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Mittlerweile sind mehr als zwei Monate seit der Selbsttötung der beiden Neonazis Böhnhardt und Mundlos vergangen, doch die Schockwellen, die durch das Land rasten, nachdem sich das Ausmaß der Verbrechen des so genannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) angedeutet hatte, sind noch längst nicht verebbt. Im Gegenteil. Keine Woche ist seither vergangen, ohne dass neue Untaten dieser Bande ans Tageslicht gekommen sind: Kaum hatte sich herausgestellt, dass die beiden (im Verein mit ihrer Komplizin Zschäpe) nicht nur für zahlreiche Bankraube in der Region verantwortlich waren, sondern auch im April 2007 den rätselhaften Mordanschlag auf eine Polizistin und ihren Kollegen in Heilbronn begangen hatten, wurde aus den Trümmern des von Zschäpe kurz nach der Selbsttötung ihrer beiden Kumpanen in die Luft gesprengten Domizils des Neonazi-Trios jene Waffe geborgen, mit der vom September 2000 bis April 2006 eine ebenso beispiellose wie mysteriöse Mordserie an neun überwiegend türkischstämmigen Kleinhändlern begangen worden war. Schließlich verdichteten sich auch die Beweise für eine Verstrickung dieses Trios in einen Nagelbombenanschlag im Juni 2004 in Köln-Mülheim, einem überwiegend von Immigranten bewohnten Stadtteil, bei dem fast zwei Dutzend Menschen verletzt wurden. Und vieles spricht dafür, dass diese Bande noch für weitere ungelöste Bombenanschläge und Mordfälle in den letzten dreizehn Jahren die Urheberschaft trägt.
Aber es vergeht seitdem auch kaum ein Tag, an dem die Öffentlichkeit nicht von neuen Pannen, Pleiten und Inkompetenzen der so genannten Strafverfolgungsbehörden des deutschen Staates erfährt. Wenn es stimmt, was jetzt offiziell verlautbart wird, dann konnte diese Bande dreizehn Jahre lang ihr Unwesen treiben, ohne dass die Behörden eine Ahnung von ihrer Existenz hatten, dann konnte dieses Trio Menschen ermorden, Banken ausrauben, Anschläge gegen jüdische und muslimische Einrichtungen begehen, ohne dass der hochgerüstete Polizeiapparat auch nur im Ansatz einen Zusammenhang zwischen all diesen Taten herstellen konnte. Demnach tappten Bundes- und Landeskriminalämter sowie die lokale Polizei die ganzen Jahre über völlig im Dunklen und stritten die Existenz eines Rechtsterrorismus noch ab, als er längst unter uns wütete. Und hätten die drei nach ihrem Abgang nicht unübersehbare Spuren hinterlassen – wie die beiden in den Trümmern sichergestellten Waffen, mit denen sie ihre Morde begingen, und eine Selbstbezichtigungs-DVD -, dann wären sie aller Wahrscheinlichkeit als bloße Bankräuber in die Kriminalstatistiken eingegangen, ohne jeglichen Bezug zu ihrer den Behörden wohlbekannten rechtsradikalen Gesinnung.
Wie konnte das geschehen? Wie ist es zu erklären, dass trotz eines hochgerüsteten Überwachungsapparates wie dem Verfassungsschutz oder dem Bundeskriminalamt, trotz der Durchsetzung des rechtsextremen Milieus mit V-Leuten den staatlichen Behörden das Treiben dieses Neonazi-Trios über ein Jahrzehnt lang völlig entgangen ist? Sind Letztgenannte etwa vom Verfassungsschutz gedeckt worden, wie da und dort schon gemunkelt wird? Oder handelt es sich bei dieser Affäre um einen „Unfall“, der aus Sicht der deutschen Bourgeoisie zur Unzeit kommt?
Demokratie und Faschismus – eine symbiotische Beziehung
All die Beteuerungen der Repräsentanten unserer grandiosen Demokratie, sie seien nicht blind auf dem rechten Auge, erweisen sich, um es vorweg zu nehmen, als bloße Lippenbekenntnisse, mit denen suggeriert werden soll, dass der bürgerlich-demokratische Staat und seine Organe zum Rechtsextremismus wie zum Linksextremismus die gleiche Distanz wahrt. Dabei ist die Affinität zwischen dem bürgerlich-demokratischen Staat und den faschistischen Strömungen historisch belegt.
Es gibt genügend Beispiele dafür, dass demokratische Regimes keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Rechtsextremismus haben, sofern es die Umstände erfordern. Sicherlich, in Zeiten des sozialen „Friedens“ möchte die demokratisch-parlamentarische Demokratie am liebsten nichts von ihren rechten Schmuddelkindern wissen. Doch wehe, das Gespenst des revolutionären Klassenkampfes taucht auf - spätestens dann lässt die herrschende Klasse ohne Zögern alle demokratischen Grundsätze fahren und bedient sich der faschistischen Schergen. So geschehen in der deutschen Revolution von 1918-23, als es die SPD unter der Führung des selbsternannten Bluthundes Noske war, die die sog. Freikorps zur Niederschlagung der revolutionären Kämpfe des deutschen Proletariats schuf, ein Sammelbecken allerlei sinistrer, entwurzelter Elemente und eine Urzelle des späteren Nationalsozialismus. Ferner ist es ein offenes Geheimnis, dass Teile der angelsächsischen Elite offene oder heimliche Sympathien für Hitler und Konsorten hegten, dass Stalins Außenposten in Deutschland, die KPD der dreißiger Jahre, bisweilen gemeinsame Sache mit den Nazis machte.
Diese unselige Allianz von Teilen des demokratischen, antifaschistischen Staates mit dem Faschismus setzte sich nach dem Untergang des „III. Reichs“ nahtlos fort. Stichpunkt „Rattenlinie“: zahllose Nazigrößen wurden in den Jahren nach Ende des II. Weltkriegs von amerikanischen Geheimdiensten mit Hilfe des Vatikans nach Südamerika geschleust. Schließlich wollte man von ihrem blutigen Handwerk lernen; keinesfalls aber sollte ihr Wissens- und Erfahrungsschatz dem immer stärker auftrumpfenden imperialistischen Kontrahenten UdSSR in die Hände fallen. Stichpunkt „Org“: die „Organisation Gehlen“ (wie ihr vollständiger Name lautete), die Vorläuferorganisation des BND, wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht nach dem Krieg initiiert und schmückte sich vornehmlich mit alten Nazikadern des „III. Reichs“. Stichpunkt „Gladio“: unter diesem italienischen Begriff (deutsch: Schwert) wurde 1990 eine ungeheure Verschwörung von Teilen der westeuropäischen und US-amerikanischen Bourgeoisie gegen die Bevölkerung westeuropäischer Länder bekannt. Anfang der 1950er Jahre in etlichen westeuropäischen Ländern als Geheimarmee mit Hilfe des CIA und diverser westeuropäischer Geheimdienste gebildet, um im Falle eines sowjetischen Einmarsches hinter den Linien zu operieren, rekrutierten sich die nationalen Ableger dieser Geheimorganisation mit Vorliebe aus Rechtsextremisten und legten heimliche Waffendepots an. Als der sog. Eurokommunismus, eine weichgespülte Form des Stalinismus in den 70er und 80er Jahren, sich anschickte, die Regierungsmacht in Italien zu übernehmen, begingen italienische Neofaschisten unter Federführung italienischer und US-amerikanischer Geheimdienste eine Serie äußerst brutaler Morde und Anschläge – der bekannteste war sicherlich der verheerende Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980, der 85 Tote und 200 Verletzte forderte -, die stets den Linksterroristen der Roten Brigaden oder Anarchisten in die Schuhe geschoben wurden. Mit dieser „Strategie der Spannung“ sollte in Italien ein Klima der Verunsicherung geschaffen werden, mit dem insbesondere die Arbeiterklasse von der Wahl der italienischen KP abgehalten werden sollte.
Typisch italienisch? Keineswegs. Auch in der Bundesrepublik gab es seit den 50er Jahren einen Ableger dieses geheimen Netzwerkes – der „Bund Deutscher Jugend – Technische Hilfe“ (BDJ-TH); auch der deutsche Ableger setzte sich aus zwielichtigen Elementen zusammen – zunächst aus Altnazis und ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, später aus Neonazis. Und auch Deutschland hatte sein Bologna. Im September 1980 beging der Rechtsextremist Gundolf Köhler einen Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest, dem dreizehn Menschen (einschließlich des Täters) zum Opfer fielen und bei dem über zweihundert weitere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Auch dieser Anschlag wurde – wie in Bologna – zunächst den Linksterroristen in die Schuhe geschoben. Und als diese Version nicht mehr aufrechtzuerhalten war, konstruierten Politik und Justiz die These des irren Einzeltäters, obwohl Köhlers Mitgliedschaft in der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ längst aktenkundig war - einer paramilitärischen Nazitruppe, die, von Teilen der herrschenden Klasse (insbesondere der bayrischen Regierungspartei CSU) verharmlost und von der Justiz gedeckt, nicht nur am Wochenende durchs Gelände robbte, sondern auch aller Wahrscheinlichkeit nach für die Morde an dem jüdischen Verleger Lewin und dessen Ehefrau Poeschke verantwortlich war. Es mutet wie ein Witz an, dass jetzt, im Schatten der aktuellen Affäre, das Ermittlungsverfahren in der Causa Münchner Oktoberfest wieder neu aufgerollt werden soll, nachdem bis dato mehrere Versuche einer Wiederaufnahme dieses Verfahrens an der Justiz gescheitert waren und… etliche Beweisstücke aus der Asservatenkammer der Untersuchungsbehörden verschwunden sind.
Nun, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks gibt es zwar keine Existenzgrundlage mehr für „Gladio“ und ähnliche Auswürfe des Kalten Kriegs, dafür stellte sich insbesondere Deutschland (als ehemaliger Anrainerstaat zum Ostblock) und der deutschen Bourgeoisie ein neues Problem, das Anfang der 90er Jahre unter dem ebenso hässlichen wie menschenverachtenden Begriff der „Asylantenschwemme“ durch die bürgerlichen Medien geisterte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West und dem gleichzeitigen Verfall der gesellschaftlichen Strukturen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks drohte neben dem Strom der Verelendeten aus Afrika und Asien nun ein neuer Exodus, diesmal aus Osteuropa, zumal sich durch den Kollaps des Grenzregimes in diesen Ländern neue Einfallstore auch für Asylsuchende aus dem Rest der Welt in die Länder Westeuropas öffneten. Die deutsche Bourgeoisie konnte kein Interesse an der Aufnahme dieser armen Teufel haben, hatte sie doch ohnehin genug zu tun, um die soziale Lage angesichts der Explosion der Massenarbeitslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland ruhig zu halten. So kämpfte sie denn auch mit allen Mitteln gegen den Ansturm von Wirtschaftsflüchtlingen an. Mit politischen Mitteln, indem sie durchsetzte, dass Asylsuchende auch in die Länder zurückgeschickt werden konnten, durch die sie nach Deutschland geschleust wurden. Mit juristischen Mitteln, indem die Asylverfahren verkürzt wurden, natürlich zu Ungunsten der Asylsuchenden. Und mit polizeilichen Mitteln wie der Zwangsrückführung von Asylsuchenden in ihre Herkunftsländer, was für etliche dieser Flüchtlinge den sicheren Tod bedeutete.
Doch ihr effektivstes Abschreckungsmittel war der rechtsradikale Mob, der jahrelang nahezu ungestört wüten und Asylheime abfackeln konnte, der auf alles Jagd machte, was nicht in sein dumpfes Menschenbild passte, und etliche Jahrgänge der so genannten Wendegeneration besonders (aber nicht nur) in Ostdeutschland zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verführte. Die Folge: noch heute weisen die neuen Bundesländer den mit Abstand niedrigsten Ausländeranteil auf. Unbehelligt von den Behörden konnten Neonazis bis heute ganze Regionen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und anderswo zu „ausländerfreien Zonen“ erklären und ihr völkisches Gedöns praktizieren. Bei alledem liegt der Schluss nahe, dass den Herrschenden das Treiben der rechtsradikalen Vogelscheuchen in gewissen Grenzen durchaus nicht unliebsam war. Ihr Vorgehen gegenüber den rechtsextremistischen Gewaltorgien erschöpfte sich jedenfalls darin, rechtsextremistisch motivierte Straftaten zu bagatellisieren und zu vertuschen. Bis heute sind in den offiziellen Statistiken der Bundesregierung zwischen 1990 und 2008 nur 46 Tötungsdelikte mit rechtsextremistischem Hintergrund erfasst, wohingegen Nachforschungen zweier bürgerlicher Zeitungen, DIE ZEIT und DER TAGESSPIEGEL, allein auf 137 rechtsextremistisch motivierte Morde an Ausländer, Immigranten, Homosexuelle und Andersdenkende kommen. Auch die Justiz der sonst so „wehrhaften Demokratie“ zeigte sich erstaunlich zahm und ermunterte mit ihren milden Strafen (oftmals erst nach monatelanger Verzögerung) den rechten Mob.
Kein Zweifel, die politische Blindheit der Herrschenden auf dem rechten Auge hat durchaus einen systemischen Charakter. Und das kann auch nicht verwundern. Die Bourgeoisie ist sich sehr wohl bewusst, aus welcher Richtung ihr wirklich Gefahr droht. Sie kommt mit Sicherheit nicht von rechts. Auch die sozialromantische und pseudorevolutionäre Rhetorik, derer sich die Nazis von einst und heute zuweilen bedienen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Faschismus historisch betrachtet stets ein treuer Diener seines nationalen Kapitals war. Sein Bestreben galt nie der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, sondern allenfalls dem Raub fremden Eigentums durch Krieg und Genozid. Auch heute, wo der Rechtsextremismus politisch nur noch eine marginale Rolle spielt, gibt es mit der Frage des Nationalismus immer noch eine erhebliche Schnittmenge zwischen den rechten Schlägern und Kreisen des staatskapitalistischen Regimes, die sich in der klammheimlichen Sympathie und Kumpanei von Teilen des Polizei- und Verfassungsschutzapparates mit dem Chauvinismus der Neonazis manifestiert. In der Tat geht die Gefahr für die Herrschenden stets von links aus. Sie geht von jenen Menschen aus, die das Privateigentum an Produktionsmitteln als asozial empfinden, die die ungleiche Verteilung des Reichtums anprangern, die letztendlich nichts Geringeres anstreben als einen „Systemwechsel“. Sie manifestiert sich in der unausrottbaren Idee vom Kommunismus, von einer Gesellschaft ohne Privateigentum und Klassen.
Die Demokratie und die Geister, die sie rief
Es wäre aber voreilig, von der allgemeinen Feststellung einer Komplizenschaft zwischen Demokratie und Rechtsextremismus auf die besonderen Hintergründe des braunen Terror-Trios zu schließen und zu meinen, hinter dem Neonazi-Terror stecke eine Verschwörung der Herrschenden, wie in der o.g. „Gladio“-Affäre. Sicherlich, es ist nicht auszuschließen, dass Teile der Repressionsorgane mehr wissen, als sie zugeben. Mag sein, dass subalterne Beamte des Verfassungsschutzes gemeinsame Sache mit Neonazis machen. Doch stellt man sich die Frage, wem die Affäre nützt, so muss man zum Schluss kommen, dass die herrschende Klasse in Deutschland in ihrer Gesamtheit mit Sicherheit nicht zu den Nutznießern zählt; gar nicht zu reden von der Rechten, die, wie die NPD, mit einem Verbot und damit mit dem Entzug von Staatsknete rechnen muss.
Die deutsche Bourgeoisie gleicht in ihrem Umgang mit dem Rechtsextremismus vielmehr dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Schon Ende der 1990er Jahre hatte sie sich bei ihrem Spiel mit dem Feuer die Finger verbrannt, als sich rechtsextremistische Gewalttäter zunehmend auch an ausländischen Touristen, an britischen und italienischen Arbeiter vergriffen und somit drohten, den internationalen Ruf Deutschlands zu beschädigen. Die politische Klasse sah sich veranlasst, ein Stopp-Zeichen zu setzen; der damalige Bundeskanzler Schröder rief zum „Aufstand der Anständigen“ auf. Lichterketten wurden gebildet, Rockkonzerte gegen Rechts veranstaltet. Es wurde eine spezielle Task Force von der Polizei zusammengestellt, die an den Brennpunkten des rechten Milieus Präsenz zeigen und Gewalttätigkeiten schon im Ansatz ersticken sollte. Alles im Griff, sollte uns suggeriert werden. Und wirklich: die Berichte über rechte Übergriffe in den Massenmedien nahmen allmählich ab, der Rechtsextremismus verschwand aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses.
Doch in Wahrheit zeigte sich, dass die staatlichen Repressionskräfte gar nichts im Griff hatten, dass sie die Kontrolle über weite Teile der radikalisierten Rechten (wie z.B. die „Nationalen Autonomen“) verloren haben. Trotz der „Kooperation“ mit mehr als 130 V-Leuten in der NPD, trotz der Tatsache, dass allein sieben V-Leute im direkten Umfeld der Zwickauer Terrorbande platziert waren, sahen sich die Behörden außerstande, die verhängnisvolle Entwicklung zum Rechtsterrorismus beizeiten zu erkennen und einzudämmen, die im Schatten des „Aufstandes der Anständigen“ begonnen hatte. Alle Versuche der Verfassungsschutzbehörden, die drei untergetauchten Neonazis ausfindig zu machen, liefen ins Leere: So versuchte man beispielsweise vergeblich, dem Trio über V-Leute ein Handy zukommen zu lassen, mit dessen Hilfe man sich eine Ortung der drei erhoffte. Es flossen Geldsummen, um den dreien die Finanzierung falscher Papiere zu ermöglichen, auch hier vor dem Hintergrund, sie so besser lokalisieren zu können, auch dies vergeblich. Zu allem Überfluss wurden diese eher verzweifelt anmutenden Fahndungsversuche Mitte des vergangenen Jahrzehnts wegen Verjährung der bis dato bekannten Straftaten der drei auch noch gänzlich eingestellt. So konnten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe jahrelang völlig ungestört ihr blutiges Handwerk verrichten, zumal sie es in ihrer Feigheit peinlichst vermieden hatten, zu ihren Lebzeiten ein Bekenntnis zu ihren Untaten abzulegen.
Man kann getrost davon ausgehen, dass das Ausmaß der Verbrechen des braunen Terrornestes, deren Beweise in den Trümmern des ausgebrannten Wohnmobils und des in die Luft gejagten Hauses, das die drei bewohnt hatten, nach und nach geborgen wurden, die politische Klasse hierzulande in gewisser Weise in einen Schockzustand versetzt hat, von dem sie sich bis heute noch nicht ganz erholt hat. Ihr Entsetzen scheint nicht gespielt zu sein. Konsterniert muss sie feststellen, dass sie sich jahrelang in der falschen Gewissheit gewiegt hat, die Rechtsextremisten seien zum Terrorismus nicht fähig. Nicht nur, dass sich hinter dem Neonazi-Trio ein ganzes Netzwerk von Unterstützern verbarg, von dessen Existenz die staatlichen Behörden ebenso wenig Kenntnis hatten wie von dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ selbst. Den Behörden schwant noch Schlimmeres: mehr als 140 polizeilich registrierte Rechtsextremisten sind derzeit schlicht von der Bildfläche verschwunden. Erst jetzt beginnen Verfassungsschutz und Polizei zu überprüfen, ob sie einfach nur vor drohenden Unterhaltszahlungen abgetaucht sind, Urlaub im Ausland machen oder – wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe – in den Untergrund gegangen sind.
Nun, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist das Geschrei unter den Herrschenden groß. Bundeskanzlerin spricht von einer „Schande für Deutschland“, die Bundesjustizministerin kündigt Entschädigungszahlungen für die Angehörigen der Opfer an, und Bundespräsident Wulff macht den Kampf gegen den Rechtsextremismus zum Bestandteil seiner Weihnachtsansprache. Bundesinnenminister Friedrich richtet sogleich ein „Abwehrzentrum“ gegen den Rechtsterrorismus ein, und alle im Bundestag vertretenen Parteien sind sich darin einig, ein Verbot der NPD zu prüfen. Die Entrüstung der politischen Klasse über das Nazi-Trio ist die Entrüstung von Ertappten, die ihre rechtsradikalen Schergen viel zu lange an der langen Leine gehalten hatten und nun bestürzt feststellen, dass die ganze Sache außer Kontrolle geraten ist, dass die Neonazis mit ihren mörderischen Taten weit über das Ziel, die Abschreckung von Asylsuchenden, hinausgeschossen sind. Was wir jetzt erleben, ist das Bemühen des deutschen Staates, seine entlaufenen Bluthunde wieder einzufangen und an die Kette zu legen.
Zeitpunkt und Umstände der Entlarvung des Terror-Trios konnten aus der Sicht der deutschen Bourgeoisie nicht ungünstiger sein. Denn heute steht für sie weitaus mehr auf dem Spiel als der Ruf ihres Wirtschaftsstandortes. Damals, in den 90er Jahren, galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“; es war sein schlechter wirtschaftlicher Zustand, der damals die besorgten Blicke des Auslandes auf sich zog. Die Übergriffe der Rechten gegen Arbeiter aus Großbritannien und Italien waren – neben den aus Sicht ausländischer Unternehmen zu hohen Sozialstandards und der „Unbeweglichkeit“ des deutschen Arbeitsmarkts – nur ein weiterer Faktor, der ausländische Investoren abschreckte. Heute dagegen ist der deutsche Imperialismus obenauf und seine Kontrahenten auf dem absteigenden Ast. Die sog. Euro-Krise scheint möglich zu machen, was der deutsche Imperialismus im 20. Jahrhundert mit militärischen Mitteln stets angestrebt, aber nie erreicht hatte – die Bildung eines Europas nach deutschem Abbild, nach deutschen Regeln und Standards, ein „deutsches“ Europa. Je erfolgreicher sich Merkel aber auf den nahezu wöchentlichen Krisensitzungen der Euro-Zone durchsetzt, desto aggressiver werden die Reaktionen der europäischen Widersacher Deutschlands. Schon heute gehören Analogien zum Hitlerfaschismus (das „IV. Reich“, Merkel mit Hitler-Bärtchen)) zum täglichen Sprachgebrauch ausländischer europäischer Medien. Mit Argusaugen achten sie auf jede Regung der hiesigen politischen Klasse, suchen nach Hinweisen auf eine Wiederbelebung des alten deutschen Revanchismus. So ließ beispielsweise die Äußerung des CDU-Generalsekretärs Kauder: „Jetzt wird deutsch gesprochen in Europa“ die Wellen im europäischen Ausland hoch schlagen.
Vor diesem Hintergrund ist die Neonazi-Affäre natürlich ein gefundenes Fressen für die Rivalen des deutschen Imperialismus, lässt sich doch damit vorzüglich der alte Popanz aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands zu neuem Leben erwecken. In der ausländischen Presse ist das Terror-Trio der Aufhänger: In spanischen Zeitungen wird die Frage gestellt, wie eine solche Bande dreizehn Jahre lang unentdeckt von den Behörden bleiben konnte. In der türkischen Presse vergleicht man diese Affäre mit der „Ergenekon“-Verschwörung in der Türkei und unterstellt damit Teilen des deutschen Staates, das Terror-Trio gedeckt zu haben. Für die deutsche Bourgeoisie bedeutet diese Affäre, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, einen politischen Flurschaden von erheblichem Ausmaß. Sie, die sich anschickt, Europas Politik zu diktieren, weiß, dass nichts schädlicher ist für ihre Ambitionen als eine braun befleckte Reputation. Und genau darum geht es. Wie sagte Außenminister Westerwelle kürzlich? "Das ist nicht nur furchtbar für die Opfer, das ist nicht nur schlimm für unser Land, es ist vor allen Dingen auch sehr, sehr schlimm für das Ansehen unseres Landes in der Welt." (Hervorhebung von der Red.) Immerhin nannte er die Opfer noch an erster Stelle, wenngleich er ihre Angehörigen zu erwähnen vergaß, die seit der Ermordung ihrer Väter, Brüder, Cousins mit dem von der Polizei und der Presse lancierten Verdacht leben mussten, ihre Angehörigen seien wahrscheinlich im Drogenhandel oder anderen kriminellen Geschäften verwickelt gewesen und von der „türkischen Mafia“ erschossen worden. Doch „vor allen Dingen“ geht es den Herrschenden hierzulande darum, Schaden von ihrem Staat abzuwenden. All ihre Goodwill-Aktionen wie die Auszahlung von Entschädigungsgeldern an die Angehörigen der Opfer, die Einladung der Angehörigen durch den Bundespräsidenten und die öffentlich zur Schau gestellte Zerknirschung der politischen Klasse dienen nur diesem einen Zweck.
Die Bourgeoisie in der Zwickmühle zwischen Nation und Weltmarkt
Einer der vielen Antagonismen, die den Kapitalismus prägen, ist der Widerspruch zwischen der Nation und den Weltmarkt. Beide Phänomene gehören zum Kapitalismus wie die weltliche und geistliche Macht zum Feudalismus; sie sind erst mit dem Kapitalismus buchstäblich zu einem Begriff geworden. Von Anbeginn seiner Existenz strebte der Kapitalismus ökonomisch zum internationalen Warenhandel, zum Weltmarkt eben, aber politisch organisierte er sich von Anfang an in einem strikt nationalen Rahmen. Dieser unlösbare Widerspruch – einerseits das Bedürfnis der Nation nach Abgrenzung und Unterscheidung, andererseits die Forderung des Weltmarktes nach Durchlässigkeit und Aufhebung der Grenzen – zieht sich wie ein Riss quer durch die gesamte Bourgeoisie. Da haben wir auf der einen Seite zum Beispiel die Spitzenmanager von Großkonzernen, die sich vom Scheitel bis zur Sohle polyglott geben, die, allein schon um auf dem Weltmarkt zu überleben, grenzüberschreitend bei der Auswahl der Produktionsstandorte, der Arbeitskräfte sind und die in globalen, nicht nationalen Kategorien denken. Auf der anderen Seite haben wir neben anderen die Verfassungsschützer, deren größte Sorge die Erhaltung des Status quo, der Schutz ihres Brötchengebers, des Nationalstaates, ist, deren Interessen nicht vornehmlich dem freien und grenzenlosen Austausch von Gütern (einschließlich der Arbeitskräfte), dem internationalen Warenhandel gelten, sondern der nationalen Sicherheit. Für sie ist die Nation nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck, der alle Mittel heiligt.
Die Bourgeoisie kann diesen Widerspruch zwischen der Nation und dem Weltmarkt nicht auflösen; stattdessen laviert sie zwischen beiden Polen hin und her. Die Folgen dieses Widerspruchs für die Politik der Herrschenden werden exemplarisch am Fall Deutschland deutlich. So verdankte der Nationalsozialismus seinen Aufstieg in den 30er Jahren nicht nur dem desolaten Zustand einer geschlagenen, verratenen und enthaupteten Arbeiterklasse, sondern auch dem nicht minder desolaten Zustand der deutschen Wirtschaft im Besonderen und der Weltwirtschaft im Allgemeinen. Es war unter anderem der damals allseits praktizierte Protektionismus – als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise -, die Abschottung der nationalen Volkswirtschaften, die die deutsche Bourgeoisie dazu veranlasste, die Karte des Nationalsozialismus zu ziehen, dessen politisches Programm im Kern in der Überhöhung der deutschen Nation und in der Ersetzung des Welthandels durch schlichten Raub mit militärischen Mitteln bestand.
Zurzeit befindet sich die kapitalistische Gesellschaft in einer Krise, die noch schlimmer ist als die Weltwirtschaftskrise, die 1929 die Welt heimsuchte. Dennoch fristet der rechte Flügel der deutschen Bourgeoisie ein marginales Dasein. Deutschland ist so gut wie das einzige Land in Europa ohne eine nennenswerte rechtspopulistische oder rechtsextreme Massenbewegung. Und dies nicht ohne Grund. Anders als in den 30er Jahren, als besonders der deutsche Kapitalismus unter den vorherrschenden protektionistischen Tendenzen in der Weltwirtschaft litt, profitiert heute keine andere Volkswirtschaft von der Öffnung aller Grenzen für den Warenhandel so stark wie die deutsche. Als eine der führenden Exportnationen der Welt hat das deutsche Kapital nicht das geringste Interesse am „nationalen Programm“ einer NPD. Europa-feindliche Tendenzen können vielleicht die auf das Niveau einer Splitterpartei abgesunkene FDP erschüttern, für die herrschenden Kreise hierzulande sind sie irrelevant. Unfähig, die Gesellschaft mit politischen Mitteln zu erobern, ohne jegliche Perspektive einer Massenbewegung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus ist es nur folgerichtig, dass einige Desperados aus dem rechtsextremen Milieu in den nackten Terror flüchten und völlig irrationale Taten begehen, Taten, die weder für die NPD als einzig verbliebene politische Organisation am rechten Saum der Gesellschaft noch für irgendeine Fraktion innerhalb der deutschen Bourgeoisie von Nutzen sind. Im Gegenteil.
Heute hat vielmehr die Stunde der Demokraten, der Antifaschisten und besonders der bürgerlichen Linken geschlagen, ist die Demokratie längst zur adäquatesten Herrschaftsform des Kapitalismus in den westlichen Industrieländern, auch in Deutschland geworden. Nur sie und ihre Protagonisten sind in der Lage, den Gegensatz zwischen den nationalen Interessen und den Anforderungen eines entfesselten Weltmarktes zu übertünchen. Dies lässt sich am besten an der Ausländerpolitik illustrieren: Während die Rechte des Kapitals mit ihrer Losung „Deutschland dem deutschen Volk!“ nicht nur völlig an der Realität einer Arbeiterklasse in Deutschland vorbeigeht, die schon längst international geworden ist, sondern auch den demographischen Wandel ignoriert, der die deutsche Bourgeoisie zum „brain drain“ (d.h. zur Rekrutierung von ausgebildeten Arbeitskräften in der 3. Welt) geradezu zwingt, weiß die Linke des Kapitals sehr wohl zu unterscheiden zwischen „nützlichen Ausländern“ – beispielsweise IT-Spezialisten aus Indien –, die sie willkommen heißt, und den unerwünschten Elendsflüchtlingen aus Afrika. Während die rechten Glatzen mit roher Gewalt und zur Empörung der Mehrheit der Bevölkerung Fremde mit südländischem Aussehen terrorisieren, lassen die Technokraten des demokratischen Regimes die Wirtschaftsflüchtlinge diskret und unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf hoher See verrecken und schieben jene, denen die Flucht ins „Gelobte Land“ gelungen ist, geräuschlos ab, wobei sie bewusst den Tod vieler dieser Flüchtlinge in Kauf nehmen. Während die Rechten die EU uneingeschränkt ablehnen und den Austritt Deutschlands fordern, was auf eine katastrophale Isolierung des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt hinauslaufen würde, halten die etablierten Parteien trotz aller Krisen unbeirrt an dem Projekt eines gemeinsamen europäischen Raumes fest, weil sie wissen, dass es den nationalen Interessen Deutschlands am besten gerecht wird. Und während die Neonazis mit ihrer irren Version einer „Volksgemeinschaft“ allenfalls bei einigen Dörflern in Brandenburg oder Mecklenburg auf Gegenliebe stoßen, erweist sich das Modell einer „pluralistischen Demokratie“ heute als das effektivste Mittel der Bourgeoisie, um der aufkeimenden sozialen Unruhe Herr zu werden.
So mag der Rechtsextremismus in seiner gewalttätigsten Form, wie er sich in Gestalt stiernackiger Glatzen, aber auch des Terror-Trios äußert, eine Gefahr für Leib und Leben einzelner Angehöriger der Arbeiterklasse sein, doch auf politischer Ebene droht die wirkliche Gefahr für die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit von der anderen Seite, vom linken Arm des bürgerlichen Herrschaftsapparates. Nicht nur, dass er in seiner gewerkschaftlichen Ausprägung einen enormen Erfahrungsschatz hat, um Arbeiterkämpfe zu sabotieren; darüber hinaus sorgt er mit seiner Verteidigung der bürgerlichen Demokratie und somit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dafür, dass der Schoß, aus dem der Faschismus einst kroch, fruchtbar bleibt. 2.1.2012