Internationale Revue 25 - Editorial

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Wohin der Kapitalismus die Welt treibt

Kriege in allen Kontinenten, immer mehr Armut, Not, Hunger und Katastrophen aller Art. Eine Übersicht über die Lage auf der Welt zeigt, wie katastrophal alles ist.

„Ein Jahr nach Beginn des Kosovokrieges hinterlassen die tödlichen Racheakte, die Zunahme der Kriminalität, die inneren politischen Konflikte, Einschüchterungen und Korruption in diesem Gebiet einen unangenehmen Eindruck [....]. Der Kosovo ist ein Schlamassel.“ (The Guardian, 17.3.00).[i] Seit dem Kosovokrieg und der Besetzung des Landes durch die NATO haben Hass und Gewalt nur noch weiter zugenommen. Der Tschetschenienkrieg wird fortgesetzt – seine Opfer sind Tausende Verletzte und Tote – von denen die meisten Zivilisten sind – sowie Hunderttausende Flüchtlinge, die in den Lagern hungern. Wie im Kosovo und zuvor in Bosnien sind die Gewalttaten unglaublich schrecklich. Die Hauptstadt Grosny wurde von der Karte ausradiert, zerstört. Die amerikanischen Generäle brüsten sich, mittels der NATO-Bombardierungen Serbien um 50 Jahre zurückgebombt zu haben. Die russischen Generäle haben sich in Tschetschenien als noch „leistungsfähiger“ erwiesen: „Diese kleine kaukasische Republik läuft somit Gefahr, in ihrer Entwicklung um ein Jahrhundert zurückgeworfen zu werden“ (Le Monde Diplomatique, Februar 2000). Die Kämpfe, die bislang das Land zerstört haben, gehen weiter, und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen.

Die Zahl der kriegerischen Spannungsgebiete wird immer größer. Insbesondere in Südostasien sind sie sehr zahlreich und ausgesprochen gefährlich. „In keiner anderen Region auf der Erde stehen wir vor solch dramatischen Fragen.“ (Bill Clinton, International Herald Tribune, 20.3.00).

Armut und Not dehnen sich überall auf der Welt aus

„Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Armut“ (International Herald Tribune, 17.3.00). Das ganze Gerede von Wohlstand wird durch die dramatische Lage von Milliarden Menschen widerlegt. „Während die weltweite Grundnahrungsmittelproduktion 110% der Bedürfnisse deckt, sterben weiterhin jedes Jahr 30 Millionen Menschen an Hunger, und mehr als 800 Millionen Menschen sind unterernährt“ (Le Monde Diplomatique, Dezember 2000).

Die Lage in den Ländern der Peripherie, die vor kurzem noch als „Dritte-Welt-Staaten“ und heute als „Schwellen-“ oder „Entwicklungsländer“ bezeichnet werden, entblößt die Lügen der gegenwärtigen Propaganda, denn überall nehmen Verarmung und absolute Armut zu. „Es gibt immer noch eine große Anzahl von Unterernährten, obwohl es einen Nahrungsmittelüberschuss gibt. In den Entwicklungsländern leiden 150 Millionen Kinder an Untergewicht, d.h. ca. ein Drittel aller Kinder“ (International Herald Tribune, 9.3.00).

Selbst wenn man uns heute eintrichtern will, dass die asiatische Krise vom Sommer 1997 überwunden und die „asiatischen Tiger“ wieder genesen seien, die Rezession in Asien und Lateinamerika viel weniger verheerend als befürchtet gewesen sei und es wieder positive Wachstumszahlen gebe, „leben in Asien und Lateinamerika 2,2 Milliarden Menschen mit weniger als 2 Dollar pro Tag“ (International Herald Tribune, 14.7.00, James D. Wolfensohn, Präsident der Weltbank).  Die Inflation sei unter Kontrolle, die Produktion ziehe wieder an, somit sei „Russland ein kleines Wunder, wenn man den makro-ökonomischen Indikatoren glauben soll“ (Le Monde, 24.3.00). Aber wie in den Ländern Asiens und Lateinamerikas vollzieht sich diese Besserung der „wirtschaftlichen Grundlagen“ auf Kosten der Bevölkerung und dank einer wachsenden Verarmung. „Russland ist weiterhin nahezu pleite, angeschlagen durch eine Auslandsschuld von annähernd 170 Mrd. Dollar [....]. Die allgemeine Entwicklung des Lebensstandards ist seit 1990 rückläufig und heute beträgt das Durchschnittseinkommen ca. 60 $ im Monat, ein Durchschnittslohn 63 $ und eine Durchschnittsrente 18 $. 1998 lebten zur Zeit des Börsenkrachs 48% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (die auf 50 $ festgelegt worden war), Ende 1998 lebten schon 54% unter dieser Grenze und mittlerweile sind es ca. 60%“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 14.3.00).

Armut und Not in den Industriestaaten 

Die Idee, dass die Industriestaaten eine Oase des Wohlstands seien, hält auch keiner Überprüfung stand – auch nicht einer oberflächlichen. Allein der Anblick von Hunderten von Millionen von Männern und Frauen, hauptsächlich Arbeitern mit oder ohne Stelle, genügt. Wie wir in der Nummer 100 unserer International Review (engl./frz./span. Ausgabe) schrieben, leben 18% der amerikanischen Bevölkerung, d.h. mindestens 36 Millionen Menschen, unter der Armutsgrenze, in Großbritannien sind es 8 Mio. und in Frankreich 6 Mio. Wenn die Arbeitslosenzahl  gesunken ist, dann steckt dahinter eine täglich größer werdende Flexibilität, immer prekärere Bedingungen und ein drastischer Lohnverfall. Neben den USA und Großbritannien werden die Niederlande oft als Beispiel eines wirtschaftlichen Erfolgs erwähnt. Wie kann man den Rückgang der Arbeitslosenzahlen in den Niederlanden von 10% 1983 auf weniger als 3% 1999 erklären, fragt sich Le Monde. „Mehrere Erklärungen sind schon angeführt worden: [....] Die Ausbreitung der Teilzeitarbeit, die 1997 38,4% der Gesamtbeschäftigten ausmachte, zahlreiche Pensionierungen von Beschäftigten, die als behindert eingestuft wurden (besonders weit verbreitet in Holland, da sie nahezu 11% der aktiven Bevölkerung umfassen), schließlich die Zurückhaltung bei den Löhnen während der 80er Jahre, all das sind Gründe, die eine Erklärung für den starken Rückgang der Arbeitslosigkeit liefern“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 14.3.00). Das Rätsel des Erfolgs ist gelöst. Einer von zehn Erwachsenen ist in einem der höchst entwickelten Industriestaaten der Erde behindert. Aber das ist kein Grund zum Lachen. Der Erfolg Hollands? Größtmögliche Ausdehnung prekärer Arbeitsbedingungen und von Teilzeitarbeit, Zahlenspielereien mit den Wirtschaftsstatistiken und den Gesundheitszahlen, schließlich drastische Lohnsenkungen. Da haben wir das „Erfolgsrezept“. Und es wird in allen Ländern angewandt.[ii]

Zu diesen Zahlen, die nur einen Teileinblick in die wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit der Industriestaaten darstellen, müsste man die gewaltige öffentliche und private Verschuldung der USA, die Ausdehnung ihres Handelsdefizits hinzufügen[iii] und die gewaltige Börsenspekulationsblase der Wall Street sowie aller anderen Börsen der Welt. Der viel gepriesene ununterbrochene US-amerikanische Wachstumszyklus der 90er Jahre wurde von den anderen Staaten der Welt durch eine gewaltige Ausbreitung der Verschuldung und eine gesteigerte Ausbeutung der Arbeiterklasse finanziert. Der andere große Industriestaat, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, Japan, hat die offizielle Rezession, d.h. die offiziell als solche anerkannt wird, noch nicht überwunden. Und das obwohl man eine astronomische Staatsverschuldung eingegangen ist, die „sich Ende 1999 auf 3300 Milliarden Dollar belief, womit Japan weltweiter Spitzenreiter war [....]. Japan hat somit die USA überholt, die zuvor die höchst verschuldete Nation der Erde war“ (Le Monde 4.3.00).

Die wirkliche Lage der Weltwirtschaft ist genau das Gegenteil der Idylle, die uns immer wieder geschildert wird.

Mörderische Katastrophen und Zerstörung des Planeten

Umwelt- und Naturkatastrophen häufen sich. Die todbringenden Überschwemmungen in Venezuela und Mosambik, die denen in China und anderswo folgten, haben Tausende von Toten und Verschwundenen, Hunderttausende Obdachlose und Hungernde hinterlassen. Gleichzeitig haben Dürreperioden, die weniger „spektakulär“ sind, in Afrika und in den von Überflutungen heimgesuchten Ländern zu einem anderen Zeitpunkt eine Unzahl von Opfern gefordert und Zerstörungen bewirkt. Aber die Tausenden von Toten, die in den Trümmern ihrer Elendshütten um Caracas verschüttet und begraben wurden, sind keine Opfer von Naturphänomenen geworden, sondern sie sind Opfer der Lebensbedingungen und der Anarchie des Kapitalismus. Die reichen Länder sind von den Katastrophen auch nicht ausgespart geblieben, auch wenn sie dort unmittelbar weniger dramatische Auswirkungen hinterlassen haben. Die Zahl der ‚Zwischenfälle“ in den Atomkraftwerken häuft sich. Genauso wie die Fälle von ‚Ölpest“, die nach dem Schiffbruch von Billigflaggschiffen entstehen, und die Zahl von Eisenbahn- und Flugzeugunfällen. Oder die Vergiftung von Flüssen wie die Einleitung von großen Quecksilbermassen in die Donau. Das Wasser ist mehr und mehr vergiftet und wird zu einer Mangelware. „Eine Milliarde Menschen hat keinen Zugang zu sauberem und trinkbarem Wasser, hauptsächlich deshalb, weil sie arm sind“ (International Herald Tribune, 17.3.00). Die Luft in den Städten und auf dem Lande wird immer verschmutzter. Krankheiten wie Cholera und Tuberkulose, die als überwunden galten, tauchen wieder auf und verbreiten sich. „Dieses Jahr werden 3 Millionen Menschen an Tuberkulose sterben, und 8 Millionen werden dadurch infiziert, fast alle leben in den armen Ländern [....]. Die Tuberkulose ist keineswegs nur ein medizinisches Problem. Sie ist ein politisches und soziales Problem, das unberechenbare Folgen für zukünftige Generationen haben könnte“, so die Aussage von Ärzten ohne Grenzen (zit. nach International Herald Tribune, 24.3.00).

Die Zerstörung des sozialen Gewebes und dessen dramatische Folgen

Diese Verschlechterung der Lebensbedingungen sowohl auf ökonomischer als auch auf allgemeiner Ebene geht einher mit einer Explosion der Korruption, dem Aufblühen von Mafia-Organisationen und schlimmster Kriminalität. Ganze Länder werden von Drogen, Kriminalität und Prostitution überschwemmt. Die Veruntreuung von Geldern des IWF in Russland in Milliardenhöhe durch Mitglieder der Jelzin-Familie sind nur ein karikaturaler Ausdruck der weit verbreiteten Korruption, die auf der ganzen Welt um sich greift.

Die Hölle, in der sich Millionen von Kinder auf der Welt befinden, ist unglaublich. „Die Liste der Tätigkeitsfelder, wo Kinder zu Waren werden, ist lang [....]. Aber die Kinder werden keineswegs nur für den internationalen ‚Markt“ der Adoption verkauft. Man verkauft sie auch wegen ihrer Arbeitskraft [....]. Das Sex-Gewerbe – Kinderprostitution, Erwachsenenprostitution – ist heute so lukrativ geworden, dass es fast 15% des Bruttoinlandprodukts einiger asiatischer Länder ausmacht (Thailand, Philippinen, Malaysia). Die immer jüngeren Opfer leben überall in einer immer größeren Armut, vor allem wenn sie krank auf der Straße landen oder in ihre Dörfer zurückgeschickt werden, wo sie dann von ihren Familien verworfen und somit von allen im Stich gelassen werden“ (Le Monde, 21.3.00, Claire Bisset, Direktorin des Französischen UNICEF-Komitees).[iv]

Genauso schrecklich ist die Ausbreitung der Prostitution junger Mädchen. Infolge der Intervention der NATO im Kosovo landeten Tausende junger Frauen in den Flüchtlingslagern. Während ihre Brüder von der Mafia der UCK zwangsrekrutiert wurden, sich am Drogenhandel beteiligten und der Kriminalität verfielen, sind die Frauen ebenfalls zu Opfern der Mafia geworden. „Oft werden sie in den Flüchtlingslagern gekauft oder entführt, um dann ins Ausland oder in den Kneipen an die Soldaten von Pristina verkauft zu werden [....]. Die meisten von ihnen erleiden Misshandlungen, insbesondere Vergewaltigungen, bevor sie gezwungen werden sich zu prostituieren. ‚Anfangs glaubte ich nicht, dass es wirkliche Konzentrationslager gab, in denen sie vergewaltigt und auf die Prostitution vorbereitet werden“, erklärte eine französischer Polizist“ (Le Monde, 15.3.00).

Auf allen Ebenen: Kriege, Wirtschaftskrise, Armut, in ökologischer und sozialer Hinsicht ein düsteres und katastrophales Bild.

Wohin treibt der Kapitalismus die Welt?

Aber handelt es sich um eine zugegebenermaßen schreckliche und dramatische Übergangsperiode hin zu einer besseren Welt mit Frieden und Wohlstand? Oder handelt es sich um einen unaufhaltsamen Abstieg in die Hölle? Handelt es sich um eine Gesellschaft, die schlimmste Zeiten durchmacht, bis dann wieder eine neue außergewöhnliche Entwicklung dank neuer Technologien möglich wird? Oder befinden wir uns in einem unumkehrbaren Zerfall des Kapitalismus? Welche tiefgreifenden Tendenzen gibt es, die ausschlaggebend sind für alle Aspekte im Kapitalismus?

Hin zu einer Zerstörung der Umwelt

Trotz der Reden der Grünen und ihrer Regierungsbeteiligung werden Katastrophen aller Art und die Zerstörung des Planeten durch den Kapitalismus nur noch zunehmen und sich weiter zuspitzen. Wenn die Wissenschaftler es schaffen, eine „objektive“ und ernsthafte Untersuchung zu erstellen, und wenn sie zu Wort kommen, sind ihre Vorhersagen verheerend. So äußerte sich ein Wasserspezialist: „Es ist, als ob wir auf eine Mauer zurasen [....]. Das schlimmste Zukunftsszenario besteht darin, dass, wenn wir so weitermachen wie heute, dann steht die Krise fest [....]. 2025 wird die Mehrheit der Menschen mit einer schwachen oder katastrophal schwachen Wasserversorgung konfrontiert sein“ (Le Monde, 14.3.00). Die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers: „Eine Änderung der globalen Politik ist dringend geboten“.

Wir brauchen gar nicht mehr auf das Loch in der Ozonschicht zurückzukommen, auch nicht auf die Erwärmung der Erde, die zu einem Eisschmelzen an den beiden Polen führt und den Meerwasserspiegel ansteigen lässt. Die Luft in den meisten Megastädten der Erde ist kaum noch zu atmen und die damit verbundenen Krankheiten, Asthma, chronische Bronchitis und andere, wie Krebs, steigen schnell an. Aber nicht nur die Großstädte und die Industriegebiete sind davon betroffen, sondern der ganze Erdball. Die Wolke von Industrieabgasen, für die die Industrie in Indien und China verantwortlich ist, hing wochenlang über dem Indischen Ozean und war so groß wie die Fläche der USA. Welche Antwort bietet der Kapitalismus? Kann er die Verschmutzung einstellen oder zumindest reduzieren? Keinesfalls. Seine Antwort? Sich Luft ‚anzueignen“ und sie als Ware verkaufen: „Zum ersten Mal wird die Luft, universeller Lebensbestandteil, zu einer Ware [....]. Das Prinzip eines Marktes für zugelassene Emissionen (d.h. Rechte zu verschmutzen) ist einfach [....]. Ein Land, das mehr CO2 ausstößt als erlaubt, kann von einem anderen Land, das weniger ausstößt, dessen Emissionsanteile abkaufen“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 21.3.00). Mit dem Wasser wird schon so verfahren, genauso wie mit Kindern und mit den Arbeitern. Statt die Zerstörung der Umwelt zu stoppen, oder sie zumindest zu reduzieren, beschleunigt der Kapitalismus den ganzen Zerstörungsprozess, indem er alles zu einer Ware werden lässt.

Hin zu noch mehr Armut und Not

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich die Lebensbedingungen der Weltbevölkerung – die Arbeiterklasse der Industriestaaten eingeschlossen – trotz des technischen Fortschritts und einer Entwicklung der quantitativ gewaltigen Produktivkräfte wesentlich verschlechtert, ohne all die Opfer und die Armut zu erwähnen, die durch die beiden Weltkriege verursacht wurden. Wie die Kommunistische Internationale 1919 feststellte, war der Zeitraum der Dekadenz des Kapitalismus eröffnet worden.

In den 70er Jahren gingen die Staaten Afrikas bankrott und der Schuldenberg Lateinamerikas erreichte astronomische Ausmaße. In den 80er Jahren gingen diese beiden Kontinente pleite und die Verschuldung Osteuropas explodierte. In den 90er Jahren ging Osteuropa pleite, dann kam die Explosion der Verschuldung und Pleite Asiens. Ob Afrika, Lateinamerika, oder jetzt Asien und Osteuropa – die Lage hat sich Ende des vorigen Jahrhunderts dramatisch verschlechtert. Anfang der 70er Jahre betrug die Zahl der Armen (die der Weltbank zufolge weniger als einen Dollar pro Tag verdienten) ca. 200 Millionen. Anfang der 90er Jahre war diese Zahl auf ca. 2 Milliarden angestiegen.

Nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Staatskapitalismus in Osteuropa wurde allen der große Wohlstand des Westens versprochen. „Doch statt eines Anstiegs der Löhne und des Lebensstandards auf das Niveau Westeuropas vergrößerte sich das Gefälle zwischen Ost- und Westeuropa nach 1989 noch mehr. Das Bruttoinlandprodukt fiel gar in den höchst entwickelten Ländern um 20%. Zehn Jahre nach dem Beginn des Übergangs hat einzig Polen sein Bruttoinlandprodukt von 1989 übertroffen, während Ungarn sich erst Ende der 90er Jahre diesem Niveau nähert“ (Le Monde Diplomatique, Febr. 2000).

Über Asien, wo die Krise vom Sommer 1997 angeblich überwunden sei, hört man: „Viele Banken sitzen noch auf gewaltigen Schulden, bei denen es auch bei einer Besserung des Wirtschaftsklimas keine Aussichten auf eine Rückzahlung gibt“ (The Economist, in „Die Welt im Jahr 2000“). Sicher ist die Bourgeoisie entzückt über die Genesungskraft der asiatischen Wirtschaften. „Die Wiederbelebung der Wirtschaft der Region ist ‚bemerkenswert“, meinte der Vizepräsident der Weltbank, zuständig für Ostasien und den Pazifik. Aus seiner Sicht ‚nimmt die Armut nicht weiter zu, die Währungskurse sind stabil, die Reserven beträchtlich, die Exporte steigen, Auslandsinvestitionen nehmen zu und die Inflation bleibt gering“ (Le Monde, 24.3.00).  Hinter der Aussage, „die Armut nimmt nicht weiter zu“, steckt in Wirklichkeit die Zerstörung ganzer Bereiche der Wirtschaft Asiens und eine gewaltige Verarmung der Bevölkerung, eine gestiegene öffentliche und private Verschuldung, die die Erklärung dafür liefert, dass „die Reserven beträchtlich“ sind; dahinter steckt auch eine abgewertete Landeswährung, was die Exporte und Auslandsinvestitionen begünstigt. Aber selbst im Falle Südkoreas, das vor der Krise vom Sommer 1997 als zehntgrößte Industriemacht eingestuft wurde, sind die Experten geteilter Meinung, und nicht alle lassen sich von den Erfordernissen der Propaganda beeindrucken.

„Hilton Root, ein ehemaliger Wirtschaftsprofessor an der Wharton School, beschrieb ein beunruhigendes Bild des koreanischen Wiederaufschwungs, der sehr zerbrechlich sei und nicht auf fest Füßen stehe. Auf den mächtigen südkoreanischen Chaebols (Konglomerate) lasten immer noch gigantische Schulden, und im Land bündelt sich der Reichtum noch immer in den Händen einiger weniger Familien, die Korruption treibt weiter Blüten und schadet dem politischen und Rechtssystem der Nation. Mr. Root bezweifelt, dass der koreanische Wiederaufschwung andauert, auch wenn Mr. Kim stärker als je zuvor erscheint. Viele Menschen befürchten, dass Südkorea schnell wieder einen Rückschlag erleidet“ (International Herald Tribune, 18.3.00).  Man kann sehen, auch wenn die Erklärung der Schwierigkeiten durch diesen Ökonomen keineswegs ausreichen, dass die Wirklichkeit überhaupt nicht so rosig aussieht, wie sie uns die Spezialisten der internationalen Bourgeoisie darstellen wollen.

Für die meisten Länder der Peripherie, d.h. für die meisten Kontinente, Länder und den Großteil der Weltbevölkerung lauten die Perspektiven: noch mehr Zerstörung, noch mehr Armut und Hunger.

Hin zu noch mehr Arbeitslosigkeit und noch prekäreren Arbeitsbedingungen in den reichen Ländern

Wie können wir behaupten, dass der Kapitalismus bankrott ist, obwohl man doch Wachstum verzeichnet? Sind wir denn blind? Wird die „neue Wirtschaft“ die Wirtschaft nicht noch mehr ans Laufen bringen und einen ununterbrochenen Wohlstand garantieren? Wird es nicht „Vollbeschäftigung“ geben, wie die Regierungen behaupten? Wirklichkeit oder Traum? Ist all dies möglich oder handelt es sich um Lügen?

Die Wirtschaftsvorhersagen, die uns von den Medien vorgetragen werden, sind nichts als Propaganda. Sie dienen nur dazu, den allgemeinen Bankrott zu übertünchen. Die Politiker, Spezialisten und Journalisten legen uns manipulierte Zahlen vor, die deren Lügen decken sollen. Im Mittelpunkt der Kampagne, wonach es bald wieder Vollbeschäftigung geben werde, steht die „neue Wirtschaft“.[v] Wie soll das geschafft werden? Durch immer mehr prekäre Bedingungen, aufgezwungene Teilzeitarbeit und Tricks: „Während sich die Zeiten ändern, ändern sich auch die Orientierungspunkte. In besseren Zeiten sprach man von Vollbeschäftigung, als die Arbeitslosigkeit nur 3% betrug. Seit neustem meinen die Experten, könne man davon sprechen, wenn es nur 6% Arbeitslosigkeit gebe. Einige wollen die Zahl gar auf 8,5% anheben“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 21.3.00).  Die Tatsache, dass ihre Kriterien ständig geändert werden, untergräbt jetzt schon die versprochene Rückkehr zur „Vollbeschäftigung“ und zeigt das geringe Vertrauen, das man in ihre Prognosen haben kann. Die Arbeitslosigkeit und die prekären Arbeitsbedingungen werden sich noch weiter verschlimmern und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse weltweit verschlechtern.

Das Gleiche trifft für die Wachstumszahlen zu. In Zahlentricks geübt, haben es sich die japanischen Politiker angewöhnt, die Rezession in ihrem Land zu leugnen. „Auch wenn das Bruttoinlandprodukt jetzt schon zwei Halbjahre in Folge[vi] rückläufig ist, glauben wir nicht, dass wir in einer Rezession stecken“ (Le Monde, 14.3.00).  Warum sollten sie davor zurückschrecken? Weil die Zahlen so verfälscht sind, damit sie in bestem Licht erscheinen. „Früher hätte man eine Wachstumsrate von 1–1,5% der Weltwirtschaft als Rezession betrachtet. Bei den drei vergangenen weltweiten ‚Rezessionen“ – 1975, 1982, 1991 – ist die Weltproduktion nie wirklich zurückgegangen“ (The Economist, „Die Welt 1999“, veröffentlicht in Courrier International). Unter diesen Bedingungen sind die triumphierenden Erklärungen über das wieder anziehende Wachstum in den Industriestaaten keineswegs glaubwürdig.

Es geht den Herrschenden heute darum, in den Augen der Weltbevölkerung, insbesondere gegenüber der Arbeiterklasse der Industriestaaten, den wirtschaftlichen Bankrott des Kapitalismus zu verschleiern. Eine der himmelschreiendsten Ausdrücke dieses Bankrotts ist der Rückgang der Produktion, die Rezession, mit ihren dramatischen und gewalttätigen Folgen. Die lyrischsten Schwärmereien über das US-Wachstum, dessen künstlicher Charakter und dessen Preis, den die US-Bevölkerung dafür zu zahlen hat, wir erwähnt haben, sollen die weltweite Rezession übertünchen. Wie viele Artikel und Lobpreisungen über das US-Wachstum im Vergleich zu den seltenen, verstreuten Erwähnungen der „tiefgreifenden Rezession in den meisten Ländern der Dritten Welt“ (The Economist) und in Osteuropa?

Hin zu einer Zuspitzung der Widersprüche der US-Wirtschaft

Trotz der Tricks ist die Bourgeoisie dennoch gezwungen, für sich mehr Klarheit zu schaffen, auch wenn es nur darum geht zu sehen, wie sie ihren Bankrott besser kontrollieren kann. Auf diesem Hintergrund also die gegenwärtige Diskussion über die „sanfte Landung“. Die asiatische „Krise“ vom Sommer 1997, die vor allem Asien, Lateinamerika und Osteuropa erfasste, konnte in Nordamerika und in Westeuropa eingedämmt werden, auch wenn Westeuropa und insbesondere die USA eine wachsende öffentliche und private Verschuldung hinnehmen mussten, mit der Folge, dass die Inflation ansteigt, die Wirtschaft überhitzt und eine noch größere und „irrationalere“ Börsenspekulation einsetzt als vorher.

Allen Lobliedern über die angebliche blendende Gesundheit der Wirtschaft, die revolutionäre Energie und den Boom der mit dem Internet verbundenen „neuen Wirtschaft“ zum Trotz, haben die ernsthaftesten Wirtschaftsspezialisten und Verantwortlichen nur eine einzige wahre Sorge: „die sanfte Landung“ der Weltwirtschaft. In Wirklichkeit handelt es sich um ein stillschweigendes Eingeständnis, dass die Wirtschaft schon dabei ist abzusinken. „Eine Sache ist klar: die Expansion der US-Wirtschaft wird sich abschwächen [....]. Könnte die Bremsung so heftig werden, dass sie zu einer weltweiten Rezession führt? Dies ist wenig wahrscheinlich, aber das Risiko kann man nicht ausschließen. (Dennoch) befürchten wir zwei beunruhigende Folgen. Erst wird die notwendige Verlangsamung, um eine Rückkehr der Inflation in den USA im Jahr 2000 zu vermeiden, ziemlich stark sein [....]. Wenn die neue Wirtschaft ein Mythos ist, oder wenn sie jedenfalls weniger reell ist, als man behauptet, sind die gegenwärtigen Börsennotierungen der US-Firmen völlig überzogen. Wenn man sich die Notwendigkeit einer Abschwächung der globalen Nachfrage und die überbewerteten Aktienkurse (die Anleger haben sich auf den Verlust von Illusionen wenig eingestellt) vor Augen führt, lassen sich keine Bedingungen für eine erfolgreiche Landung erkennen“ (The Economist, „Die Welt im Jahre 2000“).

Zweifel machen sich breit. Wird es die Bourgeoisie schaffen, den Absturz zu kontrollieren um solch einen brutalen und unkontrollierten Schock wie 1929 vermeiden können? Es geht nicht darum, ob sich die Pleite vermeiden lässt oder nicht. Die Pleite ist längst schon eingetreten. Wachstum oder Rezession? Die Rezession hat sich längst schon niedergelassen, wie oben aufgezeigt. Wohlstand oder Armut? Die Armut ist längst eingezogen. Arbeitslosigkeit – prekäre Arbeitsbedingungen oder Vollbeschäftigung? Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsbedingungen gehören längst zum Alltag. Nein, es geht darum: Wird die Bourgeoisie weiterhin den Absturz so kontrollieren können, wie sie es heute tut? Kontrollierter oder unkontrollierter Absturz? Zweifel und Fragestellungen sind in einem anderen Artikel der gleichen Zeitung zu erkennen. „Wenn eine sanfte Landung gelingt, werden die USA ein genauso erstaunliches Wunder vollbracht haben wie das fortgesetzte Wachstum während der letzten Jahre“ (ebenda). Zum Teufel! Zwei „Wunder“ hintereinander! Welch blinder Glaube. Und welches Vertrauen in die Tugenden der kapitalistischen Wirtschaft. Wie beim ersten wird dieses neue „Wunder“, falls es jemals eintreten sollte, nicht durch den Markt bewirkt werden, sondern durch das autoritäre Eingreifen der Staaten – an führender Stelle der USA – in die Wirtschaft, durch politische Entscheidungen der Regierungen und der „Techniker“ der Zentralbanken, die erneut versuchen werden, das Wertgesetz außer Kraft zu setzen, nicht um die Wirtschaft zu retten, sondern um so „sanft“ wie möglich zu landen.

Hin zu mehr Kriegen und Chaos

Wir haben in unserer Presse aufgezeigt[vii], dass in Tschetschenien kein Frieden einkehren wird – genau so wenig wie auf dem Balkan. Und es gibt eine Vielzahl von Spannungsherden. Aus dieser Vielfalt von lokalen Antagonismen ragen besonders die Spannungen zwischen China und Taiwan, Indien und Pakistan und damit Indien und China heraus, d.h. den drei Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Darüber hinaus spitzen sich die Gegensätze zwischen den industriellen Großmächten zu, auch wenn diese Zuspitzung bislang teilweise noch verdeckt ist. Diese Rivalitäten schüren die lokalen Konflikte und spitzen sie zu, wenn sie nicht gar deren direkte Ursache sind wie in Jugoslawien. Die Divergenzen hinsichtlich des Kosovos und des Einsatzes der NATO-Truppen verdeutlichen dies.

Wiederaufflammen der lokalen Konflikte, Zuspitzung der Gegensätze zwischen den imperialistischen Großmächten, dahin treibt uns der Kapitalismus immer mehr.

Auf der Ebene der lokalen imperialistischen Gegensätze hat der gegenwärtige Zeitraum des Zerfalls in den meisten Kontinenten ein Chaos hervorgerufen. „In den südlichen Staaten ist der Staat dabei zusammenzubrechen. Gebiete, in denen es kein Rechtssystem mehr gibt, wo immer mehr unregierbare chaotische Zustände herrschen, versinken in einen Zustand der Barbarei, wo nur die Banden von Plünderern dazu in der Lage sind, ihr Gesetz durchzusetzen, indem sie die Bevölkerung erpressen“ (Le Monde Diplomatique, Dez. 1999). Afrika, das aufgegeben zu sein scheint, zeigt es am deutlichsten. Die gewaltigen Regionen Zentralasiens haben den gleichen Weg eingeschlagen, und obwohl es noch nicht die gleiche Stufe erreicht hat, ist Lateinamerika auch von dieser Entwicklung erfasst, wie uns das Beispiel Kolumbien zeigt.[viii]

Genauso wie in ökologischer und ökonomischer Hinsicht stürzt diese unumkehrbare Tendenz des zerfallenden Kapitalismus die Menschheit ins Chaos und in die Katastrophe. „Dieses [russische] Reich, das in selbständige Regionen zerfällt, diese Einheit ohne Gesetze, ohne Zusammenhalt, dieses aufleuchtende Universum, wo die größten Reichtümer und die furchtbarsten Gewalttätigkeiten gleichzeitig anzutreffen sind, liefert uns ein klares Bild von diesem neuen Mittelalter, in das der ganze Planet zurückfallen könnte, falls wir die Globalisierung nicht in den Griff kriegen“ (J. Attali, ehemaliger Berater des französischen Präsidenten F. Mitterand, L’Express, 23.3.00).

Hat die Menschheit eine Zukunft?

Ein Überblick über die Welt von heute zeigt, wie schrecklich und katastrophal die Lage ist. Die Perspektiven, die der Kapitalismus der Menschheit anzubieten hat, sind schauderhaft und apokalyptisch, aber auch unausweichlich. Es sei denn, wir schaffen es, die Ursache dieses Übels zu überwinden: den Kapitalismus.

„Der Mythos besteht weiterhin, dass der Hunger die Folge eines Mangels an Nahrungsmitteln sei [....]. Aber die eigentliche Ursache des Hungers in den reichen und armen Staaten ist die Armut“ (International Herald Tribune, 9.3.00). Die kapitalistische Welt hat ausreichend Produktivkräfte entwickelt, um die ganze Menschheit zu ernähren. Dies geschah sogar, obwohl während des 20. Jahrhunderts ungeheure Reichtümer und die Produktivkräfte massiv zerstört wurden. Der Überfluss an Gütern und das Ende der Armut – all das bleibt weiter im Bereich des Möglichen für die Menschheit und damit auch die Beherrschung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Verteilung der Güter, das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, das Ende der Kriege und der Massaker, das Ende der Umweltzerstörung. In ökonomischer und technischer Hinsicht ist diese Frage seit Anfang des 20. Jahrhunderts längst geklärt. Aber die Aufgabe der Zerstörung des Kapitalismus muss noch erfüllt werden.

Dem gegenüber will die herrschende Klasse uns immer eintrichtern, dass jegliches revolutionäre Projekt unvermeidbar zu einem blutigen Scheitern verurteilt sei; sie verbreitet die Lüge, dass der Kommunismus seiner Negation, dem Stalinismus, gleichzusetzen sei. Mit Hilfe ihrer „Oppositionskräfte“ leiert sie demokratische Kampagnen gegen Pinochet an, gegen die extreme Rechte in Österreich, gegen die Vorherrschaft der Finanzgiganten über die Gesellschaft, gegen die Auswüchse des Liberalismus, gegen die Welthandelsorganisation während der großen Medienshow um die Gipfelgegner in Seattle, für die Tobin-Steuer in Frankreich. In jedem Land werden diese Kampagnen jeweils an die nationalen Verhältnisse angepasst – so wie bei der Dutroux-Affäre in Belgien, dem Kampf gegen den ETA-Terrorismus in Spanien, den Mafia-Skandalen in Italien und der Anti-Rassismus Kampagne in Frankreich. Ein Leitgedanke dieser demokratischen Kampagnen besteht darin, dass die Bevölkerung und an erster Stelle die Arbeiterklasse sich als „Bürger“ um ihren Staat zusammenschließen, um diesem zu helfen, und bei den radikalsten unter ihnen, um ihn zu zwingen, die Demokratie zu verteidigen.

Das Ziel dieser Kampagnen und dieser demokratischen Verschleierungen ist klar. Der Kampf der Arbeiterklasse wird ersetzt durch die Bürgerbewegung aller Klassen und aller Interessensgruppierungen. Dem Kampf gegen den Kapitalismus und seinen Repräsentanten und höchsten Verteidiger, den Staat, stellt man die Unterstützung des Staates entgegen. Die Arbeiterklasse würde alles verlieren, wenn sie sich in dieser Vermischung aller Klassen der Bürger und des Volkes auflösen würde. Sie würde alles verlieren, wenn sie sich hinter den kapitalistischen Staat stellte. Die Bourgeoisie verbreitet auch die Idee, dass der Klassenkampf und die Arbeiterklasse als solche verschwunden seien. Aber die Tatsache, dass diese Kampagnen überhaupt angeleiert werden, ihre oft internationale Orchestrierung und ihr Ausmaß belegen, dass die Arbeiterklasse aus der Sicht der Bourgeoisie weiterhin eine Gefahr darstellt und als Klasse bekämpft werden muss.

Und dies gilt umso mehr, als sich heute wieder mehr Klassenkämpfe entfalten, die sicherlich noch zerstreut und von den Gewerkschaften und den politischen Kräften der Linken kontrolliert und in Niederlagen geführt werden. Aber diese Kämpfe verdeutlichen nichtsdestotrotz eine wachsende Unzufriedenheit mit den Angriffen des Kapitals. In Deutschland, in Großbritannien, in Frankreich gab es zwar schüchterne und von den Gewerkschaften noch voll kontrollierte, aber dennoch bedeutsame Klassenbewegungen.[ix] Die Proteste der New Yorker U-Bahn-Beschäftigten im Nov.-Dez. 99 (siehe Internationalism Nr. 111, Zeitung der IKS in den USA) waren sicherlich ein Ausdruck der Stärken und Schwächen sowie der Grenzen der Arbeiterklasse heute. Denn es gab auf der einen Seite eine Kampfbereitschaft, die Weigerung, die Opfer ohne Widerstand hinzunehmen, eine Bereitschaft, sich zu versammeln und über die Bedürfnisse und Mittel des Kampfes zu diskutieren, sowie auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den gewerkschaftlichen Manövern; auf der anderen Seite ein mangelndes Selbstvertrauen, eine mangelnde Entschlossenheit der Arbeiter zur Überwindung der gewerkschaftlichen Hindernisse, damit sie offen in den Kampf eintreten und versuchen können, die Ausdehnung auf andere Bereiche in die Hand zu nehmen.

Die Lügen über die gute Gesundheit der Wirtschaft zielen darauf ab, die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse zu verhindern und vor allem so lange wie möglich zu verzögern. Es geht nicht so sehr darum, die Bewusstwerdung über die Angriffe und die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verhindern – denn die Arbeiter erleben das alltäglich und sind sich darüber im klaren –, sondern vor allem die Bewusstwerdung über den Bankrott des Kapitalismus soll verhindert werden. Und auf ideologischer und politischer Ebene steht die ständige und systematische Kampagne über die Notwendigkeit der Verteidigung der Demokratie und ihrer Verstärkung im Mittelpunkt der politischen Offensive der Bourgeoisie gegen das Proletariat in der heutigen Zeit.

Auf geschichtlicher Ebene steht viel auf dem Spiel. Für den Kapitalismus geht es darum, die Entwicklung von massiven und vereinten Kämpfen so lange wie möglich hinauszuschieben und sie in Sackgassen zu lenken,  um damit auch eine Verstärkung des Selbstbewussteins der Arbeiter zu vereiteln. Damit sollen die Abwehrkämpfe der Arbeiter erschöpft, zerstreut und schließlich in Niederlagen geführt werden. Es wäre eine Katastrophe für die ganze Menschheit, wenn das internationale Proletariat in den zukünftigen entscheidenden Klassenzusammenstößen geschlagen und zu Boden geworfen werden würde.               

R.L. 26.3.00

 


[i] Die Übersetzung der Zitate aus der englischen bzw. französischen Presse ist von uns.

[ii] Teilzeitarbeit und Flexibilität sowie Zahlentricks auch in Großbritannien: „Obwohl es ein wichtiges Faktum ist, wird der große Rückgang der aktiven Bevölkerung meist verschwiegen [....] .  Ein anderer Faktor ist zu berücksichtigen: der starke Anstieg der Teilzeitarbeit, denn seit 1992 sind zwei von drei neu geschaffenen Arbeitsplätzen Teilzeitjobs. Das ist ein Rekord in Europa! Schließlich verfährt man nach einem alten Rezept, die Arbeitslosenzahlen werden in Großbritannien frisiert. Jeder Arbeitswillige, der aber nicht aktiv eine Beschäftigung sucht (d.h. eine Million Menschen) wird aus der Statistik gestrichen, genauso wie diejenigen, die nicht sofort zur Arbeitsaufnahme zur Verfügung stehen (ca. 200000)“ (Le Monde Diplomatique, Febr. 1998). Siehe auch Le Monde Diplomatique April 1998 mit Zahlen zu den prekären Arbeitsbedingungen und Zwangsteilzeitarbeit in den Hauptindustriestaaten USA, Großbritannien, Frankreich usw.

[iii] „Das Defizit beträgt 338,9 Milliarden Dollar 1999, ein Anstieg um 53.6% im Vergleich zu den 220,6 Mrd. Dollar 1998. Seit Einführung der Statistiken, d.h. nach dem 2. Weltkrieg, gab es noch nie ein solch großes Defizit“ (Le Monde, 17.3.00).

[iv] Kinder als Waren sind keine auf die armen Länder beschränkte Erscheinung, wo ein totales Chaos

herrscht. „Großbritannien ist ebenfalls europäischer Spitzenreiter der Kinderarbeit, wie ein Bericht einer unabhängigen Kommission, die Low Pay Unit, aufdeckt, der am 11. Februar veröffentlicht wurde: Zwei Millionen Jugendliche zwischen 6 und 15–16 Jahren, darunter 500000 unter 13 Jahren, gehen einer fast regelmäßigen Beschäftigung nach. Dabei handelt es sich nicht nur um geringfügige Beschäftigungen, sondern um Tätigkeiten, die normalerweise von Erwachsenen in der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe ausgeübt werden sollte, und die lächerlich gering bezahlt werden. Das Generationsdumping, das ist das neueste britische Modell“ (Le Monde Diplomatique, April 1998).

[v] Wir können im Rahmen dieses Artikels die neue Entdeckung, den neusten Trick, das Internet und die „neue Ökonomie“, welche die Menschheit und den Kapitalismus aus der Sackgasse führen soll, nicht ausführlich analysieren, kritisieren und denunzieren. Wir können jedoch ganz einfach feststellen, dass der Enthusiasmus der letzten Monate am zusammenbrechen und die Raserei und spekulative Hitze auf dem Internet bereits am abkühlen ist. Die mit dem Internet verknüpften astronomischen Ziffern der Kapitalisierung der Gesellschaften an der Börse stehen in keinem Verhältnis zu den Zahlen der Bruttoumsätze und noch weniger zu den Profiten, wenn diese überhaupt existieren, was selten der Fall ist. Dass immense Kapitalmassen die „alte Ökonomie“ verlassen, also diejenige, welche Produktions- und Konsumgüter herstellt, und sich auf Unternehmen stürzen, welche nichts produzieren und nur die Spekulation zum Ziel haben, ist eine deutliche Bestätigung der Sackgasse des Kapitalismus. „Im Januar gab es einen Zustrom von 32 Milliarden Dollar in Technologiefonds, die stark wachsen (die „neue Ökonomie“ im Zusammenhang mit dem Internet). In dieser Zeit zogen die Investoren ihr Geld aus anderen Geschäften zurück, welche einen Rückgang von 13 Milliarden verzeichneten. Die Zahlen im Dezember waren genauso eindrücklich: 26 Milliarden für die Spitzentechnologie, und 13 Milliarden flohen aus anderen Sektoren.“ (International Herald Tribune, 14.3.2000)

[vi] Laut den Spielregeln der Ökonomen braucht es drei aufeinanderfolgende Quartale mit zurückgehendem Wachstums, damit man „offiziell“ von Rezession sprechen kann. Doch wie The Economist hervorhebt, sind die negativen Zahlen nur Anzeichen einer „offenen“ Rezession, welche keinesfalls die Existenz einer Rezession auch im Falle positiver Zahlen in Frage stellt.

[vii] Siehe die letzten Nummern der International Review mit ausführlicheren Analysen und Stellungnahmen zu den imperialistischen Konflikten, vor allem im Kosovo, Timor und Tschetschenien (Nr. 97, 98, 99, 100 engl./ franz./ span. Ausgabe) 

[viii] Es gilt zu erwähnen, dass „Kolumbien nach Israel und Ägypten der drittgrößte Empfänger amerikanischer Militärhilfe ist“ („Die Welt im Jahre 2000“, Courrier International).  

[ix] In Deutschland „haben sich die sozialen Spannungen zugespitzt (...) als die Regierung einschneidende Veränderungen in der Beschäftigungspolitik einleitete“ (International Herald Tribune, 24.3.00). Siehe auch Weltrevolution, unsere deutschsprachige zweimonatliche Presse. Zu England siehe unsere monatlich erscheinende World Revolution Nr. 228 und 229, sowie die Stellungnahme der Communist Workers Organisation in Revolutionary Perspectives Nr. 15 und 16 zu den verschiedenen Einschätzungen über die gegenwärtigen Arbeiterkämpfe. Zu Frankreich siehe unsere Monatspresse Revolution International.

Die bedeutendsten Bewegungen sind nicht die, über welche in den Medien am meisten geschrieben wird. So haben in Frankreich die zahlenmäßig unbedeutenden und korporatistischen Streiks der Steuerbeamten und im Schulwesen die Schlagzeilen mit Siegesmeldungen beherrscht, die auf das Konto der Gewerkschaften geschrieben wurden, während umgekehrt eine Vielzahl von Konflikten im privaten und öffentlichen Sektor, wie z.B. bei der Post, gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche und deren Konsequenzen heruntergespielt, wenn überhaupt vermittelt, werden.