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Weltrevolution Nr. 137

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Antwort auf einen Leserbrief zur Klassengrenze

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7.7.06

Werter Genosse

Du wirfst in deinem letzten Brief verschiedene wichtige Fragen auf und nimmst dazu auch Stellung. Wir können hier nicht auf alle Punkte eingehen, sondern möchten uns auf ein Thema konzentrieren, das uns gerade in der heutigen Zeit, wo linkskommunistische Positionen immer mehr Interesse erwecken, sehr wesentlich erscheint: die Klassengrenze.

Du schreibst dazu: "soweit ich das weiss, sieht die iks den "revolutionären aufbau schweiz" als bürgerlich, anarchisten als kleinbürgerlich an (korrigiert mich, wenn das nicht stimmt). dem setzt ihr personen und gruppierungen gegenüber, die "diesseits der klassengrenze" stehen. ab wann ist denn für euch jemand diesseits oder jenseits der klassengrenze?"

Klassennatur, Klassenpositionen, Klassengrenzen

Der Begriff Klassengrenze bezieht sich grundsätzlich auf politische Organisationen, und nicht auf Einzelpersonen. Die Revolutionäre beteiligen sich am Kampf der Arbeiterklasse, indem sie sich einer revolutionären Organisation anschliessen (1). Wenn wir also von Klassengrenze sprechen, beziehen wir uns auf politische Organisationen, die sich entweder auf der bürgerlichen oder der proletarischen Seite dieser Grenze befinden, entweder ein bürgerliches oder ein proletarisches Wesen haben.

Du fragst, wo wir die Klassengrenze ziehen. Wesentlich sind die Positionen und die Haltung, die eine politische Organisation vertritt: Ist ihr Programm internationalistisch? Oder verteidigt sie in offener oder versteckter Form den bürgerlichen Staat?

Zum proletarischen  Programm gehören bestimmte Klassenpositionen, über die heute aus der Sicht des Proletariats definitiv ein Urteil gefällt ist: der bürgerliche und damit konterrevolutionäre Charakter des Parlamentarismus, der Volksfrontpolitik (namentlich des Antifaschismus), der so genannten nationalen Befreiung und aller staatlichen Regime, die sich nach der Annahme der "Theorie" des "Sozialismus in einem Land" (durch die Komintern 1928) sozialistisch oder kommunistisch genannt haben oder dies immer noch tun. Du kennst alle diese zentralen Punkte eines kommunistischen Programms, da sie Bestandteil unserer Plattform sind, die du ja gelesen hast. (2)Das Urteil darüber, was eine Klassenposition ist, die darüber entscheidet, ob eine Organisation proletarischer oder bürgerlicher Natur ist, kann nur das Resultat eines geschichtlichen Prozesses sein. Es ist das Proletariat mit seinen revolutionären Minderheiten, das im Verlauf des Klassenkampfes bestimmte Positionen klärt. Die Bilanz der Russischen Revolution und ihrer Niederlage konnte erst nach den realen geschichtlichen Ereignissen gezogen werden. Was heute konterrevolutionär ist, war vielleicht vor 70 oder 80 Jahren noch nicht klar oder vor 120 Jahren noch gar nicht konterrevolutionär. Beispiel: Die Bildung neuer Nationalstaaten wurde

- von Marx und Engels je nach den Umständen lebhaft begrüsst (Deutschland, Italien);

- zur Zeit des Ersten Weltkrieges von den in dieser Frage klarsten Revolutionären - aber noch lange nicht von allen - bereits bekämpft (vgl. Luxemburg im Gegensatz zu Lenin);

- erst nach dem Zweiten Weltkrieg von den meisten der verbleibenden revolutionären Organisationen als konterrevolutionär gebrandmarkt.

Nicht jede Gruppierung, die zu einer bestimmten Zeit bei einer bestimmten Frage, z.B. der Gewerkschaftsfrage, eine falsche Position vertritt, stellt sich damit schon ins Lager der Bourgeoisie. Wenn eine solche Organisation sonst konsequent internationalistische Positionen vertritt, kann es durchaus sein, dass sie im Laufe eines veränderten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, durch die Zuspitzung der Klassenkonfrontationen, im Lichte der realen Bewegung der Klasse auf ihre falsche Position zurückkommt und sie korrigiert. Gerade dies zeichnet eine proletarische Organisation aus: dass sie als Teil der Klasse in der Lage ist, in einer lebendigen  Debatte Fehler zu berichtigen.

Letztlich entscheidend ist die Haltung einer Organisation gegenüber dem Weltkrieg und gegenüber der proletarischen Weltrevolution. Wer im Weltkrieg eine der verschiedenen Kriegsgegner unterstützt, befindet sich auf der bürgerlichen Seite. Die einzige mögliche proletarische Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg ist der Internationalismus, d.h. die Verbrüderung der Proletarier über die nationalen Grenzen hinweg. Unauflöslich damit verknüpft ist der Kampf für die proletarische Revolution, die Anerkennung, dass nur sie der Barbarei des Kapitalismus und den Klassengesellschaften überhaupt ein Ende bereiten kann.

Warum interessiert uns die Klassengrenze?

Obwohl du in deinem Brief nicht ausdrücklich auf die Frage nach dem Sinn einer solchen Grenzziehung zu sprechen kommst, möchten wir doch auch dazu etwas sagen.

Gerade das Proletariat hat schon viele schlechte Erfahrungen mit falschen Freunden gemacht. Die Gewerkschaften sind seit dem Ersten Weltkrieg ein Beispiel dafür. So schlossen am 15. November 1918 in Deutschland, mitten in der Novemberrevolution, die Führer der Gewerkschaften mit den Führern der Unternehmerverbände den Pakt der "Arbeitsgemeinschaft" zum Zwecke, "das Unternehmertum von der drohenden, über alle Wirtschaftszweige hinwegfegenden Sozialisierung, der Verstaatlichung und der nahenden Revolution zu bewahren" (3). Dies ist nur ein Beispiel von vielen, das aufzeigt, wie Organisationen, die behaupten, dem Proletariat zu gehören oder ihm wenigstens zu dienen, effektiv hinter seinem Rücken alles daran setzen, ihm zu schaden und insbesondere die Revolution zu verhindern.

Auf der einen Seite ist es also für das Proletariat lebensnotwendig zu wissen, welches seine Feinde sind, mit welchen Organisationen es keine gemeinsamen Ziele gibt. Auf der anderen Seite ist aber eine der Stärken des Proletariats seine weltumspannende Einheit. Es gilt also auch zu erkennen, wer eben auf der gleichen Seite der Barrikade steht, mit welchen Gruppen es weiter zu diskutieren und nach Einheit zu streben gilt, obwohl es vielleicht ernsthafte Divergenzen gibt. Es ist also wichtig, einen klaren Trennungsstrich zwischen den falschen Freunden und den vermeintlichen Feinden zu ziehen.

Die einseitige Undurchlässigkeit der Klassengrenze

Es braucht nicht lange begründet zu werden, dass die Klassengrenze durch eine zunächst proletarische Organisation auch überschritten werden kann. Ein solcher Übergang heisst Klassenverrat. Die sozialdemokratischen Parteien waren - trotz allem Opportunismus in ihren Reihen - vor dem Ersten Weltkrieg Organisationen des Proletariats. Sie verrieten im Krieg ihre Klasse, weshalb sich innerhalb der sozialdemokratischen Parteien linke Fraktionen bildeten, die schliesslich zu den Bestandteilen der zukünftigen Dritten Internationalen wurden. Deren Sektionen, die kommunistischen Parteien, waren zunächst proletarische Organisationen, bis auch sie den Internationalismus verrieten, nämlich als sie den Aufbau des "Sozialismus in einem Land" proklamierten. Auch die meisten Trotzkisten wechselten schliesslich ins Lager der Bourgeoisie, als sie während des Zweiten Weltkrieges die Sowjetunion, die längst zu einem kapitalistischen Staat geworden war, unterstützten. Es gibt also genügend Belege dafür, dass eine proletarische Organisation die Klassengrenze überschreiten und zu einer bürgerlichen werden kann. Gilt dies auch in umgekehrter Richtung? Gibt es bürgerliche Organisationen, die Klassenverrat begehen und zu proletarischen werden? - Nein. Im dekadenten Kapitalismus, mit seinen totalitären, staatskapitalistischen Herrschaftsformen (Demokratie, Faschismus, Stalinismus und ihre Varianten) ist ein solcher Übergang ausgeschlossen. Eine politische Organisation, die einmal in den Fängen des Staatskapitalismus ist, wird nicht mehr entlassen. Sie wird vielleicht verboten, wie 1940 in der Schweiz die (stalinistische) KP, was aber nicht bedeutet, dass sie plötzlich wieder proletarisch wird. Es ist unmöglich, eine politische Organisation der Bourgeoisie proletarisch zu unterwandern und auf die andere Seite der Klassengrenze zu ziehen. Deshalb war die trotzkistische Politik des Entrismus (des Eindringens in die sozialdemokratischen Parteien zum Zwecke des Wiedergewinns) schon in den 1930er Jahren falsch, als der Trotzkismus eigentlich noch auf der proletarischen Seite der Klassengrenze stand.

Diese Regeln beziehen sich aber nur auf die Organisationen, und nicht auf ihre Mitglieder. Individuen, die heute einer bürgerlichen Organisation angehören, können natürlich von Zweifeln über die Richtigkeit ihrer Positionen befallen werden und später austreten oder sich sogar einer proletarischen Organisation anschliessen.

 Zum Klassencharakter des Anarchismus

Du erwähnst in deinem Brief den "Revolutionären Aufbau Schweiz". Dieser bezieht sich in seinen programmatischen Positionen auf Stalin und Mao, verteidigt in seinen Publikationen Kuba und Nordkorea, betreibt und rechtfertigt gewerkschaftliche Politik usw. Nach den oben stehenden Ausführungen ist klar, warum vom Standpunkt des revolutionären Proletariats aus der "Aufbau" solide auf  bürgerlichem Boden steht.

Weniger klar ist aber vielleicht der Klassencharakter des Anarchismus. Du schreibst in deinem Brief, dass die IKS, soweit du es wüsstest, "anarchisten als kleinbürgerlich" sähen. Wir wissen nicht genau, ob du dich dabei auf einen bestimmten Text oder auf eine mündliche Diskussion mit uns beziehst. Wir haben beispielsweise im Zusammenhang mit der Geschichte des revolutionären Syndikalismus geschrieben, dass der Anarchosyndikalismus (der nicht mit dem Syndikalismus schlechthin verwechselt werden sollte) v.a. in den seinerzeit industriell weniger entwickelten Ländern stark wurde, wo der Einfluss der sich proletarisierenden Kleinbürger, z.B. der Handwerker, relativ gross war (4). Die letztlich kleinbürgerlichen Wurzeln sind auch heute noch bei fast allen anarchistischen Gruppierungen feststellbar, so verschieden sie häufig auch sind: Es gibt kaum Anarchisten, die das Eigentum und den Warentausch ganz grundsätzlich ablehnen. Die meisten sehen ihr Gesellschaftsmodell als eine "Vereinigung von Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, Kopf- und Handarbeit" (5), also als eine Gemeinschaft von kollektiven und individuellen Warenproduzenten.

Trotz diesen kleinbürgerlichen Wurzeln des Anarchismus wäre es falsch, die heutigen anarchistischen Organisationen einfach dem Kleinbürgertum zuzurechnen. Diese Klasse hat keine historische Perspektive, schon gar nicht im totalitären Staatskapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg. Insofern gibt es auch kaum kleinbürgerliche Organisationen, die über längere Zeit ihrer Klasse treu bleiben können (6). In der Regel werden sie in den kapitalistischen Staatsapparat integriert oder verschwinden wieder. Letzteres v.a. dann, wenn das Proletariat wieder verstärkt auf seinem eigenen Boden kämpft.

Für anarchistische Organisationen gelten deshalb grundsätzlich die gleichen Kriterien wie für andere politische Gruppierungen. Es gibt solche wie die spanische CNT, die sich aufgrund ihrer Politik (beispielsweise als sie in die bürgerliche Volksfront-Regierung in Spanien eingetreten sind) nicht wesentlich von linksbürgerlichen Organisationen unterscheiden - dies nennen wir die offiziellen Anarchisten. Es gibt aber auch einen internationalistischen Anarchismus (7), der gerade bei neu auftauchenden Gruppen nicht selten zu beobachten ist. Es handelt sich dabei um Gruppen, die, obwohl sie sich mit der anarchistischen Tradition identifizieren, bei den oben erwähnten wesentlichen Positionen auf der internationalistischen Seite der Klassengrenze stehen. Ein Beispiel dafür ist die ungarische Gruppe Barikád Kollektiva oder die Gruppe KRAS in Russland. Solche Gruppen sind Ausdruck des Ringens der Arbeiterklasse um politische Klärung.

Internationalistische Grüsse

IKS

 

Fussnoten:

1) Wir können in dieser Antwort aus Platzgründen nicht auch noch auf die Rolle einer revolutionären Organisation eingehen. Dazu haben wir ja schon verschiedentlich Artikel geschrieben, z.B. Die Verantwortung der Revolutionäre, in Weltrevolution Nr. 135, oder grundsätzlich im Beitrag zur Funktion der revolutionären Organisation (in Internationale Revue Nr. 9 bzw. book/print/745)

2) Eine  Definition der Klassenpositionen findet sich im Internationalistischen Diskussionsforum (https://russia.internationalist-forum.org/de/node/6 [1]):

"um den proletarischen Charakter des Forums zu bewahren, ist es notwendig, dass jeder Teilnehmer folgende offen bürgerliche Positionen ablehnt:

- Beteiligung an jeglicher Regierung, aus welchen Gründen auch immer;

- Unterwerfung der proletarischen Interessen unter jenen der "Nation", die Überhöhung von Nationalismus und Patriotismus;

- Kampf um Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems anstelle des Kampfes mit dem Ziel seines Sturzes auf weltweiter Grundlage;

- Forderung nach einer Verteidigung der UdSSR in der imperialistischen Weltarena vor ihrem Zusammenbruch;

- die Verteidigung des sozialistischen oder des "degenerierten Arbeiter"charakters der stalinistischen Regimes, wie sie in Russland nach der Niederlage der Revolution oder danach in Ländern wie China bzw. jenen Osteuropas installiert worden waren;

- Unterstützung, selbst kritische Unterstützung, für irgendeine Partei, deren Aktivitäten auf irgendeine der oben genannten Positionen fußt"

3) J. Reichert, Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller, zit. nach Richard Müller, Die Novemberrevolution, S. 112

4) International Review Nr. 118, S. 25 (engl. Ausgabe)

5) zit. nach einem im Juli 2006 gehaltenen Referat der FAU in Bern

6) Ein Beispiel einer kleinbürgerlichen Organisation war die Situationistische Internationale, die sich zwar auf das "Proletariat" bezog, aber sich auflöste, kaum hatte 1968 das wirkliche Proletariat den Kampf aufgenommen (vgl. International Review Nr. 80, Guy Debord - das zweite Ableben der Situationistischen Internationalen, engl./frz./span.)

7) vgl. dazu die entsprechende Rubrik auf unserer Webseite: taxonomy/term/116/9 [2]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [3]

Deutschland: Die Keime der Solidarität schlagen ihre Wurzeln

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Nach der Fußballweltmeisterschaft jubelt die gesamte bürgerliche Welt über das neue patriotische Wir-Gefühl in Deutschland, über eine angeblich aufkommende patriotische Gemeinsamkeit aller Klassen und Schichten. Die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache. Die Ausbeuter haben den Medienrummel um die WM benutzt, um ohne viel Aufsehen eine weitere Verschlechterung und Verteuerung der Gesundheitsdienste zu beschließen, um die  für viele Lohnabhängige so wichtige Pendlerpauschale zu kürzen, um den Volkswagenbeschäftigten mit Werkschließungen zu drohen, falls sie nicht bereit sein sollten, bis zu sieben Stunden die Woche ohne Entlohnung zusätzlich zu arbeiten, um über sieben tausend Arbeitsplätze bei der Allianz und der Dresdner Bank abzubauen usw., gleichzeitig aber die Unternehmensbesteuerung um weitere acht Milliarden Euro zu senken. Diese und alle anderen anstehenden Angriffe schmerzen viel zu sehr, als dass sie lange unbemerkt und ohne Reaktion durchgedrückt werden könnten.

Die Wende im Klassenkampf

Für die Fußballfans wird 2006 im Gedächtnis haften bleiben als das Jahr der WM in Deutschland. Für die Verfechter der Sache der sozialen Befreiung wird 2006 in die Geschichte eingehen als ein Jahr der sich zuspitzenden Klassenkämpfe. Als das Jahr, in dem zum ersten Mal seit dem Massenstreik von 1980 in Polen auf der Ebene eines ganzen Landes - in Frankreich - eine Massenbewegung der Arbeiterklasse einen Angriff der kapitalistischen Regierung erfolgreich abwehren konnte. Es ist aber auch jetzt schon klar, dass es darüber hinaus als ein Jahr einer weltweiten Entwicklung der Arbeiterklasse gelten wird. Wir haben bereits in der letzten Ausgabe von Weltrevolution über die Auseinandersetzungen im nordspanischen Vigo berichtet, wo klassische proletarische Kampfmethoden, ähnlich denen in Frankreich, Anwendung fanden. In dieser Ausgabe unserer Zeitung berichten wir über die Massenstreiks in Bangladesh.

Gegenüber dieser internationalen Entwicklung bildet auch Deutschland, der WM zum Trotz, keine Ausnahme. Die Betriebsbesetzung bei der AEG in Nürnberg, die Proteste gegen Personalabbau beispielsweise bei der Allianz-Versicherung, der Telekom oder bei den Großbanken, die Streiks der Klinikärzte oder die Streiks in den Verkehrsbetrieben Münchens, der Arbeitskampf in den kommunalen Betrieben Baden-Württembergs belegen dies eindrucksvoll. Und auch wenn es der IG Metall  diesmal gelang, einen großen Streik im zentralen Bereich der deutschen Exportindustrie zu verhindern, so zeugte die Teilnahme von fast einer Million Metaller in ganz Deutschland an den Warnstreiks und Demonstrationen von der wachsenden Gärung auch in diesem Bereich. Auch die Anfänge der Studentenproteste gegen Studiengebühren und Sozialabbau zeugen von diesem Klimawechsel. Im Zuge der staatlich verordneten Zusammenlegung von Krankenkassen, der mit einem radikalen Personalabbau einhergehen wird, sind bereits die ersten Protestaktionen der Betroffenen geplant.

Die internationale Wende hin zum verstärkten Klassenkampf, welche wir bereits für das Jahr 2003 feststellen konnten, hat sich konsolidiert und verstärkt, erfasst die ganze Welt, und macht vor den entwickeltsten Industriestaaten nicht halt.

Der Streik im öffentlichen Dienst

Vor allem wurde die erste Hälfte des Jahres in Deutschland geprägt vom wichtigsten Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst seit 1992. Ein Vergleich der jetzigen Auseinandersetzung mit der von 1992 macht deutlich, wie die Lage sich in der Zwischenzeit gewandelt hat. Nach dem kurzzeitigen Rausch der deutschen "Wiedervereinigung" und der damit verbundenen, ebenso flüchtigen Hochkonjunktur der deutschen Wirtschaft schob sich damals die Ernüchterung der kapitalistischen Krisenlogik wieder in den Vordergrund. Insbesondere stand 1992 ein massiver Stellenabbau im öffentlichen Dienst im Osten, aber auch im Westen unmittelbar an. Die zum Streik aufrufende Gewerkschaft (damals noch ÖTV) stellte in Aussicht, diesen Stellenabbau mittels einer "besseren Verteilung der Arbeit" und in erster Linie durch Arbeitszeitverkürzung verhindern oder zumindest vermindern zu können. Obwohl dieser Streik im Ergebnis auch eine Reallohnminderung mit sich brachte, empfanden viele Beschäftigte zunächst, dass die Politik der Gewerkschaft durch eine Einschränkung der Arbeitszeit zu einem Teilsieg geführt hätte. Die Illusionen von 1992 sowie die damit verbundene Erhöhung des Ansehens der Gewerkschaften trugen wesentlich dazu bei, die Arbeiterklasse wehrlos zu machen gegenüber dem, was in den Jahren danach folgen sollte: der beispiellose Abbau von bis zu 1,5 Millionen Arbeitsplätzen in diesem Bereich.

Heute hingegen, nach dem von der Gewerkschaft Ver.di getätigten Abschluss, herrschen nicht falsche Hoffnungen vor, sondern es herrscht schmerzliche Ernüchterung. Die Arbeitszeiten wurden nicht gekürzt, sondern für die Mehrheit der Beschäftigten verlängert. Die Wochenarbeitszeit bei Bereitschaftsdiensten wurde bis auf 58 Stunden ausgedehnt. Das Urlaubsgeld sowie die orts- und familienbezogenen Zuschläge werden gestrichen, das Weihnachtsgeld gekürzt. Vom kommenden Jahr an darf bis zu acht Prozent des Bruttogehalts von den Kapitalisten einbehalten und dann als "Leistungsprämie" nach Belieben verteilt werden, um die Lohnabhängigen zu noch mehr Schufterei anzutreiben und gegeneinander aufzuhetzen. In vielen Bereichen wurden nach dem Modell der "Privatwirtschaft" Öffnungsklauseln vereinbart, wodurch darüber hinaus gehende Lohnsenkungen bis zu zehn Prozent zur "Sicherung des Standortes" durchgesetzt werden können. Der Unternehmer Staat hat in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften außerdem ein neues Tarifsystem gebastelt. Waren bisher schon die Beschäftigten des Bundes, der Länder und der Kommunen voneinander getrennt, so jetzt auch noch die der einzelnen Länder und Kommunen sowie die einzelnen Berufsgruppen untereinander. Somit setzt die Bourgeoisie konsequent die  klassische Politik von "teile und herrsche!" fort, welche im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik schon als Antwort auf den großen Streik von 1974 großflächig zur Anwendung kam. Dies wurde notwendig, nachdem die Staatsbeschäftigten aufgrund der Massivität, der Selbstinitiative und dem Drang zur Ausdehnung des Kampfes in nur drei Tagen eine Lohnerhöhung von elf Prozent durchgesetzt hatten.

2006 hat sich im öffentlichen Dienst, anders als 1974, nicht die Arbeiterklasse, sondern die Kapitalseite durchgesetzt. Wie  1992 hat die Klasse eine Niederlage erlitten. Aber anders als 1992 sind sich die Beschäftigten über diese Niederlage im Klaren.

Das bedeutet, dass die positive politische Auswirkung dieses Sieges für die herrschende Klasse viel kürzer und beschränkter sein wird als vor 14 Jahren. Keineswegs haben die Ausbeuter diesmal einem Jahrzehnt der sozialen Friedhofsruhe im öffentlichen Dienst den Weg geebnet, um ungehindert weitere Maßnahmen durchzusetzen. Die Beschäftigten haben nicht nur in Punkto Lohn oder Arbeitszeit eingebüßt. Sie haben auch Illusionen verloren. Illusionen über das kapitalistische System, über die Gewerkschaften als angeblich wirksame Vertreter der Interessen der Arbeiter, über den Staat als einen über den Klassen stehenden, treu sorgenden Vater. Deswegen werden die Ämter und Krankenhäuser in den kommenden Jahren zunehmend zu Orten der Unzufriedenheit, des Widerstandes und der Entwicklung des Klassenbewusstseins.

Die Kampfkraft nimmt zu, die gewerkschaftliche Spaltung auch

Der Vergleich 1992 mit 2006 fördert einen weiteren Unterschied zutage. Damals streikten bis zu 400.000 Beschäftigte gleichzeitig drei Wochen lang. Diesmal wurde nur einmal die Höchstzahl von 41.000 Streikenden an einem Tag erreicht. Dafür dauerten die Auseinandersetzungen nicht Wochen, sondern Monate. Daraus geht hervor, wie sehr die Zersplitterung des Kampfes in diesem Bereich zugenommen hat. Man könnte daraus schließen, dass die Unzufriedenheit bzw.  Kampfkraft geschrumpft sei. Das Gegenteil ist der Fall. Wie sehr die soziale Gärung in diesem Sektor an Breite und Tiefe gewonnen hat, zeigt der Kampf der Klinikärzte. Es war der erste Streik dieser Art in der Geschichte der Bundesrepublik.

Gemessen an ihren eigenen Forderungen wie einer dreißigprozentigen Lohnerhöhung haben die Ärzte nicht mal die Hälfte von dem erreicht. Dennoch ist das in diesem Bereich vorherrschende Gefühl, zumindest einen Teilsieg errungen zu haben, nicht unbegründet. So wurden nicht nur Lohnerhöhungen und Zugeständnisse hinsichtlich der Arbeitszeit und der Überstundenvergütung erreicht, sondern auch durchgesetzt, dass Berufsanfänger nicht mehr mit Zeitverträgen terrorisiert werden, sondern relativ rasch eine Festanstellung erhalten müssen. Zu einer Zeit, da die gesamte Arbeiterklasse immer mehr unter der mit der Massenarbeitslosigkeit einhergehenden Unsicherheit und Befristung der Beschäftigung leidet, (dieses Problem war auch Auslöser der Massenkämpfe in Frankreich) lässt dieses Ergebnis in der Tat aufhorchen. Die Ärzte entwickelten auch deshalb Druck, weil sie sich bewusst der Forderung nach einem Burgfrieden - sprich  Verzicht auf den Klassenkampf zugunsten der nationalen Einheit - wegen des Fußballs verweigerten, vielmehr mit einer Zuspitzung des Kampfes während der WM drohten.

Diese tiefere Verwurzelung der Unzufriedenheit äußert sich auch in der Langlebigkeit des schwelenden sozialen Brandes. Der Teilerfolg der Ärzte der Landeskliniken ermunterte ihre Kolleginnen und Kollegen im städtischen Bereich, es ihnen gleich zu tun. Andererseits wagten die Gewerkschaften es nicht, angesichts der Wucht der Angriffe frühzeitig "zum Abschluss" zu kommen.

Die Schärfe der Krise zwingt die Arbeiterklasse heute dazu, nicht nur gängige bürgerliche Illusionen aufzugeben, sondern sich vertieft mit den Veränderungen in den historischen Bedingungen des eigenen Kampfes zu befassen. Ursprünglich, schon zur Zeit der Frühindustrialisierung, hatte das Proletariat sich mit den Gewerkschaften Mittel des wirtschaftlichen Abwehrkampfes gegeben, welche sich den von der kapitalistischen Konkurrenz vorgegebenen Trennungslinien wie Beruf, "Arbeitgeber", Gewerbezweig oder Nation anpassten. Das politische Organ hingegen, die Klassenpartei, bildete sich nicht berufsmäßig und national, sondern territorial und international. Der gewerkschaftliche Kampf konnte für die Klasse von Nutzen sein, solange man nur Einzelunternehmern bzw. den Kapitalisten einzelner beschränkter Branchen gegenüberstand. Aber die Konzentration des Kapitals und die zunehmende Einmischung des Staates haben im zwanzigsten Jahrhundert dazu geführt, dass die Trennung zwischen wirtschaftlichem und politischem Kampf wie die Trennung der einzelnen Arbeiterkämpfe voneinander hinfällig geworden ist. Die Kämpfe müssen sich politisieren und die gesamte Klasse erfassen, um wie zuletzt in Frankreich Aussicht auf Erfolg zu haben. Das Kapital hingegen integrierte die Gewerkschaften in den  Staat und benutzt sie, um den Arbeiterkampf nach Belieben zu spalten. So waren beim Streik im öffentlichen Dienst 1992 bereits Post und Telekommunikation, die Eisenbahner usw. wie selbstverständlich ausgeklammert. Vierzehn Jahre später waren auch die bisherigen Vorreiter der Staatsbeschäftigten wie die Straßenbahner oder ein bedeutender Teil der Müllwerker ausgeschlossen. Zwar versuchen die Bürgerlichen, diese Entwicklung als ein unabwendbares Naturereignis hinzustellen. Dass das Krankenpersonal und die Kita-Beschäftigten sich dennoch zu fragen beginnen, warum sie allein auf weiter Flur gegen die Brutalität des Staates den Kampf aufnehmen mussten, beweist die perfide Propaganda von Ver.di, die wiederholt diesen Bereichen ein schlechtes Gewissen einzureden versuchte, nach dem Motto: tut selbst was, hört endlich auf, andere für euch kämpfen zu lassen.

Die Gewerkschaften als Speerspitze der Angriffe

Nun behaupten viele politische Gruppen, die sich als revolutionär, marxistisch oder anarchistisch bezeichnen, dass die Gewerkschaften hinsichtlich der Spaltung des Arbeiterkampfes keine Täter, sondern selbst bedauerliche Opfer der kapitalistischen Offensive seien. Die Zeitung Graswurzelrevolution (für eine gewaltfreie herrschaftslose Gesellschaft) meint in ihrer Sommerausgabe 2006 (Nr. 311), dass Ver.di "...weiteren Differenzierungen zustimmen musste. Es war nun mal eine "Offensive in der Defensive" und ihr Ziel war keine Verbesserung, sondern Abwehr von Verschlechterungen." Auch die Arbeiterstimme (Zeitschrift für marxistische Theorie und Praxis) bedauert Ver.di und meint: "Die Gewerkschaft hat in dieser Auseinandersetzung schlechte Karten. (Nr. 152, Sommer 2006)" Die Direkte Aktion (anarchosyndikalistische Zeitung) hingegen (Nr. 176, Juli/August 2006) kritisiert zwar die Hetze von Ver.di gegen die Klinikärzte, um dann Sympathie mit der Ärztegewerkschaft Marburger Bund zu verkünden. "Sie tritt nicht nur kämpferisch auf, sondern wirkt tatsächlich im von Ver.di befürchteten Sinne: Sie ordnet sich nicht der Maxime "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" unter, sondern tritt mit wachsendem Selbstbewusstsein ohne deren Unterstützung an. Dieser Bruch wird von vielen Beschäftigten wahrgenommen, die mit der eigenen Gewerkschaftspolitik hadern. Das birgt auch für andere Branchen die Chance, über Alternativen in die Diskussion zu kommen und eine Selbstorganisierung in kleinen und unabhängigen Gewerkschaften wie der FAU voranzutreiben."

Die Solidarität (Zeitung von Sozialistinnen in der WASG) macht sich Sorgen darüber, dass "... das Vertrauen in die gewerkschaftliche Kampfkraft (...) untergraben und dadurch angreifbar" werden könnte.

In Wahrheit aber bilden die Gewerkschaften die Speerspitze und das strategische Zentrum der antiproletarischen Angriffe. Während sie dafür sorgten, dass im jüngsten Streik wenige Angestellte allein auf weiter Flur gegen die Staatsmacht antreten mussten, wurde im voraus durch eine sog. Meistbegünstigungsklausel dafür gesorgt, dass die für die Arbeiterklasse schlechten Ergebnisse dieses ungleichen Kampfes für alle Angestellten von Bund, Länder und Kommunen geltend gemacht werden können.

Besonders perfide war die Rolle der Gewerkschaften zuletzt im Gesundheitswesen. Dieser Sektor ist in den letzten Jahren in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht immer mehr zu einem Schlüsselbereich avanciert. Dort sind mittlerweile ca. 10 % aller Beschäftigten tätig - sehr qualifizierte und oft im städtischen Bereich konzentrierte Teile der modernen Arbeiterklasse. Zugleich wird die Frage der Gesundheitspolitik immer brisanter. Denn während einerseits der medizinische Fortschritt an führender Stelle für die Verlängerung der Lebenserwartung in den Industriestaaten verantwortlich zeichnet, schwindet angesichts von "leeren Kassen" und  massiver Überproduktion der Ware Arbeitskraft die Möglichkeit und die Notwendigkeit für das Kapital, eine breite Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Die in diesem Bereich auf einander folgenden, immer einschneidenderen "Gesundheitsreformen" werden für die Herrschenden immer problematischer, da sich das ärztliche und pflegerische Personal allmählich seiner Lage als Teil der Arbeiterklasse bewusst wird. Darüber hinaus wächst die Möglichkeit der Solidarisierung dieser Beschäftigten mit der gesamten arbeitenden Bevölkerung, wie auch umgekehrt, da alle mehr oder weniger existenzgefährdend durch diese "Reformen" betroffen werden.

Der Hintergrund des jetzigen Streiks war die Aufkündigung des Bundesangestelltentarifs (BAT) zwischen Ver.di und dem Staat. Um die oben erwähnte Solidarität im Keim zu ersticken, vereinbarte Ver.di mit den Kapitalisten eine "Tarifreform", welche bewusst massiv und einseitig zu Lasten der Klinikärzte ging (Lohnkürzungen des ärztlichen Dienstes bis zu 30%). Man rechnete damit, dass gerade die an unmenschliche Arbeitsbedingungen gewohnten Klinikärzte sich nicht wehren würden. Da sie aber im Gegenteil mit großer Empörung reagierten, und diese Empörung sich direkt gegen Ver.di richtete, musste die Bourgeoisie diese Reaktion gewerkschaftlich abfangen, indem der Marburger Bund sich von Ver.di abspaltete. Die 30%-ige Lohnforderung beim jetzigen Ärztestreik zielt lediglich darauf, die letzten Einbußen halbwegs wieder wettzumachen. Jetzt predigte der Marburger Bund offen die Verachtung der anderen Krankenhausbeschäftigten, während Ver.di den streikenden Klinikärzten das Messer in den  Rücken stieß, indem sie den reallohnsenkenden Abschluss demonstrativ auch im Namen der Ärzte betätigte und damit öffentlich verkündete, ihre scheinbar hohen Lohnforderungen seien unverschämt, ungerechtfertigt und gegen die Interessen der anderen Lohnabhängigen gerichtet.

Wieder einmal clever eingefädelt von den Gewerkschaften. Aber ihr Hauptziel,  die Zerstörung des Keimes der Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse, haben sie damit nicht erreicht. Die Sympathie des Pflegepersonals mit dem Streik der Klinikärzte, die der Bevölkerung mit den Lohnabhängigen im Gesundheitswesen, sowie die Sorge der Letzteren um die Aufrechterhaltung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung sprechen eine gänzlich andere Sprache.

Die Arbeiterklasse mag schmerzliche Einbußen einzustecken gehabt haben, aber der Keim der Solidarität und künftiger, einheitlicherer Kämpfe wächst dennoch.

22.07.06

Die Intervention der IKS in der Bewegung gegen den CPE

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Die revolutionären Organisationen des Proletariats haben die Verantwortung, klar und entschlossen in den Arbeiterkämpfen einzugreifen. Sie haben die Verantwortung, in ihrer Presse über ihre Interventionen zu berichten. Weil die IKS in der Lage war, schnell das proletarische Wesen der Bewegung der Studenten gegen den CPE zu erkennen, haben wir uns in diesen ersten Kampf, der von der neuen Generation der Arbeiterklasse geführt wurde, eingereiht.

Vom 7. Februar an waren wir trotz der Tatsache, dass damals Schulferien waren, bei den Demonstrationen, die in Paris und in der Provinz von den Gewerkschaften veranstaltet wurden, präsent. Beim Verkauf unserer Presse haben wir mit vielen Studenten und Schülern, die auf der Suche nach einer Perspektive sind, diskutiert. Dabei sind wir auf ein reges Interesse und eine wirkliche Sympathie für unsere Publikationen gestoßen.

Aber vor allem von Anfang März an haben wir uns voll an der Bewegung gegen den CPE beteiligen können. Am 4. März waren unsere Genoss/Innen beim Treffen der nationalen Koordination anwesend. In der darauf folgenden Woche haben wir in den Massenvollversammlungen das Wort ergriffen, die in allen Unis stattfanden. Dort haben wir festgestellt, dass die Suche nach Solidarität im Mittelpunkt der Diskussionen stand.

Die Frage der Solidarität vor Augen (die von der IKS als ein Hauptmerkmal der gegenwärtigen Dynamik der Arbeiterkämpfe in allen Ländern erkannt wurde), sind wir gegenüber der Bewegung vom 5. März an mit 2 Flugblättern und einer Beilage zu unserer Zeitung interveniert (siehe Weltrevolution 135). Unsere Presse fand in den Universitäten, in den Betrieben und in den Demonstrationen reißenden Absatz. In Frankreich wie auch in anderen Ländern, in denen die IKS präsent ist, haben wir zwei Diskussionsveranstaltungen abgehalten: In der ersten versuchten wir, die Politik des Schweigens der Medien über das Wesen und den Inhalt der Diskussionen, die in den Vollversammlungen stattfanden, zu brechen; in der zweiten - gegen Ende der Bewegung - versuchten wir, die Hauptlehren aus dieser wichtigen Erfahrung der jungen Generation zu ziehen, um Perspektiven für die zukünftigen Kämpfe der Arbeiterklasse zu erstellen.

Der Kampf der IKS gegen das Verschweigen der Medien

Gegenüber der Politik des Verschweigens seitens der Medien und den niederträchtigen ideologischen Manipulationen der herrschenden Klasse und der in ihrem Dienst stehenden Medien bestand unsere erste Aufgabe darin, die Politik des Verschweigens und der Lügen zu brechen. Deshalb haben wir sofort auf unserer Webseite in 13 Sprachen unsere Flugblätter und Artikel veröffentlicht, um die Wahrheit gegenüber den Falschmeldungen wiederherzustellen, die von der internationalen Bourgeoisie verbreitet werden. In allen Ländern wurden von den Medien die Bilder gewalttätiger Zusammenstöße zwischen "Krawallmachern" und Bürgerkriegspolizei in den Vordergrund gestellt. In keinem Land wurde jemals über die Massenvollversammlungen, die reichhaltigen Debatten, die dort stattfanden, und die  ständige Suche nach Solidarität berichtet. Die Studenten wurden meist als "Blockierer" oder als "Krawallmacher" dargestellt.

Die internationale Propaganda der ‚demokratischen' Bourgeoisie stach erneut hervor durch die Verbreitung von Lügen, Verfälschungen, Fehlinformation und Irreführung des Bewusstseins. Man wurde an die Zeit der Russischen Revolution 1917 erinnert, als die Bolschewiki als furchterregende Leute mit einem Messer zwischen den Zähnen dargestellt wurden.

Zum großen Teil dank der Presse wirklich revolutionärer Organisationen, insbesondere dank der Presse der IKS hat die Arbeiterklasse in vielen Ländern die Wahrheit erfahren können. Die Arbeiter in Frankreich wie auch in anderen Ländern haben somit ihre Solidarität mit den kämpfenden Studenten zum Ausdruck bringen können, welche von der internationalen Bourgeoisie durch eine Art Sperrring isoliert werden sollten, um sie in eine Niederlage zu treiben und der Repression auszuliefern. Indem wir uns entschlossen gegen die Politik des Verschweigens der Medien gewandt, zur Solidarität mit den Kindern der Arbeiterklasse aufgerufen haben, ist unsere Organisation ihrer Aufgabe gerecht geworden (auch wenn dies unseren Kritikern nicht gefällt).

Unsere Intervention in den Universitäten…

Weil es eine offene Geisteshaltung unter den Studenten gab, weil sie die erfinderische Initiative ergriffen, eine "Ideenkiste" zu öffnen, in der die ganze Arbeiterklasse ihre Vorschläge einbringen konnte, konnten die Mitglieder der IKS direkt in den Vollversammlungen das Wort ergreifen, zunächst in Paris (insbesondere an der Uni Censier, Jussieu und Tolbiac), schließlich später in den anderen Universitäten in der Provinz. Sobald wir an den Türen der Hörsäle als Arbeiter auftraten (ob als Beschäftigte oder als Rentner) und als Eltern von an den Kämpfen beteiligten Studenten, die gekommen waren, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen, sind wir mit Enthusiasmus und mit offenen Armen empfangen worden. Die Studenten selbst schlugen uns vor, in den Vollversammlungen das Wort zu ergreifen, ihnen von unserer Erfahrung als Arbeiter zu berichten und ihnen natürlich auch Vorschläge und Ideen zu unterbreiten. In all den Universitäten, in denen wir in Vollversammlungen mit Hunderten von Studenten das Wort ergriffen, wurden die von uns gemachten konkreten Anträge und Handlungsvorschläge mit großem Interesse aufgenommen und nach Abstimmungen übernommen und verabschiedet. So hat zum Beispiel einer unserer Genossen am 15. März an der Uni Censier einen Antrag eingebracht, der zur Abstimmung gebracht und mehrheitlich übernommen wurde. In dem Antrag wurden die in den Vollversammlungen versammelten Studenten dazu aufgerufen, sofort die unmittelbare Ausdehnung des Kampfes auf die Beschäftigten aufzunehmen. Darin wurde vorgeschlagen, dass ein Flugblatt massenhaft vor allem an den Pariser Pendlerbahnhöfen verteilt werden sollte. In den Provinzuniversitäten (insbesondere in Toulouse und in Tours) haben unsere Genossen Vorschläge mit der gleichen Stoßrichtung gemacht. Wir haben vorgeschlagen, dass man Demonstrationen zu den Betrieben und den großen Kliniken organisiert, und dass bei diesen Demonstrationen Flugblätter mit Aufrufen an die Beschäftigten verteilt werden, dass diese sich dem Kampf der Studenten anschließen.

Seit dem Mai 1968 waren unsere Interventionen in den Vollversammlungen auf solch ein positives Echo gestoßen. In all den Vollversammlungen, in denen wir das Wort ergriffen, wurden die konkreten Vorschläge im Hinblick auf die Ausdehnung der Bewegung auf die Beschäftigten von den Studenten aufgegriffen und umgesetzt (auch wenn die Saboteure aus den Reihen der Gewerkschaften und der linksextremen Gruppen alle möglichen Manöver entfalteten, um unsere Anträge entweder zu vereinnahmen, damit sie so besser an der Bewegung dranbleiben und die Kontrolle über sie behalten, oder um sie nach den Vollversammlungen diskret unter den Tisch fallen zu lassen, indem sie durch eine Reihe anderer punktueller ‚Handlungsvorschläge' verwischt wurden).

Aber den Studenten gelang es teilweise, diese Manöver zu vereiteln. Die von der IKS bei den Arbeiterkämpfen seit mehr als einem Viertel Jahrhundert unablässig verbreiteten ‚Ideen' wurden von den Studenten in die Praxis umgesetzt: Sie haben die aktive Solidarität der Beschäftigten gesucht, indem sie Flugblätter mit Aufrufen zur Solidarität verteilten, und indem sie massive Delegationen zu den Betrieben schickten, die geographisch am nächsten lagen (insbesondere haben sie diese in Rennes, Aix-en-provence und Paris zu den Bahnhöfen entsandt). Überall haben die Studenten sehr schnell verstanden, "wenn wir isoliert bleiben, werden wir schnell niedergemacht werden" (wie es ein Student in Paris-Censier formulierte). Dank dieser Dynamik der Ausdehnung der Bewegung auf die gesamte Arbeiterklasse, welche aufgrund der Öffnung der Vollversammlungen möglich geworden war, gelang es der Bewegung, die Bourgeoisie zurückzudrängen.

Zu den Vorschlägen, die wir in den Vollversammlungen unterbreiteten und von diesen übernommen wurden, gehörte auch der Vorschlag der Abhaltung gemeinsamer Vollversammlungen zwischen Studenten und Beschäftigten der bestreikten Universitäten. Insbesondere in Paris Censier wurde dieser Vorschlag aufgegriffen. Aber weil die Mobilisierung der Beschäftigten im Erziehungswesen (die sich noch nicht von der Niederlage vom Frühjahr 2003 erholt haben) nur sehr schwach war, konnten so deren Zögerungen nicht überwunden werden. Den Beschäftigen dieses Wirtschaftszweiges gelang es nicht, im größeren Umfang die Studenten zu unterstützen und mit an die Spitze der Bewegung zu rücken. In den Vollversammlungen hat nur eine kleine Zahl von Lehrkräften das Wort ergriffen, um die kämpfenden Studenten zu unterstützen. Wir müssen eingestehen, dass dort, wo wir gemäß unseren geringen Kräften eingreifen konnten, die mutigsten, mit den Studenten am meisten solidarischen und von der Notwendigkeit der unmittelbaren Ausdehnung des Kampfes auf die Beschäftigten aller Betriebe (ohne auf die gewerkschaftlichen Anordnungen zu warten) am meisten überzeugten Lehrkräfte im Wesentlichen die Mitglieder der IKS waren (1).

Sobald unsere Vorschläge nach und nach mehrheitlich übernommen und unsere Genossen als Mitglieder der IKS identifiziert wurden, haben natürlich die Gewerkschaften und die Leute der Extremen Linken sofort alle möglichen Gerüchte in Umlauf gebracht, um Misstrauen zu säen und zu versuchen, die Lage in den Universitäten wieder in Griff zu kriegen und vor allem die Leute, die  auf der Suche nach einer revolutionären Perspektive sind, daran zu hindern, sich den Positionen der Strömungen der Kommunistischen Linken zu nähern (2).

In den Universitäten, in denen unsere Genossen sich von Anfang an als Mitglieder der IKS zu erkennen gegeben  haben, konnte man beobachten, mit welch klassischen Sabotageversuchen verhindert werden sollte, dass Vollversammlungen für ‚Außenstehende" geöffnet werden sollten. So erhielten in der Fakultät Toulouse-Rangueil (wo die "nationale Koordination" gegründet wurde) unsere Genossen zu Beginn der Bewegung Redeverbot, als wir uns beim Eingang der Hörsäle vor den Vollversammlungen als Mitglieder der IKS  zeigten. Das Redeverbot für unsere Genossen wurde vom Präsidium der Vollversammlung ausgesprochen, welches von den Trotzkisten der Jeunesse Communiste Révolutionnaire (Kommunistische Jugendorganisation der LCR Krivines und Besancenot) kontrolliert wurde.

Dagegen wurden in einer anderen Universität in Toulouse, im Mirail, die Redebeiträge eines unserer Genossen, der in dieser Universität unterrichtet, mit sehr viel Enthusiasmus begrüßt. Die Studenten baten unseren Genossen, ein Referat über die Bewegung des Mai 1968 zu halten und ihnen somit unsere Einschätzung der historischen Bedeutung dieser Bewegung mitzuteilen.

…und in den Treffen der ‚Koordinationen'

Wir haben ebenfalls mehrmals in den Versammlungen der ‚nationalen Koordination' das Wort ergriffen. Am 4. März haben wir vor dem Treffpunkt der 'Koordination' in Paris unsere Presse verkauft (dabei zeigten viele Studenten ein großes Interesse) und auch versucht das Wort in der Versammlung zu ergreifen. Nach drei Stunden Diskussion hat die Vollversammlung schließlich beschlossen, ‚Beobachtern von Außen' den Zugang zu gestatten, allerdings ohne ihnen das Rederecht zuzugestehen.

Aber die politischen Manöver, die darauf abzielten, die Vollversammlungen abzuriegeln und uns das Wort zu verbieten, riefen viele Diskussionen unter den Studenten hervor. Vor allem die in keiner Gewerkschaft organisierten oder keiner politischen Organisation zugehörigen Studenten waren am meisten entschlossen, die Sabotagemanöver der Studentengewerkschaft UNEF und der Linksextremen zu verhindern. In der Fakultät Paris-Censier entschieden die Studenten, den "Außenstehenden" das Rederecht zu erteilen, die Vollversammlungen für die Beschäftigten zu öffnen, die der Bewegung ihre Unterstützung erklären wollten.

So konnten unsere Genossen, Eltern kämpfender Studenten, am 8. März in dem Treffen der "landesweiten Koordination" das Wort ergreifen, um die Notwendigkeit der Erweiterung des Kampfes zu unterstreichen, indem man die Solidarität der Beschäftigten der Betriebe einfordert (insbesondere der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Eisenbahnen, der Krankenhäuser und der Post).

Am Ende der Bewegung haben die Politexperten der "Koordination" (die durch die Gruppierungen der Linken, von der PS bis hin zu den Trotzkisten unterwandert war, und die die Studenten als Beute und die Universitäten als Jagdreviere betrachten) manövriert, um diese Dynamik der Öffnung auf dem nationalen Treffen in Lyon am 8./9. April kurz vor der Rücknahme des CPE zu sabotieren. Obwohl sie die Mitglieder der IKS nicht daran hindern konnten, den Saal zu betreten, weil sie sich sonst in den Augen der Studenten völlig diskreditiert hätten, haben es die "Führer der Koordination" dennoch geschafft durchzusetzen, dass den ‚Beobachtern von Außen' kein Rederecht zugestanden wurde. Diese Delegiertenversammlung (von denen die meisten Delegierten ohnehin ohne klares Mandat gekommen waren) war ein wahres Fiasko: zwei Tage lang haben die Spezialisten der Sabotage die Delegierten darüber abstimmen lassen, wie und was sie abstimmen sollten! Viele Studenten haben diese Versammlung der "nationalen Koordination" angewidert verlassen und haben sich erneut auf die Orientierungen besonnen, die wir in den Vollversammlungen vorgeschlagen hatten. Sie zeigten damit eine große Reife, einen Mut und eine bemerkenswerte politische Intelligenz, indem sie sich mehrheitlich dafür entschieden, die Blockierung der Universitäten aufzuheben, nachdem der CPE zurückgenommen worden war, damit man nicht in die Falle der "Aktionskommandos", und des "Kämpfens bis zum Umfallen" läuft, die die eigentliche Dynamik der Bewegung durch die Orientierung auf Gewalt abwürgen.

Der Einfluss unserer Presse in den Demonstrationen

Wie wir immer wieder betont haben, ist die Presse das Hauptinstrument unserer Intervention in den Arbeiterkämpfen. Vor allem auf den Demonstrationen haben wir den Großteil unserer Publikationen verkaufen können (mehrere Tausend Exemplare).

Die IKS war vom 7. Februar an bei allen Demos in Paris, Toulouse, Tours, Lyon, Marseille, Lille, Grenoble präsent. Unsere Flugblätter, unsere Zeitung und unsere Beilage wurde von zahlreichen Studenten, Gymnasiasten, Beschäftigten und Rentnern mit großem Interesse und Wohlwollen aufgenommen.

Während der Demonstration am 18. März sind viele Gruppen von Studenten zu unseren Presseständen gekommen und haben ihre Sympathie für unsere Positionen geäußert. Einige fragten uns, ob sie unsere Flugblätter an Bushaltestellen kleben könnten. Andere nahmen unsere Flugblätter stapelweise, um sie weiter zu verteilen oder wollten unsere Publikationen photographieren oder filmen. Eine kleine Gruppe von Studenten sagte uns gar: "Es ist toll, all diese Publikationen in zig verschiedenen Sprachen zu sehen; es ist offensichtlich, dass ihr die einzigen wahren Internationalisten seid". Mehrfach sind auch Studenten zu uns gekommen, um sich für die Unterstützung der IKS für die Studenten zu bedanken "indem ihr unsere Bewegung, unsere Vollversammlungen in den anderen Ländern bekannt gemacht habt" und diese gegenüber den von den Medien verbreiteten Lügen verteidigt habt. Gerade weil uns eine Vielzahl von Studenten ihre Sympathie bekundeten, haben es die stalinistischen Bonzen und die Ordner der Gewerkschaften nicht gewagt uns offen anzugreifen, wie das noch am 7. März während der Demo möglich war.

Noch nie seit dem Bestehen der IKS sind wir mit unserer Intervention auf solch ein positives Echo in einer Bewegung der Arbeiterklasse gestoßen. Noch nie zuvor hatten wir so viele Diskussionen mit Demonstranten aller Generationen, insbesondere mit so vielen Jugendlichen, die auf der Suche nach einer historischen Perspektive sind.

Offensichtlich war die Presse der IKS bei diesen Demonstrationen ein echter Referenzpunkt in Anbetracht der Vielzahl von Flugblättern verschiedenster Grüppchen (linker und anarchistischer Couleur), von denen sich das eine ‚radikaler' als das andere gab, und die in Paris wie in den meisten großen Provinzstädten überall anzutreffen waren.

Die Sympathie, die uns von vielen Studenten und Beschäftigten auf den Demos bekundet wurde, ist für uns eine Ermunterung, unsere Aktivitäten mit der größten Entschlossenheit fortzusetzen. Und wenn wir heute eine sehr positive Bilanz hinsichtlich des Echos auf unsere Intervention in der Bewegung gegen den CPE ziehen können, tun wir dies nicht aus Selbstbeweihräucherung. Uns geht es darum aufzuzeigen, dass die offene Haltung der neuen Generationen gegenüber den revolutionären Ideen die Bewusstseinsreifung innerhalb der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringt.

Genauso wie unsere Intervention zur Stärkung des Selbstvertrauens der jungen Generation, des Vertrauens in ihre eigene Kraft beigetragen hat, kann der dadurch entstandene Enthusiasmus unser Vertrauen in das historische Potential der Arbeiterklasse nur noch verstärken.

Trotz der demokratischen, gewerkschaftlichen und reformistischen Illusionen, die immer noch stark das Bewusstsein der jungen Generation belasten, belegen ihre offene Geisteshaltung gegenüber den revolutionären Ideen, ihre Bereitschaft, weiter nachzudenken und zu diskutieren, die große Reifung und die wirkliche Tiefe dieser Bewegung. Von der Fähigkeit der Revolutionäre, dieses Nachdenken weiter reifen zu lassen, hängt die Zukunft der menschlichen Gesellschaft ab. 

Sofiane (Juni 2006).

(1) Wir haben mit eigenen Augen feststellen können, dass die meisten Universitätsprofessoren in den Vollversammlungen, an denen wir teilnehmen konnten, durch ihre Abwesenheit glänzten. Einige stellten sich gar offen gegen die Bewegung wie an der Abteilung "Sozialwissenschaften" - Paris 7 Jussieu (manchmal zeigten sie auch keine Skrupel, physische Gewalt gegen die studentischen ‚Blockierer' anzuwenden). In anderen Universitäten haben diese anerkannten Ideologen des bürgerlichen demokratischen Staates so getan, als ob sie die Bewegung mit Worten ‚unterstützten', um sie besser zu vergiften, indem sie die reformistische Ideologie der ‚linken Parteien' verbreiteten. Aufgrund ihrer Haltung in der Bewegung hat ein Großteil der Professoren unter Beweis gestellt, dass sie nicht zur Arbeiterklasse gehören, sondern einer zukunftslosen Klasse angehören: der Intelligentsia der Kleinbourgeoisie (und deren Hauptfunktion darin besteht, die Ideologie der herrschenden Klasse in den Universitäten zu verbreiten). All diese Kriecher haben dazu beigetragen, die "demokratischen", "bürgerlichen" und "gewerkschaftlichen Werte" unserer schönen Bananenrepublik zu verbreiten, wenn sie nicht direkt die Befehle Herrn Gilles de Robien ausführten (der im Fernsehen einen Skandal machen wollte, als er einige zerstörte Bücher vor den Kameras zeigte, die von den Besetzerstudenten in der Sorbonne angeblich zerstört worden seien): Überwachung, Denunzierung von Studenten, und natürlich Bestrafungen der "Rädelsführer" bei den Examen.

(1)     Gegen Ende der Bewegung haben plötzlich einige Studenten der am meisten fortgeschrittenen Universitäten (wie in Censier), die zuvor am offensten gegenüber unseren Interventionen waren, eine Kehrtwende gemacht: "Was ihr sagt, mag ja alles stimmen, aber wir wollen keine Revolution machen, wir wollen nur die Rücknahme des CPE". "Ihr seid zu kritisch gegenüber den Gewerkschaften. Man kann doch nicht ohne Gewerkschaften kämpfen". Oder "wir möchten nicht von politischen Organisationen vereinnahmt werden. Unsere Bewegung muss unpolitisch bleiben".

Die Tragödie von Valencia

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Am 3. Juli 2006 ereignete sich der schlimmste U-Bahnunfall in der Geschichte Spaniens, der zugleich auch einer der schlimmsten in ganz Europa war. Er forderte 41 Menschenleben und zahllose Verletzte in Valencia.

Die Kraft der Solidarität

Angesichts dieser Katastrophe entwickelte sich unter den Menschen spontan Solidarität. Statt dass jeder den anderen überrannte, um die eigene Haut zu retten, halfen sich die Opfer gegenseitig. Auch Arbeiter und Anwohner eilten zu Hilfe. Zudem gab es eine großartige Mobilisierung von Feuerwehrleuten, Ärzten und Pflegepersonal und es gab unzählige Blutspenden. Die Solidarität, die hier zum Ausdruck gekommen ist, zeigt das tiefverwurzelte Mitgefühl für und die Besorgnis um Andere. Dies steht natürlich im krassen Gegensatz zum Individualismus, den die heutige Gesellschaft überall kultiviert.

Diese Solidarität widerlegt das Image, das von den Medien, Politikern und den restlichen Ideologen propagiert wird. Ein Image nämlich, demzufolge wir lediglich eine Horde von Egoisten darstellen, die unverantwortlich nur die eigenen Interessen wahrnehmen und im Grunde auf konsumgeile Wesen reduzierbar sind.

Es ist gerade diese menschliche Solidarität, die wir zuallererst den Opfern und ihren Angehörigen als Beileidsbekundung aussprechen möchten. Unser Gefühl der Solidarität ist gepaart mit Schmerz und Empörung. Schmerz empfinden wir besonders deshalb, weil die Opfer wieder einmal, wie damals bei dem Unfall in der Londoner U-Bahn vor drei Jahren oder wie bei dem Bombenanschlag in der Madrider Bahn, Arbeiter/innen waren. Die Mehrzahl der Opfer kam aus Torrente, einer Schlafstadt bei Valencia. Aber es mischt sich auch das Gefühl der Empörung dazu, angesichts der schamlosen Lügen über die vermeintlichen Ursachen des Unfalls, die verbreitet werden.

Alle Politiker  - von der PP bis zur ‚sozialistischen' PSOE - stimmten mit den Medien den gleichen Tenor an, dass nämlich dieser Unfall seinen Lauf nahm, weil der Unglückszug zu schnell unterwegs war. Mit anderen Worten: Man hatte im Nu den Zugführer, der bei dem Unfall ums Leben kam, als den Schuldigen für diese Tragödie ausgemacht. Die Botschaft war eindeutig: Die Ursache des Unfalls war menschliches Versagen, also die Unverantwortlichkeit und die Schuld dieses einen Arbeiters. Wie schlecht und unverantwortlich doch die Menschen sind, war die Quintessenz dieser Aussage.

Allerdings ist dies nicht der erste Vorfall dieser Art: die Untersuchung des Bahnunglücks bei Almansa vor drei Jahren, wo es schwerwiegende Beweise für Mängel beim Bau-, Signal- und Sicherheitssystem gab, endete damit, dass einem Bahnmitarbeiter die ganze Schuld in die Schuhe geschoben und er daraufhin zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Mittels dieser Strategien versucht sowohl der Kapitalismus als auch sein Staatsapparat sich in Unschuld zu waschen, indem er jedwede Verantwortung für den Unfall verneint, stattdessen aber in der Bevölkerung die Idee verbreitet, dass die Arbeiter/innen die Schuldigen sind.

Bekannt ist, dass der Zug an der Unglücksstelle 80 km/h fuhr, aber nur 40 km/h erlaubt waren. Dies konnte man der Black Box des Zuges entnehmen. Aber, und dies ist sehr wichtig: Diese Tatsache wurde bislang als einzige Wahrheit auf dem Silbertablett präsentiert und von den Medien verkündet. Dabei wurde jedoch eine Vielzahl von wichtigen Tatbeständen einfach unter den Teppich gekehrt. Diese werden uns im Folgenden helfen, mehr Licht ins Dunkel zu bringen und zu verstehen, dass es eine ganz andere Erklärung für die Ursachen des Unfalls gibt.

Eine tragische Konsequenz des krisengeschüttelten Kapitalismus

Zunächst einmal gilt festzuhalten, was verschwiegen wurde, nämlich, dass der U-Bahnfahrer tatsächlich nur einen Zeitvertrag hatte; des weiteren wurde er als Stationsarbeiter eingestellt, nicht aber als U-Bahnfahrer. Für letzteres hatte er gar keinerlei Ausbildung:

"Sein Arbeitsvertrag mit der FGV wurde durch eine Zeitarbeitsfirma geregelt. Jorge Àlvarez, von der unabhängigen Bahngewerkschaft, berichtete, dass der Arbeiter seit Mai als U-Bahnfahrer eingesetzt wurde, obwohl er keinen festen Vertrag hatte. Sein Beruf war eigentlich der eines Bahnhofmitarbeiters, doch er bekam dann einen flexibleren Zeitvertrag, der die Tätigkeit des Zugführens miteinschloss. Sie sagten ihm, dass er 14 Tage Anlernzeit bräuchte, obwohl man ihm zuvor mitgeteilt hatte, dass er mindestens ein Jahr Ausbildung bräuchte, um als assistierender U-Bahnfahrer arbeiten zu können." (El Mundo, 4.7.06) Man verlangte also von einem Arbeiter, der lediglich mit einem Zeitvertrag ausgestattet war und ohne Berufsausbildung als U-Bahnfahrer dastand, dass er tagein tagaus Züge fahre.

Damit wurde natürlich eine ungeheuere Verantwortung auf seine Schultern geladen, die sicherlich großen Stress, Anspannungen und Leid mit sich gebracht haben müssen. Zugleich bedeutete dies aber auch, dass man dadurch tagtäglich das Leben Tausender von Menschen leichtfertig aufs Spiel setzte.

Es wurde berichtet, dass der U-Bahnfahrer möglicherweise das Bewusstsein verlor, als sich das Unglück ereignete. Dies führt uns direkt zu der zweiten unglaublichen Verantwortungslosigkeit der Behörden, welche zynisch ihre angebliche Solidarität mit den Opfern zur Schau stellen. Seit Jahren nämlich werden Züge nur noch von einem Lokführer gefahren - eine der Maßnahmen des massiven Stellenabbaus. Daher gibt es nicht mehr das Duo in der Lok bestehend aus Assistent und Lokführer. Wenn also dem Lokführer etwas zustößt, kann in solch einer Situation niemand mehr eingreifen, um das Leben der Passagiere zu retten. 41 Menschen starben, weil sowohl alle Regierungen als auch alle Unternehmen zwei Strategien verfolgen: Prekarisierung und Massenentlassungen!

Der Abbau und der Zerfall der Infrastruktur

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Problems ist der desaströse Zustand der Linie 1, bei der sich der Unfall ereignete. Bereits vor einem Jahr gab es auf dieser Linie einen Unfall auf Grund von Sicherheitsmängeln und ungenügender Wartung. Es waren Missstände, gegen die aber auch gar nichts unternommen wurde, um sie zu beheben. Konkret bedeutet dies: "Der Streckenabschnitt, wo sich der Unfall zutrug, ist eine Kurve, welche in einem sehr schlechten Zustand ist. Sie ist sehr eng und bei der Einfahrt rollt man über eine Weiche, die ein leichtes Schlingern verursacht." (Aussage der Gewerkschaften, zitiert in Levante, 4.7.06) Aber, so heißt es weiter: "…dieser Streckenabschnitt, der sich schon seit langem in einem schlechten Zustand befindet, wurde nicht gewartet, weil dies bedeutet hätte, vorübergehend die wichtigste Pendler- und Transportroute der Großstadt Valencia zu schließen. Die Linie 1 ist die Hauptstütze für die großen Erfolg der U-Bahn von Valencia, welche jährlich 60 Millionen Passagiere verzeichnen kann." (ebenda)

Die Bahn von Valencia ist öffentliches Eigentum, das bis 1995 von der PSOE und seither von der PP regiert und verwaltet wird. Gemäß der ach so heiligen Gesetze der kapitalistischen Gewinnmaximierung brauchten sie aber solche "eventuellen Sicherheitsprobleme" nicht beheben, dafür wurden und werden halt täglich die Leben abertausender Menschen aufs Spiel gesetzt. Angesichts des kapitalistischen Zwangs ständig die Profite zu erhöhen, müssen kontinuierlich die Kosten gedrückt werden - gerade in Zeiten der Krise, so dass zusehends die Infrastruktur abgebaut wird. Die mangelnde Renovierung bzw. Instandhaltung des öffentlichen Verkehrswesens bildete somit erst den Nährboden für Katastrophen wie in Valencia. Von daher gilt gleichermaßen für 3.Weltländer wie für Industriestaaten: Die bestehenden Bedingungen werden nur noch mehr Tragödien zur Folge haben - ob bei Flugzeugen, Schiffen, Zügen oder bei Überflutungen, Stürme etc., die durch den Klimawandel ausgelöst werden.

Der Kapitalismus ist einfach eine permanente Katastrophe

Diese wahrlich sträfliche Vernachlässigung der Infrastruktur, welche einen Verfall der Arbeiter- und selbst von Mittelstandwohngegenden nach sich zieht, steht natürlich im grellen Gegensatz zu den Abermillionen an Investitionen, die in repräsentative Bauten, gerade auch für Megaevents wie die WM oder die Olympischen Spiele regelrecht zum Fenster hinausgeworfen werden. Dies trifft auch auf Valencia zu, wie beim Papstbesuch zu sehen war oder auch für den anstehenden America Cup 2007.

Die Tragödie von Valencia ist nur eine von vielen Katastrophen.

Auf der einen Seite erleben wir ja immer "spektakulärere Katastrophen": Massive Überschwemmungen, Bombenanschläge in Zügen, Wohnblöcke und andere Gebäude, die einstürzen; auf der anderen Seite wächst aber auch das (all)tägliche Leid. Es sind Abermillionen stille und unsichtbare Tragödien, die sich abspielen - Auswirkungen der Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfälle. Gleichzeitig ist ein Niedergang sozialer und menschlicher Beziehungen sichtbar, der sich überall in diesem Gesellschaftssystem zeigt - ein Gesellschaftssystem, das keine Perspektive zu bieten hat. Das Fortbestehen des Kapitalismus ist tatsächlich die Grundursache für diese furchtbare Situation.

Es gibt daher nur einen Ausweg: sich wehren und kämpfen. In der Tat hat die internationale Arbeiterklasse begonnen zu verstehen, dass der Klassenkampf der einzige Weg aus der Sackgasse ist. Dies zeigte sie im Frühjahr in der Bewegung in Frankreich, im Mai beim Metallarbeiter/innenstreik in Vigo und im Juni beim Textilarbeiterstreik in Bangladesch. Nur die Entwicklung des Klassenkampfes, welche natürlich viele Mühen und Anstrengungen  erfordern wird und die auch zahlreiche Hemmnisse überwinden wird müssen, kann uns befreien von solchen Katastrophen, solchem Leid und solcher Barbarei.       IKS, 4. Juli 2006

Gegenstandpunkt und die Arbeiterklasse:

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Der Groll des Verschmähten

 

Am Samstag, den 20. Mai 2006, fand im Rahmen der "Linken Buchtage" in Berlin eine Diskussionsveranstaltung der Gruppe Gegenstandpunkt (GS) über die Studentenproteste in Frankreich statt. Wie groß das Interesse an diesem Thema war, wird dadurch veranschaulicht, dass der Veranstaltungsraum mit mindestens 60 Besuchern hoffnungslos überfüllt war. Die Veranstaltung selbst, die von einem einzigen Vertreter der Gruppe, der Referent und Diskussionsleiter in Personalunion war, geleitet wurde, erwies sich als eine Lehrstunde - leider weniger in dem Sinn, der Analyse der überaus wichtigen Kämpfe in Frankreich neue Erkenntnisse beizufügen. Vielmehr führte diese Veranstaltung anschaulich das Verhalten einer Gruppe vor Augen, die die Arbeiterkämpfe vom Elfenbeinturm des "reinen Marxismus" betrachtet.

Die kämpfenden Studenten Frankreichs - künftige Kader der Bourgeoisie?

Der Referent vollbrachte das Kunststück, mit keinem einzigen Wort auf die außerordentlichen Qualitäten dieser Bewegung einzugehen. Stattdessen meinte er die Zuhörerschaft mit ellenlangen Ausführungen über das Kündigungsrecht u.ä. aufklären zu müssen und verstieg sich schließlich in der Behauptung, dass die Studentenproteste nur deshalb erfolgreich waren, weil die französische Bourgeoisie schließlich mit diesen Studenten als künftige Manager zusammenarbeiten müsse.

Auf die Nachfrage, ob der Referent tatsächlich meine, dass die Bewegung in Frankreich nur dank des Umstandes Erfolg gehabt habe, weil die französische Bourgeoisie es sich nicht mit ihren künftigen Kadern verderben möchte, bejahte er dies im Prinzip. Daraufhin meldeten sich zwei andere Gäste der Veranstaltung zu Wort. Der eine bezweifelte die Aussage, dass es sich hier um eine reine Studentenbewegung gehandelt habe, und wies auf die Tatsache hin, dass an den Protesten und Diskussionen auch viele Rentner teilgenommen haben. Der andere machte darauf aufmerksam, dass sich der eigentliche Erfolg der Bewegung in Frankreich nicht so sehr in der Erfüllung der Forderung nach Abschaffung des CPE verbirgt, sondern in den Erfahrungen, die in ihr gemacht worden sind. Es ist dabei aufschlussreich, dass beide gewissermaßen authentische Zeugen der Ereignisse in Frankreich waren - so erlebte der eine den eigenen Worten zufolge die Proteste in Frankreich selbst mit, und der zweite Redner gab sich als Student aus Frankreich zu erkennen. In einer Wortmeldung griff die IKS beide Beiträge auf, um sie zu bekräftigen und einige der großen Stärken dieser Bewegung hervorzuheben. Des weiteren wurde darauf hingewiesen, dass die protestierenden Studenten in ihrer Mehrzahl künftige Arbeiter sind und nicht die künftigen Kader der französischen Bourgeoisie, welche ihren Nachwuchs vielmehr aus Eliteuniversitäten wie die Ena beziehe.

Der Vertreter von GS entgegnete zum einen, dass wenn nicht die obere, so doch zumindest die mittlere und untere Management- und Verwaltungsebene sich aus den "normalen" Unis rekrutiere. Zum anderen kommentierte er ohne weitere Begründung die positive Darstellung der Studentenproteste in den Wortbeiträgen der Veranstaltung als "zu optimistisch". Leider beschränkte sich die Diskussion trotz der großen Zahl an Besuchern nur auf eine Handvoll Leute. So wurde die Veranstaltung bereits nach weniger als zwei Stunden beendet.

Die Arbeiterklasse zwischen Ignorierung und Beschimpfung

Liest man das Einladungsflugblatt von GS zu ihrer Veranstaltung, verstärkt sich der Eindruck einer seltsamen Distanz dieser Gruppe gegenüber dem Klassenkampf der Arbeiterklasse. Das fängt schon damit an, dass im ersten Satz kategorisch festgestellt wird: "Europas arbeitende Klasse nimmt die beständigen unternehmerischen und staatlichen Zumutungen wie Naturerscheinungen, stellt sich auf sie ein und reagiert auf sie mit Konkurrenz untereinander." Immerhin gesteht GS den Jugendlichen in Frankreich zu, eine "Ausnahme" zu sein, denn: "Sie pfiffen auf den ökonomischen Sachverstand von Wirtschaftsweisen (...) Es war ihnen schnuppe, dass die höchste Rechtsinstanz Frankreichs, der Verfassungsrat, das Gesetz als verfassungskonform bestätigte." Damit aber genug des Lobes: "Leider war diese Radikalität, die sich nur gegen das Ausnahmerecht für Berufsanfänger bis 26 richtet, dann doch sehr begrenzt. So sehr die Demonstranten nämlich das Gesetz ablehnen, so wenig interessieren sie sich dafür, warum in Frankreich wie in der restlichen EU 10 bis 25% der Bevölkerung (dauer)arbeitslos sind und warum immer mehr Jugendliche keine Jobs finden."

In diesen wenigen Zeilen kommt das ganze Elend dieser Gruppe zum Ausdruck. GS behauptet, die Arbeiter Europas würden die Angriffe der herrschenden Klasse "wie Naturerscheinungen" hinnehmen und verliert nicht eine Silbe über die Arbeiterkämpfe, die in den letzten beiden Jahren in Frankreich, Österreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, USA, Indien, Dubai und anderswo stattgefunden haben. Sie behauptet, dass die Arbeiterklasse mit "Konkurrenz untereinander" reagiert und übersieht schlicht, dass gerade die jüngsten Arbeiterkämpfe um ein Moment bereichert wurden, das wie kein anderes Mittel in der Lage ist, diese Konkurrenz unter den Arbeitern zu neutralisieren - die Solidarität. Wie kommt es zu dieser geradezu fahrlässigen Ignoranz gegenüber diesen Fakten?

Eine Antwort auf diese Frage findet man in den Gründen, die GS für ihre Behauptung angibt, dass die Bewegung in Frankreich die große "Ausnahme" gewesen sei. Nach ihr bestand die Einmaligkeit dieser Bewegung nicht im Bestreben der Studenten, aktiv und zielstrebig die Solidarität der Arbeiterklasse zu suchen, auch nicht in ihrer Öffnung gegenüber den älteren Generationen und schon gar nicht in der Organisationsweise dieser Bewegung, die instinktiv an die Tradition der Arbeiterräte in Russland 1905 sowie an die Streikkomitees der polnischen Arbeiter 1980 anknüpfte. Nein, ihr zufolge zeichnete sich die Bewegung in Frankreich dadurch aus, dass die Studenten angeblich die kapitalistische Logik und das bürgerliche Recht ignorierten, sprich: sich anschickten, dem Kapitalismus als solchen den Kampf anzusagen. Aber - leider, leider - am Ende erwiesen sich die Studenten dann doch nicht als so "revolutionär", zeigten sie sich doch angeblich desinteressiert an den "wahren" Ursachen ihrer Misere.

Für diese Maximalisten zählt offenbar nichts außer der revolutionäre Kampf. Mit Verachtung schauen sie auf jedwedes Bemühen der Arbeiter, ihren Lebensstandard innerhalb dieses Systems zu verteidigen, geißeln sie das Bestreben der Arbeiter, "ihre Verbürgerlichung zum obersten Anliegen" (1) zu machen und ihren "Willen zur Unterwerfung". Wüst beschimpfen sie die Arbeiter als "nützliche Idioten" und "Arschlöcher", weil diese sich mit dem Kapitalismus identifizierten und sich durch ihre "Solidarität mit der Nation" nicht nur zu "Gegnern ihrer eigenen Lohnarbeiterinteressen", sondern auch "zu - mindestens latenten - Ausländerfeinden" und "Nationalisten" machten, "statt dass sie ihren Verstand darauf verwenden, sich ein richtiges Bewusstsein von ihrer Lebenslage und deren Gründen zu erwerben."

Nach ihren Tiraden gegen die als "Arschlöcher von Staat und Kapital" titulierten Arbeiter begeben sie sich auf "Ursachenforschung": "Und warum lassen sie es nicht? Warum machen Lohnarbeiter mit in einem Gemeinwesen, das sie systematisch zur Manövriermasse des kapitalistischen Eigentums und des dazu gehörigen allgegenwärtigen staatlichen Gewaltapparats degradiert?" Dabei werden sie schnell fündig: "Es gibt dafür keine anderen ‚Ursachen' als die schlechten Gründe, die die Leute haben (...) Gedanken, selbst verkehrte, sind keine sozialen Naturprodukte; auch was Lohnarbeiter sich über ihre Lage denken und für ihr Leben vornehmen, ist das Ergebnis von Schlüssen, die sie aus ihrer Lebenssituation ziehen. Dafür, wie die ausfallen, gibt es keinen anderen Grund als die - zutreffenden oder unzutreffenden, guten oder schlechten - Gründe, die die Leute haben, und jedenfalls keine sozial determinierende Ursache hinter ihrer - und sei es noch so bescheuerten - Verstandesleistung"

Die Revolution - ein Akt des freien Willens oder der historischen Notwendigkeit?

Liest man diese Zeilen, ist man zunächst verblüfft über diese krude Mischung aus akademischer Diktion und Gossenjargon. Man fragt sich unwillkürlich, woher diese Wut gegen die Ausgebeuteten kommt. Vielleicht hilft ein Blick auf den Werdegang dieser Gruppe. Viele ihrer Protagonisten gehören der 68er Generation an und schlossen sich damals, Anfang der 70er Jahre, linksbürgerlichen Organisationen, insbesondere maoistischen Sekten, an. Überzeugt davon, dass der "normale" Arbeiter lediglich zu einem ökonomischen Bewusstsein fähig ist, dass ihm das politische, revolutionäre Bewusstsein "von außen" eingeimpft werden muss, gingen viele von ihnen in die Fabriken, um illegale Betriebsgruppen zu bilden, die Betriebsräte zu unterwandern oder gar eine sog. "Revolutionäre Gewerkschaftsopposition" zu bilden. Doch ihre Überzeugungsarbeit unter den Arbeitern vor Ort stieß auf blankes Unverständnis, ihre Werbeversuche wurden von den Umworbenen brüsk zurückgewiesen. Enttäuscht und frustriert beendeten die meisten von ihnen schnell ihr Intermezzo in den Fabriken und wandten sich schließlich gar ganz von der Politik ab. Die Verschärfung der Krise und der Zusammenbruch des Ostblocks spülte in den 90er Jahren einige dieser sog. Altlinken wieder an die Oberfläche. Was sie auf den Plan rief, war der Triumph der westlichen Demokratie, die sie zutreffend als reine Mystifikation der Herrschenden entlarvten. Geblieben ist jedoch ihre Geringschätzung gegenüber der Arbeiterklasse, die sich allerdings nicht mehr im Versuch einer Bevormundung äußert, sondern in reiner Verachtung. Sie gipfelt in der kühnen Behauptung, dass die angebliche Passivität der Arbeiter nicht gesellschaftlich bedingt ist, sondern das Ergebnis einer freien Willensentscheidung, unabhängig von "sozial determinierten Ursachen".

In ihrer Philippika gegen das Proletariat fällt auf, dass so gut wie nirgendwo der Klassenbegriff auftaucht. Wie bürgerliche Soziologen sezieren sie das Objekt des Arbeiters in seinem "ruhenden" Zustand, d.h. außerhalb des Klassenrahmens und -kampfes. Darüber hinaus klammern sie in ihrer Analyse des Proletariats äußere Einflüsse wie beispielsweise die Wirtschaftskrise (die sie bekanntlich leugnen) mit all ihren Folgen für die ausgebeutete Klasse aus. GS vermittelt auf diese Weise ein völlig statisches Bild von der Arbeiterklasse, das offen lässt, wie diese Klasse jemals ihrem Ruf als "Totengräber" des Kapitalismus gerecht werden soll.

Weit entfernt davon, unsere Klassenbrüder und -schwestern zu idealisieren, haben wir es dagegen stets mit Karl Marx gehalten: "Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (aus: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Bd. 2, S. 37) Denn anders als die Sklaven in der Antike oder die Leibeigenen im Feudalismus ist die Arbeiterklasse nicht nur eine ausgebeutete, sondern auch eine revolutionäre Klasse. Ihr obliegt es, den gordischen Knoten zu zerschlagen, der die Produktivkräfte im dekadenten Kapitalismus fesselt - den Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der Produktion, verkörpert durch die Arbeiterklasse, und der privaten Aneignung der Produktionsmittel und Reichtümer durch die Kapitalisten.

Da jedoch die Arbeiterklasse, im Unterschied zur revolutionären Bourgeoisie im ausgehenden Mittelalter, über keinerlei wirtschaftliche Bastionen verfügt, die es ihr erlaubten, die wirtschaftlichen Fundamente der neuen Gesellschaft bereits in der alten zu errichten, wird sich ihre Revolution grundsätzlich von allen vorherigen Revolutionen unterscheiden: Während die Französische Revolution von 1789 im Grunde nur der Gnadenstoß gegen einen Absolutismus war, dessen wirtschaftliche Fundamente längst ausgehöhlt waren, wird die proletarische Revolution mit dem politischen Kraftakt der Machtergreifung beginnen müssen, ehe überhaupt die wirtschaftliche Umwälzung stattfinden kann. Es liegt auf der Hand, dass ein so jäher Machtwechsel zwischen zwei Gesellschaftsklassen ein äußerst bewusster Akt sein muss. Er verlangt die aktive Beteiligung der gesamten Arbeiterklasse. Oder wie Marx und Engels es bereits im Kommunistischen Manifest formulierten: "Die Emanzipation der Arbeiterklasse kann nur das Werk der gesamten Arbeiterklasse sein."

Doch wie entsteht revolutionäres Bewusstsein? Was ist notwendig, damit die Ausgebeuteten dieser Welt sich von der ideologischen Dominanz ihrer Unterdrücker und Ausbeuter befreien? Sind es die "guten oder schlechten Gründe" (ein Begriff, der an Vagheit nicht zu überbieten ist)? Nun, wir haben bereits auf den wichtigsten Faktor hingewiesen, der ein solches Klassenbewusstsein fördert - die Krise einer dekadenten Produktionsweise, die das Auskommen, ja Überleben der Arbeiterklasse in Frage stellt. Es wäre jedoch naiv, daraus zu schließen, dass das revolutionäre Bewusstsein sich sozusagen automatisch aus der Verelendung ergibt. Wäre dem so, dann hätte die Weltrevolution des Proletariats bereits im 19. Jahrhundert auf der Tagesordnung gestanden, als der Kapitalismus noch eine aufstrebende Gesellschaftsform, die Verelendung des Proletariats aber unbeschreiblich war. Es waren Marx und Engels, die nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 festgestellt hatten, dass die Zeit für eine kommunistische Revolution nicht reif war, solange der Kapitalismus noch nicht zu einem Welt umspannenden System geworden war. Und die Tatsache, dass die Weltwirtschaftskrise von 1929 keinerlei revolutionäre Welle des internationalen Proletariats auslöste, sondern zum II. Weltkrieg führte, veranschaulicht deutlich, dass es selbst im senilen Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts keine mechanische Verknüpfung zwischen Verelendung und Revolution gibt. So spielt denn neben der ökonomischen und historischen Krise des Kapitalismus als materielle Voraussetzung auch der Zustand des ideologischen Überbaus der herrschenden Klasse eine wichtige Rolle bei der Formung eines revolutionären Klassenbewusstseins des Proletariats. Erst wenn die herrschende Ideologie Schaden genommen hat und ihre Institutionen und Ideale einen erheblichen Verlust an Glaubwürdigkeit und Autorität erlitten haben, nimmt die Gesellschaft Kurs auf immer heftigere Klassenkonfrontationen und - unter bestimmten Umständen - auf einen revolutionären Aufstand des Proletariats.

Die Entwicklung des Klassenbewusstseins verläuft die weitaus längste Zeit unterirdisch, d.h. in den Köpfen der Arbeiter, und ohne größere, sichtbare Konsequenzen. Dabei wird sie ständig von den ideologischen Manövern der Bourgeoisie, aber auch von den alten Gewohnheiten in der Arbeiterklasse gestört. Und kommt es einmal zum offenen Kampf, dann schrecken die Arbeiter am Ende doch vor der letzten Konsequenz zurück und scheinen wieder zum alten Trott zurückzukehren, ohne etwas dazugelernt zu haben. Doch dieser Anschein kann trügen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung gibt es Beispiele, wie revolutionäre Erhebungen des Proletariats scheinbar aus heiterem Himmel über die kapitalistische Gesellschaft hereinbrachen. So waren dieselben russischen Arbeiter, die sich im Januar 1905 gegen den Zaren erhoben und erstmals revolutionäre Sowjets gründeten, noch kurz zuvor dem Pfaffen Gapon hinterhergelaufen.

In Wahrheit tauchen solche revolutionären Ausbrüche nie "aus dem Nichts" auf. Sie sind nichts anderes als die langjährige Anhäufung von Erfahrungen und Lehren aus vielen kleinen oder großen Kämpfen, die einen bestimmten kritischen Punkt erreicht haben. Sie sind darüber hinaus das Ergebnis einer jahrzehntelangen Agitation und Propaganda der revolutionären Minderheiten in ihrer Klasse und der Beweis, dass entgegen aller Momentaufnahmen die Interventionen der Revolutionäre langfristig auf fruchtbaren Boden fallen. Umgekehrt heißt dies, dass die Existenz und das Wirken der Kommunisten innerhalb der Arbeiterklasse von hoher Bedeutung für die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins ist. Die Revolutionäre tragen mit die Verantwortung dafür, dass die wachsenden Zweifel in der Klasse am Kapitalismus nicht in Ohnmacht und Verzweiflung, sondern in eine revolutionäre Perspektive münden. Ihre Aufgabe ist, die Arbeiter in ihrem täglichen Kampf gegen die Ausbeutung zu ermutigen - und nicht durch mäkelnde Äußerungen über deren beschränkte Ziele zu entmutigen. Ihnen obliegt es, all die Lehren aus den Kämpfen ihrer Klasse zu ziehen und zu verbreiten, statt vom hohen Ross des pseudorevolutionären "Hui oder Pfui" à la GS den Tageskampf des Proletariats zu ignorieren oder zu beschimpfen.

B.

(1) Dieses und die folgenden Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, dem Buch "Das Proletariat" von GS entnommen.

Naher Osten

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Der Klassenkampf - einziges Mittel gegen das Versinken im Krieg

 

Erneut steht der Nahe Osten in Flammen. Israelische Bomber und Kriegsschiffe beschießen systematisch Beirut und andere Ziele im südlichen und nördlichen Libanon. Hunderte von Zivilisten sind getötet oder verletzt worden, große Teile der Infrastruktur zerstört. Immer mehr Flüchtlinge fliehen aus den bombardierten Gebieten. Während wir diesen Artikel schreiben, sind die Vorbereitungen einer Besatzung durch die israelische Armee im Gange. Im Süden ist der Gasa-Streifen nur wenige Monate nach dem Rückzug der israelischen Armee zu einem einzigen Schlachtfeld zwischen israelischen Truppen und bewaffneten palästinensischen Organisationen geworden. Die israelische Militärblockade beider Regionen erwürgt die Wirtschaft und bringt die örtliche Bevölkerung in eine nie dagewesene Zwangslage. Aber auch in der israelischen Bevölkerung nimmt die Angst zu: Raketen der Hisbollah haben schon mehrere Menschen im Norden Israels getötet, als in Haifa in einem Eisenbahndepot 8 Arbeiter durch eine Rakete umgebracht wurden.

 

Der offizielle Grund dieser Großoffensive des israelischen Staates ist die Entführung von israelischen Soldaten durch Hamas im Süden und Hisbollah im Norden. Aber dies ist nichts als ein Vorwand: Israel hat die Krise ausgenutzt, um zu versuchen, das Hamas Regime in den besetzten Gebieten zu lähmen oder zu liquidieren, und um die Entwaffnung der Hisbollah durch den libanesischen Staat zu verlangen (wozu dieser überhaupt nicht fähig ist). Israel versucht ebenfalls, Syrien und den Iran in den Konflikt mit einzubeziehen, indem es Syrien droht und gleichzeitig behauptet, eines der Ziele der Bombardierung des Libanons bestünde darin, zu verhindern, dass die entführten israelischen Soldaten in den Iran verschleppt werden, der die Hisbollah bewaffnet und unterstützt.

 

Die Gefahr eines regionalen Krieges

 

Der gegenwärtige Konflikt birgt somit die Gefahr in sich, dass er zu einem regionalen Konflikt eskaliert. Weil der Mittlere Osten solch eine strategisch wichtige Zone ist, bedeutet jeder Krieg dort nicht nur einen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern oder ihren arabischen Nachbarn, sondern auch zwischen den Großmächten der Welt. 1948 unterstützten die Russen und die USA die Bildung des Staates Israel als ein Mittel, um die Kontrolle der alten Kolonialmächte, Großbritannien und Frankreich, zu brechen, die zuvor die Region beherrschten. Der Suezkrieg 1956 bewies, dass die USA nun zum Bandenführer in der Region aufgestiegen waren. Die USA demütigten die Franzosen und Briten, als sie von den beiden Ländern das Ende ihres Vorstoßes gegen das Ägypten Nassers forderten. Die Kriege von 1967, 1973 und 1982 waren ein Teil des globalen Konfliktes zwischen dem amerikanischen und russischen Block. Damals unterstützten die USA Israel und Russland die PLO und die arabischen Staaten.

 

Mit dem Zusammenbruch des russischen Blockes 1989 wurden die Grundlagen für eine "pax americana" in Israel-Palästina geschaffen. Die Vereinigten Staaten wurden zum Vermittler des Osloer Abkommens von 1993. Sie hofften, die Beilegung des Israel-Palästina-Konfliktes würde die Bedingungen dafür schaffen, dass die USA zum unangefochtenen Herrscher der Region würden. Die große Demonstration der Stärke, d.h. die Auslösung des Irak-Krieges 1991, diente dem gleichen Ziel.

 

Aber all die Bemühungen des US-Imperialismus, im Nahen und Mittleren Osten eine "neue Ordnung" aufzuzwingen, sind fehlgeschlagen. Seit dem Osloer-Friedensabkommen, insbesondere seit der 2. Intifada 2000, ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina wieder zu einem permanenten geworden, mit einer Spirale von verheerenden Selbstmordattentaten und jeweils immer neuer Repression. Gleichzeitig sind die Bemühungen der USA, ihre Vorherrschaft in Afghanistan und im Irak im Namen des "Kampfes gegen den Terror" aufzubauen, gescheitert. Dadurch wurden nur zwei neue Vietnams geschaffen, die beiden Länder versinken in einem völligen Chaos. Während die Lage im Libanon eskaliert, erleidet die irakische Bevölkerung täglich die Folter von mörderischen Anschlägen, und gleichzeitig hat in Afghanistan die Regierung, die von den USA und Großbritannien unterstützt wird, die Kontrolle über den größten Teil des Landes verloren. Und die Auswirkungen des militärischen Infernos im Irak und in Afghanistan zeigen ihren Widerhall im Konflikt zwischen Israel-Palästina und umgekehrt. Die provozierende Haltung Israels gegenüber dem Iran spiegelt die Haltung der USA gegenüber Teheran hinsichtlich des Atomwaffenprogramms wider, während der wachsende Einfluss des islamischen Terrorismus im Irak wiederum das Vorgehen der Hamas und Hisbollahs bestärkt. Und die brutalen Massaker an Zivilisten durch terroristische Gangs in New York, Madrid und London belegen erneut, dass der Krieg im Mittleren Osten schon bis in die Zentren des Systems zurückschlägt. Die Flucht nach vorne in militärische Abenteuer ist das einzige Mittel für jede Macht oder Clique, von der größten bis zur unbedeutendsten, um ihre imperialistischen Interessen gegen ihre Rivalen zu verteidigen.

 

Kurzum, die Entwicklung im Mittleren Osten zeigt, dass die USA die Lage überhaupt nicht im Griff haben, sondern dass sich das Chaos immer unkontrollierter verbreitet. Die ausgesprochen aggressive Haltung Israels beweist dies. Obgleich die Bush-Administration gezwungen ist, Israel in der Öffentlichkeit zu unterstützen, kann man feststellen, dass die USA gewissermaßen durch die Abenteuer des zionistischen Staates mit in den Konflikt hineingerissen werden, anstatt besänftigend zu wirken. Insbesondere scheint die provozierende Haltung Israels gegenüber dem Iran ein Versuch zu sein, die USA in einen offenen Konflikt mit Teheran zu drängen. Aber Washington ist sich dessen bewusst, dass seine Hände im Irak und in Afghanistan gebunden sind, und dass es für die USA sehr schwierig ist, eine neue Front gegen den Iran aufzuziehen (1).

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Die Rivalen der USA schicken sich an, die Lage zu ihren Gunsten auszunutzen.

 

Die anderen Großmächte schwenken die Friedensfahne, wie sie es auch vor der Invasion Iraks taten. Frankreich und Russland haben die "unverhältnismäßige" israelische Militäroperation im Libanon verurteilt. Großbritannien hat eine stärker "unabhängige" Linie eingeschlagen. Es hat die israelische Kollektivstrafe der Palästinenser im Gasa-Streife scharf kritisiert und mit großem Medienaufwand über die Entsendung von Kriegsschiffen in die Region zur Evakuierung britischer Staatsbürger aus dem Libanon berichtet. Aber diese Mächte sind keineswegs am Frieden interessiert, sondern ihnen geht es darum, ihre eigenen Einflussgebiete in dieser Region zu bewahren. Sie werden sicherlich versuchen, aus der US-Schwäche Vorteile zu erringen, aber niemand von ihnen ist in der Lage, die Rolle eines Weltpolizisten zu spielen, und ihre entgegengesetzten imperialistischen Interessen hindern sie daran, irgendeine gemeinsame Politik einzuleiten. So konnte man auf dem jüngsten G-8 Gipfel sehen, nachdem die Großmächte einen "gemeinsamen" Standpunkt gegenüber dem Libanon bezogen hatten, lagen sie sofort danach wieder im Clinch und beschuldigten sich gegenseitig.

 

All die an diesem Konflikt beteiligten Staaten und Kräfte erstellen fleißig diplomatische und militärische Pläne, die nur ihren eigenen Interessen dienen. Sie kalkulieren sicherlich  mit den "rationalsten" Methoden, wie sie ihre Pläne umsetzen können, aber sie alle verstricken sich in einem grundlegend irrationalen Prozess: dem unaufhaltsamen Versinken des kapitalistischen Systems in den imperialistischen Krieg, der heute immer mehr die Form des Krieges eines jeden gegen alle anderen annimmt. Selbst die mächtigen USA werden in diese Spirale hineingezogen. Die Geschichte belegt - als frühere Zivilisationen in ihren letzten Atemzügen lagen, versanken sie in endlosen Kriegen. Die Tatsache, dass der Kapitalismus zu einem System des permanenten Krieges geworden ist, ist ein Beweis dafür, dass der Kapitalismus ebenfalls in einen tiefgreifenden Zerfall eingetreten ist und sein Fortbestehen eine tödliche Gefahr für die Menschheit darstellt.

 

Der Klassenkampf ist der einzige Ausweg

 

Wenn alle Friedenspläne des Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sind, welche Alternative gibt es dann für die imperialistische Unordnung? Sicherlich nicht die verschiedenen nationalistischen und religiösen Gangs in Palästina, Irak oder Afghanistan à la Hamas, PLO, Hisbollah, al Quaida, die von sich behaupten, gegen den "Imperialismus anzukämpfen". Sie sind ebenso vollkommen in diese imperialistische Logik verstrickt, ungeachtet dessen, ob sie allein handeln oder im Verbund mit bestehenden kapitalistischen Staaten. Ihre Ziele, sei es die Errichtung neuer Nationalstaaten oder der Traum eines "großen islamischen Kalifates des Mittleren Osten", können nur durch imperialistischen Krieg verwirklicht werden. Und ihre Methoden, die immer  unterschiedslose Massaker an der Zivilbevölkerung beinhalten, sind genau die gleichen wie die der Staaten, die sich angeblich bekämpfen.

 

Der einzige Kampf gegen den Imperialismus ist der Widerstand der Arbeiterklasse gegen ihre Ausbeutung, denn nur dieser Kampf kann in einen offenen Kampf gegen das kapitalistische System übergehen. Ein Kampf, bei dem es um die Überwindung des alten, auf Profit und Krieg gestützten Systems geht, und durch den eine Gesellschaft aufgebaut werden soll, die auf die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse hinarbeitet. Weil die Ausgebeuteten überall die gleichen Interessen haben, ist der Klassenkampf international; die Ausgebeuteten haben kein Interesse daran, sich mit irgendeinem Staat gegen einen anderen zu verbünden. Ihre Methoden stehen in direktem Gegensatz zu der Zuspitzung des Hasses zwischen ethnischen oder nationalen Gruppen, weil sie die Arbeiter aller Länder in einem gemeinsamen Kampf gegen das Kapital und dessen Staat zusammenschließen müssen.

 

Im Nahen Osten hat die Spirale der nationalistischen Konflikte den Klassenkampf sehr erschwert. Aber dennoch lebt dieser weiter - in Gestalt von Demonstrationen von arbeitslosen palästinensischen Arbeitern gegen die palästinensischen Behörden, oder in Gestalt von Streiks israelischer Beschäftigter des öffentlichen Dienstes gegen die Sparpläne der Regierung. Aber der wahrscheinlichste Bruch in der Mauer des Krieges und Hasses des Mittleren Ostens liegt außerhalb der Region selbst, indem die Arbeiter der Zentren des Kapitalismus ihren Kampf verstärken. Das beste Beispiel der Klassensolidarität, das wir den Menschen geben können, die unter den direkten Schrecken des imperialistischen Krieges leiden, ist die Entfaltung und Intensivierung des Kampfes, der schon von den zukünftigen Beschäftigten in den französischen Schulen und Universitäten, den Metallern in Vigo - Spanien, den Postbeschäftigten in Belfast oder den Flughaftenbeschäftigten in London aufgenommen wurde. IKS.  17.07.06

 

<!--[if !supportLists]-->(1)     <!--[endif]-->Die barbarische Kriegspolitik des israelischen Staates steht unter der direkten Verantwortung Amir Perez, dem linken Führer der Arbeitspartei und langjährigen Gewerkschaftsführer und ehemaligen Mitglied der pazifistischen Bewegung “Peace Now”. Man hätte meinen können, dass es eine Art “israelischer Besonderheit” sei, dass ein “Mann der Linken” den unbeugsamen Schlächter spielt - aber weit gefehlt. Vor einem Jahr, als  die Londoner Polizei einen jungen brasilianischen Arbeiter in der U-Bahn erschoss, gehörte zu denjenigen, die am heftigsten für die Politik des “shoot to kill” (“finaler Rettungsschuss”) für jeden, der als “Terrorist” verdächtigt wurde, niemand anders als  "Red Ken" Livingstone, der “linke Bürgermeister” von London. Bei ihrer blutigen Verteidigung des nationalen Kapitals hat die Linke in allen Ländern immer ihre skrupellose Entschlossenheit unter Beweis gestellt.

Geographisch: 

  • Naher Osten [4]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [5]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die nationale Frage [6]

Revolte der Textil- und Konfektionsarbeiterinnen in Bangladesh

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Vom 20. Mai bis zum 6. Juni 2006 beteiligten sich nahezu 1,8 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladesh, an einer Reihe von gleichzeitigen wilden Streiks in den Industriegebieten in und rund um Dhaka, die die Ausmaße eines proletarischen Massenaufstandes annahmen. In diesem Zeitraum, besonders aber vom 20. zum 24. Mai, als sich die Revolte der Konfektionsarbeiterinnen auf ihrem Höhepunkt befand, verweigerten Arbeiterinnen von fast 4.000 Fabriken die Arbeit. Diese und andere Arbeiterinnen aus den Industrievorstädten demonstrierten ohne Unterlass und blockierten Autobahnen, die die Industriegebiete mit der Hauptstadt Dhaka und Dhaka selbst mit anderen Städten – Mymensingh, Ashulia, Chitgong, etc. – verbinden. Angesichts dieses Massenaufstandes suchte die Bourgeoisie ihr Heil in massiver Repression. Allein in der ersten Woche wurden, so die offiziellen Zahlen, mindestens drei Arbeiterinnen erschossen, 3.000 verletzt und etliche Tausend ins Gefängnis gesteckt. Streikende Arbeiterinnen lieferten sich ständige Auseinandersetzung mit den paramilitärischen und polizeilichen Kräften, die zur Zerschlagung ihrer Bewegung aufgeboten wurden, und jagten sie fort. „Die Hauptstadt befand sich inmitten eines Belagerungszustandes, als Konfektionsarbeiterinnen um etwa halb neun die Straßen einnahmen“, berichtete New Age, die englischsprachige Tageszeitung Dhakas am 24. Mai 2006. Diese Zeile wurde mehrere Tage lang von der bürgerlichen Presse in Bangladesh wiederholt, da die Arbeiterinnen mit ihren Kämpfen fortfuhren. Obwohl es der Bourgeoisie am 25./26. Mai gelang, der Arbeiterinnenrevolte die Spitze zu nehmen, nachdem massive paramilitärische Kräfte aufgeboten wurden und die Gewerkschaften zu Hilfe eilten, wurde die Revolte noch bis zum 6./7. Juni 2006 fortgesetzt. Arbeiterinnen aus verschiedenen Export produzierenden Zonen (EPZ) und Industriegebieten beteiligten sich auch weiterhin an wilden Streiks und Demonstrationen – die meisten Konfektionsbetriebe blieben geschlossen. Der Staat verkündete, dass die Betriebe erst ab dem 8. Juni wieder geöffnet werden, sobald die Ordnung vollständig wiederhergestellt sei.

Die barbarische Ausbeutung der Arbeiterinnen von Bangladesh – das reale Antlitz von „Auslagerung“ und „Boom“

Inmitten der insgesamt stagnierenden Wirtschaft von Bangladesh ist der Sektor der Konfektionsindustrie der einzige, dessen sich die Bourgeoisie rühmen kann. Dieser Sektor ist vollständig exportorientiert und setzt sich aus über 4.000 Betrieben zusammen – wobei die meisten von ihnen für internationale Kunden arbeiten. Einige von ihnen befinden sich im Besitz von internationalen Gesellschaften. Die meisten Konfektionsbetriebe ballen sich in Industriegebieten und in den Export produzierenden Zonen in und um Dhaka herum – Ghasipor, Savar, Ashulia, Mirpur, Tejgaon, Mohakhali, Uttara, Wari, Tongi, etc. – zusammen. Der Textil- und Bekleidungsexport macht 70 Prozent der insgesamt 9,3 Milliarden Pfund teuren Exporte aus Bangladesh aus.

Dieser Sektor beschäftigt 1,8 Millionen Arbeitskräfte, 90 Prozent von ihnen Frauen, die besonders angreifbar durch Einschüchterung und Repression sind. Konfektionsarbeiterinnen bilden 40 Prozent aller Industriearbeitskräfte in Bangladesh. Die Brutalität der Ausbeutung der Konfektionsarbeiterinnen in Bangladesh ist typisch für die Bedingungen der Arbeiter/innen in vielen Bereichen, die vom Zentrum des Kapitalismus in die Dritte Welt „ausgelagert“ wurden. Der Mindestlohn beträgt 900 Taka (14 Pfund) im Monat. Selbst dieser wird in der Hälfte aller Konfektions- und anderer Betriebe nicht bezahlt. Dieser Mindestlohn wurde 1994 festgeschrieben und blieb seitdem unverändert, obwohl in den letzten zwölf Jahren die Konsumgüterpreise um das Dreifache gestiegen sind. Nach der jüngsten Arbeiterrevolte wird nun gesagt, dass der Bereich der Konfektionsbetriebe, der aufgrund der billigen Sklavenarbeit floriert, sich stets den Bemühungen widersetzt habe, den Mindestlohn zu erhöhen. „Mächtige Lobbyisten der Besitzer von Konfektionsbetrieben waren in der Lage gewesen, die Regierung davon zu überzeugen, dass, wenn die Löhne in den Konfektionsbetrieben steigen, die Produktionskosten wachsen und örtliche sowie ausländische Investoren entmutigt werden würden, in dem sich entwickelnden Sektor zu investieren“, sagte Jafrul Hasan, ein Repräsentant der herrschenden Nationalistischen Partei von Bangladesh (New Age, 29. Mai 2006). Selbst der Spitzenverband der Bosse, die BGMEA (Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association), sagt nun: „Besitzer von Sweatshirts produzierenden Fabriken, die ihre Arbeiterinnen betrügen, indem sie ihnen aberwitzig geringe ‚Stückraten‘ zahlen (...), sollten dafür gerügt werden, dass sie erst die Unruhe unter den Arbeiterinnen angefacht haben, die die nationalen und gar internationalen Interessen auf die ungeheuerliche Unterbezahlung der Konfektionsarbeiterinnen und die unmenschliche Vergewaltigung ihrer Rechte gerichtet hat“ (New Age, 29. Mai 2006).

Doch Hungerlöhne sind nicht der einzige Ausdruck der brutalen Ausbeutung. Vor einigen Jahren wurde die gesetzliche Wochenarbeitszeit auf 72 Stunden ausgeweitet; die tatsächliche Arbeitszeit pro Tag beträgt bis zu 16 Stunden oder mehr. Es gibt keine wöchentliche Auszeit in der Konfektionsindustrie – eine der Forderungen der Aufständischen war das Vorschreiben einer solchen Betriebsschließung. Es gibt keine öffentlichen Ferien, keinen Jahresurlaub. Hinzu kommt, dass die Bosse „eine umbekümmerte Missachtung der Sicherheit der Arbeitsplätze an den Tag legen, wie der Tod von 4.000 Arbeiterinnen durch Arbeitsunfälle, wie Feuer und Gebäudeeinstürze, zeigt“ (New Age, 24. Mai 2006). Nicht nur das, es hat auch Fälle der Körperverletzung und des Mordes von Arbeiterinnen gegeben. „Gut informierte Quellen sagten aus, dass anderthalb Jahre zuvor einige ältere Belegschaftsmitglieder zwei Arbeiterinnen in der Export verarbeitenden Zone von Dhaka (...) getötet hatten, aber die Arbeiterinnen haben damals aus Furcht nicht dagegen protestiert“ (Daily Independent, 2. Juni 2006)

Es ist offensichtlich, dass die Bourgeoisie unter diesen Bedingungen der barbarischen Ausbeutung sich sogar des Mythos‘ einer Repräsentanz entledigen konnte – es wurde keiner Gewerkschaft, selbst wenn sie mit den herrschenden Banden verbunden war, der Zugang auch nur zu einem der Konfektionsbetriebe gestattet. Laut einem Fachmann für Arbeitsstudien „besitzen nur 100 von 5.000 und mehr Konfektionsbetrieben Mitbestimmungskomitees“ (New Age, 3. Juni 2006) Dieser Mangel an bürgerlichen Werkzeugen zur Kontrolle der Arbeiterinnen war ein Element in der Stärke und Gewalttätigkeit der Arbeiterrevolte.

Kleine Anfänge einer Massenrevolte

Laut Berichten hat es Fälle von Arbeiterkämpfen in Konfektionsfabriken in den letzten Monaten gegeben. Doch fanden diese zumeist in einzelnen Fabriken statt, mit Forderungen, die sich an die jeweiligen Bosse richteten. So war die Fabrik FS Sweater, deren Auseinandersetzungen zum Zündfunken der jüngsten Revolte wurde, schon seit einigen Monaten im Aufruhr, wobei die Arbeiterinnen wiederholt für ihre Forderungen agitierten.

Am Samstag, den 20. Mai 2006, begannen zur Frühschicht um acht Uhr ungefähr 1.000 Arbeiterinnen der Fabrik FS Sweatshirt in Sripur, einer Vorstadt von Dhaka, einen Sitzstreik, mit dem sie die Erhöhung ihrer Löhne und die Freilassung ihrer inhaftierten Kollegen – die am 18. Mai wegen Teilnahme an einer Agitation für ihre Forderungen festgenommen worden waren – forderten. Die Bosse der Gesellschaft, die nicht gewillt waren, kollektiven Widerstand durch die Arbeiterinnen zu tolerieren, sperrten sie ein. Trotz brütender Hitze enthielten sie ihnen Trinkwasser und Stromversorgung in den Räumlichkeiten vor, in denen sie versammelt waren, und riefen die Polizei. Diese betrat die Fabrik etwa um elf Uhr zusammen mit einer privaten Sicherheitstruppe und begann, die Arbeiterinnen zusammenzuschlagen. Sie eröffnete auch das Feuer auf Arbeiterinnen innerhalb der Fabrik. Sechs der verletzten Arbeiterinnen wurden verhaftet und von der Polizei mitgenommen. Angegriffen von der Polizei und der privaten Sicherheitstruppe der Bosse, sprangen Arbeiterinnen über die Mauern, um aus der Fabrik zu gelangen. Wütende Arbeiterinnen begannen sich auf der Autobahn Dhaka-Mymensingh neben der Fabrik zu versammeln. Tausende von anderen Arbeiterinnen und ihren Familien aus den benachbarten Slums, wo die meisten Arbeiter/innen leben, schlossen sich den Arbeiterinnen von FS Sweater an. Um die Mittagszeit blockierten die Arbeiterinnen den Verkehr auf der Autobahn und veranstalteten einen Umzug für ihre Forderungen und gegen Polizeirepression. Dieser Umzug wurde von noch größeren, weiter verstärkten Polizeikräften attackiert, die ein weiteres Mal ihr Heil im Zusammenschlagen der Arbeiterinnen und ihrer Familien suchten. Umgekehrt jagten Arbeiterinnen und ihre Familien d riefen die anderen Arbeiter/innen zur Unterstützung auf. Gemeinsam mit anderen Arbeiter/innen liefen sie von Betrieb zu Betrieb, um weitere Arbeiter/innen dazu aufzurufen, sich ihnen anzuschließen – dies ging so weit, dass sich laut Berichten mehr als 20.000 Arbeiter/innen dem militanten Umzug anschlossen. Hunderte von Betriebsbelegschaften in der Sayar EPZ und Neuen EPZ schlossen sich bis zum Nachmittag dem Streik an. Die aus Dhaka hinausführenden Autobahnen wurden blockiert. Streikende Arbeiter/innen schlugen gegen die Polizei und die paramilitärischen Kräfte, die zu ihrer Bekämpfung entsendet worden waren, zurück. Staatliche Repressionskräfte eröffneten in verschiedenen Teilen der Industrievorstädte und in Dhaka das Feuer auf Arbeiter/innen. Etliche Hundert von ihnen erlitten Schusswunden. Viele wurden im Kugelhagel der staatlichen Kräfte getötet. Erregt durch die Neuigkeiten über den Tod von Arbeitern, traten am Nachmittag Arbeiter anderer Industrievorstädte in den Ausstand.

Am 23. Mai waren sämtliche Industrievorstädte von Dhaka durch einen ausufernden Aufstand paralysiert – die meisten Arbeiter/innen hörten zu arbeiten auf und gingen auf die Straßen, um das Ende der Depression, die Freilassung der inhaftierten Arbeiterinnen, höhere Mindestlöhne, wöchentliche Auszeiten, Extrabezahlung für Überstundenarbeit, öffentlichen Urlaub, etc. zu fordern. Die meisten Autobahnen aus Dhaka heraus wurden blockiert. Tausende von agitierenden Arbeiter/innen aus den Vorstädten und aus Dhaka legten die Hauptstadt lahm. Es gab Zusammenstöße zwischen staatlichen Kräften und Arbeiter/innen, und überall eröffneten paramilitärische Kräfte das Feuer.

Zu diesem Zeitpunkt war sich die Bourgeoisie des Ausmaßes der Lage bewusst geworden und machte sich daran, all ihre politischen und unterdrückerischen Kräfte zu mobilisieren. Es gab Aufforderungen von Seiten der Bosse, die Stadt der Armee zu überlassen. Am Abend des 23. Mai wurden die Bangladesh Rifles (Grenzschutzpolizei) in großer Zahl in sämtliche Industrievorstädte entsendet. Die „zentralen Gewerkschaften“, die den verschiedenen politischen Banden der Bourgeoisie angehören und von denen keine auf irgendeine Weise unter den Konfektionsarbeiterinnen präsent ist, wurden zusammengebracht, und gemeinsam pfuschten sie eine Liste von Forderungen zusammen, die diese „Gewerkschaftskoordnination“ schließlich auch am Abend des 23. herausgab. Ein bürgerlicher Kommentator bemerkte, möglicherweise mit einiger Übertreibung in Sachen Erhebung: „Während die Erhebung bereits im Gange war, stellten die Gewerkschaften eine Liste von Forderungen vor und ‚drohten‘, ab dem 12. Juni (20 Tage später) in den Streik zu treten, falls diesen Forderungen nicht entsprochen werde.“ (pinr.com).

Trotz des Einsatzes der Bangladesh Rifles blieben die Fabriken durch die Arbeiterrevolte am 24. Mai geschlossen, die Stadt und die Vorstädte gelähmt. Doch nun zwang die Regierung den Verband der Bosse, die BGMEA, und die eben erst zusammengeflickte „Gewerkschaftskoordination“, ein Treffen abzuhalten. Am Abend erklärte der Minister für Arbeit, flankiert von der BGMEA und den Gewerkschaftsrepräsentanten, dass die Bosse sich mit allen Forderungen der aufrührerischen Arbeiter/innen einverstanden erklärt haben – Erhöhung des Mindestlohnes auf 3.000 Taka, vorschriftsmäßige Einhaltung wöchentlicher Auszeiten und weitere Urlaubstage, Achtstundentag und Überstundenzuschläge für Extra-Arbeit, etc. „Es ist nun an der Zeit, zur Arbeit zurückzukehren“, verkündete die Gewerkschaftskoordination. Auf einem anderen Blatt Papier steht, dass einige Tage später, als die Arbeiterrevolte abgeebbt war, die Repräsentanten der BGMEA verkündeten, dass sie die Vereinbarungen vom 24. Mai 2006 nicht respektieren werden.

Auch wenn die Arbeiterrevolte ab dem 25. Mai an Schärfe verlor, blieb die Wut und Aufruhrstimmung bestehen und schuf sich Bahn in weiteren Revolten. Zwischen dem 29. Mai und dem 4. Juni folgte eine neue Runde von großflächigem Aufruhr und Zusammenstößen zwischen Arbeiter/innen und den staatli eiterinnen nicht auf diese Lügen hereinfielen – wie die Fortdauer der Arbeiterrevolte bis zum 6. Juni und die Unfähigkeit der Gewerkschaften zeigt, sie zu kontrollieren -, waren in Ermangelung einer größeren Entwicklung von Arbeiterselbstorganisationen die Gewerkschaftslügen nicht ohne Einfluss geblieben. Die Bourgeoisie selbst hat die Gefahr ihrer gegenwärtigen Vorgehensweise, besonders der Abwesenheit von Gewerkschaften erkannt. Dies drückte sich in zahllosen Ankündigungen der Bourgeoisie aus, dass die Arbeiterbewegung nicht in dieser Weise explodiert wäre, wenn es Gewerkschaften gegeben hätte, wenn die „demokratischen Rechte“ der Arbeiter/innen respektiert worden wären. „Der Gewerkschaftsführer Mishu sagte: ‚Wenn es Gewerkschaften in den Fabriken gegeben hätte, hätte die Situation nicht solch eine gewaltsame Wendung genommen.‘“(New Age, 3. Juni 2006) Ein anderer Gewerkschaftsboss erklärte: „Die Abwesenheit von Gewerkschaften ist weitaus gefährlicher als die Präsenz aktiver Gewerkschaften“ (Brief der Internationalen Föderation der Textil-, Konfektions- und Lederarbeiter an Premierministerin Khalida Zia). Es hat sogar Gespräche darüber gegeben, die Hilfe der Internationalen Arbeitsorganisation in Anspruch zu nehmen, um Gewerkschaften aufzubauen.

Lehren aus der Revolte der Konfektionsarbeiterinnen

Die Revolte der Konfektionsarbeiterinnen ist der größte und militanteste Kampf in der bisherigen Geschichte von Bangladesh gewesen. Trotz aller Ungleichheiten waren Arbeiterinnen in der Lage, sich in einer Revolte gegen die brutale Ausbeutung zu erheben. Sie waren imstande, ihre Kämpfe angesichts der gewaltsamen Repression couragiert auszuweiten. Die Explosion dieser Revolte und ihr nahezu 20-tägiges Andauern, trotz aller Repression, ist Ausdruck einer großen Entschlossenheit und eines nicht minder großen Kampfwillens des Proletariats.

Sie ist ein wichtiger Fortschritt in der Weiterentwicklung einer Herausforderung der kapitalistischen Ausbeutung durch das Proletariat. Dies ist der Grund, warum die Bourgeoisie überall sämtliche Neuigkeiten über diese Bewegung ausgeblendet hat.

Die Erfahrungen von Bangladesh zeigen, dass die bloße Abwesenheit von Gewerkschaften nicht ausreicht. Es ist wichtig, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, die Gewerkschaften bewusst abzulehnen. Noch wichtiger ist ihre Fähigkeit, eine eigene Selbstorganisation zu entwickeln. Entwicklungen auf dieser Ebene sind, wenn überhaupt vorhanden, sehr rudimentär gewesen. Obwohl diese Bewegung sich nicht entwickelt hätte, wenn sich die Arbeiter/innen  nicht gegen die Repressionskräfte erhoben hätten, nahm die Revolte in Ermangelung einer Selbstorganisation manchmal den Charakter des Aufruhrs an. Auch wenn einige der Schwächen Ausdruck des Mangels an Erfahrung der Arbeiterklasse in Bangladesh sind, weisen sie auch auf die Notwendigkeit hin, sich all die Erfahrungen der Arbeiterbewegung weltweit anzueignen. Es liegt in der Verantwortung der revolutionären Organisationen der Kommunistischen Linken, zur Weiterentwicklung des Bewusstseins der Arbeiter und Arbeiterinnen über ihre Klassenidentität und über ihr historisches Ziel beizutragen: die kommunistische Revolution, die allein der brutalen Ausbeutung der Arbeiterklasse nicht nur in Bangladesh, sondern überall auf der Welt ein Ende bereiten kann.

Communist Internationalist, 13. Juni 2006

 


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