIA diese Theorie der Spaltung der Arbeiterklasse: "Wenn man weder das Vorhandensein einer internen Spaltung in den Reihen der produktiven Arbeiter, die Bedeutung des Kampfes gegen die Arbeiteraristokratie, noch die Notwendigkeit sieht, daß die Revolution auf einen Bruch, eine Loslösung der Interessen der untersten Schichten von der Arbeiteraristokratie hinarbeiten muß, hat man nicht nur ein Ereignis in der Geschichte der Arbeiterbewegung nicht verstanden, sondern läßt auch auch das Proletariat hinter der Bourgeoisie herlaufen - und das ist viel schlimmer." (OPERAI E TEORIA, Nr. 7, Okt./Nov. 80.) (1)

In diesem Artikel wollen wir uns nicht so sehr mit den theoretischen Widersprüchen der "leninistischen" Gruppen befassen. Unsere Absicht ist es, die theoretische Inkonsequenz und die politischen Gefahren der Theorie der Arbeiteraristokratie zu demonstrieren, so wie sie von etlichen maoistischen und ex-maoistischen Gruppen vertreten wird, die oftmals innerhalb der kämpferischsten Sektionen der Arbeiterklasse wirken. Wir wollen aufzeigen, daß:

-    diese Theorie auf einer soziologischen Untersuchung beruht, die den historischen Klassencharakter des Proletariats außer Acht läßt;
-    die Definition oder eher die Definitionen der "Arbeiteraristokratie" noch fehlerhafter und widersprüchlicher werden vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Spaltungen, die der  Kapitalismus innerhalb der Arbeiterklasse gesät hat;
-    die praktische Schlußfolgerung dieser Auffassung nur zu einer Spaltung der Arbeiter in ihren Kämpfen, zur Isolierung der "meist ausgebeuteten" Arbeiter vom Rest der Klasse führen kann;
-    diese Konzeptionen zu Konfusionen über den Charakter der Gewerkschaften und der linken Parteien führen - namentlich zur Konfusion, daß sie "bürgerliche Arbeiterorganisationen" sind (diese Zweideutigkeit bestand schon in der Kommunistischen Internationalen);
-    sie sich zu Unrecht auf Marx, Engels oder Lenin berufen. Auch wenn Letztere mehr oder weniger präzise über eine "Arbeiteraristokratie" oder über die "Verbürgerlichung" der englischen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert gesprochen haben, so unterstützten sie nie auch nur eine Theorie, die eine Spaltung der Arbeiterklasse für notwendig hält. Ganz im Gegenteil.

I. Eine soziologische Theorie

Man kann die Arbeiterklasse auf zweierlei Weise betrachten. Entweder man betrachtet sie, wie sie die meiste Zeit ist, das heißt, geknechtet, gespalten und in Millionen von Einzelindividuen atomisiert, die kein Verhältnis untereinander haben.

Oder man blickt auf die Arbeiterklasse von einem historischen Standpunkt aus. Man sieht sie als eine gesellschaftliche Klasse mit einer Geschichte von mehr als zwei Jahrhunderten des Kampfes und mit einer Zukunft als Impulsgeber der weitreichendsten Revolution in der Geschichte der Menschheit.

Die erste Vision ist die Vision des Unmittelbaren, die Sichtweise einer besiegten Klasse, während die zweite eine Vision des Klassenkampfes ist. Die zweite ist die marxistische Vision, die versteht, daß die Arbeiterklasse mehr ist, als was sie jetzt ist; das heißt vor allem, wie sie zu werden gezwungen ist. Der Marxismus ist keine soziologische Untersuchung eines besiegten Proletariats. Sein Ziel ist es, den proletarischen Klassenkampf zu begreifen, was etwas ganz anderes ist.

Die Theorie, daß es grundlegende Antagonismen innerhalb der Arbeiterklasse gibt, beruht auf einer Auffassung, die nur die unmittelbare Realität einer geschlagenen, atomisierten Arbeiterklasse berücksichtigt. Jeder, der die Geschichte der Arbeiterrevolutionen kennt, weiß, daß die höchsten Momente des proletarischen Kampfes nur durch die weitest mögliche Generalisierung der Arbeitereinheit erreicht werden konnten. Zu behaupten, daß die Einheit zwischen den am meisten Ausgebeuteten und den am wenigsten Ausgebeuteten unmöglich ist, bedeutet die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung zu verkennen. Die Geschichte zeigt, daß auf jeder wichtigen Stufe ihres Kampfes die Arbeiterklasse mit dem Problem konfrontiert ist, wie der größtmögliche Grad an Einheit erreicht werden kann.

Es gibt eine fundamentale Tendenz in der Entwicklung von den ersten Assoziationen von Handwerker-Arbeitern über die Gewerkschaften bis zu den Sowjets. Diese Tendenz ist das Streben nach einer immer größeren Einheit. Die Arbeiterräte, die  zum ersten Mal 1905 in Rußland von den Arbeitern spontan geschaffen wurden, sind die höchste Form der Einheitsorganisation, die vorstellbar ist. Da sie auf den Vollversammlungen der Arbeiter beruhen, ermöglichen sie der größtmöglichen Anzahl von Arbeitern, sich am Kampf zu beteiligen.

Diese Entwicklung spiegelt nicht nur eine Weiterentwicklung des Klassenbewußtseins, des Verständnisses der Notwendigkeit der Klasseneinheit wider. Die Entwicklung dieses Verständnisses ist selbst eine Widerspiegelung der weiterentwickelten materiellen Bedingungen, unter denen die Proletarier arbeiten und kämpfen.

Die Entwicklung der Manufakturindustrie zerstörte die Spezialisierungen, die vom feudalen Handwerker der Vergangenheit übernommen worden waren. Sie  führte die Uniformität des Proletariats herbei und wandelte die Arbeiterklasse in eine Ware um, die in der Lage ist, ebenso leicht Schuhe wie Kanonen herzustellen, ohne die Dienste eines Schusters oder Schmieds in Anspruch zu nehmen.

Ferner brachte die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung von gigantischen urbanen Industriezentren mit sich, wo Millionen von Arbeitern auf engstem Raum zusammengepfercht sind. In diesen Zentren nimmt der Kampf aufgrund der Geschwindigkeit, in der sich die Millionen von Menschen für eine einheitliche Handlung organisieren und koordonieren können, einen explosiven Charakter an.

"Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedrigeres Niveau herabdrückt."  (Kommunistisches Manifest, Bourgeois und Proletarier).

In den jüngsten Kämpfe in Polen, in denen die Arbeiter ihre Fähigkeit, sich zu vereinen und selbst zu organisieren, auf eine Weise demonstriert haben, die die Welt in Erstaunen versetzt hat, hat es kein Anzeichen für einen Kampf zwischen unqualifizierten und qualifizierten Arbeitern gegeben. Stattdessen erlebten wir eine Vereinigung aller Sektoren in den Massenversammlungen, im Kampf und für den Kampf.

Um aber solche "Wunder" zu verstehen, darf man seinen Blick nicht wie die Soziologen auf die unmittelbare Wirklichkeit der Arbeiterklasse fixieren, wenn diese nicht kämpft. Wenn das Proletariat nicht kämpft, wenn es der Bourgeoisie gelingt, die Löhne auf das absolute Existenzminimum zu reduzieren, dann ist die Arbeiterklasse in der Tat völlig gespalten.

Seit ihren Ursprüngen hat die Arbeiterklasse, die der letzten, aber auch der absolutesten Form der Ausbeutung, die die Geschichte je gekannt hat, ausgesetzt ist, auf die eine Weise existiert, wenn sie passiv und unterwürfig gegenüber der Bourgeoisie blieb, und auf eine völlig andere Weise, wenn sie sich gegen ihre Unterdrücker erhob.

Diese Trennung zwischen zwei Existenzformen (vereint und im Kampf oder gespalten und passiv) hat sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus nur weiter verschärft. Mit Ausnahme der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, als das Proletariat für einen gewissen Zeitraum in der Lage war, die Bourgeoisie zu zwingen, die Existenz von authentischen Gewerkschaften und Massenparteien zu akzeptieren, hat der Grad der Einheit, den die Arbeiterklasse in Zeiten des Kampfes erlangte, tendenziell stets zugenommen, aber ebenso die Spaltung und Atomisierung der Arbeiterklasse in Zeiten des "sozialen Friedens".

Dieselben Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse, die sie zu einem viel stärker vereinten Kampf zwingt, führt außerhalb von Kampfperioden zur Spaltung und Atomisierung der Arbeiterklasse in eine Masse von Einzelindividuen, wie wir sie heute kennen.

Die Konkurrenz unter den Arbeitern außerhalb von Kampfperioden ist ein Merkmal des Proletariats seit seinem Entstehen. Aber sie war weniger stark ausgeprägt im frühen Kapitalismus, als die Arbeiter "einem Handwerk nachgingen", als noch keine allgemeine Schulbildung bestand und als die Fertigkeiten eines jeden Arbeiters unverzichtbares "Handwerkszeug" waren. Der Weber konkurrierte nicht mit dem Schmied. Doch in dem Maße, wie "jeder alles produzieren kann", entsprechend dem Fortschritt in Industrie und Bildung, wird dies im Kapitalismus zunehmend durch eine Situation widergespiegelt, in der "jeder den Job des anderen übernehmen kann".

Angesichts des Problems, Arbeit zu finden,  weiß der Arbeiter im Industriekapitalismus, daß dies davon abhängt, wieviel Bewerber es für denselben Job gibt. Marx beschrieb diesen Prozeß folgendermaßen:

"Das Anwachsen des Produktivkapitals begreift in sich die Akkumulation und Konzentration der Kapitalien. Die Zentralisierung der Kapitalien hat eine größere Arbeitsteilung und eine größere Anwendung von Maschinen zur Folge. Die größere Teilung der Arbeit zerstört die besondere Geschicklichkeit des Arbeiters; und indem sie an die Stelle dieser besonderen Geschicklichkeit eine Arbeit setzt, die jedermann verrichten kann, vermehrt sie die Konkurrenz unter den Arbeitern." (Marx in "Rede über die Frage des Freihandels", MEW Band 4, S. 451)

Die Entwicklung der Industrie schafft also die materiellen Bedingungen für die Existenz einer vereinten und bewußten Menschheit, aber gleichzeitig erzeugt sie innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesetze, wo das Überleben des Arbeiters von seiner Fähigkeit abhängt, seine Arbeitskraft zu verkaufen, eine bislang ungekannte Konkurrenz.

Der Versuch, die Theorie des Klassenkampfes des Proletariats auf eine Momentaufnahme eines gespaltenen und geschlagenen Proletariats zu stützen, dabei die historischen Erfahrungen der vergangenen Kämpfe ignorierend, führt unvermeidlich zur Auffassung, daß die Einheit der Arbeiter nie möglich sein wird. Und je mehr man Zuflucht in eine unhistorische, auf das Unmittelbare fixierte Betrachtungsweise - unter dem Vorwand, man müsse "konkret sein", man müsse etwas machen, das unmittelbare Ergebnisse hat -  sucht, desto mehr wird ein jegliches Verständnis des Proletariats auf den Kopf gestellt.

Eine Auffassung, die die Möglichkeit der Einheit der Arbeiterklasse leugnet, ist letztendlich eine Theoretisierung der Niederlage des Proletariats, in Zeiten, in denen es nicht kämpft. Es ist eine bürgerliche Vision des Proletariats als ignorante, gespaltene, atomisierte und geschlagene Individuen. Es ist eine Züchtung der Soziologie.

Eine "ouvrieristische" Auffassung

Da diese Konzeption die Arbeiterklasse nicht als eine historische Kraft betrachtet, begreift sie die Arbeiterklasse als eine Summe von revolutionären Individuen. Der Ouvrierismus (etwa: Arbeitertümelei) basiert nicht auf der These vom revolutionären Charakter der Arbeiterklasse, sondern ist ein soziologischer Kult des individuellen Arbeiters. Durchdrungen von dieser Vision, messen politische Strömungen mit maoistischen Ursprüngen der sozialen Herkunft von Mitgliedern politischer Organisationen große Bedeutung zu. Das geht so weit, daß ein Großteil ihrer Mitglieder aus dem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Milieu - vor allem seit 1968 - ihr Studium auf gab, um Jobs in Fabriken anzunehmen (was nur dazu diente, den Arbeiterkult weiter zu verstärken).

So schrieb das Marxist Workers' Committee - eine Gruppe, die sich bis zu dem Punkt weiterentwickelt hat, daß sie heute davon ausgeht, daß es keine Arbeiterstaaten mehr gibt und daß Rußland seit 1924 (seit dem Tod Lenins) kapitalistisch ist - in einem Artikel der ersten Ausgabe MARXIST WORKER (Sommer 79) unter dem Titel "25 Jahre Kampf - Unsere Geschichte":

"Unsere Erfahrung in der alten revisionistischen Kommunistischen Partei der USA und in der American Workers' Communist Party (Maoist) hat uns zu der Schlußfolgerung geführt, daß die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus Recht hatten, als sie behaupteten, daß eine wirkliche Arbeiterpartei eine Kadergruppe von theoretisch fortgeschrittenen Arbeitern entwickeln muß, da nicht nur die Gesamtheit ihrer Mitglieder, sondern auch ihre Führung in erster Linie aus der Arbeiterklasse stammen muß."

Welche Auffassung von der Arbeiterklasse kann man wohl von einer bürgerlichen, stalinistischen Organisation "lernen"? Erinnern wir uns hier an zwei Beispiele aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die die Konsequenzen des ouvrieristischen Prinzips demonstrieren:

Erinnern wir uns zunächst des Kampfes des "Arbeiters" Tolain (französischer Delegierter auf den ersten Kongressen der Internationalen Arbeiterassoziation), der dagegen war, Marx als Delegierten zu akzeptieren. Tolain argumentierte gegen die Aufnahme von Marx auf der Grundlage des Prinzips, daß "die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann", denn Marx war kein Arbeiter. Nach einer Debatte wurde Tolains Antrag abgelehnt. Wenige Jahre später fand sich Tolain, der Arbeiter, auf der Seite der Versailler wieder, die gegen den Arbeiteraufstand kämpften,  der die Kommune von Paris errichtete.

Erinnern wir uns auch daran, wie es der deutschen Sozialdemokratie im November 1919 gelang, Rosa Luxemburg daran zu hindern, auf dem Kongreß der Arbeiterräte zu sprechen, weil sie keine Arbeiterin sei, und wie sie einige Wochen später auf Anordnung des Arbeiters Noske von den Freikorps  ermordet wurde, die auch den Aufstand im Januar 1919 in Berlin blutig niederschlugen. Nicht der einzelne Arbeiter ist revolutionär, sondern die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit.

Der Ouvrierismus versteht diesen Unterschied nicht, und deshalb begreift er weder den individuellen Arbeiter noch die Arbeiterklasse als Klasse.

II. Die Arbeiteraristokratie: eine unmögliche Definition

Es ist selbstverständlich, daß es innerhalb der Arbeiterschaft Lohnunterschiede, unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen gibt. Es ist ebenfalls eine Banalität zu sagen, daß je komfortabler die Lage für ein Individuum ist, Letzteres umso mehr darum bestrebt ist, diese Lage zu bewahren. Aber daraus auf die Existenz einer stabilen Schicht innerhalb des Proletariats zu schließen, deren Interessen jenen des Rests der Klasse entgegenstehen und sich den Interessen der Bourgeoisie angleichen, oder gar auf eine mechanische Verbindung zwischen der Ausbeutung und dem Bewußtsein sowie der Kampfbereitschaft zu schließen heißt, einen theoretischen Bocksprung voller Gefahren zu machen.

Im Frühkapitalismus, als ein Großteil der Arbeiter noch mehr oder weniger  Handwerker war - mit besonderen Fähigkeiten und mit ständischen Vorrechten -, war es zu bestimmten Zeitpunkten, d.h. in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität,  möglich, vielleicht noch Sektionen in der Arbeiterklasse mit besonderen Privilegien ausmachen.

So konnte Engels nebenbei in einem Brief von einer "Arbeiteraristokratie" von "Mechanikern, Zimmerleuten und Tischlern, Bauarbeitern" sprechen, die im 19. Jahrhundert weitestgehend organisiert waren und bestimmte Privilegien genossen, die aus der Wichtigkeit ihrer Qualifikationen und dem Monopol, das sie in diesen Qualifikationen verfügten, herrührten.

Aber angesichts der Entwicklung des Kapitalismus, einerseits mit der De-Qualifizierung der Arbeit und andererseits mit der Vervielfachung künstlicher Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse, den Versuch zu unternehmen, eine "Arbeiteraristokratie" im Sinne einer präzisen Schicht zu definieren, die über Privilegien verfügt, welche sie qualitativ von den anderen Arbeitern unterscheidet, ist eine völlig willkürliche Übung. Der Kapitalismus hat die Arbeiterklasse systematisch gespalten mit dem Ziel, Situationen zu schaffen, in denen die Interessen der einen Arbeiter den Interessen der anderen entgegengesetzt sind.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie die Entwicklung der Maschinen in Zeiten des sozialen Friedens durch die Zerstörung der spezialisierten Fertigkeiten des Arbeiters zur Entwicklung der Konkurrenz zwischen den Arbeitern geführt hat. Jedoch gibt sich der Kapitalismus nicht mit den Spaltungen zufrieden, die durch den Produktionsprozeß selbst erzeugt werden können. Wie alle ausbeutenden Klassen in der Geschichte kennt und wendet die Bourgeoisie das alte Prinzip "Teile und herrsche" an. Und sie tut dies so zynisch und methodisch, auf eine Weise, die beispiellos ist in der Geschichte.

Der Kapitalismus hat Nutzen aus den "natürlichen" Spaltungen des Geschlechts und des Alters gezogen, die er von den vergangenen Gesellschaften übernommen hatte. Obwohl die privilegierte Stellung des Mannes aufgrund seiner Körperkraft mit der Entwicklung der Industrie zunehmend verschwindet, hält das Kapital bewußt diese Spaltungen mit dem Ziel aufrecht, die Arbeitskraft zu spalten und niedrigere Löhne für Frauen, Kinder und Alte zu rechtfertigen.

Der Kapitalismus hat aus der Vergangenheit auch die rassischen oder geographischen Spaltungen übernommen. In seinen Ursprüngen ist das Kapital, damals noch hauptsächlich in Gestalt eines kommerziellen Kapitals, durch den Sklavenhandel reich geworden. In seiner höchstentwickelten Form greift das Kapital weiterhin auf die rassischen oder nationalen Unterschiede zurück, um einen ständigen Druck auf die Löhne auszuüben. Von der Behandlung der irischen Arbeiter in England im 18. und 19. Jahrhundert bis zu jener der türkischen oder jugoslawischen Arbeiter in der BRD 1980 - der Kapitalismus hat stets dieselbe Politik zur Spaltung der Arbeiterklasse verfolgt. Das Kapital weiß sehr gut, wie es von den Spaltungen zwischen den Stämmen in Afrika, den religiösen Differenzen in Ulster, den Kastenunterschieden in Indien oder den rassischen Unterschieden in den USA und in den wichtigen europäischen Mächten profitieren kann, die mit der Hilfe eines massiven Importes von Arbeitern aus Asien, Afrika und den weniger entwickelten Ländern Europas (Türkei, Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien. etc.) wiederaufgebaut worden waren.

Doch der Kapitalismus gibt sich nicht damit zufrieden, die sogenannten "natürlichen" Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten und zu fördern. Durch die Ausdehnung der Lohnarbeit und die "wissenschaftliche" Organisierung der Ausbeutung in der Fabrik (Taylorismus, Prämiensystem usw.) hat die Aufgabe der Spaltung der Arbeiterklasse den Status eines Berufs erlangt: Soziologen, Psychiater, Gewerkschaftssekretäre arbeiten Hand in Hand mit den Personalchefs zusammen, um "rentable" Methoden zur Organisierung der Produktion auszuarbeiten und um zu gewährleisten, daß das Gesetz des "Jeder für sich selbst" in den Fabriken und Büros herrscht, sodass jeder denkt, seine Interessen stünden im Gegensatz zu den Interessen eines jeden anderen.  Im Kapitalismus kommt der berühmte Satz "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" der Wirklichkeit am nächsten. Indem der Lohn von der Produktivität anderer abhängig gemacht wird, indem alle Arten von Lohngefälle für dieselbe Arbeit geschaffen werden (was nun durch den Gebrauch von Computern im Management an seine Grenzen stößt), schafft der Kapitalismus mehr Spaltungen in der ausgebeuteten Klasse denn je.

Unter diesen Umständen ist es fast unmöglich, nicht für jede Kategorie von Arbeitern eine andere Kategorie zu finden, die mehr oder weniger "privilegiert" ist.

Wenn man all die Privilegien berücksichtigt, die einem Arbeiter aufgrund seines Alters, seines Geschlechtes, seiner Rasse, seiner Erfahrung, der Art seiner Arbeit (Hand- oder Kopfarbeit), seiner Stellung in der Produktion, der Prämien, die er verdient, usw. gewährt werden, könnte man unendlich viele Definitionen einer "Arbeiteraristokratie" finden. Wenn man so verfährt, kommt man dem Verständnis des revolutionären Charakters der Arbeiterklasse nicht einen Schritt näher.

Folgt man der Logik ihrer "anti-arbeiteraristokratischen" Haltung, so beinhalten die Perlen der maoistischen Weisheiten über das Subjekt der Arbeiteraristokratie die Notwendigkeit, das "wahre Proletariat", die "am meisten Ausgebeuteten" zu organisieren. Diese Gruppen sind also dazu gezwungen, nicht nur eine adäquate Definition für die Arbeiteraristokratie zu finden, sondern auch eine entsprechende Definition für die "rein proletarischen" Schichten. Sie widmen einen Großteil ihrer "theoretischen" Arbeit hierfür, wobei sich die Ergebnisse je nach Gruppe, Tendenz, Land, Zeitraum usw., den/die sie betreffen, unterscheiden.

So seien beispielsweise in Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland die "Gastarbeiter" die wirklichen Proletarier und die weißen Arbeiter die Aristokratie. In den USA könnte die gesamte Arbeiterklasse dieser Logik zufolge als "verbürgerlicht" angesehen werden (der Lebensstandard eines schwarzen Arbeiters in den USA kann bis zu 100 mal höher sein als der eines Arbeiters in Indien), aber derselben Logik zufolge kann man auch folgern, daß nur die weißen Arbeiter zur Aristokratie gehören. Von der einen Seite aus betrachtet, sind schwarze amerikanische Arbeiter Aristokraten, aber von der anderen Seite aus gesehen, sind sie "am meisten ausgebeutet". Für OPERAI E TEORIA setzt sich die "wirkliche Arbeiterklasse" aus Arbeitern zusammen, die am Fließband arbeiten. Einige Gruppen jedoch klassifizieren die Industriearbeiter der unterentwickelten Länder als "Aristokraten", weil ihr Lebensstandard wesentlich höher ist als der der arbeitslosen Massen, die in den Elendsvierteln am Rande der Großstädte hausen.

Die Definitionen dieser berühmten "Aristokratie" können somit von einer Gruppe zur anderen ganz unterschiedlich sein und mal 100 Prozent der Arbeiter, mal 50 oder 20 Prozent umfassen, je nach Laune  der Theoretiker.

III. Eine Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse

Zusammen mit ihren Versuchen, ihre vielen soziologischen Definitionen von Schichten innerhalb des Proletariats auszutüfteln oder zu klären, bezweckt die Intervention dieser Organisationen gegenüber der Arbeiterklasse mehr oder weniger, die Arbeiter zu spalten - wie sie selbst zugeben.

Dies stützt sich auf die Bildung von Organisationen, die nur jene Arbeiter sammelt, von denen sie glauben sicher zu sein, daß sie nicht der "Arbeiteraristokratie" angehören: Organisationen schwarzer Arbeiter oder von Fließbandarbeitern, von Arbeitsimmigranten usw.

Dies beispielsweise ist der Ursprung einer besonderen Form des Rassismus, die sich in einigen Gruppen innerhalb der Immigranten-Communities in den höchst industrialisierten Ländern Europas ausgebreitet hat und die den herkömmlichen Rassismus gegen die Weißen durch einen "marxistisch-leninistischen" Rassismus gegen die weiße Arbeiteraristokratie ersetzt hat. In den weniger industrialisierten Ländern, die Exporteure von Arbeitskräften sind, machen sich die Befürworter dieser Theorie daran, Feindseligkeiten unter den weniger qualifizierten Arbeitern gegenüber den qualifizierten Arbeitern zu schüren.

Innerhalb dieser Organisationen wird eine Feindschaft gegenüber der "Arbeiteraristokratie" kultiviert, die bald schon als Sündenbock für all das Mißgeschick herhalten muß, das die am "meisten Ausgebeuteten" ereilt.

Im besten Fall gibt man vor, daß die eigene Einheit der am meisten ausgebeuteten Sektoren der Klasse als ein Beispiel dient und eine Stimulanz für eine breitere Vereinigung der Klasse ist. Aber damit verkennt man völlig, wie die Klasseneinheit eigentlich herbeigeführt wird.

Das lebendige Beispiel von Polen 1980 verdeutlicht dies ganz klar. Die Klasseneinheit der Arbeiter ist nicht der Kulminationspunkt einer Reihe von Teilvereinigungen, einer der anderen folgend, Sektor für Sektor, nach Jahren systematischer Vorarbeit. Im wirklichen Leben findet diese Vereinigung auf explosive Weise, in ein paar Tagen oder Wochen statt. Der Ausbruch des Klassenkampfes und seine Generalisierung sind das Produkt vieler unterschiedlicher, unvorhersehbarer Faktoren.

Doch Polen hat übrigens nur einmal mehr bestätigt, was all die Explosionen des Klassenkampfes seit den Kämpfen 1905 in Rußland gezeigt hatten. Seit 75 Jahren hat es keine Klasseneinheit der Arbeiter gegeben, außer im und für den Kampf. Aber wenn die Arbeiterklasse sich vereint, tut sie dies mit einem Male und im größtmöglichen Maßstab. Seit 75 Jahren erblickt man, wenn Arbeiter auf ihrem Klassenterrain kämpfen, nicht einen Kampf zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil eine Tendenz zu einer immer größeren Einheit. Das Proletariat ist die erste Klasse in der Geschichte, die nicht durch reale wirtschaftliche Antagonismen in sich selbst gespalten ist. Im Gegensatz zu den Bauern und Handwerkern besitzt das Proletariat seine Produktionsmittel nicht. Es besitzt nur seine Arbeitskraft, und diese zeichnet sich durch ihren kollektiven Charakter aus.

Die einzige Waffe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist seine schiere Anzahl. Doch Zahlen ohne Einheit sind nichts. Die Erlangung dieser Einheit ist der fundamentale Kampf des Proletariats, um seine Macht zu bekräftigen. Es ist kein Zufall, daß die Bourgeoisie dies mit allen Kräften zu verhindern versucht.

Es bedeutet, die Welt auf den Kopf zu stellen, wenn man wie OPERAI E TEORIA behauptet, die Idee von der Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse sei bürgerlich:

"Heute git es keine Stimme in der Bourgeoisie, die diese Spaltung unterstützt (zwischen den untersten Schichten und der 'Aristokratie'), im Gegenteil, es gibt einen Tenor in der bürgerlichen Propaganda, der für  die Notwendigkeit von Opfern argumentiert, 'weil wir alle im gleichen Boot sitzen'." (OPERAIO E TEORIA, Nr. 7, S. 10).

Die Bourgeoisie aller Länder spricht nicht von der Einheit der Arbeiterklasse, sondern von der nationalen Einheit. Was sie sagt, ist nicht: "Alle Arbeiter sitzen im gleichen Boot", sondern: "Die Arbeiter sitzen im gleichen Boot wie die Bourgeoisie". Und das ist überhaupt nicht dasselbe. Doch dies ist für jene schwer zu begreifen, die ihren Marxismus von Nationalisten wie Mao, Stalin und Ho Tschi Minh "gelernt" haben. Gegen all diese stalinistischen Verdrehungen können die Kommunisten nur die Lehren aus den praktischen Erfahrungen des Proletariats bekräftigen. Wie schon das Kommunistische Manifest 1848 befürwortete: "Die Kommunisten (heben) (...) die gemeinsamen (...) Interessen des gesamten Proletariats hervor und bringen sie zur Geltung."

IV. Eine zweideutige Auffassung von Parteien und Gewerkschaften

Wie konnte eine solche Auffassung auch nur das geringste Echo in der Arbeiterklasse haben?

Wahrscheinlich liegt der Hauptgrund, warum diese Auffassung auf so viel Gehör bei einigen Arbeitern trifft, ohne Gelächter oder Verärgerung zu erzeugen, darin, daß sie eine Erklärung dafür zu geben scheint, warum und wie die sogenannten "Arbeiter"-Gewerkschaften ihre widerwärtige Sabotage gegen den Klassenkampf ausführen.

Dieser Theorie zufolge sind die Gewerkschaften sowie die linken Parteien der Ausdruck der materiellen Interessen bestimmter Schichten des Proletariats, d.h. der privilegiertesten Schichten. In Zeiten des "sozialen Friedens" mag diese Theorie einigen Arbeitern, die Opfer des Rassismus weißer Arbeiter oder der Geringschätzun durch höher qualifizierter Arbeiter sind, oder angewidert von der Art und Weise sind, wie die linken Parteien und Gewerkschaften im Management des Kapitalismus involviert sind, einerseits als kohärente Erklärung dieser Phänomene erscheinen und andererseits eine unmittelbare Handlungsperspektive bieten: sich von den "Aristokraten" getrennt zu organisieren. Leider ist diese Auffassung theoretisch falsch und politisch gefährlich.

Hier ein Beispiel, wie LE BOLCHEVIK in Frankreich diese Idee formuliert:

"Die Kommunistische Partei (Frankreichs) ist keine Arbeiterpartei. Durch ihre Zusammensetzung, größtenteils intellektuellen und kleinbürgerlich, und vor allem durch ihre reformistische, ultrachauvinistische politische Linie ist die KP von Marchais und Seguys  eine bürgerliche Partei.

Sie ist nicht der politische und ideologische Repräsentant der Arbeiterklasse. Sie repräsentiert die oberen Schichten des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie." (LE BOLCHEVIK, Nr. 112, Feb. 1980).

Anders ausgedrückt: die Interessen eines Teils der Arbeiterklasse, der "Arbeiteraristokratie", sind die gleichen wie die der Bourgeoisie, da die Partei, die sie vertritt, "bürgerlich" ist. Diese Identität der politischen Linie zwischen den Parteien der Arbeiteraristokratie und der Bourgeoisie beruhe auf einer ökonomischen Basis: Die "Aristokratie" erhalte ein paar Krümel aus den Extra-Profiten,  die das nationale Kapital aus den Kolonien und Halbkolonien herausgepreßt hat.

Lenin vertrat eine ähnliche Theorie, um den Verrat der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg zu erklären:

"Der Opportunismus (so nennt Lenin die reformistischen Tendenzen, die die Arbeiterorganisationen beherrschten und am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, d. IKS) wurde im Laufe von Jahrzehnten durch die Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus hervorgebracht, in der die verhältnismäßig friedliche und zivilisierte Existenz einer Schicht privilegierter Arbeiter diese 'verbürgerlichte', ihnen Brocken von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals zukommen ließ und sie von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriß (...) Die ökonomische Grundlage des Chauvinismus und des Opportunismus in der Arbeiterbewegung (ist) ein und dieselbe: das Bündnis der zahlenmäßig geringen Oberschichten des Proletariats und des Kleinbürgertums, für die Brocken von den Privilegien 'ihres' nationalen Kapitals abfallen, gegen die Masse der Proletarier, die Masse der Werktätigen und Unterdrückten überhaupt." (Lenin, "Der Zusammenbruch der II. Internationale", Werke, Bd. 21, S. 238 und 240).

Eine Kritik an Lenins Erklärung für den Verrat der Zweiten Internationalen

Bevor wir auf die Theorie seiner Epigonen eingehen, wollen wir kurz innehalten und einen Blick auf die Auffassung werfen, die von Lenin entwickelt wurde, um den neuen Klassencharakter der sozialdemokratischen Arbeiterparteien nach ihrem Verrat an das proletarische Lager zu erklären.

Die Geschichte stellte den Revolutionären folgende Frage: Jahrzehntelang hatte die europäische Sozialdemokratie, die von Marx, Engels und anderen gegründet worden war und die aus einem erbitterten und langwierigen Kampf hervorgegangen war, ein wirkliches Instrument zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse gebildet. Doch nun hatte sich eigentlich die gesamte sozialdemokratische Bewegung, einschließlich sowohl der Massenparteien als auch der Gewerkschaften, mit der nationalen Bourgeoisie ihres jeweiligen Landes gegen die Arbeiter anderer Länder verbündet. Wie konnte man den Klassencharakter dieses monströsen Produktes der Geschichte definieren?
Um einen Eindruck des Schocks zu vermitteln, den dieser Verrat unter der ganz kleinen Minderheit hervorgerufen hatte, die noch immer auf internationale, revolutionäre Positionen beharrte, können wir zum Beispiel Lenins Überraschung in Erinnerung rufen, als er die Ausgabe des VORWÄRTS (Publikation der deutschen Sozialdemokratischen Partei) las, die die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten verkündete. Er dachte, daß dies eine Fälschung sei, die lanciert wurde, um der Kriegspropaganda Schützenhilfe zu leisten. Wir können auch an die Schwierigkeiten der deutschen Spartakisten, angeführt von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, erinnern, um endlich die Nabelschnur zu durchschneiden, die sie organisch mit der "Mutterorganisation" verband.

Als der Krieg ausbrach, war die Politik der Sozialdemokratie ganz offen bürgerlich, aber die Mehrheit ihrer Mitglieder sowohl in der Partei als auch in den Gewerkschaften setzte sich noch aus Arbeitern zusammen. Wie war solch ein Widerspruch zu erklären?

Die Sozialdemokraten, nun Patrioten, sagten: "Hier ist der Beweis dafür, daß der Internationalismus keine wirkliche Arbeiteridee ist." In seiner Ablehnung dieser Analyse antwortete Lenin, derselben Logik folgend, daß nicht alle Arbeiter den Internationalismus abgelehnt hätten, sondern nur eine "privilegierte Minderheit", die sich "von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriß". Lenins Anliegen war völlig richtig: Der Hinweis auf die Tatsache, daß das europäische Proletariat es zugelassen hatte, sich in den imperialistischen Krieg ziehen zu lassen, bedeutete nicht, daß Kriege dieser Art den Interessen der Arbeiterklasse in den verschiedenen betroffenen Ländern entsprachen. Jedoch waren die Argumente, die er benutzte, falsch, was von der Realität bestätigt wurde. Lenin sagte, daß die "patriotischen" Arbeiter gemeinsame Interessen mit "ihrem" nationalen Kapital hatten, die eine "Arbeiteraristokratie" bestach, indem es ihnen "ein paar Krümel des Profits" hinwarf.

Wie groß ist dieser korrumpierte Sektor der Arbeiterklasse? "Ein verschwindender Teil", sagt Lenin in "Der Krieg und die Zweite Internationale"; "die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie", sagt er im Vorwort zu "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus".

Doch in Wirklichkeit zeigte sich:

1. daß nicht eine "verschwindende" Minderheit des Proletariats von der Expansion des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts profitierte, sondern alle Industriearbeiter. Die Abschaffung der Kinderarbeit, die Beschränkung der weiblichen Erwerbstätigkeit, die Verkürzung des Arbeitstages auf zehn Stunden, die Schaffung von Schulen und öffentlichen Krankenhäusern, etc. - von all diesen Maßnahmen, die der Arbeiterkampf dem Kapitalismus in Zeiten einer rapiden Expansion abgerungen hatte, profitierten vor allem die "niedrigsten", am meisten ausgebeuteten Schichten der Arbeiterklasse;

2. daß Lenins Sichtweise einer verschwindenden Minderheit von korrupten Arbeitern, isoliert inmitten einer gigantischen Massen von leidenden Arbeitern, die von "revolutionären Stimmungen" ergriffen waren, am Vorabend des I. Weltkriegs reine Einbildung war. Nahezu alle Arbeiter in den Ländern der Hauptmächte - arme oder reiche, qualifizierte wie ungelernte, gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche - folgten dem Ruf zu den Waffen und wollten den "Feind" besiegen und massakrieren, um "ihre" nationalen Herren zu verteidigen;

3. daß die "ökonomische Grundlage" für die "Brocken aus dem Profit", die von den imperialistischen Mächten unter ihre qualifizierten Arbeitern verteilt wurden, keinen Sinn ergibt. In erster Linie weil es, wie wir gesehen haben, nicht eine winzige Minderheit war, deren Bedingungen sich in den Zeiten der kapitalistischen Expansion verbessert hatten, sondern alle Arbeiter in den Industrieländern. Zweitens, weil die Kapitalisten ihre Profite wie auch ihre Extraprofite erklärtermaßen nicht mit jenen teilen, die sie dafür ausbeuten.

Die Lohnzuwächse und die weitestgehend verbesserten Lebensbedingungen der Arbeiter in den Industrieländern waren nicht das Resultat der Großzügigkeit der Kapitalisten, die bereitwillig ihre Profite teilen, sondern des erfolgreichen Drucks, den die Arbeiter damals auf ihren nationalen Kapitalismus auszuüben in der Lage waren. Der wirtschaftliche Wohlstand des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts führte allerorts zu einer Verringerung der Zahlen von beschäftigungslosen Arbeitern in der "Reservearmee" des Kapitalismus. Die Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt wurde knapper und somit teurer, da immer mehr Fabriken errichtet wurden und bereits existierende Fabriken voll ausgelastet waren. Dies war der Zustand während dieser Periode. Die Arbeiter waren, indem sie selbst auf limitierte Weise (in Gewerkschaften und Massenparteien) organisierten, in der Lage, ihre Arbeitskraft zu einem höheren Preis zu verkaufen und wirkliche Verbesserungen in ihren Existenzbedingungen zu erlangen.

Die Erschließung des Weltmarktes durch einige Industriezentren, die sich mehr oder weniger auf Europa und Nordamerika beschränkten, erlaubten es dem Kapitalismus, sich mit unbändiger Kraft zu entwickeln. Die periodischen Krisen der Überproduktion wurden mit einer anscheinend immer höheren Geschwindigkeit und Energie überwunden. Die Industriezentren expandierten, indem sie eine immer größere Anzahl von Bauern und Handwerker absorbierten, die damit in Arbeiter, in Proletarier umgewandelt wurden. Die Arbeitskraft der qualifizierten Arbeiter, die sich ihre Fertigkeiten über viele Jahre angeeignet hatten, wurden zu einer kostbaren Ware für die Kapitalisten.

So gibt es gewiss eine Verknüpfung zwischen der globalen Expansion des Kapitalismus und dem wachsenden Lebensstandard der Industriearbeiter, aber es ist nicht die Verknüpfung, die von Lenin geschildert wird. Die Verbesserung der proletarischen Bedingungen betrafen nicht eine "verschwindende" Minderheit, sondern die gesamte Arbeiterklasse. Sie war nicht das Resultat der "Bestechung" von Arbeitern durch ihre kapitalistischen Herren, sondern der Arbeiterkämpfe in Zeiten der kapitalistischen Prosperität.

Wenn die europäischen und amerikanischen Arbeiter sich en masse mit den Interessen des nationalen Kapitals identifizierten und dabei der Führung ihrer politischen und gewerkschaftlichen Organisationen folgten, dann geschah dies, weil sie jahrzehntelang im größten materiellen Wohlstand gelebt hatten, den die Menschheit jemals erlebt hat. Wenn die Idee von der Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus solch große Wirkung in der Arbeiterbewegung erzielt hat, dann geschah dies, weil der gesellschaftliche Wohlstand oftmals als Ergebnis bewusster Kräfte in der Gesellschaft auftrat. Die Barbarei des I. Weltkrieges ertränkte diese Illusionen im Schlamm der Schützengräben von Verdun. Doch nichtsdestotrotz gestatteten diese Illusionen den kapitalistischen Generälen, mehr als zwanzig Millionen Männer im inter-imperialistischen Gemetzel in den Tod zu schicken.

Der Weltmarkt markierte das endgültige Ende jeglicher Möglichkeit einer Kohabitation zwischen den "Reformisten" und den Revolutionären innerhalb der Arbeiterbewegung. Indem sie sich in Rekrutierungsoffiziere für die imperialistischen Armeen verwandelte, lief die Mehrheit der reformistischen Strömungen in der II. Internationalen mit Mann und Maus ins Lager des Kapitalismus über.

Von diesem Standpunkt aus waren sie keine Tendenzen der Arbeiterklasse mehr, die stark von der Ideologie der herrschenden Klasse beeinflusst waren, sondern Zahnräder im politischen Apparat der Bourgeoisie. Die sozialdemokratischen Parteien sind nicht mehr "verbürgerlichte Arbeiterorganisationen", sondern bürgerliche Organisationen innerhalb der Arbeiterklasse. Sie repräsentieren nicht mehr die Arbeiterklasse oder auch nur einen Teil von ihr. Sie sind die Inkarnation der Interessen des nationalen Kapitals in seiner Gesamtheit.

Die Sozialdemokratie ist genausowenig "Arbeiterklasse", weil sie Arbeiter enthält, wie die Gitterstäbe des Käfigs "Tiere" sind, weil sie Tiere enthalten. Das Massaker an den deutschen Arbeitern nach dem Krieg durch die sozialdemokratische Regierung war ein blutiger Beweis dafür, welcher Seite die Sozialdemokratie von nun an angehörte.(2)

Die Theorie, daß die linken Parteien und ihre Gewerkschaften die Interessen der "Arbeiteraristokratie" vertreten, beinhalten stets, in der einen oder anderen Weise, den Gedanken, daß sie immerhin Arbeiterorganisationen seien.

Die praktische Bedeutung dieser theoretischen Frage wird deutlich, wenn die Arbeiterklasse mit einem Angriff von einer Sektion der Bourgeoisie gegen diese Organisationen konfrontiert ist. Es geschah im Namen der Verteidigung dieser "Arbeiterorganisationen", daß die "westliche Demokratie" Arbeiter in den Kampf "gegen den Faschismus" führte - von 1936 bis Hiroshima.

Diese Zweideutigkeit erweist sich für Lenins Epigonen heute als sehr nützlich. Die maoistische Strömung kam aus den Kommunistischen Parteien hervor. Die Maoisten sind Späne aus dem stalinistischen Block, die unter dem Druck der Entwicklung der inter-imperialistischen Konflikte (besonders zwischen China und Rußland) und der Intensivierung des Klassenkampfes abgesprengt wurden.

Viele Gruppen maoistischen Ursprungs gehen durchaus davon aus, daß die KPs "bürgerliche" Organisationen sind, aber sie machen schnell klar, daß die KPs sich auf die "Arbeiteraristokratie" stützten; aus diesem Grunde seien sie teilweise "verbürgerlichte Arbeiterorganisationen"... Man sieht, welche Bedeutung diese "Nuance" für Gruppen haben kann, die, wie das Marxistische Arbeiterkomitee, vehement ihre "25 Jahre Kampf"(3) verteidigen, von denen sie mehr als drei Viertel in der stalinistischen Partei verbracht haben. Laut ihrer Theorie haben sie diese Jahre nicht damit verbracht, für die Bourgeoisie zu arbeiten, sondern für.... die "Arbeiteraristokratie".

Jegliche Zweideutigkeit darüber, auf welcher Seite der Barrikade die linken Parteien stehen, kann für die Arbeiterklasse tödliche Folgen haben. In den letzten 60 Jahren ist nahezu jede wichtige Bewegung der Arbeiterklasse von der Linken oder mit ihrer Beihilfezerschlagen worden. Die Theorie der "Arbeiteraristokratie" entwaffnet durch die Kultivierung dieser Zweideutigkeit die Klasse und verschleiert die eine Frage, die so klar wie möglich sein muß, ehe man sich in einem Kampf engagiert: Wer ist der Feind?

V. Eine grobe Verzerrung des Marxismus

Wir haben gezeigt, wie die Theorie der Arbeiteraristokratie, wie sie von maoistischen und ex-maoistischen Gruppen vertreten wird, ein soziologisches Verständnis der Arbeiterklasse verrät, eine Vision, die diese Strömungen durch ihre Erfahrungen mit dem Stalinismus erworben haben.

Das Verständnis dieser Erfahrung wird ersetzt durch eine quasi-religiöse Untersuchung bestimmter Texte der "proletarischen Evangelisten", aus denen Auszüge zitiert werden, die als absoluter Beweis für die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen dienen sollen.(Die Entwicklung der maoistischen Gruppen kann an der Anzahl der Konterfeis ihrer Evangelisten, die aus ihrer Ikonographie entfernt wurden, abgelesen werden: Am Anfang gab es Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Mao wurde als erster entfernt, dann, in einem etwas fortgeschritteneren Stadium, wurde auch Stalin eliminiert. Doch gleichzeitig wurde der religiöse Status der verbliebenen drei noch weiter erhöht.)

Um herauszufinden, ob diese oder jene politische Position richtig oder falsch ist, stellen sich diese Organisationen nicht die Frage: Ist dies durch die reale, lebendige Praxis der Arbeiterkämpfe in der Vergangenheit bewiesen worden? Sondern: Kann dies durch ein Zitat von Marx, Engels oder Lenin belegt werden?

Um also den Beweis für die Richtigkeit der Theorie der Arbeiteraristokratie "wissenschaftlich" zu demonstrieren, bombardieren diese Gruppe ihre Leser mit bewußt ausgewählten Zitaten von Marx, Engels oder Lenin.

Diese ultra-leninistischen Gruppierungen stützen sich auf die Fehler Lenins in der Frage der "Aristokratie", aber sie vergessen, daß Lenin nie solch irrtümliche Schlüsse daraus zog wie OPERAI E TEORIA, denen zufolge die Revolutionäre nicht mehr "die gemeinsamen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen" dürfen, wie es das Manifest sagt, sondern "auf eine Spaltung, einen deutlichen Bruch zwischen den Interessen der unteren Schichten und denen der Aristokratie" (OPERAI E TEORIA) hinarbeiten müssen.

Lenin hat nie die Arbeiter dazu aufgerufen, sich unabhängig von und gegen den Rest ihrer Klasse zu organisieren. Im Gegenteil, Lenins Attacken gegen die sozialdemokratischen Patrioten als politische Strömung deckten sich mit seinem Beharren auf die Notwendigkeit einer Einheit aller Arbeiter in ihren Einheitsorganisationen. Der Schlachtruf "Alle Macht den Räten", d.h. alle Macht den breitesten und einheitlichsten Organisationen, die die Arbeiterklasse zu bilden in der Lage ist - ein Schlachtruf, den Lenin mit am standhaftesten vertrat -, war kein Aufruf zur Spaltung der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil zur größtmöglichen Einheit zum Zwecke der Machtübernahme.

Was die Hinweise dieser Strömungen auf bestimmte Zitate von Engels anbetrifft, so sind diese nur der Versuch, in die aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen von Engels etwas hineinzuinterpretieren, was er nie gesagt hatte. Engels spricht an etlichen Stellen von einer "Aristokratie" innerhalb der Arbeiterklasse. Aber worüber sprach er genau?

In einigen Fällen bezieht er sich auf die englische Arbeiterklasse, die im Ganzen einen höheren Lebensstandard und bessere Arbeitsbedingungen genoss als die Arbeitern anderer Länder. In anderen Fällen bezieht er sich auf die spezialisierteren Arbeiter in der britischen Arbeiterklasse selbst, die ihre handwerklichen Fertigkeiten noch erhalten konnten (Mechaniker, Zimmerleute, Schreiner, Bauarbeiter). Doch dabei war es sein Ziel, jegliche Illusionen zu vertreiben, die die englische Arbeiterklasse noch hinsichtlich ihrer "aristokratischen" Stellung haben konnte. Weiter unterstrich er die Tatsache, daß die Entwicklung des Kapitalismus vor allem durch Wirtschaftskrisen stattfand, die ihn zwingen, die Bedingungen aller Arbeiter auf das niedrigste gemeinsame Niveau zu drücken und die materiellen Grundlagen der "Privilegien" minoritärer Arbeitergruppen zu zerstören, auch in der Arbeiterklasse in Großbritannien. So sagte er in einer Debatte in der Internationalen Arbeiterassoziation (Erste Internationale):

"Das (die Einwilligung des Antrages von Haies über die Irische Sektion der IAA, d.IKS) würde die unter den englischen Arbeitern nur zu sehr verbreitete Meinung sanktionieren, daß sie, verglichen mit den Iren, überlegene Wesen wären und ebensolche Aristokraten wie jene, für die sich die niederträchtigen Weißen in den Sklavenhalterstaaten den Negern gegenüber hielten." (F.Engels, MEW. Bd. 18, S. 80).

Und Engels erläuterte, wie die Wirtschaftskrise dazu tendiert, diese Auffassung zu untergraben, die viel zu lange verbreitet war:

"Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein - die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen - eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie die Arbeiter des Auslandes." (F. Engels, Vorwort zur 2. Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse", MEW 22, S. 328)

Und Bezug nehmend auf die alten Gewerkschaften, die eifersüchtig ihre Stellung als Organisationen ausschließlich der spezialisiertesten Arbeiter verteidigten:

"Schließlich muß (die akute Krise des Kapitalismus) ausbrechen, und es ist zu hoffen, daß dies den alten Gewerkschaften ein Ende machen wird." (4)

Die praktische Erfahrung der Arbeitskämpfe im 20. Jahrhundert, die zu "neuen" Organisationsformen führten, welche auf Vollversammlungen basierten, mit Delegierten für die Komitees oder Räte, hat nicht nur den alten Gewerkschaften der spezialisierten Arbeiter effektiv ein Ende bereitet, sondern auch allen anderen Gewerkschaften, die immer auf rein beruflichen Kategorien gegründet sind.

Engels sprach von einer Art von "Arbeiteraristokratie", um zu bezwecken, daß die Bewegung in Richtung einer unerlässlichen Einheit der Arbeiterklasse gestärkt wird. Daraus die Notwendigkeit der Spaltung der Arbeiterklasse zu lesen ist eine grobe Fälschung.

Um diese "marxistischen" Referenzen zu beenden, noch ein Wort zur Untersuchung von OPERAI E TEORIA, die vorgibt, eine Erklärung bei Marx für die Antagonismen, die die Arbeiter angeblich gegeneinander aufhetzen, gefunden zu haben.

"Alle (Arbeiter) produzieren als organisches Ganzes Mehrwert, aber nicht alle produzieren die gleiche Quantität, denn sie unterliegen nicht alle der massiven Auspressung von relativem Mehrwert."

Anscheinend haben sich diese Leute nicht einmal die Mühe gegeben herauszufinden, was der "relative Mehrwert" eigentlich bedeutet. Marx benutzte dieses Terminus, um Phänomen des wachsenden Anteils der Arbeitszeit zu definieren, die das Kapital der Arbeiterklasse durch das Mittel der Produktivitätssteigerung stiehlt.

Im Gegensatz zur Auspressung des "absoluten Mehrwerts", der hauptsächlich von der Dauer der Arbeitszeit abhängt, hängt der "relative Mehrwert" in erster Linie von der gesellschaftlichen Produktivität der Gesamtheit der Arbeiterklasse ab.

Die Produktivitätssteigerung findet ihren Ausdruck in der Tatsache, daß zur Herstellung einer gleichen Menge von Gütern weniger Arbeitszeit benötigt wird. Die gesellschaftliche Produktivitätssteigerung drückt sich durch die Tatsache aus, daß weniger gesellschaftliche Arbeitszeit benötigt wird, um die Subsistenzmittel zu produzieren.

Die für die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft notwendigen Erzeugnisse, die der Arbeiter mit seinem Lohn kaufen muß, enthalten einen immer geringeren Wert. Selbst wenn er sich nun zwei Hemden anstatt wie früher eins kaufen kann, haben diese Hemden dank der Produktivitätssteigerungen  weniger Arbeit gekostet als früher ein einziges. Die Differenz zwischen dem von dem Arbeiter erzeugten Wert der Arbeit und dem "Gegenwert", den er in Gestalt des Lohnes erhält - diese Differenz, die der vom Kapitalisten angeeignete Mehrwert ist -, vergrößert sich, selbst wenn die absolute Dauer seiner Arbeit unverändert bleibt.

Der relative Mehrwert ist die Ausbeutung durch die Verstärkung der Herrschaft des Kapitals über das gesamte gesellschaftliche Leben (5). Es ist die "kollektivste" Ausbeutungsform, die in einer Klassengesellschaft möglich ist (weshalb sie auch die letzte Form der Ausbeutung ist).

In diesem Sinne leiden alle Arbeiter im gleichen Maße darunter.

Die wachsende Abhängigkeit des Kapitalismus vom relativen Mehrwert führt nicht zu einer Herausbildung von ökonomischen Antagonismen innerhalb der Arbeiterklasse, wie es OPERAI E TEORIA behauptet, sondern im Gegenteil zur wachsenden Gleichförmigkeit der objektiven Lage der Arbeiter im Verhältnis zum Kapital.

Man kann Marx nicht mit den Augen eines stalinistischen Sozilogen lesen.

Einige politische Strömungen, die aus dem Maoismus hervorgegangen sind, tragen eine radikal anti-gewerkschaftliche Haltung zur Schau. Dies erweckt Illusionen, als handle es sich um einen Schritt nach vorn in Richtung Klassenpositionen. Aber die ihrer Position zugrundeliegende Theorie wie auch die politischen Konsequenzen, zu denen sie führt, machen aus diesem Anti-Gewerkschaftstum ein neues Instrument zur Spaltung der Arbeiterklasse.

Vom Standpunkt des Klassenkampfes aus ist die gewerkschaftliche Organisationsform historisch tot, eben weil sie nicht zu einer wirklichen Klasseneinheit führt. Die Organisierung nach Industriezweigen und Berufen auf streng ökonomischer Ebene ist keine Grundlage mehr für die Einheit, die für den Kampf im totalitären Kapitalismus unverzichtbar ist.

Die Gewerkschaften abzulehnen, nur um auf andere Weise die Arbeiterklasse zu spalten - das ist das Resultat eines Anti-Gewerkschaftstums, das sich als Opposition zur "Arbeiteraristokratie" begreift.

R.V. (Aus der Internationalen Revue Nr. 25, 2. Quartal 1981, deutsche Ausgabe Nr. 8, 1982)

 

Fußnoten:

(1) Dies ist einem Artikel entnommen, in dem OPERAI E TEORIA auf die Kritik von BATTAGLIA COMUNISTA (Partito Comunista internationalista) zu antworten versucht, die, auch wenn sie selbst "Leninisten" sind, OPERAI E TEORIA vorwerfen:

-  "den kapitalistischen Prozeß der Spaltung der Arbeiterklasse zu beschleunigen",

-  ihre Theorie auf der "objektiv unrichtigen Idee der Privilegien" in der Klasse zu stützen;

-  nicht "die Tendenz des Kapitalismus in der Krise (zu verstehen), die Existenzbedingungen des gesamten Proletariats auszuhöhlen und somit seine wirtschaftliche Vereinheitlichung herbeizuführen".

Battaglia hat vollkommen recht mit seiner Kritik, doch führt sie dies nicht zu ihrem logischen Schluß, aus Angst, das Wort ihres "Meisters" Lenin in Frage stellen zu müssen.

(2) Die "Kompromisse", die die Dritte Internationale auf Kosten der Strömungen in der Arbeiterklasse, denen "ultra-linke" Tendenzen vorgeworfen wurden,  mit den sozialdemokratischen Parteien nach 1920 sich zu schließen bemüßigt fühlte, fanden ihre theoretische Rechtfertigung in der Zweideutigkeit des Begriffs "bürgerliche Arbeiterparteien", den man für die patriotischen Sozialdemokraten verwendete. So kam Lenins Internationale dazu, die britischen Kommunisten zum Eintritt in die "Labour"-Party aufzufordern!

(3) MARXIST WORKER, Nr. 1, 1979, "25 years of struggle. Our history".

(4)Teil einer Intervention auf dem Treffen des Generalrats der IAA im Mai 1872.

(5) Die Vorherrschaft des relativen Mehrwerts über den absoluten Mehrwert ist eine der grundlegenden Eigenschaften dessen, was Marx die "wirkliche Herrschaft des Kapitals" nennt.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Zweite Internationale [8]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [9]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [10]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/rint6/polen1 [2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/vor-30-jahren-massenstreiks-polen [3] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1980-massenstreik-polen [4] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/1980-massenstreiks-polen [5] https://de.internationalism.org/ir6/1981_rusrev2 [6] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/bordigismus [7] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1917-russische-revolution [8] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/zweite-internationale [9] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [10] https://de.internationalism.org/en/tag/2/29/proletarischer-kampf