16. Kongress der IKS: Resolution über die Internationale Situation

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1. Rosa Luxemburg  schrieb 1916 in der Einleitung der Juniusbroschüre zur historischen Bedeutung des 1. Weltkriegs: „Friedrich Engels sagt einmal: ‘Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.’ Was bedeutet ein ‘Rückfall in die Barbarei’ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor 40 Jahren, vorhersagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein grosser Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode; den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder – Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.“ (Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 62)

Der Krieg im dekadenten Kapitalismus

2. Fast 90 Jahre später bestätigt der Verlauf der Geschichte die Klarheit und Genauigkeit der  Diagnose Luxemburgs. Rosa behauptete, dass der Konflikt, der im Jahr 1914 begann, eine Periode der Weltkriege eröffnet hatte, die, wenn sie ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte,  zur Zerstörung der Zivilisation führt. Nur 20 Jahre, nachdem die erhoffte Rebellion des Proletariats den  Krieg gestoppt hatte, aber es nicht geglückt war, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten, brach ein zweiter imperialistischer Weltkrieg aus, der den ersten in der Intensität und dem Ausmass seiner Barbarei weit übertraf, die sich nun nicht nur in einer industrialisierten Massenvernichtung der Menschen auf den Schlachtfeldern zeigte, sondern vor allem im Genozid ganzer Völker, in Massakern grossen Ausmasses an Zivilisten, ob in den Todeslagern von  Auschwitz und Treblinka oder in den Feuerstürmen von Coventry, Hamburg, Dresden, Hiroshima und Nagasaki. Allein die Geschehnisse  der Periode 1914–45 reichen aus, um zu bestätigen, dass die kapitalistische Gesellschaft unumkehrbar in ihre Epoche des Niedergangs  eingetreten war, dass sie ein grundlegendes Hindernis für die Bedürfnisse der Menschheit geworden war.

 

3. Entgegen der Propaganda der herrschenden Klasse haben die 60 Jahre seit1945 in keiner Weise diese Schlussfolgerung entkräftet – so als könne der Kapitalismus in dem einen Jahrzehnt sich auf seinem historischen Abstieg befinden und ihm im nächsten Jahrzehnt wie durch ein Wunder wieder entwischen. Noch vor Ende des zweiten imperialistischen Gemetzels begannen neue militärische Blöcke um die Kontrolle des Erdballs  zu rangeln; die USA zögerten das Ende des Kriegs gegen Japan sogar absichtlich hinaus, nicht um das Leben ihrer Soldaten zu schonen, sondern um  in spektakulärer Weise ihre Furcht erregende  militärische Stärke zur Schau zu stellen, indem sie Hiroshima und Nagasaki auslöschten – eine Zurschaustellung, die sich nicht in erster Linie gegen das besiegte Japan richtete, sondern gegen den neuen russischen Feind. Doch innerhalb kurzer Zeit hatten beide neuen Blöcke sich mit Waffen ausgerüstet, die nicht nur fähig waren, die Zivilisation zu zerstören, sondern das gesamte Leben auf unserem Planeten auszulöschen. Die nächsten fünf Jahrzehnte lebte die Menschheit im Schatten der gegenseitig angedrohten Zerstörung (Mutually Assured Destruction – MAD). In den „unterentwickelten“ Regionen der Welt hungerten Millionen, aber die Kriegsmaschinerie der grossen imperialistischen Mächte wurde mit allen Ressourcen der menschlichen Arbeit und Genialität versorgt, die ihr unersättlicher Schlund forderte; Millionen starben in den „nationalen Befreiungskriegen“ in Korea, Vietnam, auf dem indischen Subkontinent, in Afrika und im Nahen Osten, durch welche die Supermächte ihre mörderischen Rivalitäten austrugen.

 

4. MAD war der von der Bourgeoisie vorgeschobene Hauptgrund dafür, dass die Welt von einem dritten und wahrscheinlich letzten imperialistischen Holocaust verschont blieb. Wir sollten also die Bombe lieben lernen. In Tat und Wahrheit wurde ein 3. Weltkrieg aus anderen Gründen verhindert:

   In einer Anfangsphase war es für die neu gebildeten imperialistischen Blöcke notwendig, sich zu ordnen und neue ideologische Themen einzuführen, um die Bevölkerung gegen einen neuen Feind zu mobilisieren. Darüber hinaus ermöglichte der Wirtschaftsboom, der mit dem Wiederaufbau der im 2. Weltkrieg zerstörten Länder verbunden war – finanziert durch den Marshall-Plan –, eine gewisse Beruhigung der imperialistischen Spannungen.

   In einer weiteren Phase, als der durch den Wiederaufbau eingeleitete Boom Ende der 1960er Jahre zu Ende ging, stand der Kapitalismus nicht mehr einem besiegten Proletariat gegenüber wie in der Krise der 30er Jahre, sondern einer neuen Generation von Arbeitern, die durchaus bereit war, ihre eigenen Klasseninteressen gegen die Forderungen ihrer Ausbeuter zu verteidigen. In der Zeit des dekadenten Kapitalismus erfordert ein Weltkrieg eine totale und aktive Mobilisierung des Proletariats: Die internationalen Wellen von Arbeiterkämpfen, die mit dem Generalstreik in Frankreich im Mai 1968 begannen, zeigten, dass die Bedingungen für solch eine Mobilisierung in den 1970er und 1980er Jahren fehlten.

 

5. Das Endergebnis der langen Rivalität zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Block war somit nicht ein Weltkrieg, sondern der Zusammenbruch des Ostblocks. Ausserstande, wirtschaftlich mit den weit mächtigeren USA zu konkurrieren, unfähig seine starren politischen Institutionen zu reformieren, militärisch eingekreist von seinem Rivalen  und – wie die Massenstreiks in Polen 1980 zeigten – nicht in der Lage, das  Proletariat hinter seinen Kurs zum  Krieg zu ziehen, implodierte der imperialistische russische Block 1989. Dieser Triumph des Westens wurde sofort als die Morgendämmerung einer neuen Periode des Weltfriedens und Wohlstands bejubelt; doch die weltweiten imperialistischen Konflikte nahmen lediglich eine neue Form an, da an die Stelle der Einheit des westlichen Blocks heftige Rivalitäten zwischen seinen früheren Bestandteilen traten und ein wiedervereinigtes Deutschland seine Kandidatur für eine grosse Weltmacht stellte, welche künftig mit den USA konkurrieren wollte. In dieser neuen Phase imperialistischer Konflikte war ein Weltkrieg noch weniger auf der Tagesordnung der Geschichte, und zwar aus folgenden Gründen:

   Die Formierung neuer militärischer Blöcke wurde durch die internen Spannungen  zwischen jenen Mächten verzögert, die die logischen Mitglieder eines neuen Blocks gegen die USA wären, insbesondere durch die Spannungen  zwischen den wichtigsten europäischen Mächten Deutschland, Frankreich und Grossbritannien. Grossbritannien hat seine traditionelle Politik nicht aufgegeben, mit der es versucht sicherzustellen, dass keine Grossmacht eine Vorherrschaft über Europa aufbauen kann, während Frankreich aus triftigen historischen Gründen den Versuchen Deutschlands, es zu unterwerfen, Grenzen setzt. Mit dem Zusammenbruch der Disziplin in den alten beiden Blöcken geht der vorherrschende Trend in den internationalen Beziehungen in Richtung des „Jeder-für-sich“.

   Hinzu kommt die überwältigende militärische Überlegenheit der USA, verglichen besonders mit Deutschland, die es den Rivalen Amerikas verunmöglicht, die USA direkt herauszufordern.

   Weiter bleibt das Proletariat unbesiegt. Obwohl die Periode, die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eröffnet wurde, das Proletariat in beträchtliche Verwirrung stürzte (im Besonderen durch die Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“ und das „Ende des Klassenkampfes“), ist die Arbeiterklasse der kapitalistischen Grossmächte noch immer nicht bereit, sich für ein neues weltweites Blutbad zu opfern.

Aus diesen Gründen nahmen die militärischen Hauptkonflikte in der Periode seit 1989 die Form verlagerter kriegerischer Konflikte an.  Das bestimmende Merkmal dieser Kriege ist, dass die führende Weltmacht versuchte, sich der wachsenden Herausforderung ihrer globalen Autorität durch spektakuläre Demonstrationen ihrer Stärke gegenüber viertklassigen Mächten entgegenzustemmen; dies war der Fall beim ersten Golfkrieg 1991, bei der Bombardierung Serbiens 1999 und den „Anti-Terror-Kriegen“ in Afghanistan und im Irak, die dem Angriff von 2001 auf die Twin Towers folgten. Gleichzeitig haben sich diese Kriege zusehends klar als eine globale Strategie seitens  der USA offenbart: mit dem Ziel, die totale Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien sowie die militärische Umzingelung aller ihrer Hauptrivalen (Europa und Russland) zu erreichen, um ihnen den Zugang zu den Weltmeeren zu versperren und sich in die Lage zu versetzen, ihnen den Ölhahn zuzudrehen.

Neben dieser grossen globalen Strategie war –  ihr manchmal untergeordnet, sie manchmal behindernd – die Welt nach 1989 auch Zeuge einer Explosion von lokalen und regionalen Konflikten, die Tod und Vernichtung über ganze Kontinente gebracht haben. Diese Konflikte haben Millionen Tote, Behinderte und Obdachlose in einer ganzen Reihe von afrikanischen Ländern wie dem Kongo, Ruanda, Sudan, Somalia, Liberia oder Sierra Leone hinterlassen. Und jetzt drohen sie, viele Länder im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien in eine Art permanenten Bürgerkrieg zu stürzen. Das weiter wachsende Phänomen des Terrorismus, das oft Intrigen zwischen bürgerlichen Fraktionen ausdrückt, die nicht mehr länger von einem besonderen staatlichen Regime kontrolliert werden, hat die Instabilität weiter anschwellen lassen und bewirkt, dass diese mörderischen Konflikte zurück in die Zentren des Kapitalismus getragen werden (11. September, Bombenanschlag in Madrid...)

 

6. Deshalb bleibt, auch wenn der Weltkrieg gegenwärtig keine konkrete Bedrohung für die Menschheit ist, wie das für den grösseren Teil des 20. Jahrhunderts der Fall war, das Dilemma zwischen Sozialismus und Barbarei genauso akut wie früher. In gewisser Weise ist die Situation heute noch brenzliger; während ein Weltkrieg die aktive Mobilisierung der Arbeiterklasse erfordert, sieht sich Letztere nun der Gefahr gegenüber, Schritt für Schritt und heimtückisch von einer schleichenden Barbarei überschwemmt zu werden:

   Die Ausbreitung von lokalen und regionalen Kriegen könnte ganze Gebiete des Planeten verwüsten und somit das Proletariat jener Regionen unfähig machen, weiter zum Klassenkampf beizutragen. Dies betrifft sehr deutlich die extrem gefährliche Rivalität zwischen den beiden grossen Nuklearmächten auf dem indischen Subkontinent; aber es trifft ebenso auf die Spirale der militärischen Abenteuer der USA zu. Trotz ihrer Absicht, eine neue Weltordnung unter Aufsicht von Uncle Sam zu schaffen, hat jeder ihrer Kriege das Chaos und die Zersplitterung nur vermehrt, und die historische Krise der US-Führungsrolle hat an Tiefe und Schärfe nur zugenommen. Der Irak liefert heute einen klaren Beweis dafür; ohne auch nur den Anschein eines Wiederaufbaus im Irak zu erwecken, werden die USA zu neuen Angriffen gegen Syrien und den Iran getrieben. Diese Perspektive wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die US-Diplomatie in jüngster Zeit versucht hat, in Bezug auf Länder wie Syrien, Iran und Irak „Brücken zu Europa zu schlagen“. Im Gegenteil: Die gegenwärtige Krise im Libanon ist ein klarer Beweis dafür, dass die USA keine Verzögerung hinnehmen können bei ihrem Versuch, eine vollständige Kontrolle über den Nahen und Mittleren Osten zu erreichen. Dieses Bestreben kann aber die imperialistischen Spannungen auf der ganzen Welt nur noch weiter verschärfen, da keiner der Hauptrivalen der USA es zulassen kann,  dass diese in dieser strategisch lebenswichtigen Zone freie Hand haben. Diese Perspektive wird ebenfalls durch die zunehmend dreiste Intervention gegen den russischen Einfluss in den Ländern der ehemaligen UdSSR (Georgien, Ukraine, Kirgisien) und durch die grossen Differenzen hinsichtlich der Waffenlieferung an China bestätigt. Zu einer Zeit, wo China seine wachsenden imperialistischen Ambitionen untermauert, indem es seine Faust gegenüber Taiwan ballt, und dadurch Spannungen mit Japan entfacht, stehen Deutschland und Frankreich an vorderster Stelle bei den Versuchen, das gegenüber China nach dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz verhängte Waffenembargo aufzuheben.

   Die gegenwärtige Periode ist nicht nur auf der Ebene der imperialistischen Rivalitäten, sondern auch im Herzen der Gesellschaft von der Philosophie des „Jeder-für-sich“ gekennzeichnet. Die Beschleunigung der gesellschaftlichen Atomisierung und der ganze ideologische Dreck, den diese Philosophie mit sich führt (Gangstertum, die Flucht in den Selbstmord, in die Irrationalität und Verzweiflung), gehen mit der Gefahr einher, die Fähigkeit der Arbeiterklasse dauerhaft zu untergraben, ihre Klassenidentität und so ihre grossartige Klassenperspektive einer anderen Welt wiederzuerlangen, die nicht auf der gesellschaftlichen Auflösung beruht, sondern auf einer wahrhaften Gemeinschaft und Solidarität. 

   Neben der Bedrohung durch imperialistische Kriege hat die Aufrechterhaltung einer kapitalistischen Produktionsweise, die schon längst ihr Verfallsdatum überschritten hat, eine neue Bedrohung offenbart, eine, die gleichermassen in der Lage ist, die Möglichkeit eines neuen und menschlichen Projektes zu zerstören: die wachsende Bedrohung für die globale Umwelt. Obwohl eine wissenschaftliche Konferenz nach der anderen vor der steigenden Gefahr insbesondere durch die globale Erwärmung warnt, zeigt sich die Bourgeoisie völlig unfähig, auch nur die geringsten Massnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. Der Tsunami in Südostasien zeigte den Widerwillen der Bourgeoisie, auch nur einen Finger zu rühren, um die Gattung Mensch vor  der verheerenden  Kraft der unkontrollierten Natur zu schützen; die vorhergesagten Folgen der globalen Erwärmung wären weitaus zerstörerischer und weitreichender. Darüber hinaus ist es äusserst schwierig für die Mehrheit des Proletariats, die Umweltzerstörungen als einen Anlass zu betrachten, um gegen das kapitalistische System zu kämpfen, weil die schlimmsten Konsequenzen noch immer weit entfernt zu sein scheinen.

 

7. Aus all diesen Gründen ist es gerechtfertigt, wenn Marxisten nicht nur zum Schluss kommen, dass die Wahl zwischen Sozialismus oder  Barbarei heute so gültig ist wie 1916, sondern auch wenn sie sagen, dass die wachsende Intensität der Barbarei heute die Grundlagen des Sozialismus unterminieren könnte. Sie haben nicht nur Recht, wenn sie sagen, dass der Kapitalismus schon lange eine geschichtlich überholte Gesellschaftsform ist, sondern auch wenn sie den Schluss ziehen, dass seine Niedergangsphase, die mit dem Ersten Weltkrieg begann, heute in ihre Endphase getreten ist, in die Phase des Zerfalls. Es handelt sich nicht um die Verwesung eines Organismus, der schon tot ist; der Kapitalismus verrottet bei lebendigem Leib. Er geht durch einen langen und schmerzhaften Todeskampf, und in seinen Todeszuckungen droht er, die ganze Menschheit mit in den Abgrund zu reissen.

Die Krise

8. Die Kapitalistenklasse kann der Menschheit keine Zukunft mehr anbieten. Sie ist durch die Geschichte bereits verurteilt worden. Und genau aus diesem Grund muss sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um dieses Urteil zu verheimlichen und zu bestreiten, um die marxistische Vorhersage zu entwerten, wonach der Kapitalismus wie schon die früheren Produktionsweisen dazu verurteilt ist, dekadent zu werden und zu verschwinden. Die Bourgeoisie hat deshalb eine Reihe von ideologischen Antikörpern entwickelt, die alle danach streben, diese grundlegende Schlussfolgerung der historisch-materialistischen Methode zu widerlegen:

   Noch bevor die Epoche des Niedergangs wirklich begann, fing der revisionistische Flügel der Sozialdemokratie an, Marxens „katastrophistische“ Sichtweise zu bestreiten und zu argumentieren, dass der Kapitalismus unendlich lange weiter bestehen könnte und dass infolgedessen der Sozialismus nicht mittels revolutionärer Gewalt, sondern durch einen Prozess der ruhigen demokratischen Veränderung kommen würde.

   In den zwanziger Jahren verleitete die erstaunliche Rate des industriellen Wachstums in den USA den „genialen“ Calvin Coolidge dazu, den Triumph des Kapitalismus zu verkünden – am Vorabend des grossen Krachs von 1929.

   Während der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg erklärten bürgerliche Führer wie Macmillan den Arbeitern, sie hätten es „noch nie so gut“ gehabt; Soziologen spintisierten über die „Konsumgesellschaft“ und über die „Verbürgerlichung“ der Arbeiterklasse, während Radikale wie Marcuse „neue Avantgarden“ suchten, die die apathischen Proletarier ablösen sollten. 

   Seit 1989 haben wir eine reale Überproduktionskrise der neuen Theorien erlebt, die darauf abzielen, zu erklären, wie anders heute alles sei und wie alles, was Marx dachte, widerlegt worden sei: das Ende der Geschichte, der Tod des Kommunismus, das Ende der Arbeiterklasse, die Globalisierung, die Mikroprozessor-Revolution, die Internet-Wirtschaft, der Aufstieg der neuen wirtschaftlichen Riesen im Mittleren und Fernen Osten, unter denen die neusten China und Indien sind. Diese Ideen sind so aufdringlich, dass sie eine ganze neue Generation von Leuten angesteckt haben, die sich die Frage stellen, welche Zukunft der Kapitalismus dem Planeten anzubieten hat, und – was noch besorgniserregender ist – selbst von Teilen der Kommunistischen Linken aufgegriffen worden sind.

Kurz gesagt, muss der Marxismus immer wieder gegen alle ankämpfen, die bei jedem geringsten Lebenszeichen im kapitalistischen System zu argumentieren beginnen, dass es eine leuchtende Zukunft vor sich habe. Aber der Marxismus, der entgegen diesen Kapitulationen vor dem unmittelbaren Schein an der langfristigen und historischen Sichtweise festgehalten hat, ist in seinem Kampf auch immer wieder durch die harten Schläge der historischen Bewegung unterstützt worden: 

   Der selige „Optimismus“ der Revisionisten wurde durch die wirklich katastrophalen Ereignisse von 1914–1918 und durch die revolutionäre Antwort der Arbeiterklasse darauf zerschlagen.

   Calvin Coolidge & Co. wurden hart vor die Realität der tiefsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus gestellt, welche die unzweideutige Katastrophe des zweiten imperialistischen Weltkrieges nach sich zog.

   Diejenigen, die erklärten, die Wirtschaftskrise sei eine Sache der Vergangenheit gewesen, wurden durch die Rückkehr der Krise Ende der 60er Jahre widerlegt; und das internationale Wiederaufleben der Arbeiterkämpfe in Erwiderung auf diese Krise erschwerte es ungemein, an der Legende festzuhalten, wonach die Arbeiterklasse mit der Bourgeoisie eins geworden sei.

Die gegenwärtige Schwemme von Theorien über einen „Neuen Kapitalismus“, „die postindustrielle Gesellschaft“ und dergleichen sind ebenso hinfällig. Bereits sind eine Anzahl von Schlüsselelementen dieser Ideologie durch die gnadenlose Entwicklung der Krise blossgestellt worden: die in die asiatischen Tiger und Drachen gesetzten Hoffnungen lösten sich durch das plötzliche Abgleiten dieser Länder im Jahre 1997 in Luft auf; die Dot.com-Revolution entlarvte sich als ein Trugbild, kaum war sie verkündet worden; die „neuen Industrien“, die um Computer und Kommunikationen aufgebaut wurden, erwiesen sich ebenso anfällig für Rezessionen wie die „alten Industrien“, beispielsweise die Stahlproduktion und der Schiffbau. Und obwohl sie immer wieder totgesagt worden ist, erhebt die Arbeiterklasse weiterhin ihren Kopf wie zum Beispiel 2003 in den Bewegungen in Österreich und Frankreich oder 2004 in den Kämpfen in Spanien, Grossbritannien und Deutschland. 

 

9. Es wäre dennoch ein Fehler, die Wirkungen dieser Ideologien in der gegenwärtigen Periode zu unterschätzen, denn sie beruhen wie alle Mystifikationen auf einer Reihe von Halbwahrheiten, beispielsweise:

   Angesichts der Überproduktionskrise und der unbarmherzigen Anforderungen der Konkurrenz hat der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten mitten in den wichtigsten Zentren seines Systems grosse industrielle Wüsten geschaffen und Millionen von Arbeitern entweder in andauernde Arbeitslosigkeit oder in unproduktive, schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungssektor geworfen; aus dem gleichen Grund hat er grosse Mengen der industriellen Arbeitsplätze in die Niedriglohnzonen der „Dritten Welt“ verlagert. Viele traditionelle Sektoren der industriellen Arbeiterklasse sind durch diesen Prozess dezimiert worden, was die Schwierigkeiten des Proletariats vergrössert hat, seine Klassenidentität zu erhalten.

   Die Entwicklung der neuen Technologien ermöglichte es, sowohl den Ausbeutungsgrad wie auch die Geschwindigkeit der Zirkulation von Kapital und Waren weltweit zu erhöhen.

   Der Rückfluss im Klassenkampf in den letzten zwei Jahrzehnten erschwerte es der neuen Generation, die Arbeiterklasse als das einzige Subjekt der gesellschaftlichen Änderung wahrzunehmen.

   Die Kapitalistenklasse zeigte eine bemerkenswerte Fähigkeit, die Krise ihres Systems zu „handhaben“, indem sie die Gesetze seiner Funktionsweise manipulierte und sogar entstellte.

Andere Beispiele könnten erwähnt werden. Aber keines von ihnen stellt die grundsätzliche Altersschwäche des kapitalistischen Systems in Frage. 

 

10. Die Dekadenz des Kapitalismus bedeutete nie einen endgültigen und brutalen Kollaps des Systems, wie einige Genossen aus dem deutschen Linkskommunismus in den 20er Jahren vorhersagten. Auch nicht einen totalen Stopp in der Entwicklung der Produktivkräfte, wie Trotzki in den 30er Jahren fälschlicherweise dachte. Wie schon Marx bemerkt hatte, zeigt sich die herrschende Klasse in Zeiten der Krise als sehr intelligent, und sie kann aus ihren Fehlern lernen. Die 20er Jahre waren die letzte Periode, in der die Bourgeoisie noch daran glaubte zum Liberalismus und zur „Laisser-faire“-Politik des 19. Jahrhunderts zurückkehren zu können. Und dies aus dem simplen Grund, weil der Erste Weltkrieg, der zwar an sich ein Produkt der ökonomischen Widersprüche des Systems war, ausbrach, bevor sich diese Widersprüche auf einer „rein“ ökonomischen Ebene entfalten konnten. Die Krise von 1929 war die erste Weltwirtschaftskrise in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus. Und mit dieser gewonnenen Erfahrung erkannte die herrschende Klasse die Notwendigkeit zu einer grundlegenden Veränderung. Trotz vorgeschützter ideologischer Vorbehalte zweifelte keine ernsthafte Fraktion der herrschenden Klasse mehr daran, dass der Staat die generelle Kontrolle über die Wirtschaft übernehmen sollte; die Notwendigkeit zur Abschaffung jeglichen „Zahlengleichgewichts“ zugunsten von Verschuldung und zahlreichen Finanzschiebereien; die Notwendigkeit, einen enormen Rüstungssektors im Zentrum der Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Aus demselben Grund gab sich der Kapitalismus später alle Mittel, um die wirtschaftliche Autarkie der 30er Jahre zu verhindern. Trotz steigender Tendenz hin zum Wirtschaftskrieg und zum Zusammenbrechen von internationalen Institutionen aus der Zeit der beiden grossen Blöcke haben diese Institutionen mehrheitlich überlebt, weil die grössten kapitalistischen Mächte die Notwendigkeit verstanden haben, der ökonomischen Konkurrenz unter den verschiedenen nationalen Kapitalen gewisse Grenzen zu setzen.

Der Kapitalismus erhält sich durch die bewusste Intervention der Bourgeoisie am Leben, die es sich nicht länger leisten kann, der unsichtbaren Hand des Marktes zu trauen. Doch die Lösungen werden auch zu Problemen:

   Die zunehmende Verschuldung produziert einen Berg von Problemen für die Zukunft;

   das Aufblähen des Staates und des Rüstungssektors erzeugt einen enormen inflationären Druck.

Seit den 70er Jahren haben diese Probleme zu verschiedenen Wirtschaftsstrategien geführt, die abwechslungsweise auf den „Keynesianismus“ und den „Neo-Liberalismus“ setzten, doch keine kann die bestehenden Probleme in den Griff bekommen, geschweige denn eine endgültige Lösung herbeiführen. Bemerkenswert ist jedoch die Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre Wirtschaft um jeden Preis am Leben zu erhalten und ihre Fähigkeit, die Tendenz zum Zusammenbruch durch eine gigantische Verschuldung zu bremsen. Während der 90er Jahre war die US-amerikanische Wirtschaft wegweisend für diese Richtung. Heute, da dieses künstliche „Wachstum“ eingebrochen ist, ist die chinesische Bourgeoisie an der Reihe, die Welt zu überraschen: In Anbetracht der Unfähigkeit der ehemaligen UdSSR und der anderen stalinistischen Staaten Osteuropas, politisch die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Reformen zu verstehen, hat es die chinesische Bürokratie (das Aushängeschild des gegenwärtigen „Booms“) fertig gebracht, sich über Wasser zu halten. Gewisse Kritiker der Dekadenzauffassung weisen auf dieses Phänomen hin und wollen damit beweisen, dass das kapitalistische System immer noch in der Lage sei, sich zu entwickeln und ein reelles Wachstum hervorzubringen.

In Tat und Wahrheit aber stellt der gegenwärtige chinesische „Boom“ keineswegs den generellen Niedergang der kapitalistischen Weltwirtschaft in Frage. In Gegensatz zur aufsteigenden Phase des Kapitalismus:

   ist das industrielle Wachstum in China nicht Teil eines globalen Ausdehnungsprozesses; im Gegenteil, es hat einen direkten Zusammenhang mit der Desindustrialisierung und Stagnation der entwickeltsten Ökonomien, welche sich auf der Suche nach billigen Lohnkosten nach China ausgelagert haben;

   hat die chinesische Arbeiterklasse nicht die Perspektive eines stetigen Anstieges des Lebensstandarts, vielmehr ist sie enormen Angriffen auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt und mit einer zunehmenden Verarmung von grossen Teilen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft ausserhalb der grössten Boom-Zonen konfrontiert;

   ist das frenetische Wachstum nicht Teil einer globalen Expansion des Weltmarktes, sondern Teil der vertieften Überproduktionskrise: Wegen der beschränkten Konsumptionskraft der chinesischen Massen ist der Grossteil der Produktion auf den Export in die höchstentwickelten kapitalistischen Staaten ausgerichtet;

   ist die grundlegende Irrationalität der wachsenden chinesischen Wirtschaft ersichtlich durch die grauenhafte Verschmutzung der Umwelt – ein Zeichen dafür, dass der Planet zerstört wird durch den Druck, der auf jeder Nation lastet, ihre natürlichen Ressourcen bis zum Limit auszubeuten, nur um auf dem Weltmarkt bestehen zu können;

   basiert das chinesische Wachstum, gleich wie das ganze System, lediglich auf einem Schuldenberg, welcher niemals durch eine tatsächliches Wachstum des Weltmarktes wieder wett gemacht werden kann.

Die Bourgeoisie ist sich der Zerbrechlichkeit solcher Wachstumsschübe wohl bewusst und durch die chinesische Blase alarmiert. Dies natürlich nicht wegen der schrecklichen Ausbeutung auf der sie beruht – im Gegenteil ist dies ja genau das, was China für Investitionen so attraktiv macht – sondern weil die Weltwirtschaft allzu abhängig wird vom chinesischen Markt und weil die Folgen eines chinesischen Kollapses allzu katastrophal wären, nicht nur für China, das damit in die Anarchie der 30er Jahre zurückgeworfen würde, sondern für die Weltwirtschaft als Ganzes.

 

11. Das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft widerlegt nicht die Realität der Dekadenz, sondern bestätigt sie im Gegenteil. Dieses Wachstum hat nichts Gemeinsames mit den Akkumulationszyklen im 19. Jahrhundert, welche auf einer realen Expansion der Produktion in die peripheren Zonen beruhte, auf der Suche nach neuen, ausserkapitalistischen Absatzmärkten. Es ist wahr, dass die Dekadenz begann, bevor diese Märkte ausgeschöpft waren und bevor sich der Kapitalismus solche übrig gebliebenen wirtschaftlichen Gebiete durch Produktionsauslagerungen maximal zu Nutzen machte. Das Wachstum in Russland während der 30er Jahre und die Integration der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft in der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg sind Beispiele dafür. Doch der vorherrschende Trend in der gesamten Epoche der Dekadenz ist die Bildung von künstlichen Märkten, welche auf Verschuldung aufbauen.

Es ist heute offensichtlich, dass die frenetische „Konsumption“ der letzten zwei Jahrzehnte ausschliesslich auf einer Verschuldung der Haushalte basierte: eine Billion Pfund in Grossbritannien, 25% des Bruttosozialproduktes in den USA, während die Regierungen eine solche Verschuldung nicht nur anheizen, sondern sie auf einer höheren Ebene auch selber betreiben.

 

12. In einem gewissen Sinne ist das heutige Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft das, was Marx als das „Wachstum im Niedergang“ bezeichnete (Grundrisse): es ist der Hauptfaktor in der weltweiten Umweltzerstörung. Das unkontrollierbare Niveau an Verschmutzung in China, der riesige Anteil der USA am Ausstoss von Treibhausgasen, die brutale Abholzung von noch bestehenden Regenwäldern... je mehr der Kapitalismus „wächst“, desto mehr wird klar, dass er nicht die geringste Lösung für die ökologische Krise hat. Diese kann nur gelöst werden, wenn die Menschheit auf einer neuen Grundlage produziert, „einem Lebensplan für die menschliche Gattung“ (Bordiga), in Einklang mit der Natur.

 

13. Sei es ein „Boom“ oder eine „Rezession“, die Realität ist dieselbe: Der Kapitalismus kann sich nicht mehr länger von selbst erholen. Es gibt keinen natürlichen Akkumulationszyklus mehr. In der ersten Phase der Dekadenz zwischen 1914 und 1968 ersetzte der Zyklus von Krise – Krieg – Wiederaufbau den alten Zyklus von Expansion und Rückfluss. Doch die GCF (Französische Kommunistische Linke) hatte Recht, als sie 1945 behauptete, dass es keine automatische Tendenz zum Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Weltkrieges gab. Was die amerikanische Bourgeoisie dazu brachte, die europäische und japanische Wirtschaft mit dem Marshall-Plan wieder zu beleben, war ihr Bedürfnis, sich diese Zonen der eigenen imperialistischen Einflusssphäre unterzuordnen und zu verhindern, dass diese Länder in die Hände des rivalisierenden Blocks fallen könnten. Der grösste wirtschaftliche „Boom“ des 20. Jahrhunderts war vor allem Resultat der imperialistischen Konkurrenz.

 

14. In der Dekadenz treiben die ökonomischen Widersprüche den Kapitalismus in den Krieg, doch der Krieg kann diese Widersprüche nicht lösen. Im Gegenteil vertieft er sie. Auf jeden Fall ist der Zyklus von Krise – Krieg – Wiederaufbau heute vorüber, und die heutige Krise, unfähig sich in einem Weltkrieg zu entladen, ist der Hauptfaktor beim Zerfall dieses Systems. Sie führt das System in die Selbstzerstörung.

 

15. Die Sichtweise, dass der Kapitalismus ein dekadentes System ist, wurde oft als fatalistische Auffassung kritisiert – als Idee eines automatischen Zusammenbruchs und einer spontanen Überwindung durch die Arbeiterklasse, welche die Notwendigkeit der Arbeit einer revolutionären Organisation verneinen würde. Doch die herrschende Klasse hat bewiesen, dass sie ihr System nicht ökonomisch zusammenbrechen lässt. Aber der Kapitalismus wird sich durch seine eigene Dynamik durch Kriege und andere Desaster selber zerstören. In diesem Sinne ist er tatsächlich dazu „bestimmt“ zu verschwinden. Doch die Antwort der Arbeiterklasse ist alles andere als fatalistisch. So formulierte es Rosa Luxemburg 1916 in der Einleitung der schon oben zitierten Juniusbroschüre: „Der Sozialismus ist die erste Volksbewegung der Weltgeschichte, die sich zum Ziel setzt und von der Geschichte berufen ist, in das gesellschaftliche Tun der Menschen einen bewussten Sinn, einen planmässigen Gedanken und damit den freien Willen hineinzutragen. Darum nennt Friedrich Engels den endgültigen Sieg des sozialistischen Proletariats einen Sprung der Menschheit aus dem Tierreich in das Reich der Freiheit. Auch dieser „Sprung“ ist an eherne Gesetze der Geschichte, an tausend Sprossen einer vorherigen qualvollen und allzu langsamen Entwicklung gebunden. Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewussten Willens der grossen Volksmasse aufspringt. Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Himmel herabfallen. Er kann nur durch eine lange Kette gewaltiger Kraftproben zwischen den alten und neuen Mächten erkämpft werden, Kraftproben, in denen das internationale Proletariat unter der Führung der Sozialdemokratie lernt und versucht, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, sich des Steuers des gesellschaftlichen Lebens zu bemächtigen, aus einem willenlosen Spielball der eigenen Geschichte zu ihrem zielklaren Lenker zu werden.“

Der Kommunismus wird die erste Gesellschaft sein, in welcher der Mensch über eine bewusste Kontrolle seiner Produktivkräfte verfügt. Und deshalb gibt es im Kampf der Arbeiterklasse keine Trennung zwischen Zielen und Mitteln, die Bewegung hin zum Kommunismus kann nur eine „bewusste Bewegung der grossen Mehrheit“ sein (Kommunistisches Manifest): Die Vertiefung und Ausbreitung des Klassenbewusstseins ist unverzichtbar für den Erfolg der Revolution und die endgültige Überwindung des Kapitalismus. Dieser Prozess ist von Natur aus sehr schwierig, ungradlinig und heterogen, denn er ist das Produkt einer ausgebeuteten Klasse, welche in der alten Gesellschaft über keine ökonomische Macht verfügt und ständig der ideologischen Dominanz und den Manipulationen der herrschenden Klasse ausgesetzt ist. Keinesfalls gibt es eine Garantie: Im Gegenteil besteht die reale Gefahr, dass die Arbeiterklasse angesichts der immensen Aufgaben ihre historische Verantwortung nicht durchsetzen kann. Dies hätte für die gesamte Menschheit schreckliche Konsequenzen.

Der Klassenkampf

16. Der höchste bisher erreichte Stand des Klassenbewusstseins war der Aufstand vom Oktober 1917. Dies wurde durch die Geschichtsschreibung der Bourgeoisie und all ihre blassen anarchistischen und anderweitig verwandten ideologischen Abklatsche verleugnet, für die der Oktober lediglich ein Putsch machthungriger Bolschewiki gewesen sein soll. Doch der Oktober stellte die grundlegende Erkenntnis für die Arbeiterklasse dar, dass für die Menschheit kein Weg an einer weltweiten Revolution vorbeiführt. Dennoch erfasste dieses Verständnis das Proletariat nicht in genügender Tiefe und Ausdehnung. Die Revolution scheiterte, weil die Weltarbeiterklasse vor allem in Europa unfähig war, ein umfassendes politisches Verständnis zu entwickeln, welches ihr erlaubt hätte, eine angemessene Antwort auf die Aufgaben der neuen Epoche von Kriegen und Revolutionen zu geben, die 1914 angebrochen war. Resultat davon war ab Ende der 20er Jahre der längste und tiefgreifendste Rückschritt, den die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte kannte. Dies nicht hauptsächlich auf der Ebene der Kampfbereitschaft, denn die 30er und 40er Jahre erlebten punktuelle Ausbrüche der Kampfbereitschaft der Klasse, sondern vielmehr auf der Ebene des Bewusstseins. Die Arbeiterklasse liess sich aktiv in die antifaschistischen Kampagnen der Bourgeoisie einbinden, so in Spanien zwischen 1936 und 1939, in Frankreich 1936, und in die Verteidigung der Demokratie und des „sozialistischen Vaterlandes“ während dem Zweiten Weltkrieg. Dieser tiefgreifende Rückschritt im Bewusstsein drückte sich durch ein fast totales Verschwinden revolutionärer Minderheiten während den 50er Jahren aus.

 

17. Das historische Wiederaufbrechen von Kämpfen 1968 zeigte erneut die langfristige Perspektive einer proletarischen Revolution. Doch dies war nur einer kleinen Minderheit der Klasse bewusst, und es drückte sich durch die Wiedergeburt einer internationalen revolutionären Bewegung aus. Die Kampfwellen zwischen 1968 und 1989 stellten bedeutende Fortschritt auf der Ebene des Bewusstseins dar, doch sie tendierten alle dazu, auf den unmittelbaren Kampf ausgerichtet zu sein (die Fragen der Ausbreitung und Organisierung, usw.). Ihr schwächster Punkt war der Mangel an politischer Tiefe, allem voran eine Politikfeindlichkeit, die Resultat der stalinistischen Konterrevolution war. Auf der politischen Ebene war die Bourgeoisie weitgehend fähig, den Takt anzugeben, erst durch das Vorgaukeln einer möglichen Veränderung durch das Einsetzen von linken Regierungen in den 70er Jahren, dann durch eine Sabotage der Kämpfe von innen her, durch eine Linke in der Opposition in den 80er Jahren. Auch wenn die Kampfwellen von 1968 bis 1989 fähig waren, den Kurs Richtung Weltkrieg zu verhindern, so begünstigten ihre Schwächen in einer historischen und politischen Dimension den Übergang zur Phase des Zerfalls des Kapitalismus. Das historische Ereignis, welches diesen Übergang kennzeichnete – der Zusammenbruch des Ostblocks – war einerseits Resultat des Zerfalls, und andererseits ein Faktor seiner Beschleunigung. Die dramatischen Veränderungen Ende der 80er Jahre waren gleichzeitig Produkt der politischen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse und – da sie eine Propagandawelle über das Ende des Kommunismus und des Klassenkampfes erlaubten – ein Schlüsselelement eines ernsthaften Rückflusses im Klassenbewusstsein – bis zum Punkt, an dem die Arbeiterklasse selbst ihre grundlegende Klassenidentität aus den Augen verlor. Die Bourgeoisie deklarierte ihren endgültigen Sieg über die Arbeiterklasse, und diese war bis heute nicht fähig, eine wirklich ausreichende Antwort darauf zu geben, um dies zu widerlegen.      

18. Trotz all ihrer Schwierigkeiten bedeutete die Rückzugsperiode keineswegs das „Ende des Klassenkampfes“. Die 1990er Jahre waren durchsetzt mit einer ganzen Anzahl von Bewegungen, die zeigten, dass die Arbeiterklasse immer noch über unversehrte Reserven an Kampfbereitschaft verfügte (beispielsweise 1992 und 1997). Doch stellte keine dieser Bewegungen eine wirkliche Änderung auf der Ebene des Klassenbewusstseins dar. Deshalb sind die jüngeren Bewegungen so wichtig; auch wenn es ihnen am spektakulären und sofortigen Einfluss mangelt, den diejenige von 1968 in Frankreich hatte, sind sie doch ein Wendepunkt im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Die Kämpfe von 2003–2005 wiesen die folgenden wesentlichen Eigenschaften auf:

   Sie bezogen bedeutende Sektoren der Arbeiterklasse in Ländern im Zentrum des weltumspannenden Kapitalismus mit ein (wie in Frankreich 2003);

   sie traten mit Sorgen auf, die ausdrücklicher auch politische Fragen in den Vordergrund stellten;

   zum ersten Mal seit der revolutionären Welle stand Deutschland wieder als Schwerpunkt der Arbeiterkämpfe da;

   die Frage der Klassensolidarität wurde nun breiter und ausdrücklicher aufgeworfen denn je in den Kämpfen der 80er Jahre, insbesondere in den jüngsten Bewegungen in Deutschland;

   sie wurden begleitet vom Auftauchen einer neuen Generation von Leuten, die nach politischer Klarheit suchen. Diese neue Generation hat sich einerseits im Auftreten von offen politisierten Leuten gezeigt, andererseits in neuen Schichten von Arbeitern, die zum ersten Mal in den Kampf getreten sind. Wie bestimmte wichtige Demonstrationen bewiesen haben, wird das Fundament gelegt für die Einheit zwischen der neuen Generation und derjenigen „von 68“ – sowohl der politischen Minderheit, welche die kommunistische Bewegung in den 60er und 70er Jahren aufgebaut hat, als auch den breiteren Schichten der Arbeiter, welche die reiche Erfahrung der Klassenkämpfe zwischen 68 und 89 in sich tragen.

 

19. Die unterirdische Reifung des Bewusstseins, die von den empiristischen Fälschern des Marxismus geleugnet werden, die nur die Oberfläche der Wirklichkeit sehen und nicht ihre tieferen, grundlegenden Tendenzen, ist nicht vom allgemeinen Rückfluss im Bewusstsein seit 1989 aufgehoben worden. Es ist ein Merkmal dieses Prozesses, dass er lediglich in einer Minderheit manifest wird. Doch das Wachstum dieser Minderheit ist Ausdruck der fortschreitenden Weiterentwicklung eines breiteren Phänomens in der Klasse. Bereits nach 1989 sahen wir eine kleine Minderheit von politisierten Elementen, welche die bürgerliche Kampagne über den „Tod des Kommunismus“ in Frage stellten. Diese Minderheit ist nun von einer neuen Generation verstärkt worden, die sich mit der ganzen Richtung der bürgerlichen Gesellschaft kritisch auseinandersetzt. Auf allgemeiner Ebene drückt dies den ungeschlagenen Zustand des Proletariats, die Aufrechterhaltung des historischen Kurses zu massiven Klassenkonfrontationen aus, der 1968 eröffnet worden war. Doch auf einer spezifischeren Ebene sind die „Wende“ von 2003 und das Auftreten einer neuen Generation von suchenden Elementen Beweis dafür, dass das Proletariat am Anfang eines zweiten Anlaufs steht, das kapitalistische System zu stürmen, nach dem Scheitern des ersten Versuchs von 1968 bis 1989. Obgleich sich das Proletariat im Alltag mit der scheinbar selbstverständlichen Aufgabe auseinandersetzen muss, sich seiner Klassenidentität wieder zu bemächtigen, liegt hinter diesem Problem auch die Aussicht auf eine viel engere Verknüpfung des unmittelbaren Kampfes mit dem politischen Kampf. Die Fragen, die von den Kämpfen in der Zerfallsphase aufgeworfen werden, scheinen immer abstrakter zu werden, doch tatsächlich drehen sie sich um allgemeinere Fragen wie die Notwendigkeit einer Klassensolidarität gegen die allgegenwärtige Atomisierung, die Angriffe auf den gesellschaftlichen Lohn, die Omnipräsenz des Krieges, die Bedrohung der natürlichen Umwelt des Planeten – kurz: um die Frage, was die Zukunft für diese Gesellschaft bereithält und somit um die Frage einer anderen Art von Gesellschaft.

 

20. Innerhalb dieses Prozesses der Politisierung sind zwei Elemente, die bis jetzt eine eher hemmende Wirkung auf den Klassenkampf ausübten, dazu bestimmt, zu einer immer wichtigeren Stimulans der künftigen Bewegungen zu werden: die Frage der Massenarbeitslosigkeit und die Frage des Krieges.

Während der Kämpfe der 1980er Jahre, als die Massenarbeitslosigkeit immer unübersehbarer wurde, erlangte weder der Kampf der beschäftigten Arbeiter gegen drohende Entlassungen noch der Widerstand der Arbeitslosen auf den Strassen ein bedeutsames Ausmass. Es gab keine Bewegung von Arbeitslosen, die an das Niveau heranreichte, das in den 30er Jahren erreicht worden war, obwohl diese Zeit eine Periode der tiefen Niederlage der Arbeiterklasse gewesen war. In den Rezessionen der 80er Jahre sahen sich die Arbeitslosen einer fürchterlichen Atomisierung gegenüber; insbesondere grosse Teile der jüngeren Generation von Proletariern hatte nie die Erfahrung des kollektiven Arbeitens und Kämpfens gemacht. Und wenn beschäftigte Arbeiter weitreichende Kämpfe gegen Entlassungen ausfochten, wie in der britischen Bergbauindustrie, dann wurde der negative Ausgang dieser Bewegungen von der herrschenden Klasse benutzt, um Gefühle der Passivität und Hoffnungslosigkeit zu verstärken, was kürzlich durch die Reaktion auf den Bankrott von Rover demonstriert wurde, als den Arbeitern als einzige „Wahl“ jene zwischen der einen oder anderen Führungsriege präsentiert wurde, um das Unternehmen am Leben zu erhalten. Dennoch ist angesichts der Verengung des Manöverspielraums für die Bourgeoisie und ihrer wachsenden Unfähigkeit, den Arbeitslosen auch nur ein Minimum an Unterstützung zu gewähren, die Frage der Arbeitslosigkeit darauf angelegt, eine weitaus subversivere Seite zu entwickeln, indem sie die Solidarität zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen erleichtert und die Klasse insgesamt dazu drängt, tiefer und aktiver über den Bankrott des Systems nachzudenken.

Dieselbe Dynamik kann an der Frage des Krieges beobachtet werden. In den frühen 90er Jahren bewirkten die ersten grossen Kriege in der Zerfallsphase (Golf, Balkan), dass das Gefühl der Machtlosigkeit gestärkt wurde, welches uns durch die Kampagnen rund um den Zusammenbruch des Ostblocks eingeimpft worden war, während der Vorwand der „humanitären Intervention“ in Afrika und auf dem Balkan noch immer den Anschein von Glaubwürdigkeit erwecken konnte. Seit 2001 und dem „Krieg gegen den Terrorismus“ wurde jedoch die Verlogenheit und Heuchelei bei der Rechtfertigung des Krieges durch die Bourgeoisie immer augenscheinlicher, auch wenn das Wachstum riesiger pazifistischer Bewegungen die politische Infragestellung, die dadurch provoziert worden war, grösstenteils verwässert hat. Darüber hinaus haben die jüngsten Kriege einen weitaus grösseren Einfluss auf die Arbeiterklasse, selbst wenn dies noch immer hauptsächlich auf jene Länder begrenzt geblieben ist, die in diesen Konflikten verwickelt sind. In den USA hat sich dies in der Zahl von Arbeiterfamilien manifestiert, die von Tod und Verwundung der Proletarier in Uniform, aber noch schwerwiegender von den furchteinflössenden ökonomischen Kosten der militärischen Abenteuer betroffen sind, die proportional zu den Kürzungen der gesellschaftlichen Löhne gestiegen sind. Und indem immer deutlicher wird, dass die militaristischen Tendenzen des Kapitalismus nicht nur eine ständig wachsende Spirale sind, sondern dazu noch eine, über die die herrschende Klasse immer weniger Kontrolle besitzt, wird das Problem des Krieges und seine Verbindung zur Krise auch zu einem weit tieferen und weiterreichenden Nachdenken darüber führen, was historisch auf dem Spiel steht.

 

21. Paradoxerweise ist die Brisanz dieser Fragen einer der Hauptgründe dafür, warum die aktuelle Wiederbelebung der Kämpfe so beschränkt und unspektakulär im Vergleich zu jenen Bewegungen ist, die das Wiedererscheinen des Proletariats Ende der 60er Jahre ausgezeichnet hatten. Angesichts der unermesslichen Probleme, wie die Weltwirtschaftskrise, die Zerstörung der globalen Umwelt oder die Spirale des Militarismus mag der tägliche Verteidigungskampf unbedeutend und ohnmächtig erscheinen. Und in einem gewissen Sinn reflektiert dies ein wirkliches Verständnis dafür, dass es keine Lösung für die Widersprüche gibt, die den Kapitalismus heute befallen haben. Doch während in den 70ern die Bourgeoisie eine ganze Palette an Mystifikationen über die Möglichkeiten eines besseren Lebens zur Auswahl hatte, erinnern die jüngsten Versuche der Bourgeoisie, vorzutäuschen, dass wir in einer Epoche des beispiellosen Wachstums und Wohlstands leben, immer mehr an die verzweifelten Versuche eines alten Mannes, den bald bevorstehenden Tod zu bestreiten. Die Dekadenz des Kapitalismus ist die Epoche der sozialen Revolution, weil die Kämpfe der Ausgebeuteten nicht mehr zu einer tatsächlichen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen führen können. Und wie schwer es auch sein mag, von der Defensive in die Offensive überzugehen, die Arbeiterklasse wird keine andere Wahl haben, als diesen schwierigen und beängstigenden Sprung zu wagen. Und wie allen solchen qualitativen Sprüngen gehen auch ihm alle Arten von kleinen vorbereitenden Schritten voraus, von Streiks rund um die Brot-und-Butter-Frage bis hin zu winzigen Diskussionsgruppen überall auf dem Globus.

 

22. Angesichts der Perspektive einer Politisierung des Kampfes spielen revolutionäre politische Organisationen eine einmalige und unersetzliche Rolle. Leider hat die Kombination der wachsenden Auswirkungen des Zerfalls mit seit langer Zeit bestehenden theoretischen und organisatorischen Schwächen und dem Opportunismus in der Mehrheit der politischen Organisationen des Proletariats die Unfähigkeit dieser Gruppen enthüllt, sich der Herausforderung durch die Geschichte zu stellen. Dies wird am deutlichsten von der negativen Dynamik veranschaulicht, in der das IBRP schon seit geraumer Zeit gefangen ist. Nicht nur, dass das Büro total unfähig ist, die Bedeutung der neuen Phase des Zerfalls zu begreifen, schlimmer noch, solchen Schlüsselkonzepten wie jenem der Dekadenz des Kapitalismus den Rücken kehrt; noch viel katastrophaler ist seine Verhöhnung der grundlegenden Regeln der proletarischen Solidarität und Verhaltensweisen durch seinen Flirt mit dem Parasitismus und Abenteurertum. Diese Regression ist um so ernster, als nun die Voraussetzungen für den Aufbau der kommunistischen Weltpartei gelegt werden. Gleichzeitig wirft die Tatsache, dass die Gruppen des proletarischen Milieus sich selbst immer mehr aus dem Prozess ausschliessen, der zur Bildung der Klassenpartei führt, ein Schlaglicht auf die eminent wichtige Rolle, welche die IKS zwangsläufig in diesem Prozess ausüben muss. Es wird immer klarer, dass die künftige Partei nicht das Resultat einer „demokratischen“ Addition der verschiedenen Gruppen des Milieus sein wird, sondern dass die IKS bereits das Skelett der künftigen Partei bildet. Doch damit die Partei Wirklichkeit wird, muss sich die IKS als den Aufgaben gewachsen erweisen, die ihr durch die Entwicklung des Klassenkampfes und das Auftreten einer neuen Generation von suchenden Elementen aufgetragen werden.

 

IKS

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

Theoretische Fragen: 

Erbe der kommunistischen Linke: