Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil II)

Printer-friendly version
In der vorherigen Ausgabe unserer Internationalen Revue begannen wir mit der Veröffentlichung großer Auszüge aus einem Orientierungstext über den Marxismus und die Ethik, der Gegenstand interner Diskussionen in unserer Organisation war und ist. In den veröffentlichten Auszügen lasen wir:

„Wir haben stets darauf bestanden, dass die Statuten nicht eine Kollektion von Regeln sind, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht, sondern eine Orientierung für unser Verhalten und unsere Haltung, die eine in sich zusammenhängende Sammlung von moralischen Werten (besonders bezüglich des Verhältnisses unter den Mitgliedern und gegenüber der Organisation) zusammenfasst. Daher verlangen wir von jedem, der Mitglied der Organisation werden will, eine tiefgehende Übereinstimmung mit diesen Werten.

Doch die Statuten als integraler Bestandteil unserer Plattform regeln nicht allein, wer unter welchen Umständen Mitglied der IKS werden kann. Sie bedingen auch den Rahmen und den Geist des militanten Lebens der Organisation und jedes ihrer Mitglieder.

Die Bedeutung, die die IKS stets diesen Verhaltensprinzipien zugemessen hat, wird von der Tatsache veranschaulicht, dass sie nie zögerte, diese Prinzipien zu verteidigen, selbst wenn sie dabei eine Organisationskrise riskierte. Indem sie so verfährt, stellt sich die IKS bewusst und unerschütterlich in die Tradition des Kampfes von Marx und Engels in der Ersten Internationale, des Bolschewismus und der Italienischen Fraktion des Kommunistischen Linken. Indem sie so verfuhr, war sie in der Lage gewesen, eine Reihe von Krisen zu überstehen und fundamentale Verhaltensprinzipien der Klasse aufrechtzuerhalten.

Jedoch wurde das Konzept der proletarischen Moral mehr implizit denn explizit hochgehalten, wurde es eher in empirischer Manier als theoretisch verallgemeinert in die Praxis umgesetzt. Angesichts massiver Vorbehalte der neuen Generation von Revolutionären nach 1968 gegenüber jeglichen Moralkonzepten, welche im Allgemeinen als notwendigerweise reaktionär betrachtet wurden, hielt es die Organisation für wichtiger, die Verhaltensweisen der Arbeiterklasse zu berücksichtigen, statt diese sehr allgemeine Debatte zu einer Zeit zu eröffnen, die noch nicht reif genug dafür war.

Fragen der Moral waren nicht das einzige Gebiet, wo die IKS auf diese Weise verfuhr. In den frühen Tagen der Organisation existierten ähnliche Vorbehalte gegenüber der Notwendigkeit der Zentralisierung oder der Intervention der Revolutionäre, der führenden Rolle der Organisation bei der Entwicklung von Klassenbewusstsein, der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Demokratismus oder der Anerkennung der Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Opportunismus und Zentrismus."

Dieser erste Artikel mit Auszügen des Textes behandelte folgende Themen:

- das Problem des Zerfalls und des Vertrauensverlustes im Proletariat und in der Menschheit insgesamt;

- die Ursachen für die Vorbehalte unter den Revolutionären gegenüber dem Konzept der proletarischen Moral nach 1968;

- die Natur der Moral;

- die Ethik, das heißt, die vor-marxistische Theorie der Moralität;

- der Marxismus und die Ursprünge der Moral;

- der Kampf des Proletariats gegen die bürgerliche Moral;

- die proletarische Moral.

In dieser Ausgabe werden wir mit der Veröffentlichung von Auszügen fortfahren und an den Kampf erinnern, der vom Marxismus gegen verschiedene Formen und Manifestationen der bürgerlichen Moral geführt wurde. Ferner werden wir auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung des Proletariats mit den Auswirkungen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft besonders auf seine Perspektive hinweisen, nämlich die Wiederaneignung eines sehr wesentlichen Elements seines Kampfes und seiner historischen Perspektive - die Solidarität.

Der marxistische Kampf gegen den ethischen Idealismus

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts behauptete die Bernsteinsche Strömung in der Zweiten Internationale, dass der Anspruch des Marxismus, eine wissenschaftliche Vorgehensweise zu sein, die Rolle der Ethik im Klassenkampf ausschließe. Davon ausgehend, dass sich wissenschaftliche und ethische Vorgehensweise gegenseitig negieren, befürwortete diese Strömung den Verzicht auf Erstere zugunsten Letzterer. Sie schlug die „Vervollständigung" des Marxismus durch die Ethik von Kant vor. Hinter ihrer Praxis, die Gier des einzelnen Kapitalisten zu verdammen, steckte die Entschlossenheit des bürgerlichen Reformismus, die fundamentale Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Kommunismus zu begraben.

Doch weit entfernt davon, die Ethik auszuschließen, führte die wissenschaftliche Vorgehensweise des Marxismus erstmals eine wirklich wissenschaftliche Dimension im gesellschaftlichen Denken und damit in die Moral ein. Der Marxismus entwirrte das Puzzle der Geschichte, weil er verstand, dass das wichtigste gesellschaftliche Verhältnis das zwischen der lebendigen Arbeitskraft und den toten Produktionsmitteln ist. Der Kapitalismus öffnete den Weg zu dieser Erkenntnis, so wie er den Weg zum Kommunismus ebnete, indem er die Ausbeutungsmechanismen entpersonalisierte.

In Wahrheit stellte der Ruf nach einer Rückkehr zur Ethik von Kant einen theoretischen Rückfall weit hinter den bürgerlichen Materialismus dar, der bereits die sozialen Ursprünge von „gut und böse" begriffen hatte. Seither hat jeder Fortschritt im gesellschaftlichen Wissen dieses Verständnis bekräftigt und vertieft. Dies trifft nicht nur auf den Fortschritt in der Wissenschaft zu, wie im Falle der Psychoanalyse, sondern auch auf die Künste. Wie Rosa Luxemburg schrieb: „Wie für Hamlet durch das Verbrechen seiner Mutter alle Bande der Menschheit aufgelöst, die Welt aus den Fugen ist, so für Dostojewski angesichts der Tatsache, dass ein Mensch einen Menschen ermorden kann. Er findet keine Ruhe, er fühlt die Verantwortung, die auf ihm wie auf jeden von uns für dies Entsetzliche lastet. Er muss sich die Psyche des Mörders klarmachen, seinen Leiden, seinen Qualen bis in die verborgenste Falte seines Herzens nachspüren. Er hat diese Foltern alle durchkostet und ist geblendet durch die furchtbare Erkenntnis: Der Mörder ist selbst das unglücklichste Opfer der Gesellschaft (...) Die Romane Dostojewskis sind die furchtbarste Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft, der er ins Gesicht schleudert: Der wahre Mörder, der Mörder der Menschenseelen bist du!"[1]

Diesen Standpunkt vertrat auch die junge proletarische Diktatur in Russland. Sie rief die Strafgerichte dazu auf, „vollkommen frei (zu sein) vom Geist der Revanche. Sie können nicht Rache an Leuten nehmen, nur weil sie in der bürgerlichen Gesellschaft gelebt haben."[2]

Nicht zuletzt dieses Verständnis, dass wir alle Opfer unserer Umstände sind, macht die marxistische Ethik zum fortgeschrittensten Ausdruck des moralischen Fortschritts bis heute. Diese Vorgehensweise schafft nicht die Moral ab, wie die Bourgeoisie behauptet, oder beseitigt die individuelle Verantwortung, wie es der kleinbürgerliche Individualismus gerne hätte. Stattdessen stellt sie einen gewaltigen Fortschritt darin dar, die Moral auf Verständnis statt auf Schuld - jenes Schuldgefühl, das den moralischen Fortschritt behindert, indem es die innere Persönlichkeit vom Mitmenschen abschneidet - zu stützen. Sie ersetzt den Hass von Menschen - diese Hauptquelle von anti-sozialen Trieben - durch die Empörung und die Revolte gegen gesellschaftliche Verhältnisse und Verhaltensweisen.

Die reformistische Kant-Nostalgie war in Wirklichkeit der Ausdruck einer Erosion des Kampfwillens. Die idealistische Interpretation der Moral versöhnte sich auf emotionaler Ebene mit der herrschenden Klasse, indem sie die Rolle der Moral bei der Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse leugnete. Doch das höchste Ideal der Menschheit, der innere Frieden und Einklang mit der umgebenden gesellschaftlichen und natürlichen Welt, kann nur durch einen beständigen Kampf erreicht werden. Die erste Bedingung des menschlichen Glücks ist die Kenntnis darüber, was notwendig ist, ist das freiwillige Dienen für eine große Sache.

Kant verstand den widersprüchlichen Charakter der bürgerlichen Moral weitaus besser als die bürgerlichen Utilitaristen wie Bentham.[3] Insbesondere begriff er, dass ungezügelter Individualismus selbst in der positiven Form des Strebens nach persönlichem Glück zur Auflösung der Gesellschaft führen kann. Die Tatsache, dass es innerhalb des Kapitalismus nicht nur Gewinner im Konkurrenzkampf geben kann, bewirkt unvermeidlich die Trennung zwischen Pflicht und Neigung. Kants Beharren auf den Vorrang der Pflicht korrespondiert mit der Auffassung, dass das höchste Gut der bürgerlichen Gesellschaft nicht das Individuum, sondern der Staat und besonders die Nation ist. In der bürgerlichen Moralität besitzt der Patriotismus einen viel höheren Stellenwert als die Menschenliebe. In der Tat lauerte hinter dem Mangel an Empörung innerhalb der Arbeiterbewegung über den Reformismus bereits die Erosion des proletarischen Internationalismus.

Für Kant ist eine moralische Handlung, die vom Pflichtgefühl motiviert wird, von größerem ethischem Wert als jene, die mit Begeisterung, Leidenschaft und Freude ausgeübt wird. Hier ist der ethische Wert mit dem Verzicht, mit der Idealisierung der Selbstaufopferung durch die nationalistische und staatliche Ideologie aufs Engste verknüpft. Das Proletariat lehnt diesen unmenschlichen Opferkult um seiner selbst willen, den die Bourgeoisie von der Religion geerbt hat, rigoros ab. Auch wenn der Kampfwille notgedrungen die Leidensbereitschaft mit einschließt, hat die Arbeiterbewegung niemals aus solch einem notwendigen Übel eine moralische Qualität gemacht. Tatsächlich haben schon vor dem Marxismus die besten Beiträge zur Ethik stets die pathologischen und unmoralischen Konsequenzen solch einer Vorgehensweise unterstrichen. Denn im Gegensatz zu dem, was die bürgerliche Ethik glaubt, heiligt die Selbstaufopferung nicht jedes unwerte Ziel.

Wie Franz Mehring betonte, repräsentierte selbst Schopenhauer, der seine Ethik auf das Mitgefühl statt auf die Pflicht stützte, im Verhältnis zu Kant einen Fortschritt.[4]

Die bürgerliche Moral, unfähig, sich die Überwindung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Egoismus und Altruismus auch nur vorzustellen, bezieht Stellung zugunsten des einen gegen den anderen oder sucht nach einem Kompromiss zwischen beiden. Sie ist nicht in der Lage zu begreifen, dass das Individuum selbst einen sozialen Charakter besitzt. Entgegen der idealistischen Moral vertritt der Marxismus den moralischen Idealismus der Freuden spendenden Aktivität als einen der wichtigsten Aktivposten in der Erhebung gegen die niedergehende Klasse.

Eine andere Attraktion der Kantschen Ethik bestand für den Opportunismus darin, dass ihre Formulierung des „kategorischen Imperativs" eine Art Kodex in Aussicht stellte, mit dem sämtliche moralischen Konflikte automatisch gelöst werden können. Nach Kant ist die Gewissheit, dass man im Recht ist, ein Merkmal der moralischen Handlungsweise (...) Auch hier drückt sich der Wille aus, den Kampf zu umgehen.

Der dialektische Charakter der Moral, der die Tugend und Untugend im konkreten Leben nicht immer leicht unterscheidbar macht, wird verleugnet. Wie Josef Dietzgen betonte, kann die Vernunft den Verlauf einer Handlung nicht im Voraus bestimmen, da jedes Individuum und jede Situation einmalig und unvorhersehbar sind. Es müssen komplexe moralische Probleme studiert werden, um zu einem Verständnis und zu einer kreativen Lösung zu gelangen. Dies kann gelegentlich eine besondere Untersuchung oder die Etablierung eines spezifischen Organs erforderlich machen, wie die Arbeiterbewegung lange Zeit verstanden hat.[5]

In Wahrheit sind moralische Konflikte ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens - nicht nur innerhalb der Klassengesellschaft. Beispielsweise können verschiedene ethische Prinzipien (...) oder verschiedene Ebenen der Sozialisation des Menschen (die Verantwortung gegenüber der Klasse, der Familie, dem persönlichen Gleichgewicht, etc.) miteinander in Konflikt treten. Dies erfordert die Bereitschaft, mit der momentanen Ungewissheit zu leben, um eine wirkliche Prüfung zu erlauben und der Versuchung zu widerstehen, das eigene Gewissen zum Schweigen zu bringen; es erfordert die Fähigkeit, seine eigenen Vorurteile zu hinterfragen, vor allem aber eine rigorose, kollektive Methode der Klärung.

Im Kampf gegen den Neo-Kantianismus zeigte Kautsky, wie der Beitrag Darwins über den biologischen, animalischen Ursprung des Gewissens das stärkste Bollwerk der idealistischen Moral zerschlug. Diese unsichtbare Kraft, diese kaum hörbare Stimme, die nur in den Tiefen der Persönlichkeit vernehmbar ist, war stets der Kern der ethischen Kontroverse gewesen. Die idealistische Moral war im Recht, wenn sie darauf bestand, dass das Gewissen nicht durch die Angst vor der öffentlichen Meinung oder vor Sanktionen durch die Mehrheit erklärt werden kann. Im Gegenteil, das Gewissen kann uns zwingen, uns der öffentlichen Meinung und Repression zu widersetzen oder unser Handeln zu bedauern, obwohl es auf allgemeine Zustimmung stößt. „Daher seine geheimnisvolle Natur, diese Stimme in uns, die mit keinem äusserlichen Anstoss, keinem sichtbaren Interesse zusammenhängt; dieser Dämon oder Gott, den seit Sokrates und Plato bis Kant jene Ethiker in sich empfanden, die es ablehnten, die Ethik aus der Selbstliebe oder der Luft abzuleiten. Sicher ein geheimnisvoller Drang, aber nicht geheimnisvoller als die Geschlechtsliebe, die Mutterlieb, der Selbsterhaltungstrieb, das Wesen des Organismus überhaupt und so viele andere Dingen, die nur der Welt der ´Erscheinungen´ angehören und die niemand als Produkt einer übersinnlichen Welt ansehen wird. Weil das Sittengesetz ein tierischer Trieb ist, der den Trieben der Selbsterhaltung und Fortpflanzung ebenbürtig, deshalb seine Kraft, deshalb sein Drängen, dem wir ohne zu überlegen gehorchen, deshalb unsere rasche Entscheidung in einzelnen Fällen...".[6]

Diese Schlussfolgerungen sind seitdem von der Wissenschaft bestätigt worden, zum Beispiel durch Freud, der darauf bestand, dass die entwickeltsten und sozialisiertesten Tiere grundsätzlich einen ähnlichen psychischen Apparat wie der Mensch besitzen und an vergleichbaren Neurosen leiden. Doch Freud hat nicht nur unser Verständnis in diesen Fragen vertieft. Wegen der Vorgehensweise der Psychoanalyse, die nicht nur untersucht, sondern auch eingreift, therapiert, teilt sie mit dem Marxismus das Anliegen einer fortschreitenden Entwicklung des moralischen Apparates des Menschen.

Freud unterschied zwischen den Trieben („Es"), dem „Ego", das ihn die Umwelt kennen lernen lässt und die Existenz sichert (eine Art Realitätsprinzip), und dem „Über-Ich", das das Gewissen enthält und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gewährt. Obwohl Freud manchmal polemisch behauptete, das das Gewissen „nichts anderes als gesellschaftliche Furcht" sei, macht seine ganze Auffassung, wie Kinder die Moral der Gesellschaft verinnerlichen, deutlich, dass dieser Prozess von der emotionalen Liebe zu den Eltern und deren Akzeptanz als nachahmenswerte Beispiele abhängt.[7] (...)

Freud untersuchte auch die Interaktion zwischen bewussten und unbewussten Faktoren des Gewissens selbst. Das Über-Ich entwickelt die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Das Ego kann und muss seinerseits in der Lage sein, über die Reflexionen des Über-Ichs nachzudenken. Erst durch diese „Doppelreflexion" wird der Verlauf einer Handlung zu einem bewussten Akt des Menschen.

Dies entspricht der marxistischen Sichtweise, dass der moralische Apparat des Menschen auf sozialen Triebkräften beruht, dass er aus unbewussten, halbbewussten und bewussten Komponenten besteht, dass mit dem Fortschreiten der Menschheit die Rolle der bewussten Faktoren wächst, bis mit dem revolutionären Proletariat die Ethik, auf einer wissenschaftlichen Methode basierend, immer mehr zur Richtschnur des moralischen Verhaltens wird, und dass im Gewissen selbst der moralische Fortschritt untrennbar mit der Stärkung des Bewusstseins zu Lasten der Schuldgefühle verknüpft ist.[8] Der Mensch kann in wachsendem Maße Verantwortung übernehmen, und dass nicht nur gegenüber seinem Gewissen, sondern auch hinsichtlich der Inhalte seiner eigenen moralischen Werte und Überzeugungen.

Der marxistische Kampf gegen den ethischen Utilitarismus

Trotz seiner Schwächen repräsentierte der bürgerliche Materialismus, besonders in seiner utilitaristischen Form - mit dem Konzept, dass die Moral Ausdruck realer, objektiver Interessen ist - , einen enormen Fortschritt in der ethischen Theorie. Er ebnete den Weg für ein historisches Verständnis der moralischen Entwicklung. Indem er den relativen Übergangscharakter aller moralischen Systeme enthüllte, versetzte er der religiösen und idealistischen Vision eines ewigen, unveränderlichen, vermeintlich Gott gegebenen Kodex‘ einen schweren Schlag.

Wie wir gesehen haben, zog die Arbeiterklasse bereits sehr früh ihre eigenen, sozialistischen Schlüsse aus dieser Vorgehensweise. Obgleich frühe sozialistische Theoretiker wie Robert Owen oder William Thompson weit über die Philosophie eines Jeremy Bentham - den sie als Ausgangspunkt benutzten - hinausgingen, übte die utilitaristische Vorgehensweise selbst nach dem Erscheinen des Marxismus einen starken Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung aus. Die Frühsozialisten revolutionierten Benthams Theorie, indem sie seine Hauptvoraussetzungen auf gesellschaftliche Klassen statt auf Individuen anwandten und so den Weg zum Verständnis des gesellschaftlichen Klassencharakters der Geschichte der Moral öffneten. Und die Erkenntnis, dass Sklavenhalter nicht denselben Wertekatalog haben wie Kaufleute oder dass Wüstennomaden dieselbe Moral haben wie Bergschäfer, ist bereits nachdrücklich von der im Kielwasser der kolonialen Expansion entstandenen Anthropologie bestätigt worden. Der Marxismus hat von diesen vorbereitenden Arbeiten profitiert, so wie er auch von den Studien Morgans oder Maurers, die die „Genealogie der Moral" ins Licht gerückt haben, profitiert hat.[9] Doch trotz des Fortschritts, den er verkörperte, ließ dieser Utilitarismus auch in seiner proletarischen Form eine Reihe von Fragen ungelöst.

Erstens: Wenn die Moral nichts anderes ist als die Kodifizierung der materiellen Interessen, wird die Moral selbst überflüssig und verschwindet als gesellschaftlicher Faktor. Der britische Radikalmaterialist Mandeville hatte bereits in diesem Zusammenhang behauptet, dass die Moral nichts als Heuchelei sei, die dazu diene, die eigentlich Interessen der herrschenden Klassen zu verbergen. Später sollte Nietzsche etwas unterschiedliche Schlussfolgerungen aus derselben Prämisse ziehen: dass die Moral das Mittel der schwachen Masse sei, um die Herrschaft der Eliten zu verhindern, so dass die Befreiung Letzterer das Eingeständnis erfordere, dass für sie alles erlaubt sei. Doch wie Mehring betonte, ist die angebliche Abschaffung der Moral in Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse" nichts anderes als die Etablierung einer neuen Moral - eine Moral des reaktionären Kapitalismus in seinem Hass auf das sozialistische Proletariat, eine Moral, die sich von den Fesseln des kleinbürgerlichen Anstandes und der großbürgerlichen Respektabilität befreit.[10] Insbesondere beinhaltet die Identität von Interesse und Moral, dass, wie die Jesuiten bereits behauptet hatten, der Zweck die Mittel heiligt.[11]

Zweitens: Indem die gesellschaftlichen Klassen als „kollektive Individuelle" postuliert werden, die lediglich ihre eigenen Interessen verfolgen, erscheint die Geschichte als bedeutungsloses Hauen und Stechen, als eine Angelegenheit, die vielleicht für die verwickelten Klassen wichtig ist, aber nicht für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Diese Sichtweise stellt einen Rückschritt gegenüber Hegel dar, der (wenn auch in einer mystifizierten Form) nicht nur die Relativität aller Moral bereits verstanden hatte, sondern auch den progressiven Charakter emporstrebender ethischer Systeme, die gegen die bestehende Moral verstießen. (In diesem Sinn erklärte Hegel: „Man kann der Meinung sein etwas Grossartiges zu sagen wenn man behauptet: Der Mensch ist von Natur aus gut. Doch man vergisst, dass man etwas viel Grösseres sagt mit der Aussage: Der Mensch ist von Natur aus schlecht."[12]

Drittens: Die utilitaristische Herangehensweise führt zu einem sterilen Rationalismus, der die sozialen Gefühle aus dem ethischen Leben tilgt.

Die negativen Konsequenzen dieser bürgerlichen, utilitaristischen Überbleibsel wurden in dem Moment sichtbar, als mit der Ersten Internationale die Arbeiterbewegung begann, die Sektenphase zu überwinden. Die Untersuchung des Komplotts der Allianz gegen die Internationale - insbesondere die Kommentare von Marx und Engels über Bakunins „Revolutionskatechismus" - enthüllen, dass die „alleszerstörenden Anarchisten (...) die Anarchie in die Moral ein (führen), indem sie die Unsittlichkeit der Bourgeoisie aufs äußerste übertreiben". Der Bericht, der vom Haager Kongress 1872 in Auftrag gegeben wurde, zählt die einzelnen Elemente aus Bakunins Anschauung auf: Der Revolutionär hat keine persönlichen Interessen, Angelegenheiten, Gefühle oder Neigungen; er hat nicht nur mit der bürgerlichen Ordnung gebrochen, sondern auch mit der Moral und den Sitten der gesamten zivilisierten Welt; er sieht in allem, was den Triumph der Revolution fördert, eine Tugend und in allem, was sie behindert, eine Laster; er ist stets bereit, alles zu opfern, einschließlich seinen eigenen Willen und seine Persönlichkeit; er unterdrückt alle Gefühle der Freundschaft, Liebe oder Dankbarkeit; er zögert niemals, Menschen, falls nötig, zu liquidieren; er kennt keinen anderen Wertekanon als den Maßstab der Nützlichkeit.

Tief empört über dieses Vorgehen, nannten Marx und Engels dies die Moral der Gosse, des Lumpenproletariats. Genauso grotesk wie infam und autoritärer als der primitivste Kommunismus, wird die Revolution bei Bakunin „zu einer Reihe von erst einzelnen individuellen, dann Massenmorden; die einzige Verhaltensregel ist die gesteigerte Jesuitenmoral...".[13]

Wie wir wissen, hat die Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit die Lehren aus dem Kampf gegen den Bakunismus nicht allzu tief assimiliert. In seinem „Historischen Materialismus" präsentierte Bucharin die ethischen Normen als bloßes Regelwerk. Die Taktik ersetzte die Moral. Noch konfuser war die Haltung von Lukacs gegenüber der Revolution. Nachdem er ursprünglich das Proletariat als die Verwirklichung des moralischen Idealismus von Kant und Fichte dargestellt hatte, wandte Lukacs sich dem Utilitarismus zu. In „Was bedeutet revolutionäres Handeln?" (1919) erklärte er: „Die Herrschaft der Gesamtheit über die Teile bedeutet (...) die entschlossene, zu allem bereite Selbstaufopferung (...) Derjenige ist ein Revolutionär (...), der zu allem bereit ist, wenn es um die Verwirklichung dieser Interessen geht."

Doch die Stärkung der utilitaristischen Moral nach 1917 in der UdSSR war vor allem eine Widerspiegelung der Bedürfnisse des Übergangsstaates. In seiner „Moral und Klassennormen" präsentierte Preobraschenski die revolutionäre Organisation als eine Art moderne Klosterordnung. Er wollte sogar den Geschlechtsverkehr den Prinzipien einer erbhygienischen Selektion unterordnen, und zwar in einer Welt, in welcher der Unterschied zwischen Individuum und Gesellschaft abgeschafft worden sei und Emotionen den Befunden der Naturwissenschaften unterworfen seien. Selbst Trotzki war nicht frei von diesem Einfluss, vertrat er doch in „Ihre Moral und unsere" faktisch den Standpunkt, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Es ist sicherlich richtig, dass jede Gesellschaftsklasse dazu neigt, das „Gute" und „Sittliche" in ihrem Interesse zu interpretieren. Nichtsdestotrotz sind Interessen und Moral nicht identisch. Der Einfluss der Klassen auf gesellschaftliche Werte ist äußerst vielgestaltig und verkörpert die Stellung einer gegebenen Klasse im Produktionsprozess und im Klassenkampf, ihre Traditionen, Ziele und Zukunftserwartungen, ihren Anteil an der Kultur. All dies manifestiert sich in der Form der Lebensweise, der Emotionen, der Intuitionen und Bestrebungen.

Im Gegensatz zur utilitaristischen Vermengung von Interessen und Moral (oder „Pflicht", wie er hier formuliert) unterscheidet Dietzgen zwischen beiden. „Das Interesse ist mehr das konkrete, gegenwärtige, handgreifliche Heil; die Pflicht dagegen das erweiterte, auch auf die Zukunft bedachte, allgemeine Heil (...) verlangt die Pflicht dagegen, dass wir nicht nur einen Teil, auch das Ganze, nicht nur gegenwärtige, nächste, auch das entfernte, künftige, nicht nur das leibliche, auch das geistige Wohl im Auge halten. Die Pflicht kümmert sich auch um das Herz, um die sozialen Bedürfnisse, die Zukunft, das Seelenheil, kurz um die Interessen im Großen und Ganzen und schärft uns ein, dem Überflüssigen zu entsagen, um das Notwendige zu erlangen und zu erhalten."[14]

In Reaktion auf die idealistische Befürwortung einer unveränderlichen Moral geht der soziale Utilitarismus ins andere Extrem, indem er so einseitig auf ihren Übergangscharakter beharrt, dass er die Existenz gemeinsamer Werte, die die Gesellschaft zusammenhalten, und den ethischen Fortschritt aus den Augen verliert. Die Kontinuität des Gemeinschaftsgefühls ist jedoch keine metaphysische Fiktion.

Dieser „übertriebene Idealismus" sieht die einzelnen Klassen und ihren Kampf, aber „nicht den totalen gesellschaftlichen Prozess, die Verbindung zwischen den verschiedenen Episoden, versagt also darin, die unterschiedlichen Stufen der moralischen Entwicklung als Teile eines in Wechselbeziehungen stehenden Prozesses zu unterscheiden. Er besitzt keinen allgemeinen Standard, um die verschiedenen Regeln zu würdigen, ist unfähig, über die unmittelbaren und temporären Erscheinungen hinauszugehen. Er setzt die verschiedenen Erscheinungsformen nicht durch die Mittel des dialektischen Denkens zu einer Einheit zusammen."[15]

Bezüglich des Verhältnisses zwischen Zweck und Mittel lautet die korrekte Formulierung nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt, sondern dass der Zweck die Mittel beeinflusst und die Mittel ihrerseits den Zweck beeinflussen. Beide Seiten des Gegensatzes bestimmen sich wechselseitig und bedingen einander. Mehr noch, sowohl der Zweck als auch die Mittel sind Glieder in einer historischen Kette, wo jeder Zweck umgekehrt ein Mittel ist, um ein weiterreichendes Ziel anzustreben. Daher muss eine methodische und ethische Rigorosität Anwendung finden, die den ganzen Prozess erfasst; eine Methode, die sich auch auf die Vergangenheit und Zukunft und nicht nur auf das Unmittelbare bezieht. Mittel, die nicht einem gegebenen Zweck entsprechen, dienen lediglich dazu, ihn zu deformieren und von ihm abzulenken. Das Proletariat kann zum Beispiel die Bourgeoisie nicht besiegen, indem es ihre Waffen benutzt. Die Moral des Proletariats richtet sich sowohl nach der gesellschaftlichen Realität als auch nach sozialen Emotionen. Daher lehnt es sowohl das dogmatischen Ausschließen von Gewalt als auch das Konzept der moralischen Gleichgültigkeit gegenüber den angewandten Mitteln ab.

In seinem falschen Verständnis der Verknüpfung von Mittel und Zweck meint Preobraschenski auch, dass das Schicksal der einzelnen Teile - und insbesondere der Individuen - unwichtig sei und bedenkenlos dem Interesse des Ganzen geopfert werden könne. Dies war jedoch nicht die Haltung von Marx, der erkannte, dass die Pariser Kommune zu früh kam, und sich dennoch aus Solidarität mit ihr verbündete, und auch nicht die Haltung von Eugen Levine aus der noch jungen KPD, der der dahinscheidenden Münchener Räteregierung beitrat - deren Ausrufung sich die KPD noch widersetzt hatte - , um ihre Verteidigung zu organisieren und so die Zahl der proletarischen Opfer zu minimieren. Das einseitige Kriterium des Klassennutzens dagegen lässt faktisch Spielraum für eine sehr bedingte Klassensolidarität.

Wie Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Bernstein betonte, besteht der prinzipielle Widerspruch im Herzen der proletarischen Bewegung darin, dass der tägliche Kampf innerhalb des Kapitalismus stattfindet, während das Ziel außerhalb desselben liegt und einen fundamentalen Bruch mit jenem System darstellt. Infolgedessen ist der Gebrauch von Gewalt und Täuschung gegen den Klassenfeind notwendig und das Auftreten von Klassenhass und anti-sozialen Aggressionen kaum zu vermeiden. Doch das Proletariat ist moralisch nicht gleichgültig gegenüber solchen Manifestationen. Auch wenn es selbst Gewalt anwendet, darf es niemals vergessen, dass - wie Pannekoek sagte - sein Ziel darin besteht, die Köpfe aufzuklären, und nicht darin, sie zu zerschmettern. Und wie Bilan[16] aus den russischen Erfahrungen schloss, sollte, wo immer es geht, der Gebrauch von Gewalt gegen andere nicht-ausbeutende Schichten vermieden werden und muss gänzlich und prinzipiell aus den Reihen der Arbeiterklasse ausgeschlossen werden. Selbst unter den Begleitumständen des Bürgerkriegs gegen den Klassenfeind muss sie von der Notwendigkeit überzeugt sein, dem Aufkommen anti-sozialer Gefühle wie Rache, Grausamkeit, Zerstörungswut entgegenzuwirken, da diese zur Brutalisierung führen und das Bewusstsein trüben. Solche Gefühle signalisieren das Eindringen fremder Klasseneinflüsse. Es kam nicht von ungefähr, dass Lenin nach der Oktoberrevolution erkannte, dass die Hebung des kulturellen Bildungsgrades der Massen die - nach der Ausdehnung der Weltrevolution - höchste Priorität haben sollte. Wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass es die Erkenntnis von der Grausamkeit und moralischen Indifferenz Stalins war, die Lenin (in seinem Testament) befähigte, die von ihm ausgehende Gefahr zu erkennen.

Die Mittel, die vom Proletariat angewendet werden, müssen soweit wie möglich sowohl mit seinen Zielen als auch mit den sozialen Emotionen korrespondieren, die seinem Klassencharakter entsprechen. Es war nicht zuletzt im Namen dieser Gefühle, dass das Programm der KPD vom 14. Dezember 1918 zwar resolut die Notwendigkeit der Klassengewalt vertrat, aber gleichzeitig den Gebrauch von Terror ablehnte.

„Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte."[17]

Im Gegensatz dazu ist die Eliminierung der emotionalen Seite der Moral durch ein mechanistisches, utilitaristisches Vorgehen typisch bürgerlich. Gemäß diesem Vorgehen ist der Gebrauch von Lügen und Irreführungen moralisch höher zu bewerten, sofern diese der Erlangung eines gegebenen Zieles dienen. Doch die Lügen, die von den Bolschewiki in Umlauf gesetzt wurden, um die Repression von Kronstadt zu rechtfertigen, erodierten nicht nur das Vertrauen der Klasse in die Partei, sondern untergruben auch die Überzeugung der Bolschewiki selbst. Die Sichtweise, dass der Zweck die Mittel heiligt, leugnet praktisch die ethische Überlegenheit der proletarischen Revolution über die Bourgeoisie. Sie vergisst: Je mehr die Belange einer Klasse mit dem Wohl der gesamten Menschheit verknüpft sind, desto mehr kann diese Klasse auf ihre moralische Stärke bauen.

Das in der Welt des Business geläufige Motto, dass nur der Erfolg zählt, findet keine Anwendung auf die Arbeiterklasse. Das Proletariat ist die erste revolutionäre Klasse, deren endgültiger Sieg von einer Reihe von Niederlagen vorbereitet wird. Die unschätzbaren Lektionen, aber auch das moralische Beispiel der großen Revolutionäre und der großen Arbeiterkämpfe sind die Vorbedingungen für den künftigen Sieg.

Der Kampf gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls

In der gegenwärtigen historischen Periode ist die Bedeutung ethischer Fragen größer denn je. Die deutliche Tendenz zur Auflösung der soziale Bande und des Denkens in Zusammenhängen hat notgedrungen besonders negative Auswirkungen auf die Moral. Darüber hinaus ist die ethische Desorientierung innerhalb der Gesellschaft eine zentrale Komponente des Problems im Zentrum des Zerfalls der sozialen Bande. Die Blockade, die aus der Antwort der Bourgeoisie auf die Krise des Kapitalismus und der Antwort des Proletariats, zwischen Weltkrieg und Weltrevolution resultiert, ist direkt mit dem Bereich der gesellschaftlichen Ethik verknüpft. Die Überwindung der Konterrevolution durch eine neue und ungeschlagene Generation des Proletariats nach 1968 drückte nicht zuletzt die historische Diskreditierung des Nationalismus aus, vor allem in jenen Ländern, wo sich die stärksten Sektoren der Arbeiterklasse befanden. Doch andererseits sind die massiven Arbeiterkämpfe nach 1968 nicht von einer dementsprechenden Entwicklung der politischen und theoretischen Dimension des proletarischen Kampfes begleitet worden, insbesondere der ausdrücklichen und bewussten Bejahung des Prinzips des proletarischen Internationalismus. Als Folge ist keine der beiden Hauptklassen der zeitgenössischen Gesellschaft im Moment in der Lage, ihr eigenes Klassenideal einer sozialen Gemeinschaft durchzusetzen.

Im Allgemeinen ist die herrschende Moral in der Gesellschaft die Moral der herrschenden Klasse. Genau aus diesem Grunde muss jede dominante Moral, um den Interessen der herrschenden Klasse zu dienen, gleichzeitig Elemente von allgemeinem moralischen Interesse enthalten, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zusammenhalten. Eines dieser Elemente ist die Entwicklung einer Perspektive oder eines Ideals der sozialen Gemeinschaft. Solch ein Ideal ist ein unerlässlicher Faktor bei der Zügelung anti-sozialer Triebkräfte.

Wie wir gesehen haben, ist der Nationalismus das spezifische Ideal der bürgerlichen Gesellschaft. Dies entspricht der Tatsache, dass der Nationalstaat die höchste Einheit ist, die der Kapitalismus erreichen kann. Als der Kapitalismus in seine dekadente Phase trat, hörte jedoch der Nationalstaat definitiv auf, ein Vehikel des Fortschritts in der Geschichte zu sein, und wurde faktisch zum Hauptinstrument der gesellschaftlichen Barbarei. Schon lange bevor dies eintrat, war der Totengräber des Kapitalismus, die Arbeiterklasse - eben weil sie die Trägerin eines höheren, internationalistischen Ideals ist - , in der Lage gewesen, den betrügerischen Charakter der nationalen Gemeinschaft bloßzustellen. Obgleich die Arbeiter 1914 zunächst diese Lehre vergessen hatten, sollte der Erste Weltkrieg letztendlich die Haupttendenz nicht nur in der bürgerlichen Moral, sondern in der Moral aller ausbeutenden Klassen enthüllen. Diese besteht in der Mobilisierung der mutigsten und selbstlosesten sozialen Instinkte der ausgebeuteten, arbeitenden Klassen zu Gunsten der engstirnigsten und schmutzigsten Anliegen.

Doch ungeachtet ihres betrügerischen und immer barbarischeren Charakters ist die Nation das einzige Ideal, welches die Bourgeoisie vorbringen kann, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieses Ideal allein entspricht der heutigen Realität der staatlichen Strukturen in der bürgerlichen Gesellschaft. Daher sind all die anderen Ideale, die heute vorhanden sind - die Familie, die Lokalität, die religiöse, kulturelle oder ethnische Gemeinschaft, die Lifestyle-Szene oder die Gang - im Allgemeinen Ausdrücke des sich auflösenden Gesellschaftslebens, der Verfaulung der Klassengesellschaft.

Aber dies trifft genauso auf jene moralischen Anliegen zu, die sich an die gesamte Gesellschaft zu richten versuchen, dies jedoch auf der Grundlage des Interklassismus, der Klassen übergreifenden Aktion tun: der Humanitarismus, die Ökologie, „eine andere Globalisierung". Indem sie die Verbesserung des Individuums auf der Basis einer erneuerten Gesellschaft postulieren, bilden sie demokratistische Ausdrücke derselben individualistischen Fragmentierung der Gesellschaft. Überflüssig zu sagen, dass diese Ideologien ganz hervorragend der herrschenden Klasse in ihrem Bemühen passen, die Entwicklung einer proletarischen, internationalistischen Klassenalternative zum Kapitalismus abzublocken.

Innerhalb der Gesellschaft des Zerfalls können wir gewisse Züge mit direkten Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Werte identifizieren.

Erstens: Der Mangel an Perspektiven tendiert dazu, den Fokus des menschlichen Verhaltens auf die Gegenwart und die Vergangenheit zu richten. Wie wir gesehen haben, ist ein zentraler Bestandteil im rationalen Kern der Moral die Verteidigung der langfristigen Interessen gegen das Gewicht des Unmittelbaren. Die Abwesenheit einer langfristigen Perspektive begünstigt somit die Entsolidarisierung zwischen den Individuen und Gruppen der zeitgenössischen Gesellschaft, aber auch und besonders zwischen den Generationen. Sie mündet in der Neigung zur Pogrommentalität, d.h. zum zerstörerischen Hass gegen einen Sündenbock, der für das Verschwinden einer idealisierten, besseren Vergangenheit verantwortlich gemacht wird. Auf der Bühne der Weltpolitik können wir diese Tendenz in der Entwicklung des Antisemitismus, der antiwestlichen Haltung oder des Anti-Islamismus, in der Vervielfachung „ethnischer Säuberungen", im Aufstieg des politischen Populismus gegen Immigranten und in der Ghettomentalität unter den Immigranten selbst beobachten. Diese Mentalität neigt dazu, das gesellschaftliche Leben insgesamt zu durchdringen, wie die Entwicklung des Mobbings als allgemeines Phänomen veranschaulicht.

Zweitens: Die Entwicklung der gesellschaftlichen Ängste neigt zur Lähmung sowohl der sozialen Instinkte als auch des kohärenten Denkens - die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Solidarität und vor allem der Klassensolidarität heute. Diese Ängste sind das Resultat der gesellschaftlichen Atomisierung, die jedem Individuum das Gefühl verleiht, es sei allein mit seinen Problemen. Diese Einsamkeit färbt auf die Art und Weise ab, wie der Rest der Gesellschaft gesehen wird und macht die Reaktion anderer menschlicher Wesen immer unkalkulierbarer, gefährlicher und feindlicher. Diese Ängste - die in allen irrationalen Denkrichtungen aufblühen, die sich der Vergangenheit und der Leere zuwenden - sollten daher von jenen Ängsten unterschieden werden, die aus der wachsenden gesellschaftlichen Unsicherheit resultieren, welche von der Wirtschaftskrise ausgelöst wurde, und die zu einem mächtigen Impuls für eine Gegenreaktion wie die Klassensolidarität werden können.

Drittens: Der Mangel an Perspektiven und die Auflösung der sozialen Bande machen für zahllose Menschen das Leben sinnentleert. Diese nihilistische Atmosphäre ist prinzipiell für die Gesellschaft unerträglich, da sie der bewussten und sozialen Essenz der Menschheit widerspricht. Sie führte somit zu einer Reihe von eng miteinander verknüpften Phänomenen, von denen die wichtigsten die Entwicklung einer neuen Religiosität und einer Todessehnsucht sind.

In Gesellschaften, die hauptsächlich auf Naturalwirtschaft beruhen, ist die Religion vor allem Ausdruck der Rückständigkeit, der Ignoranz und der Angst vor den Kräften der Natur. Im Kapitalismus nährt sich die Religion hauptsächlich aus der gesellschaftlichen Entfremdung - aus der Angst vor den gesellschaftlichen Kräften, die unerklärlich und unkontrollierbar geworden sind. In der Epoche des kapitalistischen Zerfalls ist es vor allen Dingen der allgegenwärtige Nihilismus, der religiöse Sehnsüchte antreibt. Während die traditionelle Religion, so reaktionär ihre Rolle zumeist gewesen ist, immer noch Bestandteil einer kommunitarischen Weltsicht war und die modernisierte Religion der Bourgeoisie die Adoption dieser traditionellen Weltsicht in die Perspektiven der kapitalistischen Gesellschaft darstellte, speist sich der Mystizismus des kapitalistischen Zerfalls aus dem Nihilismus. Ob in der Form der reinen Zersplitterung esoterischer Seelenwanderer, des berüchtigten „Sich-selbst-Findens" außerhalb jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhangs oder in der Form der Festungsmentalität von Sekten und des religiösen Fundamentalismus, die die Auslöschung der Persönlichkeit und die Liquidierung der individuellen Verantwortung anbieten - all diese Tendenz sind, auch wenn sie behaupten, Antworten zu geben, in Wahrheit nichts anderes als extreme Ausdrücke dieses Nihilismus.

Darüber hinaus erwecken dieser Mangel an Perspektiven und die Auflösung der sozialen Bande den Anschein, als raube die biologische Tatsache des Todes dem individuellen Leben jegliche Bedeutung. Die daraus resultierende Morbidität (von der der Mystizismus heute zu einem beträchtlichen Umfang profitiert) drückt sowohl die unverhältnismäßig große Angst vor dem Tod als auch eine pathologische Sehnsucht nach ihm aus. Erstere konkretisiert sich zum Beispiel in der „hedonistischen" Mentalität der „Spaßgesellschaft" (deren Motto lauten könnte: „Esst, trinkt und seid fröhlich, denn morgen sterben wir"); Letztere endet mittels Kulten wie den Satanismus in Weltsekten und in der stetig wachsenden Verherrlichung der Gewalt, der Zerstörung und des Märtyrertums (wie im Falle der Selbstmordattentäter).

Der Marxismus hat sich als revolutionäre, materialistische Weltanschauung des Proletariats stets durch seine tiefe Zuwendung zur Welt und seine leidenschaftliche Bejahung des Wertes des menschlichen Lebens ausgezeichnet. Gleichzeitig hat sein dialektischer Standpunkt Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein als Teil einer unzertrennlichen Einheit verstanden. Weder hat er den Tod ignoriert, noch hat er dessen Rolle im Leben überbewertet. Die Menschheit ist Teil der Natur. Als solches sind das blühende Leben, aber auch Krankheit, Siechtum und Tod genauso Bestandteile ihrer Existenz wie die aufgehende Sonne oder der Fall der Blätter im Herbst. Doch der Mensch ist ein Produkt nicht nur der Natur, sondern auch der Gesellschaft. Als Erbe der Errungenschaften der menschlichen Kultur und als Träger ihrer Zukunft ist das revolutionäre Proletariat selbst mit den gesellschaftlichen Quellen einer wirklichen Stärke verbunden, deren Wurzeln die Klarheit des Gedankens sowie Brüderlichkeit, Geduld und Humor, Freude und Zuneigung, die reale Sicherheit eines gut begründeten Vertrauens sind.

Die Solidarität und die Perspektive des Kommunismus heute

Für die Arbeiterklasse ist die Ethik nicht etwas Abstraktes, das außerhalb ihres Kampfes steht. Die Solidarität, das Fundament ihrer Klassenmoral, ist gleichzeitig die erste Vorbedingung ihrer Fähigkeit, sich selbst im Kampf als Klasse zu bestätigen.

Heute sieht sich das Proletariat der Aufgabe gegenüber, seine Klassenidentität zurückzuerobern, die nach 1989 einen Rückschlag erlitten hatte. Diese Aufgabe ist nicht zu trennen vom Kampf um die Wiederaneignung seiner Traditionen der Solidarität.

Die Solidarität ist nicht nur eine zentrale Komponente des Tageskampfes der Arbeiterklasse, sondern trägt auch den Keim der künftigen Gesellschaft in sich. Diese beiden Aspekte, die sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen, beeinflussen sich wechselseitig. Die Wiederentdeckung der Klassensolidarität in den Arbeiterkämpfen ist ein wesentlicher Aspekt der gegenwärtigen Dynamik des Klassenkampfes und öffnet den Weg zu einer neuen revolutionären Perspektive. Und solch eine Perspektive wird, wenn sie sich auftut, umgekehrt zu einem mächtigen Faktor bei der Wiederverstärkung der Solidarität in den unmittelbaren Kämpfen des Proletariats sein.

Diese Perspektive ist also entscheidend angesichts der Probleme, mit denen die Dekadenz und der Zerfall des Kapitalismus die Arbeiterklasse konfrontiert. Zum Beispiel die Frage der Immigration: Im emporstrebenden Kapitalismus war die Position der Arbeiterbewegung, insbesondere der Linken, gleichbedeutend mit der Verteidigung der offenen Grenzen und der Bewegungsfreiheit der Arbeit. Dies war Teil des Minimalprogramms der Arbeiterklasse. Heute ist die Wahl zwischen offenen und geschlossenen Grenzen eine falsche Alternative, da nur die Abschaffung aller Grenzen diese Frage lösen kann. Unter den Bedingungen des Zerfalls neigt das Thema der Migration dazu, die Klassensolidarität auszuhöhlen und die Arbeiter gar mit der Pogrommentalität zu infizieren. Angesichts dieser Situation ist die Perspektive einer weltweiten Gemeinschaft, die auf Solidarität fußt, der wirksamste Faktor bei der Verteidigung des proletarischen Internationalismus.

Unter der Voraussetzung, dass die Arbeiterklasse nach einer langen Periode wachsender Kämpfe und politischer Denkprozesse ihre Klassenidentität wiedererlangen kann, kann die Anerkennung der tatsächlichen Unterminierung der sozialen Emotionen, Beziehungen und Verhaltensweisen durch den heutigen Kapitalismus zu einem Faktor werden, der das Proletariat dazu drängt, seine eigenen Klassenwerte zu entwickeln und bewusst zu formulieren. Die Empörung der Arbeiterklasse über das Verhalten, das vom zerfallenden Kapitalismus provoziert wird, und das Bewusstsein darüber, dass allein der proletarische Kampf eine Alternative bilden kann, sind von zentraler Bedeutung für das Proletariat, um seine revolutionäre Perspektive neu zu bekräftigen.

Die revolutionäre Organisation hat eine unverzichtbare Rolle in diesem Prozess zu spielen, nicht nur durch die Propagierung dieser Klassenprinzipien, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie selbst ein lebendiges Beispiel für ihre Praktizierung und Verteidigung gibt.

Abgesehen davon ist die Verteidigung der proletarischen Moral ein unverzichtbares Instrument im Kampf gegen den Opportunismus und somit bei der Verteidigung des Programms der Arbeiterklasse. Entschlossener denn je müssen sich die Revolutionäre durch einen kompromisslosen Kampf gegen fremdes Klassenverhalten in die Tradition des Marxismus stellen.

„Der Bolschewismus hat den Typ des wahren Revolutionärs geschaffen, der den historischen, mit der bestehenden Gesellschaft nicht zu versöhnenden Zielen die Bedingungen seines persönlichen Daseins, seine Ideen, seine sittlichen Kriterien unterwirft. Die nötige Distanz zur bürger-lichen Ideologie wurde in der Partei durch die wachsame Unver-söhnlichkeit, deren Inspirator Lenin war, aufrechterhalten. Er wurde nicht müde, mit der Lanzette zu arbeiten, um jene Bindun-gen zu zerschneiden, die die kleinbürgerliche Umgebung zwi-schen Partei und offizieller öffentlicher Meinung schuf. Gleich-zeitig lehrte Lenin die Partei, sich eine eigene öffentliche Meinung zu formen, die sich auf Gedanken und Gefühle der emporsteigen-den Klasse stützt. So schuf sich die bolschewistische Partei durch Auslese und Erziehung in ständigem Kampfe nicht nur ihr poli-tisches, sondern auch ihr moralisches, von der bürgerlichen öffent-lichen Meinung unabhängiges und dieser unversöhnlich entgegen-gesetztes Milieu. Nur dies allein hat den Bolschewiki ermöglicht, die Schwankungen in den eigenen Reihen zu überwinden und durch die Tat jene kühne Entschlossenheit zu entwickeln, ohne die der Oktobersieg nicht möglich gewesen wäre."[18]



[1] R. Luxemburg, Einleitung zu W. Korolenko - Die Geschichte meines Zeitgenossen, geschrieben im Strafgefängnis Breslau im Juli 1918.

[2] Bucharin und Preobraschenski, Das ABC des Kommunismus. Kommentare zum Programm des 8. Parteikongresses, 1919. Kapitel IX Proletarische Justiz, §74: Proletarische Strafmethoden.

[3] Jeremy Bentham (1748-1832) war ein britischer Philosoph, Jurist und Reformer. Er war ein Freund von Adam Smith und Jean-Baptiste Say, zwei der wichtigsten Ökonomen der Bourgeoisie zu einer Zeit, als Letztere noch eine revolutionäre Klasse war. Er beeinflusste „klassische" Philosophen wie John Stuart Mill, John Austin, Herbert Spencer, Henry Sidgwick und James Mill. Er unterstützte die Französische Revolution von 1789 und unterbreitete zahlreiche Vorschläge bezüglich der Etablierung der Rechtssprechung, der Judikative, von Gefängnissen, der politischen Organisationen des Staates und bezüglich der Kolonialpolitik („Emanzipiert eure Kolonien"). Die junge französische Republik ernannte ihn am 23. August 1792 zum Ehrenbürger. Sein Einfluss machte sich im Code civile (auch bekannt als „Code Napoleon", der noch heute die zivile Rechtssprechung in Frankreich beherrscht) bemerkbar. Der Gedanke von Bentham ging von folgendem Prinzip aus: Individuen können sich ihre Interessen nur im Verhältnis zu Strafe und Belohnung vorstellen. Sie versuchen, ihr Glück zu maximieren, was sich in einem Mehr an Belohnungen als an Strafe ausdrückt. Jedes Individuum muss gemäß einer hedonistischen Logik verfahren. Jede Handlung hat eine Zeitlang positive und negative Auswirkungen mit unterschiedlicher Intensität; also muss das Individuum jene Handlung begehen, die ihm die meiste Freude einbringt. Er gab dieser Doktrin 1781 den Namen Utilitarismus.

Bentham stellte eine Methode, „Die Kalkulation des Glücks und der Strafe", vor, die beabsichtigte, die Quantität an Freude und Strafe wissenschaftlich zu bestimmen, die durch unsere vielfältigen Handlungen geprägt sind. Es gibt sieben Kriterien:

- Dauer: eine lange und andauernde Freude ist nützlicher als eine vorübergehende Freude.

- Intensität: eine intensive Freude ist nützlicher als eine schwache Freude.

- Gewissheit: eine Freude ist nützlicher, wenn man sicher ist, dass sie wahr wird.

- Nähe: eine unmittelbare Freude ist nützlicher als eine Freude, die sich erst langfristig äußert.

- Ausdehnung: eine Freude, die mehrmals genossen wird, ist nützlicher als eine einzelne Freude.

- Fruchtbarkeit: eine Freude, die zu weiteren Freuden führt, ist nützlicher als eine einfache Freude.

- Reinheit: eine Freude, die nicht zu Leiden führt, ist nützlicher als eine Freude, die ein Risiko birgt.

- Theoretisch wird die moralischste Handlung jene sein, die die größte Zahl der Kriterien erfüllt.

[4] FranzMehring: Zurück zu Schopenhauer!, in: Neue Zeit, 1908/09.

[5] So hatten die meisten politischen Organisationen des Proletariats neben Organen der Zentralisierung, die sich mit den „laufenden Angelegenheiten" befassen, Organe wie die Kontrollkommission, die sich aus erfahrenen Mitgliedern zusammensetzten, welchen das größte Vertrauen entgegengebracht wurde und besonders mit heiklen Fragen beauftragt wurden, die sensible Aspekte des Verhaltens der Militanten innerhalb wie außerhalb der Organisation berührten.

[6] Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung., Kapitel Die sozialen Triebe.

[7] Bestätigt von der Beobachtung von Anna Freud, dass aus dem KZ befreite Waisen, während sie eine Art von rudimentärer egalitärer Solidarität unter ihresgleichen etablierten, kulturelle und moralische Standards gegenüber der Gesamtgesellschaft nur akzeptierten, wenn sie in kleineren „Familien"-Einheiten gruppiert waren, die jeweils von einer erwachsenen Respektsperson geleitet wurden, denen gegenüber die Kinder Zuneigung und Bewunderung entwickeln konnten.

[8] Kautskys Buch über die Ethik ist die erste verständliche marxistische Studie dieser Frage und auch sein Hauptbeitrag zur sozialistischen Theorie. Jedoch überschätzt er die Bedeutung des Beitrags von Darwin. Als Folge davon unterschätzt er die spezifisch menschlichen Faktoren der Kultur und des Bewusstseins, indem er zu einer statischen Sichtweise neigt, in der unterschiedliche Gesellschaftsformationen eigentlich unveränderliche soziale Impulse mehr oder weniger begünstigen oder behindern.

[9] Siehe zum Beispiel Paul Lafargue, Vom Ursprung der Ideen, 1885, wieder veröffentlicht in: Neue Zeit, 1899/1900.

[10] Franz Mehring: Über die Philosophie des Kapitalismus, 1891. Wir sollten hinzufügen, dass Nietzsche der Theoretiker der deklassierten Abenteurer und ihres Verhaltens ist.

[11] Die Vorhut der Konterrevolution gegen den Protestantismus, die Jesuiten, zeichnete sich durch die Aneignung der Methoden der Bourgeoisie bei ihrer Verteidigung gegen die Feudalkirche aus. Sie drückte daher schon sehr früh die Niederträchtigkeit der bürgerlichen Moral aus, lange bevor die bürgerliche Klasse in ihrer Gesamtheit (die damals noch eine revolutionäre Rolle spielte) die hässlichsten Seiten ihrer Klassenherrschaft enthüllte. Siehe zum Beispiel F. Mehring, Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters, 1910.

[12] Eine Bemerkung am Rande: Die vielleicht geeignetste Antwort auf die uralte Frage, ob die Menschheit gut oder böse ist, kann vielleicht gegeben werden, indem man aus Die heilige Familie von Marx und Engels zitiert, wo sie im Kapitel über Fleur de Marie aus dem Roman von Eugene Sue, Das Geheimnis von Paris schreiben: „Die Menschheit ist nicht gut oder böse, sie ist menschlich".

[13] Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation - Bericht über das Treiben Bakunins, 1873, Kapitel VIII: Die Allianz in Russland, MEW Bd. 18, S. 407.

[14] J. Dietzgen: Das Wesen der Kopfarbeit, 1869

[15] Henriette Roland-Holst: Communisme en moraal, 1925. Kapitel V Der ‚Sinn des Lebens‘ und die Aufgabe des Proletariats (eigene Übersetzung). Trotz einiger wesentlicher Schwächen enthält dieses Buch vor allem eine exzellente Kritik an der utilitaristischen Moral.

[16] Französischsprachige Zeitschrift der Linken Fraktion der Italienischen Kommunistischen Partei (später die italienische Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken).

[17] Was will der Spartakusbund?, in: Ges. Werke Bd. 4, S. 440 ff. Hier und in anderen Schriften von Rosa Luxemburg finden wir ein tiefes Verständnis der Klassenpsychologie des Proletariats. (Eine leicht veränderte englische Übersetzung dieser Passage kann man in Selected Political Writings of Rosa Luxemburg, Monthly Review Press, 1971, lesen).

[18] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Kapitel: Lenin ruft zum Aufstand (Ausgabe: Fischer-Taschenbuch Bd. 2.2. S. 831)

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

Theoretische Fragen: 

Erbe der kommunistischen Linke: