Veröffentlicht auf Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

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Weltrevolution Nr.101

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Aufbrechen: Welche Debatte unter Revolutionären?

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 Wieder einmal wollen wir unseren Lesern die Lektüre der neulich erschienenen fünften Ausgabe der Zeitschrift „Aufbrechen“ ans Herz legen (Aufbrechen 4, Mai 2000). Besonders empfehlenswert sind darin aus unserer Sicht die Artikel, welche den bürgerlichen Charakter der Rot-Grünen Regierung und des demokratischen Antifaschismus aufzeigen („Grüne Karte für die Elite, Rot für den `Mob´“; „Antifa im Haider-Wahn: Joseph Fischers Praktikanten bei der Arbeit“; „Über Sauberkeit und Modernisierung“). Diese Zeitschrift zeichnet sich weiterhin durch eine schrittweise Annäherung an proletarische Positionen, an das politische Erbe des Linkskommunismus aus. Diese Entwicklung muss weiterhin von allen revolutionär Gesinnten begrüßt und unterstützt werden.

Die Notwendigkeit Bilanz zu ziehen.

Wir wollen aber an dieser Stelle unsere Aufmerksamkeit auf zwei andere Artikel der neuen Ausgabe richten. Der erste, unter dem Titel „Alles Neue macht (nicht nur) der Mai“ befasst sich mit der eigenen Entwicklung und dem eigenen Selbstverständnis; der zweite, „Kronstadt und die Kommunisten“ wieder einmal mit der Einschätzung der Russischen Revolution. Der erste Artikel fasst zum einem die programmatische Entwicklung der Genossen zusammen, seitdem sie begonnen haben, die bürgerliche Ideologie des Stalinismus ernsthaft in Frage zu stellen: die Verwerfung insbesondere des „Befreiungsnationalismus“ und der antifaschistischen „Verteidigung der Demokratie“. Zum anderen werden die ursprünglichen Organisationsansätze der Genossen kritisch bilanziert. „Das in der Null-Nummer erklärte Ziel, Ausdruck eines gemeinsamen politischen Aufbaus dreier Gruppen zu sein, der ihre Praxis widerspiegelt und deren theoretischen Diskussionsprozess dokumentiert, hat sich schlicht überlebt.“

Tatsächlich konnte der Versuch, mit den typisch maoistischen Mitteln einer prinzipienlosen Bündnispolitik sich vom Maoismus zu lösen, nicht von Erfolg gekrönt werden. Das sogenannte „Aufbau-Projekt“ zwischen drei völlig unterschiedlichen Gruppen war von vorn herein dazu verdammt in die Brüche zu gehen. Bereits in unserer ersten öffentlichen Stellungnahme gegenüber der Zeitschrift Aufbrechen in Weltrevolution 94 („Der Kosovokrieg: Das Ringen um eine proletarische Haltung“) schrieben wir: „Es scheint ein Grundgedanke des Aufbrechen-Projektes zu sein, dass man dem autonomen Ghetto entrinnen kann, indem man sich bei den Arbeitern in den Betrieben verankert und das Trauma der K-Gruppen hinter sich lasse, indem unter Hintansetzung programmatischer Klärung organisatorisch sowie in der Intervention im Klassenkampf mit Anderen zusammengearbeitet wird.

Diese Grundannahme ist aber aus unserer Sicht ein Irrglaube. Der Bruch mit dem linken Flügel des Kapitals erfordert zuallererst eine radikale Verwerfung der programmatischen Positionen und des Politikverständnisses des Klassenfeindes.“

In diesem Sinne begrüßen wir ausdrücklich die Schlussfolgerung, welche der obengenannte Aufbrechen-Artikel aus dieser Erfahrung zieht. „Eine kommunistische Perspektive kann nicht durch oberflächliche, kurzfristige Mobilisierungen innerhalb der existierenden Linken eröffnet werden, deren Einheit in der Beliebigkeit ihrer Positionen und deren Differenzen in variierendem taktischen Geschick bestehen. Es hat für uns keinen Wert, pressewirksam an der Spitze beliebig mobilisierter „Massen“ zu stehen. Nicht am 1. Mai und nicht an anderen Tagen. Eine kommunistische Perspektive kann nur entstehen in der nachhaltigen Vermittlung eines theoretischen Verständnisses der gesellschaftlichen Verhältnisse, in Selbstorganisierungen entlang gemeinsamer sozialer Realitäten in konkreten Kämpfen, in einer kommunistischen Organisierung, die den begrenzten sozialen Kämpfen eine politische Kontinuität gibt. Diese kommunistische Organisierung braucht aber gerade ein Maximum an theoretischer Klarheit. Diese zu entwickeln und zu vermitteln ist ihre entscheidende Aufgabe und Existenzberechtigung. Dies erfordert die offene Diskussion und ehrliche Auseinandersetzung und keine PR-Agenturen bürgerlicher Nachwuchspolitiker.“

Diese Einsichten stellen nach unserer Auffassung einen wichtigen Schritt nach vorne dar. Dies trifft ebenso für die öffentliche Veranstaltung zu, welche die „Aufbrechen“ Redaktion (auf einen Vorschlag eines Genossen der GIK aus Österreich hin) zum Thema „Leninismus“ Ende Juni in Berlin organisierte, an der linkskommunistische Gruppen wie die Communist Workers Organisation (CWO) und die IKS, aber auch mit dem Linkskommunismus sympathisierende Kreise wie die eben genannte GIK teilnehmen konnten.

Die Notwendigkeit der offenen und ehrlichen Debatte unter Revolutionären

Dies bedeutet aber unseres Erachtens keineswegs, dass damit sämtliche Herangehensweisen des Maoismus unter diesen Genossen überwundenn worden sind. Wie die Genossen selbst schreiben: „Allerdings mussten wir feststellen, dass die Entwicklung einer kommunistischen Perspektive, das Brechen mit falschen, aus der bürgerlichen Tradition des „Marxismus-Leninismus“ stammenden Theorie- und Praxisvorstellungen doch ungleich schwerer ist, als wir ursprünglich annahmen. Und damit eben auch die theoretische, oder wenn man so will programmatische Klärung.“

Ein Ausdruck einer solchen bürgerlichen Praxisvorstellung, welche man seit Jahrzehnten beispielsweise in maoistischen Kreisen unablässig beobachten kann, besteht darin, unbedingt eine „eigene“ Organisation „aufbauen“ zu wollen, sobald man sich von der „Muttergruppe“ gelöst hat. Es gibt noch keine Hinweise darauf, dass die Aufbrechen-GenossInnen sich von dieser Lieblingspraxis der Maoisten gelöst haben. Dabei zeigt gerade die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass ausgerechnet für Genossen, welche mit einer bürgerlichen Vergangenheit brechen müssen, die „eigene Organisation“ der denkbar größte Stolperstein auf dem Weg zur proletarischen Klarheit darstellt, und dass ein allen politisch Suchenden offenstehender Diskussionszirkel ein ungleich besser geeignetes Mittel hierfür darstellt. Die Vorteile eines solchen Diskussionskreises gerade für solche Genossen haben wir in unserem Artikel „Wie heute die politische Klärung und den Zusammenschluss der Revolutionäre vorantreiben?“ in Weltrevolution 100 thematisiert.

Denn der Bruch mit der bürgerlichen Linken muss nicht nur theoretisch vollzogen werden, sondern ebenso durch eine radikal veränderte Haltung und Praxis konkretisiert werden. Dies erfordert unserer Auffassung nach eine offene und ehrliche Einstellung gegenüber anderen Revolutionären. In dem von uns zitierten Artikel aus Aufbrechen Nr. 4 sprechen sich die Genossen zurecht für „die offene Diskussion und ehrliche Auseinandersetzung aus“ - völlig zu recht. Aber dies erfordert nicht nur schöne Erklärungen, sondern eine entsprechende Praxis, indem man die öffentliche Debatte mit den bestehenden revolutionären Gruppen ohne wenn und aber sucht und nicht scheut. Ob die Aufbrechen-GenossInnen dies in der Praxis verstanden haben, muss sich noch zeigen. Wir wollen hier lediglich auf einen Aspekt der Praxis der GenossInnen hinweisen, welcher stutzig macht: ihre Einstellung gegenüber der IKS. Die Aufbrechen-GenossInnen haben sich zum Ziel gesetzt, sich mit dem Erbe des Linkskommunismus auseinanderzusetzen. Die IKS ist die größte, international am stärksten vertretene Organisation des Linkskommunismus heute und zudem die einzige, welche regelmäßig eine Presse in deutscher Sprache herausgibt. Seit dem obenerwähnten Artikel in Weltrevolution Nr. 94 und bis zur jetzigen Ausgabe Nr. 101 gab es nur eine einzige Nummer unseres deutschen Presseorgans, welche keinen Diskussionsbeitrag gegenüber Aufbrechen brachte. Während dieser Zeit veröffentlichten wir folgende Artikel gegenüber Aufbrechen:

Weltrevolution 95: „Konferenz in Berlin: Programmatische Klärung - Unverzichtbarer Bestandteil des Klassenkampfes.“

Weltrevolution 97: „Aufbrechen und die nationale Frage: Rosa Luxemburg - Sprachrohr der marxistischen Linken“.

Weltrevolution 98: „Manifest gegen die Arbeit: Nicht Abschaffung der Arbeit, sondern Abschaffung der Lohnarbeit.“

Weltrevolution 99: „Aufbrechen: Welche Aufarbeitung der Geschichte?“

Die Artikel in Weltrevolution Nr. 94 und 100 haben wir bereits erwähnt. In der Nr. 100 gibt es auch eine Besprechung der Aufbrechen-Position zur Russischen Revolution im Rahmen eines Berichts über eine öffentliche Veranstaltung der IKS in Berlin. Die Zeitschrift Aufbrechen hat auf keinen einzigen dieser Beiträge bisher geantwortet. Sie haben es in den bisher fünf Nummern ihrer Zeitschrift sogar fertiggebracht, den Namen unserer Organisation nicht ein einziges Mal erwähnt zu haben. Und dies obwohl die IKS die einzige Organisation ist, welche regelmäßig und öffentlich mit den Genossen in ihrer Presse debattiert. Genossen von Aufbrechen! Ihr schreibt, dass ihr „das ernsthafte in Gang bringen einer kommunistischen Debatte zwischen diesen“ (also revolutionären - IKS) „Kräften für dringend notwendig“ erachtet. Ist das eure Vorstellung von einer solchen Haltung?

Die Notwendigkeit eines proletarischen Zugangs zur Geschichte

Auch die Frage der Methode, mit der die Genossen geschichtliche Fragen behandeln, haben wir mehrmals behandelt, vor allem in Weltrevolution 99. Tatsächlich hat sich diese Frage immer wieder gestellt, insbesondere im Zusammenhang mit der Russischen Revolution. Auch diese Frage ist sehr wichtig, wenn es darum geht, den Einfluss des Stalinismus abzuschütteln. Seit Monaten befassen sich die Genossen von Aufbrechen mit der Frage des ‚Leninismus‘. Aus ihrer Zeit als Maoisten daran gewöhnt, Lenin als eine Art übermenschliches „Argument“ behandelt zu erleben, der manipulativ eingesetzt wird, um als „Autorität“ den Kampf zwischen bürgerlichen Cliquen zu entscheiden, sind die Genossen jetzt geneigt, die Auffassungen Lenins als eine Hauptquelle des Unheils anzusehen, welches die Russische Revolution heimsuchte. Sie merken dabei nicht, dass es den „Leninismus“, den sie bekämpfen wollen, gar nicht gibt, weil der „Leninismus“ bzw. der „Marxismus-Leninismus“ eine schlichte Erfindung der stalinistischen Konterrevolution ist. Dagegen gibt es einen Revolutionär Lenin, der kämpfend Position bezieht, in Debatten gegenüber den unterschiedlichsten Fragen Position ergreift, oft klarsichtig ist, manchmal falsch liegt, in der Polemik oft übertreibt, in der Partei manchmal mitreißt, sich aber oft genug auch in der Minderheit befindet. Der „Leninismus“ hingegen ist die Kanonisierung und Dogmatisierung jeden Fehlers und jeder Übertreibung, welche Lenin jemals beging, die Erhebung seiner Lesenotizen über Hegel zu einer Art „Philosophie“ u.s.w, m.a.W. ein konterrevolutionärer Anschlag des Stalinismus auf den lebendigen Geist des Marxismus. Übrigens: Auch der „Luxemburgismus“, von dem heute noch mancherorts die Rede ist, ist eine Erfindung Stalins gewesen.

Der Stalinismus, die bürgerliche Konterrevolution also, hat gelehrt, dass es geniale und charismatische Führer gibt, welche über ein Monopol an marxistischer Weisheit verfügen, und dem Proletariat im Stil eines biblischen Propheten den Weg ins gelobte Land weisen. Es ist oft so, dass mit der kapitalistischen Linken brechende Genossen, nachdem sie entdeckt haben, dass Revolutionäre wie Lenin (oder Trotzki) keineswegs unfehlbar waren, einfach den Spieß umdrehen und anstelle der alten Götter neue, ebenso unfehlbare Führer oder Autoritätsquellen suchen. So wird oft eine „anti-lenistisch“ erdichtete Rosa Luxemburg als neuer, alternativer „Guru“ zu Lenin auf einen Sockel gehoben. Auf der obenerwähnten Aufbrechen Veranstaltung in Berlin gab es unseres Erachtens eine gewisse Neigung der Aufbrechen-GenossInnen, die Kommunistische Linke als „Alternative zum Leninismus“ lobzupreisen, ohne zu erkennen, dass die Linkskommunisten der ersten Stunde alle bei Lenin und den Bolschewiki in die Schule gegangen und glühende Verehrer der russischen Parteitradition waren.

Diese Neigung, das Ringen des Proletariats um Klarheit als einen Kampf zwischen einer richtigen und falschen „Linie“ zu betrachten, zieht sich wie ein roter Faden durch die historischen Abhandlungen der Zeitschrift Aufbrechen. Es schwächt folglich die Argumentationslinie der GenossInnen selbst dort, wo sie im wesentlichen recht haben. So z.B. in dem jüngsten Artikel über Kronstadt. Dort wird völlig zurecht der proletarische Charakter sowohl des Kronstädter Aufstandes als der vorangehenden Streikbewegungen in den russischen Großstädten verteidigt. Ebenso richtig ist die Feststellung, dass der proletarische Kern dieses Aufstands in der Forderung nach Wiederherstellung der Macht der Arbeiterräte bestand. Und die Fehler und auch Verbrechen der noch mehr oder weniger in den Händen der Bolschewiki befindlichen russischen Staatsmacht werden ganz zu recht heftig angeprangert.

Zwar ist auch der Kronstädter Aufstand und seine Niederschlagung letztendlich ein tragisches Ergebnis des Scheiterns der Weltrevolution und der daraus folgenden Isolierung und Ausblutung der russischen Arbeiterbastion. Dennoch ist es notwendig, die Fehler der Bolschewiki zu kritisieren, welche zum Niedergang der Revolution beigetragen haben. Worin bestanden nun diese Fehler? Bestanden sie etwa darin, dass Lenin oder die russische Partei insgesamt die „falsche Linie“ vertrat (etwa ein „rein taktisches Verhältnis zu den Räten“ hatten, wie die GenossInnen sagen) oder gar eine bürgerliche Revolution in Russland durchführen wollten, wie der Artikel in Anlehnung an Cajo Brendel auch noch behauptet? Und waren das Fehler, welche von anderen „politischen Linien“, etwa der von Rosa Luxemburg, der KAPD oder der Italienischen Linken sicher hätten vermieden werden können? Und wenn die Politik der Bolschewiki durch die kapitalistische Rückständigkeit Russlands mitbestimmt wurde, wie Aufbrechen glaubt, bedeutet dies, dass es in einem hochentwickelten Land wie Deutschland kein Kronstadt hätte geben können?

Wir glauben, dass Lenin und die Bolschewiken im wesentlichen zwei Hauptfehler begangen haben. Zum einem glaubten sie, dass die proletarische Diktatur, von den Räten delegiert, im wesentlichen von der politischen Klassenpartei ausgeübt werden müsste. Zum anderen glaubten sie, dass diese Diktatur identisch sei mit der neuen Staatsmacht, und dass die Arbeiter folglich kein Recht haben dürften, gegen diese Staatsmacht zu streiken oder zu den Waffen zu greifen. Diese Vorstellungen wurden damals von der gesamten marxistischen Bewegung geteilt, von Marx und Engels bis zu Lenin und Trotzki, aber auch Luxemburg und Liebknecht. Wir erinnern beispielsweise an den Ausspruch Rosa Luxemburgs während der Deutschen Revolution, dass die Spartakisten erst dann die Macht übernehmen werden, wenn die Mehrheit der in den Räten organisierten Arbeiter dafür sein sollten (also haargenau dieselbe Haltung wie die der Bolschewiki). Auch die Erfahrungen der Pariser Kommune und der russischen Massenstreiks von 1905, so lehrreich sie auch waren, reichten noch nicht aus, um diese Fragen zu klären. Erst die Degenerierung der Oktoberrevolution und nicht zuletzt die Tragödie von Kronstadt befähigten die Revolutionäre erst Jahre später, ein weitergehendes Verständnis dieser Fragen zu erlangen. Denn die Tragödie von Kronstadt bestand gerade darin, dass ein proletarischer Aufstand von einer Arbeiterpartei niedergeschlagen wurde.

Der Blutzoll von Kronstadt war also nicht das Ergebnis der Auffassung Lenins von der Revolution oder einer der russischen Partei spezifischen Auffassung, sondern dies folgte aus der unzureichenden Klarheit und Erfahrung der gesamten damaligen Arbeiterbewegung. So erklärt sich eine Tatsache, welche der Aufbrechen-Artikel gar nicht zur Kenntnis nimmt: Dass bekannte Vertreter des Linkskommunismus die Niederschlagung von Kronstadt damals unterstützt haben. Dies trifft sogar für bedeutende Teile der „deutsch-holländischen“ Linken zu. So z.B. für Hermann Gorter, der ohnehin stets die Hauptgefahr einer Konterrevolution von Seiten der Bauern ausgehend erblickte und nicht von Seite der wuchernden Staatsmacht selbst. Selbst die KAPD akzeptierte zunächst die offizielle russische Version der Kronstädter Ereignisse.

Erst viel später haben die Linkskommunisten - am klarsten die „italienische“ Auslandsfraktion um die Zeitschrift Bilan in den 30er Jahren - mehr oder weniger vollständig die Lehren daraus gezogen:

- dass die Klasse insgesamt ihre Diktatur ausüben muss und nicht die Partei stellvertretend für die Klasse

- dass die Klasse eine eigene, autonome Organisation und Bewaffnung behalten muss, und die eigenen Interessen, wenn nötig mit der Waffe in der Hand, auch gegen die neue Staatsmacht, gegen Rotarmisten, Tschekisten und Staatsfunktionäre durchsetzen muss.

- dass Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Klasse niemals mit Gewalt gelöst werden dürfen (eine Lehre, welche bereits die Aufständischen von Kronstadt vertraten).

Weit entfernt also, ein ewiges Ringen zwischen einer bürgerlichen und einen proletarischen „Linie“ zu sein, wie es in der Gedankenwelt des Steuermanns Mao erschien, ist die Debatte im Lager des Proletariats ein gemeinsames Ringen aller Beteiligten um Klarheit, wobei alle Beiträge und Bemühungen ihren Wert besitzen als Teil eines Gesamtbestrebens.

Fassen wir abschließend zusammen: Wir begrüßen die Fortschritte, die in dieser Ausgabe von Aufbrechen zum Ausdruck kommen, wie die Absichtserklärung, eine offene und ehrliche Debatte unter den Revolutionären zu suchen. Aber wir sagen mit Friedrich Engels: „The proof of the pudding is in the eating“. Weltrevolution

Internationalisme 1947: Wie die Trotzkisten die Arbeiter in ein imperialistisches Massaker schickten

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Die Position politischer Gruppen gegenüber dem Krieg ist ein grundlegendes Kriterium, das uns erlaubt, eine klare Trennungslinie zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Lager zu ziehen. Wir veröffentlichen untenstehend Auszüge eines Artikels aus der Zeitschrift INTERNATIONALISME, dem Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs (GCF), aus dem Jahre 1947. Dieser Artikel entblößt die konterrevolutionäre Einstellung der trotzkistischen Gruppen während des 2. Weltkrieges und der "Befreiung" Frankreichs: Ihre Preisgabe des proletarischen internationalistischen Klassenstandpunktes zugunsten der Verteidigung des einen imperialistischen Lagers gegenüber dem anderen. Die Position, die sie in der Vergangenheit einnahmen, zeigt, dass sie nie von dieser Position abgewichen sind. Ihr so genanntes "antiimperialistisches" Geschwätz in den gegenwärtigen Kriegen ist nichts anderes als eine leere Worthülse, um zu verdecken, dass die Trotzkisten dem kapitalistischen Lager angehören.

Internationalisme 1947:

Es ist ein schwerer und weit verbreiteter Irrtum zu glauben, dass das, was die Trotzkisten von revolutionären Kräften unterscheidet, ihre vormalige Verteidigung der Sowjet-union sei. Dies ist sicher eine Position, die am besten und klarsten die Blindheit des Trotzkismus zeigt, aber es wäre sicher ein schwerwiegender Fehler, nur diesen Aspekt zu sehen. Es handelt sich sicher um den typischsten und umfassendsten Ausdruck ihrer Position. Wenn wir soviel Gewicht auf diesen Punkt legen, dann deshalb, weil es viele Menschen gibt, die zwar erschrocken sind über sichtbare Symptome einer Krankheit, kaum sind diese scheinbar verschwunden, sind sie jedoch wieder beruhigt. Sie vergessen, dass das Verschwinden der Symptome nicht zwangsläufig eine Heilung von der Krankheit bedeutet. Um dieses zu beweisen, müssen wir nur die brennendste Frage nehmen, die keine Fluchtmöglichkeit offenlässt, und die gnadenlos die Positionen des Proletariats denen der Bourgeoisie gegenüberstellt: Welche Haltung gilt es gegenüber dem imperialistischen Krieg einzunehmen? Was sehen wir? Alle trotzkistischen Gruppen haben unter dieser oder jener Losung im imperialistischen Krieg für eine Seite Partei ergriffen.

Die Verteidigung der Sowjetunion ist nicht das Hauptmerkmal dafür, dass der Trotzkismus zum Lager der Bourgeoisie gehört

Es hilft nicht, uns mit den verschiedenen Antikriegserklärungen der Trotzkisten zu widersprechen. Wir kennen sie alle zur Genüge. Aber entscheidend sind nicht die theoretischen Erklärungen sondern die wirkliche politische Praxis, die den theoretischen Positionen entspringt, und die sich konkretisiert in der ideologischen und praktischen Unterstützung der Kriegsparteien. Die Verteidigung der UdSSR ist sicher eines der Hauptglieder in der Kette, die das Proletariat an den imperialistischen Krieg fesselt, aber nicht das einzige. Diejenigen trotzkistischen Minderheiten, die die Verteidigung der UdSSR ablehnten, sowie die linken Sozialisten und Anarchisten, fanden andere, nicht weniger gewichtige Gründe (und nicht weniger durch die bürgerliche Ideologie vergiftete), um ihre Teilnahme am imperialistischen Krieg zu rechtfertigen. Für die Einen war es die "Verteidigung der Demokratie", für andere der "Kampf gegen den Faschismus" oder die "nationale Befreiung", oder eben das "Recht der Völker auf Selbstbestimmung". Für alle von ihnen war es eine Frage des "kleineren Übels", das sie Partei nehmen ließ im Krieg, oder in der "Résistance" für den einen imperialistischen Block gegen den anderen. Wie wir sehen, benötigt der Trotzkismus nicht die Position der Verteidigung der UdSSR, um das Wesen seiner Ideologie zu offenbaren. Offensichtlich jedoch macht die Verteidigung der UdSSR eine Parteinahme im Krieg, getarnt unter pseudorevolutionären Phrasen, einfacher. Aber gleichzeitig verschleiert diese Verteidigung das grundsätzliche Wesen des Trotzkismus und macht es schwieriger, dieses Wesen ans Tageslicht zu bringen. Wer immer etwas mit dem trotzkistischen Milieu zwischen 1939-1945 zu tun hatte, wird zustimmen, dass ihre Hauptsorge nicht geprägt war nicht von der Verteidigung der UdSSR, sondern von der Wahl des "kleineren Übels", vom Kampf gegen die "fremde Besatzung" und "gegen den Faschismus" bestimmt war. Dies erklärt ihre Teilnahme an der "Résistance" der FFI (Forces Francaises de l'Intérieur") und an der "Befreiung" erklärt. Und als der (trotzkistischen) PCI in Frankreich von ausländischen Sektionen zu ihrer Rolle, die sie im "Volksaufstand der Befreiung" gespielt hat, gratuliert wurde, da konnten wir ihr gut und gerne jede Form von Genugtuung lassen, die sie empfinden mag über ihre Täuschung bezüglich der "Wichtigkeit" ihrer Rolle. Wir wollen uns an die politische Bedeutung solcher Glückwünsche zu gegebener Zeit erinnern.

Die Haltung des Trotzkismus gegenüber dem Imperialismus

Was ist das Kriterium für eine revolutionäre Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg? Revolutionäre nehmen als Wendepunkt jenes imperialistische Stadium, das die Weltwirtschaft als Ganzes erreicht hat. Der Imperialismus ist kein nationales Phänomen. In diesem Stadium kann es keine nationalen Kriege geben. Die Struktur jedes Krieges ist durch das Gefüge des Weltimperialismus bestimmt. In dieser Epoche gibt es keine "fortschrittlichen" Kriege, alleine die soziale Revolution ist fortschrittlich. Die historische Alternative, die sich für die Menschheit stellt lautet: sozialistische Revolution oder Dekadenz, das heißt Abstieg in die Barbarei durch die Vernichtung all des Wohlstandes, der von der Menschheit geschaffen wurde, die Zerstörung der Produktivkräfte und die permanenten Massaker des Proletariats in einer endlosen Reihe von lokalen und übergreifenden Kriegen. Deswegen stellen Revolutionäre dieses Klassenkriterium in Zusammenhang mit ihrer Analyse der historischen Evolution der Gesellschaft. Lasst uns sehen, wie der Trotzkismus diese Frage theoretisch stellt: "Aber nicht jedes Land auf der Welt ist imperialistisch. Im Gegenteil, die meisten Länder sind Opfer des Imperialismus. Einige koloniale oder halbkoloniale Länder werden sicher versuchen den Krieg dazu zu benutzen, das Joch der Sklaverei abzuschütteln. Es wird die Pflicht des internationalen Proletariats sein, den unterdrückten Ländern im Krieg gegen die Unterdrücker zu helfen. (Das Übergangsprogramm, aus dem Kapitel "Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg")

Die konterrevolutionäre Rolle des Trotzkismus im 2. Weltkrieg

Die Kriterien der Trotzkisten beziehen sich nicht auf die historische Periode, in der wir leben, sondern sie vertreten einen Begriff des Imperialismus, der abstrakt und falsch ist. Demnach ist nur die Bourgeoisie eines dominanten Landes imperialistisch. Imperialismus ist also nicht ein politisches und ökonomisches Stadium des Weltimperialismus, sondern nur in bestimmten Ländern anzutreffen, währenddessen die anderen kapitalistischen Länder ("die Mehrheit") nicht imperialistisch sind. Wenn wir nicht bedeutungslose, formale Unterschiede machen wollen, dann ist gegenwärtig jedes Land auf der Welt, zumindest ökonomisch, von einem der beiden folgenden Länder beherrscht: entweder von den USA oder der UdSSR. Sollen wir daraus schlussfolgern, dass nur die Bourgeoisie dieser beiden Länder imperialistisch ist, und dass die Feindschaft der Arbeiterklasse gegenüber dem Krieg nur in diesen Ländern zum Ausdruck kommen sollte? Noch besser, folgen wir den Trotzkisten und nehmen noch Russland, da es nach ihrer Definition nicht imperialistisch ist, heraus, dann landen wir bei einer unglaublichen Absurdität: das einzige imperialistische Land dieser Welt sind demnach die USA. Das wiederum führt uns zu einer sehr bequemen Lösung, nämlich dass es die Aufgabe des Proletariats sei, allen anderen Nationen der Welt zu helfen, da sie ja "nicht imperialistisch" und "unterdrückt" seien. Lasst uns sehen, wie sich diese spitzfindige, trotzkistische Unterscheidung in der Praxis zeigt:

1939 gilt Frankreich als ein imperialistisches Land und der Trotzkismus ruft zum "revolutionären Defätismus" auf.

1940-1945 ist Frankreich besetzt. Nun ist es in ihren Augen nicht länger ein imperialistisches, sondern ein unterdrücktes Land. Frankreichs Krieg ist nun Befreiung; es sei die Pflicht des Proletariats, diesen Kampf zu unterstützen. Und schlussendlich ist 1945 plötzlich Deutschland ein "besetztes und unterdrücktes" Land. Es sei nun die Aufgabe des Proletariats, den deutschen "Befreiungskampf" gegen Frankreich zu unterstützen. Und was für Frankreich gilt, das gilt natürlich auch für jedes andere Land, für Japan, Italien, Belgien usw. Kommt nicht und erzählt uns etwas über koloniale und halbkoloniale Länder. Im imperialistischen Stadium wurde demnach jedes Land, das im brutalen imperialistischen Wettstreit weder das Glück noch die Kraft hatte, Sieger zu sein, ein "unterdrücktes" Land (Ausnahmen sind Deutschland und Japan oder auf der anderen Seite China). Die Aufgabe des Proletariats würde demnach darin bestehen, im Rhythmus der trotzkistischen Gebote, von einer Seite der imperialistischen Waagschale zur anderen zu springen und sich selbst bei der "Hilfe in einem gerechten und fortschrittlichen Krieg", wie die Trotzkisten es nennen würden, abzuschlachten zu lassen (aus: Das Übergangsprogamm, selbes Kapitel).

Generell besteht das grundlegende Charakteristikum des Trotzkismus darin, das Proletariat aufzufordern, in keiner Situation den Widerstand und eine Klassenlösung gegenüber der Bourgeoisie zu praktizieren, sondern die Wahl zwischen jeweils zwei imperialistischen Ausprägungen zu treffen: zwischen faschistischer und antifaschistischer Bourgeoisie, zwischen "Reaktion" und "Demokratie", zwischen "Monarchie" und "Republik", zwischen dem imperialistischen Krieg und dem "gerechten und fortschrittlichen" Krieg. Genau mit dieser ständigen Wahl des "kleineren Übels" ergriffen die Trotzkisten Partei im imperialistischen Krieg, und nicht etwa als Resultat der Notwendigkeit die UdSSR zu verteidigen. Vor dem 2.Weltkrieg ergriffen sie im Spanischen Bürgerkrieg 1936-38 Partei, indem sie die spanische Republik gegen Frankreich verteidigten. Dann verteidigten sie das China Chiang-Kai-Tscheks gegen Japan. Folglich erscheint die Verteidigung der UdSSR nicht als Wendepunkt ihrer Positionen, sondern als deren Höhepunkt. Sie ist Ausdruck ihrer grundlegenden Plattform. Einer Plattform, wonach das Proletariat keine eigene Klassenposition in einem imperialistischen Krieg hat, sondern die von ihm verlangt, einen Unterschied zwischen verschiedenen antagonistischen, nationalen kapitalistischen Formationen zu machen und schließlich eine davon zu finden, die man als fortschrittlich bezeichnen kann. Als generelle Regel der Trotzkisten gilt, dass das Proletariat dem schwächsten und rückschrittlichsten Teil helfen sollte: der "unterdrückten" Bourgeoisie. Diese Position, gerade in einer so entscheidenden und zentralen Frage wie der des Krieges, stellt den Trotzkismus als politische Strömung außerhalb des proletarischen Lagers und rechtfertigt und erfordert selbstredend, dass jedes proletarische revolutionäre Element einen klaren und kompletten Bruch mit dieser Strömung vollzieht. Marc

(aus: INTERNATIONALISME Nr. 26, dem Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs , 15. September 1947)

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Trotzkismus [1]

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [2]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [3]

Massenstreik in Polen 1980

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Iim Sommer 1980 hielt die Arbeiterklasse in Polen die ganze Welt in Atem. Eine riesige Massenstreikbewegung entfaltete sich: mehrere Hunderttausend Arbeiter streikten ‘wild’ in verschiedenen Städten und brachten die herrschende Klasse in Polen aber auch in den anderen Ländern ans Zittern.

Was war passiert?

Nach der Ankündigung von Fleischpreiserhöhungen reagierten die Arbeiter in vielen Betrieben prompt mit Arbeitsniederlegungen. Am 1. Juli 1980 streikten in Tczew bei Danzig und in dem Warschauer Vorort Ursus Arbeiter. In Ursus wurden Vollversammlungen abgehalten, ein Streikkomitee, gemeinsame Forderungen aufgestellt. In den Tagen danach weitere Ausdehnung der Streiks. Warschau, Lodz, Danzig.... Die Regierung versuchte mit schnellen Konzessionen in Form von Lohnerhöhungen eine weitere Ausdehnung einzudämmen. Mitte Juli traten die Arbeiter der verkehrsmäßig zentral gelegenen Stadt Lublin in den Streik. Diese Stadt liegt an der Strecke UdSSR - DDR, wo die Versorgungslinie der sowjetischen Truppen in die DDR hindurchführte. Ihre Forderungen lauteten: keine Repression gegen die Streikenden, Abzug der Polizei aus den Fabriken, Lohnerhöhungen und freie Gewerkschaftswahlen.

An einigen Orten wurde die Arbeit wieder aufgenommen, in anderen schlossen sich zusätzlich Arbeiter der Bewegung an. Ende Juli hoffte die Regierung, durch ihre Taktik, von Betrieb zu Betrieb zu verhandeln, hätte sie die Flamme der Streiks ausgelöscht. Aber am 14. August erhielt die Bewegung wieder Auftrieb: Die Bediensteten der Verkehrsbetriebe von Warschau und die Werftarbeiter von Danzig traten in den Streik. Und wieder aus immer mehr Orten neue Streikmeldungen.

Was die Arbeiter stark machte

Die Arbeiter hatten aus den Kämpfen von 1970 und 1976 die Lehren gezogen. Sie hatten gesehen, daß die offiziellen Gewerkschaften Teil des stalinistischen Staatsapparates waren und bei jeder Forderung der Arbeiter auf Seiten der Regierung standen. Deshalb war ein ausschlaggebendes Moment bei der Streikbewegung von 1980: die Arbeiter ergriffen selbst die Initiative; sie warteten auf die Anweisung von niemanden, sondern kamen selber zusammen, um über Zeitpunkt und Schwerpunkt ihrer Kämpfe selbst zu bestimmen. Am deutlichsten wurde dies in der Region Danzig-Gdynia-Zopot, dem Industriegürtel an der Ostsee. Die Lenin-Werft in Danzig beschäftigte allein ca. 20.000 Arbeiter.

In einer Massenversammlung wurden gemeinsam Forderungen aufgestellt. Ein Streikkomitee wurde gebildet, anfänglich standen ökonomische Forderungen im Vordergrund.

Die Arbeiter waren entschlossen: eine blutige Niederschlagung der Kämpfe, wie es sie 1970 und 1976 gegeben hatte, wollten sie nicht wiederholen. Gerade in einer Industriehochburg wie Danzig-Gdynia-Zopot war es so offensichtlich, daß sich alle Arbeiter zusammenschließen müßten, um ein entsprechendes Kräfteverhältnis gegenüber der Regierung aufzubauen. Ein überbetriebliches Streikkomitee (MKS) wurde gebildet. Ihm gehörten 400 Mitglieder an, 2 Vertreter je Fabrik. In der 2. Augusthälfte gab es ca. 800-1000 Delegierte. Durch die Bildung eines überbetrieblichen Streikkomitees wurde die Zersplitterung in verschiedene Betriebe und Industriebranchen überwunden. Die Arbeiter konnten dem Kapital in geschlossener Front entgegengetreten. Die Arbeiter versammelten sich täglich auf dem Gelände der Lenin-Werft.

Lautsprecher wurden angebracht, damit die Diskussionen des Streikkomitees von allen mitgehört werden könnten. Kurze Zeit später wurden Mikrofone außerhalb des Versammlungsraumes des Streikkomitees installiert, damit die Arbeiter aus den Versammlungen heraus direkt in die Diskussion per Mikrofon eingreifen konnten. Abends fuhren die Delegierten - meist mit Kassetten über die Verhandlungen ausgerüstet - in ihre Betriebe zurück und stellten sich den Vollversammlungen.

Durch diese Vorgehensweise wurde ein Großteil der Arbeiter direkt an den Kämpfen beteiligt, die Delegierten mußten Rechenschaft ablegen, waren abwählbar und die Vollversammlungen in den jeweiligen Betrieben konnten nicht hinters Licht geführt werden, wie es die Gewerkschaften üblicherweise tun. In den einzelnen Betrieben wurden zusätzliche Forderungen aufgestellt.

Unterdessen breitete sich nach Eintritt der Arbeiter von Danzig-Gdynia und Zopot die Bewegung auf andere Städte weiter aus. Um den Kontakt der Arbeiter untereinander zu blockieren, unterbrach die Regierung am 16. August die Telefonleitungen. Die Arbeiter drohten sofort mit einer weiteren rapiden Ausdehnung der Streiks, falls die Regierung nicht wieder die Telefonleitung herstelle. Die Regierung gab nach!

Die Vollversammlung der Arbeiter beschloß die Bildung einer Arbeitermiliz. Während vorher der Alkoholkonsum gerade auch in den Reihen der Arbeiter sehr stark war, beschloß man gemeinsam, Alkoholkonsum zu verbieten. Die Arbeiter wußten, sie brauchen einen klaren Kopf, um der Regierung entgegenzutreten!

Eine Regierungsdelegation kam zu Verhandlungen mit den Arbeitern - vor versammelter Belegschaft, nicht hinter verschlossenen Türen. Die Arbeiter verlangten die Neuzusammensetzung der Regierungsdelegation, weil deren Anführer nur eine Marionette war. Die Regierung gab nach.

Als die Regierung mit dem Einsatz von Militär gegen die Arbeiter in Danzig drohte, reagierten die Eisenbahner von Lublin: ‘Wenn den Arbeitern in Danzig auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann legen wir die strategisch wichtige Eisenbahnverbindung von der UdSSR in die DDR lahm’. Die Regierung hatte verstanden! Zur Zeit des kalten Krieges wäre ihre Kriegswirtschaft, wären ihre Truppen am lebenswichtigen Nerv getroffen gewesen.

In nahezu allen Großstädten waren die Arbeiter mobilisiert.

Über eine halbe Million Arbeiter hatten gemerkt, daß sie die entscheidende Kraft im Lande waren, die direkt der Regierung gegenübertrat. Sie hatten gespürt, was sie stark machte:

- die schnelle Ausdehnung des Kampfes anstatt sich in gewaltsamen Konfrontationen wie 1970 und 1976 aufzureiben,

- die Selbstorganisierung ihrer Kämpfe, anstatt sich den Gewerkschaften anzuvertrauen, selbst die Initiative ergreifen.

- durch Vollversammlungen, in denen das überbetriebliche Streikkomitee mit der Regierung vor den Augen der Arbeiter verhandelte, die Kontrolle über die Bewegung ausüben, größte Massenaktivität vor Ort.

Kurzum- Ausdehnung der Bewegung war die beste Waffe der Solidarität. Hilfe nicht nur durch Deklaration, sondern indem man selber in den Kampf trat. Das ließ ein ganz anderes Kräfteverhältnis entstehen. Und weil die Arbeiter so massiv auf den Plan traten, konnte die Regierung keine Repression ausüben. Während der Sommerstreiks, als die Arbeiter in einer Front geschlossen dem Kapital gegenübertraten, gab es keinen einzigen Verletzten oder Toten. Die polnische Bourgeoisie wußte, daß sie diesen Fehler nicht begehen durfte, sondern daß sie erst die Arbeiter von Innen her schwächen mußte.

- und die Arbeiter in Danzig, denen die Regierung nachgegeben hatte, forderten, die gemachten Konzessionen auf die anderen Städte anzuwenden. Sie wollten sich nicht spalten lassen, sondern boten ihre Solidarität den Arbeitern in den anderen Städten an.

Die Arbeiterklasse war der Anziehungspunkt:

Arbeiter aus verschiedenen Städten reisten nach Danzig, um direkt mit den Streikenden dort Kontakt aufzunehmen. Aber auch Bauern und Studenten kamen zu den Fabriktoren, um die Streikbulletins, die Informationen selbst entgegenzunehmen. Die Arbeiterklasse war die führende Kraft.

 

Die Reaktion der Bourgeoisie: Isolierung

Welche Gefahr von den Kämpfen in Polen ausging, konnte man anhand der Reaktion der herrschenden Klasse in den Nachbarländern erkennen.

Sofort wurde die Grenze zur DDR, zur CSSR und zur Sowjetunion dicht gemacht. Während zuvor Tag für Tag polnische Arbeiter in die DDR, vor allem nach Berlin zum Kaufen fuhren, da es in den leeren Regalen in Polen noch weniger Erzeugnisse als in der DDR gab, wollte die osteuropäische Bourgeoisie sofort die Arbeiterklasse isolieren. Eine direkte Kontaktaufnahme zu den Arbeitern in den andern Ländern sollte mit allen Mitteln verhindert werden! Und zu dieser Maßnahme gab es allen Anlaß. Denn in der

benachbarten CSSR streikten im Kohlerevier um Ostrau - dem polnischen Beispiel folgend, die Kumpel. Im rumänischen Bergbaurevier, im russischen Togliattigrad griffen die Arbeiter jeweils das Beispiel der polnischen Arbeiter auf. Auch wenn es im Westen aus Reaktion auf die Streiks in Polen nicht zu Solidaritätsstreiks kam, so griffen die Arbeiter an vielen Orten die Losungen ihrer Klassenbrüder- und schwestern in Polen auf. In Turin skandierten im September 1980 die Arbeiter ‘Machen wir es wie in Danzig’.

Aufgrund seines Ausmaßes sollte der Massenstreik in Polen eine gewaltige Ausstrahlung auf die Arbeiter in anderen Ländern haben. Mit ihrem Massenstreik zeigten die Arbeiter genauso schon wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1970 und 1976 wiederum in Polen, daß die sich ‘sozialistisch’ schimpfenden Regime staatskapitalistische, arbeiterfeindliche Regierungen waren. Wenn die Arbeiterklasse in einem Land so massiv in Wallung geriet, stellte sie trotz des Sperringes, der um Polen gelegt worden war, trotz des Eisernen Vorhangs, einen weltweiten Bezugspol dar. Es war die Zeit des Kalten Krieges, des Afghanistankrieges; die Arbeiter hatten ein Zeichen gesetzt: der kriegerischen Aufrüstung, der Kriegswirtschaft traten die Arbeiter mit ihrem Klassenkampf entgegen. Die Frage der Verbindung der Arbeiter zwischen Ost und West, auch wenn sie noch nicht konkret gestellt wurde, tauchte zumindest wieder als Perspektive auf.

Jeder mußte die Kraft und die Ausstrahlung der Arbeiterklasse anerkennen.

Wie die Bewegung untergraben wurde

Die Bewegung konnte solch eine Kraft entfalten, weil sie sich schnell ausgedehnt hatte und die Arbeiter selbst die Initiative ergriffen hatten. Ausdehnung über alle Fabriktore hinweg, Abwählbarkeit der Delegierten, Vollversammlungen usw., all das hatte die Stärke ermöglicht. Am Anfang der Bewegung gab es keine Fessel der Gewerkschaft.

Im Laufe der Bewegung jedoch schafften es die aufgetauchten Mitglieder der frisch gegründeten ‘freien Gewerkschaft’ Solidarnosc, der Bewegung ihre Fesseln anzulegen.

Während anfänglich die Verhandlungen offen geführt wurden, wurde schließlich die Meinung verbreitet, ‘Experten seien notwendig, um Details mit der Regierung auszuhandeln’. Immer mehr wurden die Verhandlungen geheim weitergeführt, die Lautsprecheranlagen auf den Werften, die vorher die Verhandlungen übertrugen, funktionierten plötzlich immer weniger ‘aus technischen Gründen’. Lech Walesa, von dem später bekannt wurde, daß er ein Spitzel der polnischen Geheimpolizei war, wurde zum Anführer der neuen Gewerkschaftsbewegung erkoren (1) . Der neue Feind der Arbeiter, die frisch entstandene Gewerkschaft ‘Solidarnosc’ hatte sich eingeschlichen und ihre Sabotagearbeit begonnen. So schafften es die Gewerkschaftsanhänger um Walesa, die Forderungen umzukrempeln. Während anfänglich ökonomische und politische Forderungen an oberster Stelle standen, rückte jetzt die Anerkennung der Gewerkschaften an die erste Stelle: Billigung von freien Gewerkschaften, erst danach folgten ökonomische und politische Forderungen (2). Die altbekannte Taktik: Verteidigung der Gewerkschaften statt Verteidigung der Arbeiterinteressen.

Mit dem Ende der Bewegung war eine neue Gewerkschaft aus der Taufe gehoben worden, die die Schwächen der Arbeiterklasse voll auszuschlachten wußte.

Denn war es vorher eine Stärke der Arbeiter in Polen gewesen, sich der Tatsache bewußt gewesen zu sein, daß die offiziellen Gewerkschaften auf Staatsseite standen, meinten viele Arbeiter jetzt: die neu gegründete, 10 Mio. Mitglieder starke Gewerkschaft Solidarnosc ist nicht korrupt, verteidigt unsere Interessen. Die Arbeiter in Polen hatten noch nicht die Erfahrung der Arbeiter im Westen mit ‘freien Gewerkschaften’.

Während Walesa zum damaligen Zeitpunkt schon predigte, ‘wir wollen ein 2. Japan aufbauen, Wohlstand für alle’, und viele Arbeiter in Polen aus Unerfahrenheit mit den kapitalistischen Verhältnissen im Westen an solche Illusionen glaubten, übernahm Solidarnosc und Walesa an dessen Spitze sehr schnell die Feuerwehrrolle. Denn als im Herbst 1980 unter anderem aus Protest über den Abschluß des Abkommens Arbeiter wieder in den Streik traten, als sie gespürt hatten, daß man jetzt zwar eine neue Gewerkschaft ‘Solidarnosc’ hatte, aber die wirtschaftliche Situation noch schlechter war als zuvor, da fing die neue Gewerkschaft Solidarnosc schon an ihr wahres Gesicht zu zeigen. Lech Walesa wurde schon wenige Wochen nach Streikende von der stalinistischen Armee im Lande im Hubschrauber rumgeflogen, um die streikenden Arbeiter zur Aufgabe zu bewegen. ‘Wir wollen keine weiteren Streiks, weil sie das Land in den Abgrund führen, wir brauchen Ruhe’.

Von Anfang an betrieb die Gewerkschaft Solidarnosc eine systematische Untergrabungsarbeit. Immer wieder entriß sie den Arbeitern die Initiative, hinderte sie daran, neue Streiks auszulösen. Die Massenstreikbewegung hatte im Sommer 1980 dieses ungeheure Ausmaß annehmen können, weil die polnische Bourgeoisie wie die stalinistische Regierungen im Ostblock überhaupt politisch schlecht ausgerüstet waren, um der Arbeiterklasse anders als mit Repression entgegenzutreten. Im Westen erledigen die Gewerkschaften und die bürgerliche Demokratie diese Arbeit eines Auffangbeckens. Auf dem Hintergrund dieser politischen Rückständigkeit der dortigen Kapitalistenklasse sowie dem Hintergrund des kalten Krieges kam der polnischen Bourgeoisie die neue Gewerkschaft äußerst suspekt vor. Aber nicht das subjektive Empfinden sollte ausschlaggebend sein, sondern die objektive Rolle, die Solidarnosc gegen die Arbeiter spielte. So hatte 1981 die stalinistische Regierung auch angefangen zu merken, daß, trotzdem daß Solidarnosc im stalinistischen Herrschaftssystem ein ‘Fremdkörper’ war, sie nützliche Dienste leistet. Das Kräfteverhältnis begann sich zu wandeln.

Im Dez. 1981 konnte die polnische Bourgeoisie dann die von ihr solange vorbereitete Repression durchführen. Die Gewerkschaft Solidarnosc hatte die Arbeiter politisch entwaffnet, ihre Niederlage möglich gemacht. Während im Sommer 1980 dank der Eigeninitiative der Arbeiter, der Ausdehnung ihrer Kämpfe - ohne eine Gewerkschaft ‘an ihrer Seite’ keinem Arbeiter ein Haar gekrümmt wurde, wurden im Dez. 1981 über 1200 Arbeiter ermordet, Tausende ins Gefängnis gesteckt und in die Flucht getrieben. Diese Repression im Dez. 1981 fand statt nach intensiven Absprachen zwischen den Herrschenden in Ost und West.

Nach den Streiks im Sommer 1980 gewährte die westliche Bourgeoisie Solidarnosc nur alle mögliche ‘Aufbauhilfe’, um die Gewerkschaft gegen die Arbeiter zu stärken. Kampagnen wie ‘Pakete für Polen’, ‘Kredithilfen im Rahmen des Währungsfonds’ wurden durchgeführt, um nur ja nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, daß die Arbeiter im Westen dem Weg der Arbeiter in Polen folgen sollten - den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. Vor der Repression im Dez. 1981 wurden die Pläne der Niederschlagung zwischen den Regierungschef direkt abgesprochen. Am 13. Dez. 1981, Tag des Beginns der Repression, saßen Helmut Schmidt (Sozialdemokrat) und Altstalinist Erich Honecker unweit von Berlin zusammen und ‘wuschen ihre Hände in Unschuld’. Dabei hatten sie nicht nur grünes Licht für die Repression gegeben, sondern auch ihre Erfahrung in diesen Fragen weitergegeben.

Im Sommer 1980 war es wegen des Absperringes nicht möglich, daß die IKS in Polen selbst intervenierte. Ab Sept. 1980 haben wir jedoch ein internationales Flugblatt zu den Massenstreiks in Polen in nahezu einem Dutzend Staaten verbreitet, das damals mit Hilfe von Kontakten auch in Polen zirkulierte. Bei nachfolgenden Interventionen der IKS in Polen kritisierten wir immer wieder die Illusionen der polnischen Arbeiter. Für uns als Revolutionäre galt es, sich nicht den Illusionen der Arbeiter zu beugen, sondern durch das Aufzeigen ihrer mangelnden Erfahrung mit den ‘radikalen’ Gewerkschaften, wie sie die Arbeiter im Westen gemacht hatten, die Arbeiter zu warnen. Auch wenn unsere Position zu den Gewerkschaften anfänglich in Polen unpopulär war, wir in dieser Frage ‘gegen den Strom schwammen’, gab uns die Erfahrung recht.

Ein Jahr später, im Dez. 1981, zeigte die Gewerkschaft Solidarnosc, welche Niederlage der Arbeiter sie ermöglicht hatte! Nach dem Streikende 1980 war kein Winter vergangen, und schon war Solidarnosc zu einem staatstragenden Element geworden. Daß der ehemalige Führer Lech Walesa inzwischen Staatspräsident ist, ist sicherlich nicht nur darauf zurückzuführen, daß er das Vertrauen von Kirche und westlichen Regierungen besitzt, sondern weil er als Gewerkschaftsvertreter ein ausgezeichneter Verteidiger des Staates ist. Mittlerweile ist er genauso verhaßt wie seinerzeit der stalinistische Oberhenker Gierek.

Wenn wir die positiven Lehren - Selbstausdehnung, Selbstorgansierung des Massenstreiks vom Sommer 1980 heute in Erinnerung rufen, dann weil wir auf deren Gültigkeit auch heute hinweisen wollen. Auch wenn heute durch die Änderung der internationalen Lage ähnliche selbständige Massenstreiks in nächster Zeit nicht zu erwarten sind, müssen die Lehren aus dieser Bewegung der Arbeiterklasse wieder aufgegriffen werden und in die nächsten Kämpfe mit einfließen. Dav.

(

(2) ‘Sicherheit der Streikenden, Freilassung aller politischen Häftlinge und der Arbeiter, die in Streiks von 1970/76 verurteilt worden waren, Veröffentlichung der Informationen des Streikkomitees, Zahlung der Löhne während des Streiks, Lohnerhöhungen, Inflationsausgleich, bessere Lebensmittelversorgung, Abschaffung der Privilegien für die Staatsbonzen, Herabsetzung des Rentenalters, Verbesserung der medizinischen Versorgung und mehr Kindergartenplätze, mehr Wohnungen, der Samstag soll arbeitsfrei werden, mehr Urlaub für Schichtdienstler’.

1) Auch wenn die Gründung einer ‘freien Gewerkschaft’ nur durch die Illusionen und Unerfahrenheit der Arbeiter in Polen selbst erklärt werden kann, steht außer Zweifel, daß organisierte Bestrebungen seitens des KOR (eine teilweise pro-westliche Oppositionsgruppe) nur möglich waren wegen Hilfestellung aus dem Westen für den systematischen Aufbau von Solidarnosc. Trotz der Gegnerschaft zwischen zwei imperialistischen Blöcken gab es eine Einheit gegen die Arbeiterklasse.

 

Geographisch: 

  • Polen [4]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [5]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Dritte Internationale [6]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [7]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [8]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/trotzkismus [2] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/zweiter-weltkrieg [3] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke [4] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/polen [5] https://de.internationalism.org/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1980-massenstreik-polen [6] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/dritte-internationale [7] https://de.internationalism.org/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [8] https://de.internationalism.org/tag/2/28/stalinismus-der-ostblock