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Der Ausbruch der Wut und der Revolte der jungen Arbeitergenerationen in Griechenland ist kein isoliertes oder besonderes Phänomen. Ihre Wurzeln liegen in der Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus. Der Zusammenstoß der Protestierenden mit dem gewalttätigen Unterdrückungsapparat entblößt das wahre Gesicht der bürgerlichen Herrschaft und des Staatsterrors. Es ist eine direkte Fortsetzung der Mobilisierung der Jugendlichen auf einem Klassenterrain wie in Frankreich im Zusammenhang mit dem CPE-Gesetz im Frühjahr 2006 und dem LRU 2007, als die Studenten und Gymnasiasten sich vor allem als zukünftige Beschäftigte sahen, die gegen ihre künftigen Ausbeutungsbedingungen protestierten. Alle Herrschenden der wichtigsten europäischen Länder haben dies auch so verstanden, denn sie haben ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht, dass ähnliche soziale Explosionen aus Widerstand gegen die Zuspitzung der Krise auch woanders ausbrechen. So hat bezeichnenderweise die herrschende Klasse in Frankreich einen Rückzieher gemacht, indem sie ganz überstürzt ihr Programm zur Reformierung der Gymnasien (siehe dazu den Artikel auf unserer französischsprachigen Website) vorläufig auf Eis gelegt hat. Der internationale Charakter der Proteste und die wachsende Kampfbereitschaft der Studenten und vor allem der Schüler ist schon deutlich zu spüren.
In Italien fanden am 25. Oktober und am 14. November massive Demonstrationen unter dem Motto „Wir wollen nicht für die Krise blechen" gegen die Regierungsverordnung von Gelmini statt, die zahlreiche Einschnitte im Erziehungswesen mit drastischen Konsequenzen anstrebt: So sollen zum Beispiel die Zeitverträge von 87.000 Lehrern und 45.000 anderen Beschäftigten des Erziehungswesens nicht verlängert werden. Gleichzeitig sollen umfangreiche Kürzungen in den Universitäten vorgenommen werden.
In Deutschland sind am 12. November ca. 120.000 Schüler in den meisten Großstädten des Landes auf die Straße gegangen und haben zum Teil Parolen gerufen wie „Der Kapitalismus ist die Krise" (Berlin) oder das Landesparlament in Hannover belagert.
In Spanien sind am 13. November Hunderttausende Studenten in mehr als 70 Städten auf die Straße gegangen, um gegen die neuen, europaweit gültigen Bologna-Bestimmungen der Bildungsreform und der Universitäten zu protestieren, in denen u.a. die Privatisierung der Universitäten und immer mehr Praktika in den Unternehmen vorgesehen sind.
Die Revolte der Jugend gegen die Krise und die Verschlechterung der Lebensbedingungen breitete sich auf andere Länder aus: alleine im Januar 2009 brachen Bewegungen und Konfrontationen in Vilnius (Litauen), Riga (Lettland) und Sofia (Bulgarien) aus. Sie wurden mit einer harten Polizeirepression konfrontiert. In Kegoudou, 700 Kilometer südöstlich von Dakar in Senegal, ereigneten sich im Dezember 2008 gewalttätige Konfrontationen während Demonstrationen gegen die Armut. Die Demonstranten hatten mehr Lohn bei der Arbeit in den Minen von ArcelorMittal gefordert. 2 Personen wurden dabei getötet. Schon Anfangs Mai 2008 gab es einen Aufstand von 4000 Studenten in Marrakesch (Marokko), nachdem 22 von ihnen durch das Essen in der Universitätskantine eine Vergiftung erlitten hatten. Die Bewegung wurde brutal niedergeknüppelt und es folgten Festnahmen, lange Gefängnisstrafen und Folter.
Viele von ihnen identifizieren sich mit dem Kampf der griechischen Studenten. In vielen Ländern sind zahlreiche Kundgebungen und Solidaritätsveranstaltungen gegen die Repression, unter der die griechischen Studenten leiden, organisiert worden, wobei die Polizei auch sehr oft gewaltsam dagegen vorgegangen ist.
Das Ausmaß der Mobilisierung gegen diese gleichen, staatlichen Maßnahmen überrascht keineswegs. Die europaweite Reform des Bildungswesens dient der Anpassung der jungen Arbeitergeneration an eine perspektivlose Zukunft und die Generalisierung prekärer Arbeitsbedingungen sowie der Arbeitslosigkeit.
Der Widerstand und die Revolte der neuen Generationen von Schülern, die die zukünftigen Beschäftigten stellen werden, gegen die Arbeitslosigkeit und dieses ganze Ausmaß an Prekarisierung lässt überall ein Gefühl der Sympathie unter den ArbeiterInnen aufkommen, das bei allen Generationen zu spüren ist.
Gewalt durch Minderheiten oder massiver Kampf gegen die Ausbeutung und den Staatsterror?
Die in den Diensten der Lügenpropaganda des Kapitals stehenden Medien haben permanent versucht, die Wirklichkeit der Ereignisse in Griechenland seit der Ermordung des 15jährigen Alexis Andreas Grigoropoulos am 6. Dezember zu verzerren. Sie stellen die Zusammenstöße mit der Polizei entweder als das Werk einer Handvoll autonomer Anarchisten und linksextremer Studenten aus einem wohlbetuchten Milieu dar oder als das Vorgehen von Schlägern aus Randgruppen. Ständig werden in den Medien Bilder von gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei gesendet. Vor allem erscheinen Bilder von Jugendlichen, die Autos anstecken, Schaufenster von Geschäften und Banken zerschlagen, oder Bilder von Plünderungen von Geschäften.
Das ist die gleiche Fälschungsmethode, die 2006 gegen die Proteste gegen den CPE in Frankreich angewandt wurde, als die Proteste der Studenten mit den Aufständen in den Vorstädten von Paris im Herbst 2005 in den gleichen Topf geworfen wurden. Es ist das gleiche Vorgehen wie bei den Protesten gegen den LRU 2007 in Frankreich, als die Demonstranten als „Terroristen" oder „Rote Khmer" beschimpft wurden.
Aber auch wenn das Zentrum der Zusammenstöße im griechischen „Quartier Latin", in Exarchia, lag, kann man heute solche Lügen nur viel schwerer verbreiten. Wie könnten diese aufständischen Erhebungen das Werk von Randalierern oder anarchistischen Aktivisten sein, da sie sich doch lawinenartig auf alle Städte das Landes und selbst bis auf die Inseln (Chios, Samos) und bis in die großen Touristenhochburgen wie Korfu oder Kreta oder Heraklion ausgedehnt haben?
Die Gründe für die Wut
Alle Ingredienzien waren vorhanden, damit die Unzufriedenheit eines Großteils der jungen Arbeitergeneration sich ein Ventil sucht. Diese Generation hat Angst vor der Zukunft, die ihnen der Kapitalismus bietet. Griechenland verdeut-licht die Sackgasse, in welcher der Kapitalismus steckt und die auf alle Jugendlichen zukommen wird. Wenn diejenigen, die die „Generation der 600 Euro-Jobber" genannt werden
, auf dem Arbeitsmarkt auftauchen, haben sie den Eindruck, verarscht zu werden. Die meisten Studenten können ihr Studium nur finanzieren und überleben, indem sie in zwei Jobs schuften. Sie müssen kleine Jobs, meist unterbezahlte Schwarzarbeit, annehmen. Selbst in besser bezahlten Jobs wird ein Großteil des Lohns nicht versteuert, wodurch der Anspruch auf Sozialleistungen geschmälert wird. Insbesondere gelangen sie nicht in den Genuss der Sozialversicherung. Überstunden werden ebensowenig bezahlt. Oft können sie bis Mitte 30 nicht von zu Hause ausziehen, weil sie keine Miete zahlen können. 23 Prozent der Arbeitslosen in Griechenland sind Jugendliche (die Jugendarbeitslosigkeit der 15- bis 24-jährigen beträgt offiziell 25,2 Prozent). Wie eine französische Zeitung schrieb: „Diese Studenten fühlen sich durch niemanden mehr geschützt: Die Polizei schlägt auf sie ein bzw. schießt auf sie; durch das Bildungswesen stecken sie in einer Sackgasse, einen Job kriegen sie nicht, die Regierung belügt sie."[1] Die Jugendarbeitslosigkeit und ihre Schwierigkeiten in der Arbeitswelt haben somit ein Klima der allgemeinen Verunsicherung, der Wut und der Angst geschaffen. Die Weltwirtschaftskrise löst immer neue Wellen von Entlassungen aus. 2009 erwartet man allein in Griechenland den Abbau von mehr als 100.000 Arbeitsplätzen; dies allein würde fünf Prozent mehr Arbeitslose bedeuten. Gleichzeitig verdienen mehr als 40 Prozent der Beschäftigten weniger als 1100 Euro brutto im Monat. In Griechenland gibt es die meisten Niedriglöhner unter den 27 Staaten der EU: 14 Prozent.
Aber nicht nur die Jugendlichen sind auf die Straße gegangen, sondern auch die schlecht bezahlten Lehrer und viele Beschäftigte, die den gleichen Problemen, der gleichen Armut gegenüberstehen und von dem gleichen Gefühl der Revolte angetrieben werden. Die brutale Repression gegen die Bewegung, bei der der Mord an dem 15-jährigen Jugendlichen nur die dramatischste Episode war, hat dieses Gefühl der Solidarität nur noch gestärkt. Die soziale Unzufriedenheit bricht sich immer stärker Bahn. Wie ein Student berichtete, waren auch viele Eltern zutiefst schockiert über die Ereignisse: „Unsere Eltern haben festgestellt, dass ihre Kinder durch die Schüsse eines Polizisten ums Leben kommen"[2]. Sie haben den Fäulnisprozess einer Gesellschaft gerochen, in der ihre Kinder nicht den gleichen Lebensstandard erreichen werden wie sie. Auf zahlreichen Demonstrationen haben sie mit eigenen Augen das gewalttätige Vorgehen der Polizei, die brutalen Verhaftungen, den Einsatz von Schusswaffen durch die Ordnungskräfte und das harte Eingreifen der Bereitschaftspolizei (MAT) beobachten können.
Nicht nur die Besetzer der Polytechnischen Hochschule, das Zentrum der Studentenproteste, prangern den Staatsterror an. Diese Wut über die polizeiliche Repression trifft man auch auf allen Demonstrationen an, wo Parolen gerufen werden wie: „Kugeln gegen die Jugendlichen, Geld für die Banken". Noch deutlicher war ein Teilnehmer der Bewegung, der erklärte: „Wir haben keine Arbeit, kein Geld; der Staat ist wegen der Krise pleite, und die einzige Reaktion, die wir sehen, ist, dass man der Polizei noch mehr Waffen gibt"[3].
Diese Wut ist nicht neu. Schon im Juni 2006 waren die Studenten gegen die Universitätsreform auf die Straße gegangen, da die Privatisierung der Unis den weniger wohlhabenden Studenten den Zugang zur Uni verwehrte. Die Bevölkerung hat auch gegen die Schlamperei der Regierung während der Waldbrände im Sommer 2007 protestiert, als 67 Menschen zu Tode gekommen waren. Die Regierung hat bis heute noch nicht jene Menschen entschädigt, die ihre Häuser, ihr Hab und Gut verloren hatten. Aber vor allem die Beschäftigten waren massiv gegen die Regierungspläne einer „Rentenreform" auf den Plan getreten; Anfang 2008 fand zweimal innerhalb von zwei Monaten ein Generalstreik mit hoher Beteiligung statt. Damals beteiligten sich mehr als eine Millionen Menschen an den Demonstrationen gegen die Abschaffung des Vorruhestands für Schwerabeiter und die Aufkündigung der Vorruhestandsregelung für über 50-jährige Arbeiterinnen.
Angesichts der Wut der Beschäftigten sollte der Generalstreik vom 10. Dezember, der von den Gewerkschaften kontrolliert wurde, als Ablenkungsmanöver gegen die Bewegung dienen. Die Gewerkschaften forderten, mit der SP und der KP an der Spitze, den Rücktritt der gegenwärtigen Regierung und vorgezogene Neuwahlen. Allerdings konnten die Wut und die Bewegung nicht eingedämmt werden - trotz der verschiedenen Manöver der Linksparteien und der Gewerkschaften, um die Dynamik bei der Ausdehnung des Kampfes zu hemmen, und trotz all der Anstrengungen der herrschenden Klasse und ihrer Medien zur Isolierung der Jugendlichen gegenüber den anderen Generationen und der gesamten Arbeiterklasse, indem man versuchte, diese in sinnlose Zusammenstöße mit der Polizei zu treiben. Die ganze Zeit über gab es immer wieder Zusammenstöße: gewaltsames Vorgehen der Polizei mit Gummiknüppel und Tränengaseinsätzen, Verhaftungen und Verprügeln von Dutzenden von Protestierenden.
Die jungen Arbeitergenerationen bringen am klarsten das Gefühl der Desillusionierung und der Abscheu gegenüber einem total korrupten politischen Apparat zum Ausdruck. Seit dem Krieg teilen sich drei Familien die Macht und seit mehr als 30 Jahren herrschen in ständigem Wechsel die beiden Dynastien Karamanlis (auf dem rechten Flügel) und Papandreou (auf dem linken Flügel) - begleitet jeweils von großen Bestechungsaffären und Skandalen. Die Konservativen haben 2004, nach großen Skandalen der Sozialisten in den Jahren zuvor, die Macht übernommen. Viele lehnen mittlerweile den ganzen politischen und gewerkschaftlichen Apparat ab, der immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert. „Der Geldfetisch beherrscht die Gesellschaft immer mehr. Die Jugendlichen wollen mit dieser seelenlosen und visionslosen Gesellschaft brechen."[4] Vor dem Hintergrund der Krise hat diese Generation von Arbeitern nicht nur ihr Bewusstsein über eine kapitalistische Ausbeutung weiterentwickelt, die sie an ihrem eigenen Leib spürt, sondern sie bringt auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes zum Ausdruck, indem sie spontan die Methoden der Arbeiterklasse anwendet und ihre Solidarität sucht. Anstatt der Hoffnungslosigkeit zu verfallen, gewinnt sie ihr Selbstvertrauen aus der Tatsache, dass sie die Trägerin einer neuen Zukunft ist; sie setzt sich mit aller Macht gegen den Fäulnisprozess der Gesellschaft zu Wehr, in der sie lebt. So haben die Demonstranten ihren Stolz zum Ausdruck gebracht, als sie riefen: „Wir stellen ein Bild der Zukunft gegenüber einer sehr düsteren Vergangenheit dar".
Die Lage erinnert an die Verhältnisse im Mai 1968, aber das Bewusstsein dessen, was heute auf dem Spiel steht, geht viel weiter.
Die Radikalisierung der Bewegung
Am 16. Dezember besetzten Studenten wenige Minuten lang die Studios des Regierungsenders NET und rollten vor den Kameras ein Spruchband aus: „Hört auf, fern zu sehen. Kommt alle auf die Straße!". Und sie riefen dazu auf: „Der Staat tötet. Euer Schweigen ist seine Waffe. Besetzen wir alle öffentlichen Gebäude!" Der Sitz der Bürgerkriegspolizei Athens wurde angegriffen und ein Fahrzeug dieser Polizeitruppen angezündet. Diese Aktionen wurden daraufhin sofort von der Regierung als „Versuch des Umsturzes der Demokratie" gebrandmarkt und auch von der KP Griechenlands (KKE) verurteilt.
In Thessaloniki versuchten die lokalen Strukturen der Gewerkschaften GSEE und ADEDY (die Vereinigung der Staatsangestellten) die Streikenden mit einer Versammlung vor dem Arbeitsamt festzubinden. Doch Gymnasiasten und Studenten luden die Streikenden mit Erfolg dazu ein sich ihrer Demonstration anzuschliessen: 4000 Arbeiter und Studenten formierten einen Demonstrationszug durch die Straßen den Stadt. Am 11. Dezember versuchten Mitglieder der stalinistischen Sudentenorganisation PKS Versammlungen zu blockieren, um Besetzungen zu verhindern (an der Pantheon Universität, der Schule für Philosophie der Athener Uni). Doch ihr Plan scheiterte und die Bestzungen fanden statt. Im Ayios Dimitrios Quartier wurde die Stadthalle besetzt, um eine Vollversammlung abzuhalten, an der mehr als 300 Leute aller Generationen teilnahmen.
Am 17. Dezember wurde das Gebäude der größten Gewerkschaft Griechenlands GSEE (Allgemeiner Gewerkschaftsbund Griechenlands) in Athen von Beschäftigten besetzt, die die ArbeiterInnen dazu aufriefen, an diesem Ort zusammenzukommen, um Vollversammlungen abzuhalten, die allen Beschäftigten, allen StudentInnen und den Arbeitslosen offen stehen.
Eine ähnliche Situation mit Vollversammlungen und Besetzungen, die für alle offen waren, ereignete sich an der Athener Wirtschaftsuniversität und der Polytechnischen Schule.
Wir veröffentlichen hier ihre Erklärung, um das Schweigen und Verfälschen der Medien zu brechen, welche die Ereignisse als Straßenschlachten präsentierten, die von einigen Anarchisten zur Terrorisierung der Bevölkerung verursacht worden seien. Die Erklärung zeigt im Gegenteil, wie das solidarische Gefühl der Arbeiterklasse diese Bewegung auszeichnet und somit auch die verschiedenen Generationen der Proletarier verbindet:
Wir werden entweder unsere Geschichte selber bestimmen oder dann wird sie ohne uns bestimmt.
Wir, Handarbeiter, Angestellte, Erwerbslose, Zeitarbeiter, ob hier geboren oder eingewandert - wir sind keine passiven Fernsehkonsumenten. Seit dem Mord an Alexandros Grigoropoulos Samstagnacht nehmen wir an den Demonstrationen teil, an den Zusammenstößen mit der Polizei, den Besetzungen der Innenstadt oder der Wohnviertel. Immer wieder haben wir unsere Arbeit und unsere täglichen Verpflichtungen fallen gelassen, um mit den Schülern, Studenten und den anderen kämpfenden Proletariern auf die Straße zu gehen.
Wir haben entschieden, das Gebäude der GSEE zu besetzen:
- um es in einen Ort des freien Meinungsaustausches und in einen Treffpunkt für ArbeiterInnen zu verwandeln;
- um den von den Medien verbreiteten Irrglauben, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht an den Zusammenstößen der letzten Tage beteiligt waren, dass die um sich greifende Wut die Sache von 500 „Vermummten", „Hooligans" sei, sowie andere Ammenmärchen, die verbreitet werden, zu widerlegen. Auf den Fernsehschirmen werden die ArbeiterInnen als Opfer der Unruhen dargestellt, während gleichzeitig die unzähligen Entlassungen infolge der kapitalistischen Krise in Griechenland und der restlichen Welt von den Medien und ihren Managern als „Naturereignisse" betrachtet werden;
- um die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie bei der Untergrabung des Aufstandes - und nicht nur dort - aufzudecken. Die GSEE und der ganze seit Jahrzehnten dahintersteckende gewerkschaftliche Apparat untergraben die Kämpfe, handeln Brosamen für unsere Arbeitskraft aus und verewigen das System der Ausbeutung und der Lohnsklaverei. Das Vorgehen der GSEE am letzten Mittwoch (dem Tag des Generalstreiks) ist ziemlich erhellend: Die GSEE sagte eine vorgesehene Demonstration der streikenden ArbeiterInnen ab, stattdessen gab es eine kurze Kundgebung am Syntagma-Platz, bei der Erstere aus Furcht davor, dass sie vom Virus des Aufstandes angesteckt werden, dafür sorgte, dass die Leute in aller Eile den Platz verließen;
- um diesen Ort, der durch unsere Beiträge errichtet wurde, von dem wir aber ausgeschlossen waren, zum ersten Mal zu einem offenen Ort zu machen. Einem offenen Ort, der die gesellschaftliche Öffnung, die der Aufstand hervorgebracht hat, fortsetzt. All die vielen Jahre haben wir schicksalhaft allen möglichen Heilsverkündern geglaubt und dabei unsere Würde verloren. Als Arbeiter und Arbeiterinnen müssen wir unsere Sache selbst in die Hand nehmen und Schluss damit machen, auf kluge Anführer oder „fähige" Vertreter zu hoffen. Wir müssen unsere Stimme gegen die ständigen Angriffe erheben, uns treffen, miteinander reden, zusammen entscheiden und handeln. Gegen die allgemeinen Angriffe einen langen Kampf führen. Die Entwicklung eines kollektiven Widerstandes an der Basis ist der einzige Weg dazu;
- um die Idee der Selbstorganisation und Solidarität an den Arbeitsplätzen, der Kampfkomitees und des kollektiven Handelns der Basis zu verbreiten und dadurch die Gewerkschaftsbürokratien abzuschaffen.
All die Jahre haben wir das Elend hinuntergeschluckt, die Ausnutzung der Situation der Schwächeren, die Gewalt auf der Arbeit. Wir haben uns daran gewöhnt, die Verkrüppelten und die Toten - die so genannten „Arbeitsunfälle" - einfach nur noch zu zählen. Wir haben uns daran gewöhnt, zu ignorieren, dass die Migranten, unsere Klassenbrüder- und Schwestern, getötet werden. Wir haben die Schnauze voll davon, mit der Angst um unseren Lohn und in Aussicht auf eine Rente zu leben, die sich mittlerweile wie ein in die Ferne entrückter Traum anfühlt.
So wie wir darum kämpfen, unser Leben nicht für die Bosse und die Gewerkschaftsvertreter zu vergeuden, so werden wir auch keinen der verhafteten Aufständischen allein lassen, die sich in den Händen des Staates und der Justizmaschine befinden.
Sofortige Freilassung der Festgenommenen!
Keine Strafe für die Verhafteten!
Selbstorganisation der Arbeiter und Arbeiterinnen!w
Generalstreik!
Die Arbeiter-Versammlung im „befreiten" Gebäude der GSEE
Mittwoch, 17. Dezember 2008, 18:00 Uhr.
Die Vollversammlung der aufständischen ArbeiterInnen
Am Abend versuchten ca. 50 Gewerkschaftsbon-zen und deren Führer, die Gewerkschaftszentrale zurückzuerobern, mussten aber vor den Studenten, die schnell Verstärkung erhielten, die Flucht ergreifen. Diese Verstärkung kam vor allem von meist anarchistischen Studenten der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, die ebenfalls besetzt und in einen Ort der Versammlungen und Diskussionen umgewandelt worden war, der auch allen Beschäftigen offen stand. Man eilte den Besetzern zur Hilfe und rief: „Solidarität". Der Verband albanischer Migranten verbreitete u.a. einen Text, in dem er seine Solidarität mit der Bewegung bekundete: „Diese Tage sind auch unsere Tage"!
Bezeichnenderweise veröffentlichte eine kleine Minderheit der Besetzer des Gewerkschaftshauptsitzes folgende Erklärung:
Panagopoulos, der Generalsekretär der GSEE, hat erklärt wir seien nicht Arbeiter, denn Arbeiter seine an der Arbeit. Unter Anderem verrät dies viel über die Wirklichkeit der „Arbeit" von Panagopoulos. Seine „Arbeit" besteht darin zu garantieren, dass die Arbeiter wirklich an der Arbeit sind und alles zu tun, um sie zur Arbeit zu bewegen. Doch in den letzten zehn Tagen waren die Arbeiter nicht an der Arbeit, sie waren draussen auf der Straße. Dies ist die Realität, die kein Panagopoulos auf der ganzen Welt verschweigen kann... Wir sind Leute, die arbeiten, wir sind auch Arbeitslose (die mit dem Verlust unserer Arbeitsplätze für die Beteiligung an den Streiks, welche von der GSEE ausgerufen werden gestraft werden, währen die Vertreter der Gewerkschaften mit Beförderungen belohnt werden), wir arbeiten mit unsicheren Arbeitverträgen in einem Job nach dem anderen, wir arbeiten ohne Sicherheiten in Trainingskursen und Arbeitslosenprogrammen, um die offiziellen Arbeitslosenzahlen tief zu halten. Wir sind ein Teil dieser Welt und wir sind hier.
Wir sind aufrührerische Arbeiter. Unsere Löhne haben wir mit unserem Blut und Schweiss bezahlt, mit Gewalt am Arbeitsplatz, mit Köpfen, Knien, Händen die durch Arbeitsunfälle gebrochen wurden.
Die ganze Welt ist von uns Arbeitern gemacht worden...
Arbeiter des befreiten Gebäudes der GSEE
Immer lauter wurde zu einem unbefristeten Generalstreik aufgerufen. Die Gewerkschaften sahen sich gezwungen, am 18. Dezember zu einem dreistündigen Generalstreik im öffentlichen Dienst aufzurufen.
Am Morgen des 18. Dezember wurde ein weiterer Schüler, 16 Jahre alt, der sich an einem Sit-in in der Nähe seiner Schule in einem Athener Vorort beteiligte, von einer Kugel verletzt. Am gleichen Tag wurden mehrere Radio- und Fernsehstudios durch Demonstranten besetzt, insbesondere in Tripoli, Chania und Thessaloniki. Das Gebäude der Handelskammer in Patras wurde besetzt, wo es erneut zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Die gigantische Demonstration in Athen wurde gewaltsam angegriffen. Dabei setzte die Aufstandsbekämpfungspolizei neue Waffen ein: lähmende Gase und ohrenbetäubende Granaten. Ein Flugblatt, das sich gegen den Staatsterror richtete, wurde von „revoltierenden Schülerinnen" unterzeichnet und in der Wirtschaftswissenschaftlichen Universität verteilt. Die Bewegung spürte ganz vage ihre eigenen geographischen Grenzen. Deshalb nahm sie mit Enthusiasmus die internationalen Solidaritätsdemonstrationen in Frankreich, Berlin, Rom, Moskau, Montreal oder in New York auf. Die Rückmeldung lautete: „Diese Unterstützung ist für uns sehr wichtig". Die Besetzer der Polytechnischen Hochschule riefen zu einem „internationalen Aktionstag gegen die staatlichen Tötungen" am 20. Dezember auf. Der einzige Weg, die Isolierung dieses proletarischen Widerstandes in Griechenland zu überwinden, besteht darin, die Solidarität und den Klassenkampf, die heute als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise immer deutlicher in Erscheinung treten, international zu entfalten.
Eine Entwicklung in die Zukunft
Am 20. Dezember kam es zu heftigen Zusammenstössen auf der Straße. Sie konzentrierten sich vor allem um die von der Polizei belagerte Polytechnische Hochschule, welche die Polizei stürmen wollte. Das besetzte Gebäude der Gewerkschaft GSEE wurde dieser am 21. Dezember in Folge eines Entscheides des Besetzungskomitees, über den in der Vollversammlung abgestimmt wurde, zurückgegeben. Das Besetzungskomitee der Athener Polytechnischen Hochschule veröffentlichte am 22. Dezember folgende Stellungnahme: „Wir sind für die Emanzipation, die menschliche Würde und die Freiheit. Es ist nicht nötig, uns mit Tränengas zu bekämpfen, wir weinen schon selber genug."
Mit viel Reife und einem Beschluss der Vollversammlung an der Ökonomischen Universität folgend, benutzten die Besetzer dieser Universität den Aufruf zu einer Demonstration am 24. Dezember gegen die polizeiliche Repression und für die Solidarität mit gefangenen Mitstreitern als günstigen Moment zur sicheren und gemeinsamen Evakuierung der Gebäudes: „Es scheint einen Konsens über die Notwendigkeit des Verlassens der Universität zu geben und die Anliegen der Revolte in der ganzen Gesellschaft zu verbreiten." Diesem Beispiel folgten Vollversammlungen an anderen besetzten Universitäten, um nicht in die Falle der Isolierung und direkten Konfrontation mit der Polizei zu geraten. Ein Blutbad und eine noch gewalttätigere Repression wurden damit verhindert. Gleichzeitig verurteilten die Vollversammlungen den Gebrauch von Handfeuerwaffen einer angeblichen Gruppe „Volksaktion" gegen ein Polizeiauto als Provokationsversuch der Polizei.
Das Besetzungskomitee der Polytechnischen Hochschule räumte die letzte Bastion in Athen symbolisch am 24. Dezember um Mitternacht. „Die Vollversammlung, und nur diese alleine, entscheidet, ob und wann wir die Universität verlassen werden (...) Der entscheidende Punkt ist, dass es die Leute sind, die das Gebäude besetzen, die über die Räumung entscheiden, und nicht die Polizei."
Zuvor hatte das Besetzungskomitee eine Erklärung veröffentlicht: „Indem wir unsere Besetzung der Polytechnischen Hochschule nach 18 Tagen beenden, senden wir allen Leuten, die an dieser Bewegung in irgendeiner Art teilgenommen haben, unsere herzlichste „Solidaritätsgrüße". Dies nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Ländern Europas, Amerikas, Asiens und Australiens. Für Alle, die wir angetroffen haben und mit denen wir weitergehen werden im Kampf für die Befreiung der Gefangenen dieser Bewegung und für deren Weiterführung bis zur sozialen Befreiung der Welt."
In einigen Quartieren hatten sich Einwohner der Lautsprecheranlagen die von der Verwaltung für das Abspielen von Weihnachtsleidern installiert worden waren, bemächtigt um darüber die sofortige Freilassung der Gefangenen, die Entwaffnung der Polizei, die Auflösung der Aufstandbekämpfungs-Sondereinheiten und die Abschaffung der Antiterrorgesetze zu fordern. In Volos wurden die Sendestation des lokalen Radios und die Büros der Lokalzeitung besetzt, um darin über die Ereignisse und ihre Auswirkungen zu berichten. In Lesvos hatten Demonstranten Lautsprecher im Stadtzentrum aufgestellt und darüber Nachrichten verbreitet. In Ptolemaida und Ioannina wurde ein Weihnachtsbaum mit Fotos des ermordeten Schülers und der Demonstrationen und mit Forderungen der Bewegung dekoriert.
Das Gefühl der Solidarität drückte sich spontan und mächtig am 23. Dezember erneut aus, nachdem eine Angestellte der Reinigungsfirma Oikomet, die für die Athener Metro arbeitet, attackiert worden war. Auf ihrem Nachhauseweg von der Arbeit war ihr Essigsäure ins Gesicht geschüttet worden. Solidaritätsdemonstrationen fanden statt und das Verwaltungsgebäude der Athener Metro wurde am 27. Dezember besetzt. In Thessaloniki wurde das Hauptquartier der Gewerkschaft GSEE besetzt. Aus diesen zwei Besetzungen wurden mehrere Demonstrationen, Solidaritätskonzerte und „Gegeninformations"-Veranstaltungen organisiert (so wurden z.B. die Lautsprecher der Metro verwendet, um Erklärungen zu verlesen).
Die Vollversammlung in Athen erklärte in einem Text: „Wenn sie einen von uns angreifen, dann greifen sie uns alle an!
Heute haben wir die Büros der ISAP (Metro von Athen) besetzt, als eine erste Antwort auf die mörderische Essigsäureattacke gegen Konstantina Kuneva, als sie am 23. Dezember von der Arbeite nach Hause ging. Konstantina befindet sich auf der Intensivpflegestation des Spitals. In der vorangegangnen Woche befand sie sich in einem Streit mit der Firma, um eine volle Entlöhnung der Weihnachtstage für sich und ihre Arbeitskollegen zu erhalten und sie denunzierte dabei die illegalen Praktiken der Bosse. Zuvor wurde ihre Mutter von derselben Firma entlassen. Sie selbst wurde an einen weit weg gelegenen Arbeitsplatz versetzt. Das sind sehr verbreitete Praktiken in den Reinigungsunternehmen, die sehr prekäre Arbeitsplätze haben. Der Besitzer von Oikomet ist ein Mitglied der PASOK (der Griechischen Sozialistischen Partei). Sie beschäftigen offiziell 800 Angestellte (doch die Angestellten sagten, es sei das Doppelte, denn während der letzten 3 Jahre hatten dort mehr als 3000 Leute gearbeitet). Das illegale mafiöse Vorgehen der Bosse dieser Firma ist Alltag. So sind die Angestellten gezwungen, illegale Verträge zu unterschreiben (bei denen die Bedingungen erst nachher von den Bossen eingetragen werden) und sie haben keine Möglichkeit, dies zu widerrufen. Sie arbeiten 6 Stunden, werden aber nur für 4.5 Stunden bezahlt (Nettolohn), so dass sie niemals 30 Stunden pro Woche überschreiten (denn sonst müssten sie in einer höheren Risikoklasse eingestuft werden). Die Bosse terrorisieren sie, versetzen sie, schmeissen sie raus oder drängen sie zu Kündigungen. Der Kampf um die WÜRDE und SOLIDARITÄT ist UNSER Kampf."
Parallel dazu veröffentlichte die Vollversammlung der Besetzer der GSEE in Thessaloniki folgenden Text: „Heute haben wir den Hauptsitz der Gewerkschaften in Thessaloniki besetzt, um gegen die Unterdrückung zu protestieren, die die Form von Mord und Terrorismus gegen die Arbeiter annimmt (...) Wir rufen alle Arbeiter auf, sich diesem gemeinsamen Kampf anzuschließen (...) Die offene Versammlung derjenigen, die den Hauptsitz der Gewerkschaft besetzen, Leute von verschiedenen politischen Richtungen, Mitglieder der Gewerkschaften, Studenten, Immigranten und Freunde die vom Ausland kommen und hinter diesen gemeinsamen Forderungen stehen, haben einen Beschluss gefasst:
- Fortführung der Besetzung;
- Die Organisierung einer Vollversammlung in Solidarität mit Konstantina Kuneva;
- Das Organisieren von Aktionen, um Informationen und Aufmerksamkeit in der Stadt zu verbreiten;
- Das Durchführen eines Konzertes im Stadtzentrum, um Geld für Konstantina zu sammeln."
Diese Versammlung erklärte ebenfalls: „In den Grundsatzpapieren der Gewerkschaften werden nirgends die Ungleichheit, Armut und die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft in Frage gestellt (...) Die Gewerkschaftsbünde und Führungen der Gewerkschaften in Griechenland sind ein fester Bestandteil des Regimes, welches an der Macht ist. Ihre Basismitglieder sollten ihnen den Rücken kehren (...) und für einen selbständigen Pol des Kampfes, den sie selber bestimmen, eintreten (...) Wenn die Arbeiter ihren Kampf in die eigenen Hände nehmen und mit der Logik brechen, sich von den Komplizen der Bosse vertreten zu lassen, dann werden sie ihr Selbstbewusstsein wieder finden und Tausende werden in den nächsten Streiks auf die Straßen strömen. Der Staat und seine Handlanger sind Mörder.
Selbstorganisierung! Kampf zur Verteidigung der sozialen Interessen! Solidarität mit den Immigranten und mit Konstantina Kuneva!"
Anfangs Januar 2009 fanden immer noch Demonstrationen im ganzen Land statt, um die Solidarität mit den Gefangenen auszudrücken. 246 Leute waren verhaftet worden und 66 wurden in Präventivhaft genommen. In Athen wurden in den ersten drei Tagen der Bewegung 50 Immigranten festgenommen, in Prozessen ohne Anwalt bis zu maximal 18 Monaten Haft verurteilt und alle mit der Ausweisung bestraft.
Am 9. Januar ereigneten sich nach einem Protestmarsch von 3000 Lehrern, Studenten und Kindern erneut Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und der Polizei. Sie trugen Slogans mit sich wie: „Geld für die Ausbildung, nicht für die Banker", „Nieder mit der Regierung der Mörder und der Armut". Polizei-Sondereinheiten versuchten, sie immer wieder zu verjagen, und machten zahlreiche Festnahmen.
In Griechenland, wie überall sonst auch, hat der kapitalistische Staat angesichts der Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und Armut, die durch die weltweite Krise verstärkt werden, nur mehr Polizei und Repression anzubieten. Nur die internationale Entwicklung des Kampfes, die Solidarität zwischen Industriearbeitern und Büroangestellten, zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten, Schülern, Studenten, Arbeitslosen, Rentnern - über alle Generationen hinweg - kann den Weg zur Überwindung dieses Ausbeutungssystems und zu einer neuen Perspektive öffnen.
W., 18.1. 2009
[1] Marianne Nr. 608, 13. Dezember 2008 : „Grèce : les leçons d'une émeute".
[2] Libération, 12. Dezember 2008.
[3] Le Monde , 10. Dezember 2008.
[4] Marianne, s.o.