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Internationale Revue – 2011

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Internationale Revue 47

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19. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Situation

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Im Mai dieses Jahres hat die IKS ihren 19. internationalen Kongress abgehalten. Wie wir es bis jetzt immer getan haben, und in der Tradition der Arbeiterbewegung vermitteln wir den Lesern und Leserinnen unserer Presse die wichtigsten Resultate dieses Kongresses, da diese Lehren nicht eine interne Angelegenheit unserer Organisation sind, sondern die ganze Arbeiterklasse betreffen, von der wir ein Bestandteil sind.

1. Die am letzten Kongress der IKS angenommene Resolution unterstrich zunächst, wie die Fakten die optimistischen Voraussagen der Führer der bürgerlichen Klasse zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts widerlegt hatten, insbesondere die Voraussagen nach dem Zusammenbruch des „Reichs des Bösen“, als welches der so genannte „sozialistische“ Block galt. Die Resolution zitierte die bereits berühmte Erklärung von George Bush sen. im März 1991, in der er die Geburt einer „neuen Weltordnung“ ankündigte, die auf dem „Respekt vor dem Völkerrecht“ beruhe, und sie hob hervor, wie surrealistisch solche Voraussagen angesichts des sich ausbreitenden Chaos in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sind. Zwanzig Jahre nach dieser „prophetischen“ Rede, insbesondere nach Beginn dieses neuen Jahrzehnts, bietet die Welt ein chaotischeres Bild als je seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von einigen wenigen Wochen wurden wir Zeugen eines neuen Kriegs in Libyen, der die Liste all der blutigen Konflikte, die den Planeten in der letzten Zeit überzogen haben, verlängert, von weiteren Massakern an der Elfenbeinküste und der Tragödie, die eines der mächtigsten und modernsten Länder der Welt heimsuchte, nämlich Japan. Das Erdbeben, das einen Teil dieses Landes verwüstete, unterstrich einmal mehr, dass es nicht „Naturkatastrophen“ gibt, sondern katastrophale Folgen von natürlichen Erscheinungen. Es zeigte, dass die Gesellschaft heute über die Mittel verfügt, Gebäude zu erstellen, die den Erschütterungen widerstehen, Mittel, die es erlauben würden, Tragödien wie diejenige vom letzten Jahr in Haiti zu vermeiden. Aber es zeigte ebenso, wie wenig selbst ein so fortgeschrittener Staat wie Japan Gefahren voraussieht: Das Erdbeben selber forderte nur wenige Opfer, aber der darauf folgende Tsunami tötete beinahe 30‘000 Menschen in wenigen Minuten. Darüber hinaus offenbarte das neue Tschernobyl in Fukushima, dass es der herrschenden Klasse nicht nur an Voraussicht mangelt, sondern dass sie schlicht dem Zauberlehrling gleicht, der nicht in der Lage ist, die Geister zu bändigen, die er rief. Das Unternehmen Tepco, welches das Atomkraftwerk betreibt, ist nicht der hauptsächliche, und schon gar nicht der einzige Verantwortliche der Katastrophe. Vielmehr ist das kapitalistische System als ganzes, das auf dem unbändigen Streben konkurrierender nationaler Einheiten nach Profit, statt auf der Bedürfnisbefriedigung der Menschheit beruht, für die gegenwärtigen und noch kommenden Katastrophen, welche die menschliche Gattung erleiden muss, verantwortlich. In letzter Instanz ist das japanische Tschernobyl ein neuer Beweis für den endgültigen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise, eines Systems, dessen Überleben eine zunehmende Gefahr für das Überleben der Menschheit selber darstellt.

2. Offensichtlich drückt die Krise, die gegenwärtig der Weltkapitalismus durchmacht, am unmittelbarsten die geschichtliche Hinfälligkeit dieser Produktionsweise aus. Vor zwei Jahren ergriff eine helle Panik die Bourgeoisie aller Länder angesichts der Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Lage. Die OECD schrieb unverblümt: „Die Weltwirtschaft befindet sich inmitten der tiefgreifendsten Rezession, die wir zu unseren Lebzeiten je gesehen haben“ (Zwischenbericht März 2009). Wenn man weiß, mit welcher Zurückhaltung sich diese hochehrwürdige Institution normalerweise ausdrückt, kann man ermessen, wie sehr die herrschende Klasse vom Schrecken gepackt war angesichts des möglichen Bankrotts des internationalen Finanzsystems, des brutalen Einbruchs des Welthandels (im Jahre 2009 mehr als 13%), der Gewalt der Rezession in den wichtigsten Ländern, der Welle von Pleiten, die Vorzeigeunternehmen der Industrie wie General Motors oder Chrysler erfasste oder bedrohte. Dieser Schrecken der Bourgeoisie veranlasste sie, Gipfeltreffen der G20 einzuberufen, wobei derjenige vom März 2009 in London die Verdoppelung der Reserven des Weltwährungsfonds und die massive Einschießung von Liquidität in die Wirtschaft durch die Staaten beschloss, um das Bankensystem vor dem Absturz zu bewahren und die Produktion wieder anzukurbeln. Das Gespenst der „Großen Depression der 1930er Jahre“ ging um, was die gleiche OECD veranlasste, solche Dämonen mit den Worten zu beschwören: „Obwohl dieser schwere weltweite Konjunkturabschwung von einigen bereits als ‚Große Rezession’ bezeichnet wurde, sind wir weit davon entfernt, eine Wiederholung der Großen Depression der 1930er Jahre zu erleben, was der Qualität und der Intensität der gegenwärtig getroffenen staatlichen Maßnahmen zu verdanken ist“ (a.a.O.). Doch wie die Resolution des 18. Kongresses sagte, besteht „ein Wesensmerkmal der offiziellen Reden der herrschenden Klasse heute darin, die Reden von gestern in Vergessenheit geraten zu lassen“, und der gleiche Zwischenbericht der OECD vom Frühjahr 2011 verleiht einer wahren Erleichterung Ausdruck angesichts der Wiederherstellung  des Bankensystems und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die herrschende Klasse kann nicht anders. Unfähig zu einer klaren, umfassenden und historischen Sicht auf die Schwierigkeiten, in denen ihr System steckt - da umgekehrt eine solche Klarsicht sie dazu führen würde, die endgültige Sackgasse des Systems zu entdecken -, ist sie dazu verdammt, die Wechsel der unmittelbaren Lage von Tag zu Tag zu kommentieren und zu versuchen, darin Momente des Trostes zu finden. Bei diesem Unterfangen unterschätzt sie immer wieder die Bedeutung des Hauptphänomens der letzten beiden Jahre: die Krise der Staatsanleihen in gewissen europäischen Ländern - auch wenn die Medien manchmal bei diesem Thema einen alarmierten Ton anschlagen. In der Tat stellt diese potentielle Pleite einer wachsenden Reihe von Staaten eine neue Phase im Versinken des Kapitalismus in der unüberwindlichen Krise dar. Sie verdeutlicht die Grenzen der Maßnahmen, mit denen es der Bourgeoisie gelungen ist, den Fortgang der kapitalistischen Krise seit mehreren Jahrzehnten zu bremsen.

3. Seit mittlerweile mehr als 40 Jahren steht das kapitalistische System der Krise gegenüber. Der Mai 68 in Frankreich und die Gesamtheit der proletarischen Kämpfe, die weltweit darauf folgten, breiteten sich nur deshalb so aus, weil sie genährt wurden durch eine globale Verschärfung der Lebensbedingungen, die ihrerseits auf den Auswirkungen der kapitalistischen Krise beruhte, insbesondere der Anstieg der Arbeitslosigkeit. Diese Krise verschärfte sich 1973-75 brutal mit der ersten großen internationalen Nachkriegs-Rezession. Seither folgten neue Rezessionen, welche die Weltwirtschaft jedes Mal tiefer und weiterreichender trafen und schließlich in der derjenigen von 2008-2009 einen vorläufigen Tiefpunkt erreichten, der das Gespenst der 1930er Jahre hervorrief. Die Maßnahmen, die der G20 im März 2009 zur Vermeidung einer neuen „Großen Depression“ ergriffen, zeigen die Politik auf, welche die herrschende Klasse seit einigen Jahrzehnten anwendet: Sie lässt sich zusammenfassen als Einschießung von beträchtlichen Kreditmassen in die Wirtschaft. Solche Maßnahmen sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie seit 35 Jahren den Kern der Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse dar beim Versuch, dem großen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu entgehen: der Unfähigkeit, zahlungsfähige Märkte zu finden, die ihre Produktion aufnehmen. Die Rezession von 1973-75 wurde durch massive Kredite an die Länder der Dritten Welt überwunden, doch ab Beginn der 1980er Jahre, mit der Schuldenkrise dieser Länder, musste die Bourgeoisie der am meisten entwickelten Länder auf diese Lunge für ihre Wirtschaft verzichten. Die Staaten der am weitesten entwickelten Länder, allen voran die USA, übernahmen nun die Rolle der „Lokomotive“ der Weltwirtschaft. Die „Reaganomics“ (neoliberale Politik der Reagan-Administration) zu Beginn der 80er Jahre, die einen bedeutenden Aufschwung der Wirtschaft dieses Landes erlaubten, beruhten auf einer noch nie dagewesenen Ausschöpfung der Budgetdefizite, während Ronald Reagan gleichzeitig erklärte: „Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“ Zugleich ermöglichten es die ebenfalls beträchtlichen Handelsdefizite dieser Großmacht, dass die in anderen Ländern produzierten Waren hier einen Absatz fanden. In den 1990er Jahren standen die asiatischen „Tiger“ und „Drachen“ (Singapur, Taiwan, Südkorea usw.) eine Weile den USA in dieser Rolle als „Lokomotive“ bei: Ihre spektakulären Wachstumsraten verwandelten jene in wichtige Absatzmärkte für die Waren der am meisten industrialisierten Länder. Aber diese „Erfolgsgeschichte“ hatte den Preis einer beträchtlichen Verschuldung, die jene Länder 1997 in große Schwierigkeiten führte vergleichbar mit denen des „neuen“ und „demokratischen“ Russland, das vor der Zahlungsunfähigkeit stand und grausam diejenigen enttäuschte, die auf das „Ende des Kommunismus“ setzten, um einen dauerhaften Aufschwung der Weltwirtschaft vorauszusagen. Zu Beginn der 2000er Jahre erfuhr die Verschuldung eine neue Beschleunigung, insbesondere dank der enormen Wucherung der Hypothekardarlehen im Bausektor von mehreren Ländern, vor allem in den USA. Dieses Land trieb seine Rolle als „Lokomotive der Weltwirtschaft“ auf die Spitze, aber zum Preis eines schwindelerregenden Wachstums der Schulden - insbesondere der US-amerikanischen Bevölkerung -, die auf allen möglichen „Finanzprodukten“ beruhten, die angeblich die Risiken einer Zahlungsunfähigkeit vermindern sollten. In Tat und Wahrheit führte die Verteilung von zweifelhaften Krediten keineswegs dazu, das über der amerikanischen Wirtschaft und derjenigen der Welt hängende Damoklesschwert in Sicherheit zu bringen. Im Gegenteil häuften sich im Kapital der Banken „toxische Guthaben“ an, die schließlich 2007 zu ihrem Zusammenbruch und 2008-2009 zur brutalen Weltrezession führten.

4. Die vom letzten Kongress angenommene Resolution sagte: „So ist die Finanzkrise nicht die Wurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlicht nur die Tatsache, dass die Flucht nach vorne in die Verschuldung, welche die Überwindung der Überproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann. Früher oder später  rächt sich die « reale Wirtschaft », d.h. was die Grundlagen der Widersprüche des Kapitalismus darstellt – die Überproduktion, die Unfähigkeit der Märkte, die Gesamtheit der produzierten Waren aufzusaugen. Diese Widersprüche treten dann wieder deutlich in Erscheinung.“ Und die gleiche Resolution präzisierte nach dem Gipfel des G20 vom März 2009, dass „die Flucht in die Verschuldung (…) eines der Merkmale der Brutalität der gegenwärtigen Rezession (ist). Die einzige « Lösung », die die herrschende Klasse umsetzen kann, ist eine erneute Flucht in die Verschuldung. Der G20 konnte keine Lösung für die Krise erfinden, ganz einfach, weil es keine Lösung für die Krise gibt.“

Die Krise der Staatsanleihen, die sich heute ausweitet, die Tatsache, dass die Staaten unfähig werden, den Schuldendienst zu leisten, illustriert drastisch diese Realität. Der mögliche Zusammenbruch des Bankensystems und die Rezession zwangen alle Staaten, beträchtliche Summen in ihre Wirtschaft einzuschießen, während umgekehrt die Einnahmen sich im freien Fall befinden, weil die Produktion zurückgeht. Aus diesem Grund nahmen die Staatsdefizite in den meisten Ländern beträchtlich zu. Für die am meisten gefährdeten unter ihnen wie Irland, Griechenland oder Portugal bedeutete dies der potentielle Bankrott, die Unfähigkeit, die Staatsangestellten zu bezahlen und die Schulden zu begleichen. Seither weigern sich die Banken, ihnen neue Darlehen zu geben, außer gegen exorbitant hohe Zinsen, da diese Länder keine Gewähr bieten, die Darlehen wieder zurück zu zahlen. Die „Rettungspläne“, welche die Europäische Bank und der Weltwährungsfond für sie ausarbeiteten, stellen lediglich neue Schulden dar, die ebenso wie die früheren zurück bezahlt werden müssen. Es ist mehr als ein Teufelskreis, es ist eine Höllenspirale. Die einzige „Effizienz“ dieser Pläne besteht in den noch nie dagewesenen Angriffen gegen die ArbeiterInnen, gegen die Staatsangestellten, deren Löhne und Stellen drastisch abgebaut wurden, aber auch gegen die Gesamtheit der Arbeiterklasse durch die Kürzungen von Ausgaben bei den Schulen, der Gesundheit und den Altersrenten wie auch durch starke Steuererhöhungen. Doch all diese Angriffe gegen die Arbeiterklasse beschneiden einmal mehr die Kaufkraft der ArbeiterInnen und leisten so einen weiteren Beitrag zur nächsten Rezession.

5. Die Krise der Staatsschulden in den PIIGS (Portugal, Island, Irland, Griechenland und Spanien) ist nur ein kleiner Teil des Erdbebens, das die Weltwirtschaft bedroht. Nur weil die großen Industriemächte gegenwärtig noch über die Note AAA auf der Bewertungsskala der Rating-Agenturen verfügen (der gleichen Agenturen, die am Vorabend des Debakels der Banken von 2008 diesen ebenfalls die Bestnote erteilt haben), heißt nicht, dass sich jene besser aus der Affäre ziehen würden. Ende April 2011 äußerte sich die Agentur Standard and Poor’s negativ über ein bevorstehendes Quantitative Easing Nr. 3, das heißt einen 3. Aufschwungsplan des amerikanischen Staats zur Ankurbelung der Wirtschaft. Mit anderen Worten läuft die größte Weltmacht Gefahr, dass ihr das „offizielle“ Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Bezahlung der Schulden entzogen wird - mindestens mit Dollars, die noch etwas wert sind. Tatsächlich hat dieses Vertrauen halb-offiziell schon zu schwinden begonnen mit dem Entscheid Chinas und Japans seit dem letzten Herbst, massiv Gold und Rohstoffe zu kaufen an Stelle von amerikanischen Staatsanleihen, was die Amerikanische Zentralbank dazu zwang, jetzt 70% bis 90% der ausgegebenen Anleihen selber zu kaufen. Und dieser Vertrauensverlust ist vollkommen gerechtfertigt, wenn man das unglaubliche Ausmaß der Verschuldung der amerikanischen Wirtschaft betrachtet: Im Januar 2010 betrug die öffentliche Verschuldung (Bundesstaat, Gliedstaaten, Gemeinden usw.) schon fast 100% des BIP, was aber nur einen Teil der Gesamtverschuldung des Landes im Umfang von 300% des BIP ausmachte (die auch die Schulden der Haushalte und der nicht im Finanzsektor tätigen Unternehmen beinhaltet). Und die Lage in den anderen großen Ländern ist nicht besser, in denen die Gesamtschuld im gleichen Zeitpunkt für Deutschland 280% des BIP ausmachte, für Frankreich 320%, für Großbritannien und Japan 470%. In Japan erreichte die öffentliche Schuld allein 200% des BIP. Und seither hat sich die Lage in allen Ländern mit den verschiedenen Aufschwungplänen nur noch verschlimmert.

So stellt der Bankrott der PIIGS nur die Spitze des Eisbergs des Bankrotts einer Weltwirtschaft dar, die ihr Überleben seit Jahrzehnten nur der verzweifelten Flucht nach vorn in die Verschuldung verdankt. Die Staaten, die über ihre eigene Währung verfügen wie Großbritannien, Japan und natürlich die USA, konnten diesen Bankrott verstecken, indem sie die Notenpresse heiß laufen ließen (im Gegensatz zu denjenigen der Euro-Zone wie Griechenland, Irland oder Portugal, die nicht über diese Möglichkeit verfügen). Aber diese ständigen Betrügereien der Staaten, die tatsächlich zu wahrhaften Falschmünzern mit dem Bandenboss USA wurden, können nicht endlos auf gleiche Art fortgesetzt werden, so wie auch die Betrügereien im Zusammenhang mit dem Finanzsystem mit dem Ausbruch der Krise von 2008 Schiffbruch erlitten haben und es fast ganz in den Abgrund getrieben hätten. Eines der sichtbaren Zeichen dieser Realität ist die gegenwärtige Beschleunigung der weltweiten Inflation. Die Krise der Verschuldung verschob sich von der Bankensphäre in diejenige der Staaten, wodurch die kapitalistische Produktionsweise in eine neue Phase ihrer zugespitzten Krise eingetreten ist, in der sich die Gewalt und die Ausdehnung ihrer Erschütterungen noch einmal beträchtlich verschärfen werden. Es gibt für den Kapitalismus keinen „Ausgang aus dem Tunnel“. Dieses System kann die Gesellschaft nur noch in eine ständig wachsende Barbarei ziehen.

6. Der imperialistische Krieg ist der wichtige Ausdruck der Barbarei, in welche der dekadente Kapitalismus die menschliche Gesellschaft stößt. Die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der schlagendste Beweis dafür: Angesichts der historischen Sackgasse, in der sich ihre Produktionsweise befindet, angesichts der Zuspitzung der Handelskonkurrenz zwischen Staaten, ist die herrschende Klasse zu einer Flucht nach vorn in ihrer Kriegspolitik gezwungen, zu militärischen Konfrontationen. Für die meisten Historiker - auch solche, die sich nicht auf den Marxismus berufen - ist klar, dass der Zweite Weltkrieg ein Abkömmling der Großen Depression der 1930er Jahre war. Ebenso hatte die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zwischen den damaligen Blöcken, dem amerikanischen und dem russischen (Invasion der UdSSR in Afghanistan 1979, Kreuzzug der Reagan-Regierung gegen das „Reich des Bösen“), ihre Beweggründe zu einem wesentlichen Teil in der Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise Ende der 1960er Jahre. Doch hat die Geschichte gezeigt, dass diese Verbindung zwischen der Zuspitzung der imperialistischen Zusammenstöße und der wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus nicht direkt oder unmittelbar ist. Die Intensivierung des „Kalten Krieges“ führte schließlich zum Sieg des westlichen Blocks durch die Implosion des Gegners, was wiederum die Auflösung des ersteren zur Folge hatte. Die Welt entging zwar der Gefahr eines neuen verallgemeinerten Krieges, der zur Vernichtung der menschlichen Gattung hätte führen können, aber dafür explodierten überall militärische Spannungen und offene Zusammenstöße: Das Ende der rivalisierenden Blöcke bedeutete auch das Ende der Disziplin, die sie zuvor noch in ihren jeweiligen Gebieten hatten durchsetzen können. Seither wird die globale imperialistische Bühne durch den Versuch der größten Weltmacht beherrscht, ihre Führerrolle über den Rest der Welt und insbesondere über ihre früheren Bündnispartner aufrecht zu erhalten. Der erste Golfkrieg von 1991 offenbarte bereits diese Zielsetzung, aber die Geschichte der 1990er Jahre zeigte insbesondere mit dem Krieg in Jugoslawien, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Der „Krieg gegen den Weltterrorismus“, den die USA nach den Attentaten des 11. September 2001 erklärten, hatte den Anspruch, diese Führerrolle erneut zu behaupten, aber die festgefahrene Situation in Afghanistan und im Irak haben verdeutlicht, dass sie diese Rolle nicht mehr zurück erobern können.

7. Die Misserfolge der USA haben diese Macht nicht davon abgebracht, ihre Offensivpolitik, die sie seit Beginn der 1990er Jahre führte und sie zum wichtigsten destabilisierenden Faktor im Weltmaßstab machte, fortzusetzen. Die Resolution des letzten Kongresses sagte dazu: „Angesichts dieser Lage werden Obama und seine Administration nichts anderes tun können, als die kriegstreiberische Politik ihrer Vorgänger fortzusetzen“ (…) „So verfolgt Obama mit dem Rückzug der Truppen aus dem Irak lediglich den Zweck, sie dafür in Afghanistan und Pakistan einzusetzen.“ Dies hat sich kürzlich mit der Exekution Bin Ladens durch ein amerikanisches Kommando auf pakistanischem Gebiet bewahrheitet. Diese „heldenhafte“ Operation ist natürlich im Rahmen der Vorbereitung auf die nächsten Wahlen, die in anderthalb Jahren stattfinden, zu sehen. Sie zielte insbesondere darauf ab, den republikanischen Kritikern Wind aus den Segeln zu nehmen, da sie ihm vorwarfen, er sei zu weich bei der Bekräftigung der Vorreiterrolle der USA auf militärischer Ebene, wobei diese Kritiken anlässlich der Intervention in Libyen lauter wurden, als die Führerrolle bei dieser Operation dem französisch-britischen Tandem überlassen wurde. Sie bedeutete auch, dass es nach 10 Jahren, in denen Bin Laden als der Böse schlechthin herhalten musste, Zeit wurde, sich seiner zu entledigen, wenn man nicht als ohnmächtig dastehen wollte. Mit dieser Kommandoaktion stellten die USA unter Beweis, dass sie die einzige Macht sind, die die Mittel hat, eine solche Operation in militärischer, technologischer und logistischer Hinsicht durchzuführen, und zwar genau zu der Zeit, als Frankreich und Großbritannien Mühe mit ihrer Operation gegen Ghaddafi bekunden. Sie zeigte aller Welt, dass die USA nicht zögern, die „nationale Souveränität“ eines „Bündnispartners“ zu verletzen, dass sie die Spielregeln bestimmen, wenn immer sie es für nötig erachten. Schließlich zwang diese Aktion die meisten Regierungen der Welt dazu, ihren erfolgreichen Ausgang zu begrüßen, obwohl dies vielen gegen den Strich ging.

8. Trotzdem ist dieser Schlag Obamas in Pakistan keineswegs geeignet, die Lage in der Region, insbesondere in Pakistan selber zu stabilisieren; vielmehr besteht gerade hier die Gefahr, dass diese Ohrfeige für den „nationalen Stolz“ alte Konflikte zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie und dem Staatsapparat schürt. Weiter wird der Tod Bin Ladens nicht dazu führen, dass nun die USA und die anderen in Afghanistan engagierten Staaten die Kontrolle in diesem Land zurück gewinnen und die Autorität eines Karzai-Regimes konsolidieren könnten, das durch Korruption und Stammesfehden vollständig untergraben ist. Allgemeiner gesagt, wird der Tod Bin Ladens die Tendenzen des „Jeder-für-sich“ nicht bremsen, ebenso wenig wie den Widerstand gegen die Autorität der ersten Weltmacht, wie er weiterhin beispielsweise in erstaunlichen punktuellen Allianzen zum Ausdruck kommt: in der Annäherung zwischen der Türkei und dem Iran; in den Allianzen zwischen dem Iran, Brasilien und Venezuela (strategisch und gegen die USA gerichtet); zwischen Indien und Israel (militärisch und zum Aufbrechen der Isolation); zwischen China und Saudi-Arabien (militärisch und strategisch); usw. Insbesondere wird er China nicht davon abhalten, seine imperialistischen Ansprüche zur Geltung zu bringen, die ihm sein neuer Status als industrielle Großmacht zu haben erlaubt. Es ist klar, dass dieses Land trotz seiner demographischen und wirtschaftlichen Stärke überhaupt nicht die militärischen oder technologischen Mittel hat und in absehbarer Zeit nicht haben wird, um selber ein Blockführer zu werden. Doch hat es die Mittel, um die amerikanischen Ansprüche noch mehr zu durchkreuzen - sei dies in Afrika, im Iran, in Nordkorea, Burma - und seinen Teil zur wachsenden Instabilität beizutragen, welche die imperialistischen Beziehungen prägen. Die „neue Weltordnung“, die Vater George Bush vor 20 Jahren prognostizierte und die er sich unter der Vorherrschaft der USA erträumte, entlarven sich je länger je mehr als ein „Weltchaos“ - ein Chaos, das die Konvulsionen der kapitalistischen Wirtschaft nur noch verschlimmern werden.

9. Angesichts des Chaos das die bürgerliche Gesellschaft auf allen Ebenen, der Ökonomie, des Krieges und auch auf der Ebene der Umwelt, so wie wir es kürzlich in Japan erlebt haben, ergriffen hat, hat nur die Arbeiterklasse eine Lösung anzubieten. Ihre Lösung ist die kommunistische Revolution. Die unüberwindbare Krise der kapitalistischen Wirtschaft, die Erschütterungen, welche sie in immer schärferer Form kennt, bilden die objektiven Bedingungen dafür. Einerseits ist die Arbeiterklasse gezwungen, ihre Kämpfe gegen die dramatischen Angriffe von Seiten der ausbeutenden Klasse zu verstärken. Andererseits erlaubt dies der Arbeiterklasse zu verstehen, dass ihre Kämpfe eine große Bedeutung haben, als Vorbereitung zur entscheidenden Auseinandersetzung mit einer Produktionsweise, dem Kapitalismus, der von der Geschichte verdammt ist unterzugehen. Wie in der Resolution des letzten internationalen Kongress beschrieben: „Der Weg, der uns zu revolutionären Kämpfen und zum Umsturz des Kapitalismus führt, ist lang und schwierig. (…) Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in der Arbeiterklasse wirklich Wurzeln schlagen kann, muss Letztere Vertrauen in ihre eigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Der gewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, bildet eine objektive Grundlage für solche Kämpfe.“ Zum Unmittelbaren stellte die damalige Resolution fest: „Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden - Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe zunächst zuwider. (…) Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann - namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“

10. Die zwei Jahre, die uns vom letzten Kongress trennen, haben dies vollauf bestätigt. Diese Periode war nicht gezeichnet von verbreiteten Kämpfen gegen die massiven Entlassungen oder gegen die steigende Arbeitslosigkeit, welche die Arbeiterklasse in den am meisten fortgeschrittenen Ländern über sich ergehen lassen muss. Gleichzeitig gibt es aber bedeutende Kämpfe gegen die „notwendigen Kürzungen der Sozialausgaben“. Doch diese Antwort ist immer noch schüchtern, vor allem dort, wo die Sparmaßnahmen die brutalsten Formen angenommen haben, in Ländern wie z.B. Griechenland oder Spanien, auch wenn die Arbeiterklasse dort in letzter Zeit ein bedeutendes Niveau an Kampfbereitschaft gezeigt hat. In gewisser Weise scheint die Brutalität der Angriffe in den Reihen der Arbeiterklasse ein Gefühl der Machtlosigkeit ausgelöst zu haben, vor allem auch, weil sie durch „linke“ Regierungen durchgesetzt wurden. Paradoxerweise hat sich dort, wo die Angriffe am wenigsten stark waren, wie z.B. in Frankreich, die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse am massivsten manifestiert – mit der Bewegung gegen die Rentenreform im Herbst 2010.

11. Die massivsten Bewegungen, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, entfalteten sich nicht in den am höchsten industrialisierten Ländern, sondern in Ländern der Peripherie des Kapitalismus, vor allem in einigen Ländern der arabischen Welt wie in Tunesien und Ägypten. Dort war die herrschende Klasse, nachdem sie erst mit einer brutalen Repression geantwortete hatte, gezwungen, die Diktatoren abzusetzen. Diese Bewegungen waren nicht klassische Arbeiterkämpfe, wie sie sich in diesen Ländern kurz zuvor ereignet hatten (z.B. die Arbeitskämpfe in Gafsa in Tunesien 2009 oder die massiven Streiks in der ägyptischen Textilindustrie während des Sommers 2007, die eine große Solidarität von anderen Sektoren erhielten). Sie haben oft die Form sozialer Revolten angenommen, in denen sich verschiedenste Teile der Gesellschaft wiederfanden: Beschäftigte des Staates und der Privatwirtschaft, Arbeitslose, aber auch Kleinhändler und Bauern und Freiberufliche, die Jugend usw. Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse über die meiste Zeit hinweg nicht direkt als solche erkennbar aufgetreten (wie zum Beispiel in den Streiks in Ägypten in der Endphase der Revolte) und konnte noch weniger eine führende Rolle einnehmen. Dennoch ist der Ursprung dieser Revolten (was sich in vielen Forderungen widerspiegelte) derselbe wie derjenige von Arbeiterkämpfen in anderen Ländern: die dramatische Zuspitzung der Krise und die zunehmende Misere, welche innerhalb der gesamten nichtausbeutenden Bevölkerung um sich greift. Wenn die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen im arabischen Raum im Allgemeinen nicht als Klasse aufgetreten ist, so war ihr Einfluss in den Ländern, in denen sie ein stärkeres Gewicht hat, dennoch spürbar. Dies vor allem durch die Atmosphäre einer großen Solidarität in den Revolten und die Fähigkeit, Fallen von blinder und verzweifelter Gewalt zu vermeiden, auch dann, wenn sie mit einer starken Repression konfrontiert waren. Wenn schlussendlich die herrschende Klasse in Tunesien und Ägypten auf den Ratschlag der USA hin die alten Diktatoren über die Klinge springen ließ, so geschah dies weitgehend wegen der starken Präsenz der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen. Beweis dafür ist die Entwicklung der Bewegung in Libyen: nicht die Absetzung des alten Diktators Ghaddafi, sondern eine militärische Konfrontation zwischen bürgerlichen Cliquen, in der die Ausgebeuteten als Kanonenfutter dienen. In Libyen ist ein großer Teil der Arbeiterklasse aus eingewanderten Arbeitern zusammengesetzt (aus Ägypten, Tunesien, China, Schwarzafrika, Bengalen), deren überwiegende Reaktion die Flucht vor der blindwütigen Repression war, welche in den ersten Tagen entfesselt wurde.

12. Das militärische Resultat der Ereignisse in Libyen durch das Eingreifen der NATO in den Konflikt erlaubte es der herrschenden Klasse, Kampagnen der Verschleierung gegenüber der Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder vom Stapel zu reißen, deren spontane Reaktion die Solidarität und das Begrüßen des Mutes und der Entschlossenheit der Demonstranten in Tunis und Kairo war. Vor allem die massive Präsenz der gut ausgebildeten Jugend, welche mit einer Zukunft in Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert ist, ist ein Echo auf die kürzlich erfolgten Bewegungen der jungen Generation in verschiedenen europäischen Ländern: die Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich im Frühling 2006, Revolten und Streiks in Griechenland Ende 2008, Demonstrationen und Streiks in den Hochschulen und Universitäten in Großbritannien Ende 2010, Studentenbewegungen in Italien und in den USA 2009-2010, usw. Die Kampagnen der herrschenden Klasse, welche darauf abzielen, die Bedeutung der Revolten in Tunesien und Ägypten zu verwischen, werden erleichtert durch die großen demokratischen Illusionen, die tatsächlich noch auf der Arbeiterklasse in diesen Ländern lasten: Nationalismus, demokratische und vor allem gewerkschaftliche Illusionen, ähnlich wie es 1980-81 im Kampf der Arbeiterklasse in Polen der Fall war.

13. Vor 30 Jahren sah sich die IKS angesichts dieser Bewegung in Polen gezwungen, eine kritische Analyse gegenüber der Theorie des „Schwächsten Gliedes“, welche vor allem von Lenin in der Zeit der Russischen Revolution vertreten wurde, zu formulieren. Damals argumentierte die IKS auf der Basis der Positionen, die von Marx und Engels entwickelt wurden, dass der Funke zur proletarischen Revolution vor allem in den zentralen Ländern des Kapitalismus entspringen wird. Dies aufgrund der großen Konzentration der Arbeiterklasse in diesen Ländern und vor allem aufgrund ihrer historischen Erfahrung, welche sie eher in die Lage versetzt, von der herrschenden Klasse gestellte ideologische Fallen zu durchschauen. Einer der wichtigsten Schritte für die weltweite Arbeiterklasse in der Zukunft wird nicht nur die Entfaltung massiver Kämpfe in den zentralen Ländern Westeuropas sein, sondern auch die Fähigkeit, die demokratischen und gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden, indem sie den Kampf in die eigenen Hände nimmt. Diese Bewegungen werden für die weltweite Arbeiterklasse ein Orientierungspunkt sein, einschließlich für die Arbeiterklasse im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA, wo das Abgleiten in die zunehmende Armut, das schon heute Millionen von Beschäftigten betrifft, den „amerikanischen Traum“ in einen Albtraum verwandelt hat.

 

14. Die Bewegung im Herbst 2010 gegen die Rentenreform in Frankreich, in einem Land, in dem das Proletariat seit dem Mai 1968 als eine Art Bezugspunkt für viele Arbeiter in anderen europäischen Ländern gilt, hat gezeigt, dass wir noch ein weites Stück entfernt sind von einer Überwindung der gewerkschaftlichen Kontrolle und dem eigenen in die Hände Nehmen der Kämpfe. Dies wurde noch deutlicher ersichtlich während den massiven „Mobilisierungen“ der britischen Gewerkschaften gegen die Sparpläne der Cameron-Regierung im März 2011. Dennoch, die Tatsache, dass innerhalb dieser Bewegungen gegen die Rentenreform in Frankreich trotz des allgegenwärtigen Klammergriffs von Intersyndical sich in verschiedenen Städten eine Anzahl von „überberuflichen Vollversammlungen“ bildete, ist Ausdruck des Willens der Arbeiterklasse, auf die gewerkschaftliche Umklammerung zu reagieren und selbst eine direkte Kontrolle mittels für alle offenstehende Vollversammlungen zu suchen und damit die berufliche Aufsplitterung zu überwinden. Es ist ein Anzeichen, dass die Arbeiterklasse beginnt, den Weg in Richtung dieser wesentlichen Etappe einzuschlagen. Überdies sind die in der letzten Zeit ausgebrochenen Kämpfe in peripheren Ländern Zeichen für die Entwicklung einer Situation, in der in der Zukunft entscheidende Kämpfe in den zentralen Ländern sofort Signal für die weltweite Ausbreitung der Bewegung der Arbeiterklasse sein können. Die Krise erschüttert die Arbeiterklasse auf der ganzen Welt mit enormer Brutalität. Wie auch immer die Fallen der herrschenden Klasse aussehen werden, wie heftig auch immer das Zögern der Arbeiterklasse angesichts der bevorstehenden Aufgaben sein wird, das Proletariat ist gezwungen, immer massiver und bewusster zu kämpfen - und es ist die Aufgabe der Revolutionäre, sich an diesen Kämpfen in entschlossener Art und Weise zu beteiligen. Das Proletariat soll fähig werden, seine historische Aufgabe zu erfüllen: die Überwindung des Kapitalismus mit all seiner Barbarei, der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, der Weg der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in dasjenige der Freiheit.

Mai 2011

Historische Ereignisse: 

  • Kongress; Roslution; International [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

Dekadenz des Kapitalismus (VI) Die Theorie des kapitalistischen Niedergangs und der Kampf gegen den Revisionismus

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Engels und das Herannahen der historischen Krise des Kapitalismus 

Laut einer bestimmten Denkschule gewisser akademischer Marxologen, Rätisten und Anarchisten trat nach dem Tode von Marx 1883 eine Periode der Sterilität der marxistischen Theorie ein. Die sozialdemokratischen Parteien und die Zweite Internationale waren in dieser Sichtweise im Grunde vom „Engelsianismus“ beherrscht, einem Versuch der zweiten Geige von Marx und dessen Schlachtenbummlers, die Untersuchungsmethode von Marx in ein halb-mechanistisches System zu verwandeln, das die radikale Sozialkritik fälschlicherweise mit der Vorgehensweise der Naturwissenschaften gleichsetze. Auch wurde der „Engelsianismus“ angegriffen, ein Rückschritt gegenüber quasi-mystischen hegelianischen Dogmen zu sein, insbesondere im Zusammenhang mit Engels‘ Bemühungen, eine „Dialektik der Natur“ zu entwickeln. In dieser Sichtweise ist das Natürliche nicht sozial und das Soziale nicht natürlich. Die Dialektik könne, sofern sie existiert, nur auf die soziale Sphäre angewendet werden.

Dieser Bruch in der Kontinuität zwischen Marx und Engels – der in seiner extremsten Form nahezu die gesamte Zweite Internationale als ein Vehikel abtut, das die proletarische Bewegung den Bedürfnissen des Kapitals angepasst habe – wird häufig benutzt, um jeglichen Gedanken an eine Kontinuität in der politischen Geschichte der Arbeiterklasse zu verwerfen. Wir werden dazu ermuntert, nach Marx, dessen Werk freilich einige unserer Anti-Engelsianer verleugnen (was sie allerdings nicht daran hindert, gelegentlich den Experten in Detailfragen der Wert-Preis-Umwandlung oder in anderen Teilaspekten der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu mimen), Engels, Kautsky, Lenin, die Zweite und Dritte Internationale zu überspringen. Und obgleich Teilen der Kommunistischen Linken - ungeachtet dessen, dass sie Sprösslinge dieser zweifelhaften Sippschaft sind - widerwillig eingeräumt wird, dass sie zu einigen Einsichten gelangt waren, werde die wirkliche Kontinuität der Theorie Marx‘ allein von jenem losen Haufen brillanter Individuen fortgesetzt, die ihn als einzige in den letzten Jahrzehnten wirklich verstanden hätten – niemand anders also als den Befürwortern der „anti-engelsistischen“ Thesen.

Wir können hier auf diese Ideologie nicht in aller Ausführlichkeit eingehen. Wie alle Mythen stützt sie sich auf ein gewisses Körnchen Wahrheit, die allerdings verzerrt und über alle Maßen überhöht wird. Zur Zeit der Zweiten Internationale, eine Zeit, in der sich die Arbeiterbewegung als gesellschaftliche Kraft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft organisierte, gab es tatsächlich eine Neigung, den Marxismus zu schematisieren und ihn in eine Form des Determinismus zu verwandeln. Gleichzeitig sah sich die Arbeiterbewegung einem starken Druck reformistischer Ideen ausgesetzt. Selbst die besten Marxisten, einschließlich Engels selbst, waren nicht völlig gefeit dagegen. [1]Doch auch wenn Engels in jener Zeit einige gewichtige Irrtümer beging, ist es angesichts der äußerst engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Männern vom Anfang bis zum Ende ihrer Beziehungen eine Absurdität, Engels‘ Werk nach dem Tod Marx‘ rundweg als eine Negation und Perversion der wirklichen Ideen von Marx abzulehnen. Es war Engels, der die immense Arbeit auf sich nahm, das Kapital von Marx zu redigieren und zu veröffentlichen; und ironischer weise sind viele von jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels treiben wollen, überglücklich, wenn sie aus dem zweiten und dritten Band vom Kapital zitieren können, ungeachtet der Tatsache, dass diese erst durch den angeblich verständnislosen Engels der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

Einer der Hauptexponenten dieser „anti-engelsianistischen“ Denkschule ist die Gruppe Aufheben in Großbritannien, deren Serie „Die Dekadenz: Theorie des Niedergangs oder Niedergang der Theorie“[2] von einigen als letzter Sargnagel für den Begriff der kapitalistischen Dekadenz betrachtet wird, wenn man sieht, wie häufig diese Serie von jenen zitiert wird, die diesem Begriff ablehnend gegenüberstehen. Nach ihrer Auffassung ist die Dekadenz des Kapitalismus im Wesentlichen eine Erfindung der Zweiten Internationale: „Die Theorie der kapitalistischen Dekadenz tauchte zuerst in der Zweiten Internationale auf. Das Erfurter Programm etablierte, unterstützt von Engels, die Theorie des Niedergangs und Zusammenbruchs des Kapitalismus als Kernbestandteil des Parteiprogramms.“.[3]

Und sie zitieren folgenden Passagen: „So verwandelt das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht bloß für die Produzenten der Kleinbetriebe, sondern für die ganze Gesellschaft sein ursprüngliches Wesen in sein Gegenteil. Aus einer Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung wird es zu einer Ursache der gesellschaftlichen Versumpfung, des gesellschaftlichen Bankerotts.

Heute fragt sich’s nicht mehr, ob man das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufrechterhalten will oder nicht. Sein Untergang ist gewiss. Es fragt sich nur: Soll es die Gesellschaft mit sich in den Abgrund reißen, oder soll diese sich der verderblichen Bürde entledigen, um frei und neugestärkt den Weg weiterwandeln zu können, den die Gesetze der Entwicklung ihr vorschreiben?“

„Die Produktivkräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt haben, sind unvereinbar geworden mit der Eigentumsordnung, auf der dieselbe beruht. Diese Eigentumsordnung aufrechterhalten wollen, heißt jeden weiteren gesellschaftlichen Fortschritt unmöglich machen, heißt die Gesellschaft zum Stillstand, zur Verwesung verurteilen…“

„Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankerott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform anstelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.“

„Ein Beharren in der kapitalistischen Zivilisation ist unmöglich; es heißt entweder vorwärts zum Sozialismus oder rückwärts in die Barbarei.“

In der Zusammenfassung, mit welcher der nächste Artikel aus der Reihe (Aufheben, Nr. 3) beginnt, ist das Argument, dass das Konzept der Dekadenz im „Marxismus der Zweiten Internationale“ verwurzelt sei, gar noch ausdrücklicher: „In Teil 1 schauten wir uns an, inwieweit diese Idee des Niedergangs oder der Dekadenz ihre Wurzeln im Marxismus der Zweiten Internationale hat und von beiden Anklägern gegen die Kulisse der reinen Fortführer der ‚klassischen marxistischen Tradition‘ aufrechtgehalten wurde – dem trotzkistischen Leninismus und dem Links- oder Rätekommunismus.“

Obwohl die Zitate, von denen Aufheben sagt, sie stammten aus dem Erfurter Programm, offensichtlich aus Kautskys Kommentaren zum Programm stammen statt aus dem Dokument selbst, enthält die Präambel des eigentlichen Programms einen Bezug auf den Begriff des kapitalistischen Niedergangs, in dem in der Tat behauptet wird, dass diese Epoche bereits angebrochen sei: „Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.“ Fakt ist jedoch, dass trotz der Ansicht von Aufheben, wonach das Erfurter Programm sich so sehr auf die Dekadenztheorie stütze, schon ein flüchtiges Durchlesen des Programms den Eindruck erweckt, dass es so gut wie keine Verbindung zwischen der oben genannten allgemeinen Diagnose und den Forderungen gibt, die im Programm aufgestellt werden und die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erkämpft werden sollen. Und selbst die vielen detaillierten Kritiken von Engels an diesen Forderungen nehmen nahezu keinen Bezug auf den historischen Kontext, in welchem diese Forderungen gestellt werden.[4]

Dies einmal festgestellt, ist es sicherlich zutreffend, dass im Werk von Engels und anderer Marxisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend Bezugnahmen auf den Begriff eines Kapitalismus anzutreffen sind, der in eine Alterskrise, in eine Epoche des Niedergangs eingetreten ist.

Doch während dies für Aufheben eine Abkehr von Marx war – der, wie sie verfechten, den Kapitalismus lediglich als ein „Übergangssystem“ betrachtet und keinen Gedanken an einem objektiven Prozess des Niedergangs oder Zusammenbruchs als Fundament für den revolutionären Kampf gegen das System verschwendet habe -, haben wir versucht, in den vorherigen Artikeln dieser Reihe aufzuzeigen, dass die Konzeption der kapitalistischen Dekadenz (wie der Dekadenz früherer Klassengesellschaften) völlig in Einklang stand mit den Ansichten von Marx.

Außerdem verhält es sich so, dass Marx seine Schriften über die politische Ökonomie in einer Epoche verfasste, als der Kapitalismus sich noch auf seinem triumphalen Aufstieg befand. Seine periodischen Krisen waren Jugendkrisen, die dazu dienten, den unaufhaltsamen Vormarsch dieser dynamischen Produktionsweise auf dem gesamten Globus anzutreiben. Dennoch war Marx in der Lage gewesen, in diesen Zuckungen auch die Vorboten des letztendlichen Untergangs des Systems zu erkennen, und hatte bereits die ersten Anzeichen dafür erblickt, dass das Kapital seine historische Mission erfüllt hat, als es immer entferntere Gebiete erschloss, während im „alten Europa“ nach an den Ereignissen rund um die Pariser Kommune die Phase der heroischen Nationalkriege, wie er behauptete, zu einem Ende gekommen waren.

Darüber hinaus wurden in der Zeit nach dem Tod von Marx die nahenden Anzeichen einer Krise von historischen Proportionen, und nicht nur einer Wiederholung der alten zyklischen Krisen, immer deutlicher.

So sinnierte zum Beispiel Engels über die Bedeutung des offenkundigen Endes der Zehn-Jahres-Krisenzyklen und über den Beginn dessen, was er als chronische Depression bezeichnete, von der die kapitalistische Herkunftsnation, Großbritannien, bereits erfasst war. Und während sich neue mächtige kapitalistische Nationen ihren Weg zum Weltmarkt bahnten, vor allem Deutschland und die USA, sah Engels bereits, dass dies unvermeidlich in eine weitaus tiefere Überproduktionskrise münden wird: „Amerika wird Englands Industriemonopol brechen – was noch davon übriggeblieben ist – aber Amerika allein kann das Erbe dieses Monopols nicht antreten. Und wenn ein Land nicht allein das Monopol auf den Weltmärkten besitzt, zumindest in den entscheidenden Handelszweigen, können die verhältnismäßig günstigen Bedingungen, die in England von 1848 bis 1870 bestanden, nirgends reproduziert werden, und selbst in Amerika muss Lage der Arbeiterklasse nach und nach immer schlechter werden. Denn wenn drei Länder (sagen wir England, Amerika und Deutschland) unter verhältnismäßig gleichen Bedingungen um den Besitz des Weltmarkts konkurrieren, dann gibt es keinen Ausweg als chronische Überproduktion, da jedes der drei Länder imstande ist, den gesamten Bedarf zu decken.“[5] Gleichzeitig erkannte Engels die Tendenz des Kapitalismus, seinen eigenen Ruin durch die beschleunigte Eroberung des nicht-kapitalistischen Hinterlandes, das die kapitalistischen Metropolen umgab, in die Wege zu leiten: „Denn es ist eine der notwendigen Folgeerscheinungen der grande industrie, dass sie ihren eigenen inneren Markt durch denselben Prozess zerstört, durch den sie ihn schafft. Sie schafft ihn, indem sie die Basis der bäuerlichen Hausindustrie vernichtet. Aber ohne Hausindustrie kann die Bauernschaft nicht leben. Die Bauern werden als Bauern ruiniert; ihre Kaufkraft wird auf ein Minimum reduziert; und bis sie sich als Proletarier in die neuen Existenzbedingungen hineingefunden haben, geben sie für die neuentstandenen Fabriken einen sehr schlechten Markt ab.

Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der ausweglosen Lage, zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Russland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einer Sackgasse. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen unmöglich sein, ihr Dasein zu fristen. Die Folge wird eine Massenauswanderung sein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhassten Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage des chinesischen Lebensstandards, des niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird – und wenn die Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann  notwendig werden. Die kapitalistische Produktion erzeugt ihren eigenen Untergang, und Sie können sicher sein, sie wird das auch in Russland tun…“[6]

Die Zunahme des Militarismus und Imperialismus, die vor allem darauf abzielten, die Eroberung der nicht-kapitalistischen Gebiete des Planeten zu vervollständigen, versetzte ihn auch in die Lage, mit bemerkenswerter Klarheit die Gefahren dieser Entwicklungen zu sehen, die auf das Zentrum des Systems – auf Europa – zurückzufallen und die Zivilisation in die Barbarei zu stürzen drohen, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Reifungsprozesses der Revolution.

„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie erahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“[7]

Als dies jedoch eintrat, meinte Engels nicht, dass solch ein Krieg unvermeidlich den Sozialismus bringen werde: Er hatte die wohlbegründete Sorge, dass der allgemeine Erschöpfungszustand auch das Proletariat betreffen und es unfähig machen könnte, seine Revolution zu vollziehen (somit, würden wir hinzufügen, eine gewisse Attraktion für etwas utopische Entwürfe, die den Krieg hinauszögern oder auf Eis legen wollen, wie die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Volksmiliz). Doch Engels hatte Anlass zu hoffen, dass die Revolution vor einem paneuropäischen Krieg ausbricht. Ein Brief an Bebel (24.-26. Oktober 1891) verleiht dieser „optimistischen“ Sichtweise Ausdruck: „Die Berichte lassen Dich sagen, ich hätte den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft auf 1898 geweissagt. Da ist ein kleiner Irrtum irgendwo. Ich habe nur gesagt, bis 98 könnten wir möglicherweise ans Ruder kommen. Die alte bürgerliche Gesellschaft könnte, falls dies nicht geschähe, noch einige Zeit fortvegetieren, solange nicht ein äußerer Anstoß den morschen Kasten zusammenkrachen lässt. So eine faule Kiste kann ein paar Jahrzehnte vorhalten nach ihrem wesentlichen inneren Tod, wenn die Luft ruhig bleibt.“

In dieser Passage findet man sowohl die Illusionen der damaligen Bewegung als auch ihre grundlegende theoretische Stärke. Die dauerhaften Errungenschaften der sozialdemokratischen Partei vor allem an der Wahlfront und in Deutschland führten zu der übertriebenen Hoffnung, dass es eine Art von unaufhaltsamem Prozess zur Revolution geben könnte (und sogar die Revolution selbst in halb-parlamentarischen Begriffen betrachtet werden könnte, trotz der so häufig wiederholten Warnungen vor dem parlamentarischen Kretinismus, der ein zentraler Gesichtspunkt der schnell aufkeimenden Ideologie des Reformismus war). Gleichzeitig waren die Konsequenzen eines Scheiterns des Proletariats bei der Machtergreifung klar: ein Kapitalismus, der einige Jahrzehnte als „faule Kiste“ überlebt – wenngleich Engels, wie die meisten damaligen Revolutionäre, wahrscheinlich nicht angenommen hätte, dass dieser Kapitalismus mehr als ein Jahrhundert in seiner Niedergangskrise ausharren kann. Doch die theoretische Untermauerung, um solch einen Zustand zu antizipieren, kommt in diesen Zeilen deutlich zum Ausdruck.

Luxemburg führt den Kampf gegen den Revisionismus an

Und dennoch ist diese Phase, eben weil die große imperialistische Expansion in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts es dem Kapitalismus ermöglicht hatte, exorbitante Wachstumsraten zu erzielen, in der Erinnerung vor allem eine Zeit beispiellosen Wohlstands und Fortschritts, eines sich stetig verbessernden Lebensstandards für die Arbeiterklasse nicht nur dank der günstigen objektiven Bedingungen, sondern auch aufgrund des wachsenden Einflusses der in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien organisierten Arbeiterbewegung. Dies war besonders in Deutschland der Fall, und hier war die Arbeiterbewegung auch mit der Hauptherausforderung konfrontiert: dem Aufstieg des Revisionismus.

Mit den Schriften Eduard Bernsteins Ende der 1890er Jahre vorneweg, stritten die Revisionisten dafür, dass die Sozialdemokratie anerkennen sollte, dass die Entwicklung des Kapitalismus einige fundamentale Elemente in der Analyse von Marx außer Kraft gesetzt habe – vor allem die Voraussage ständig wachsender Krisen und folgerichtig der Verarmung des Proletariats. Der Kapitalismus habe gezeigt, dass er mittels der Mechanismen des Kredits und der Bildung riesiger Trusts und Kartelle und durch den Anstoß einer gut organisierten Arbeiterbewegung seine Tendenzen zu Anarchie und Krise überwinden und der Arbeiterklasse wachsende Zugeständnisse machen könne. Das „Maximalziel“ der Revolution, das im Programm der sozialdemokratischen Partei wie in einem Schrein eingeschlossen war, sei daher überflüssig geworden; und die Partei sollte sich selbst als das anerkennen, was sie in Wahrheit sei: eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei“, die eine allmähliche und friedliche Umwandlung des Kapitalismus zum Sozialismus anstrebe.

Eine Reihe von Leuten aus dem linken Flügel der Sozialdemokratie antwortete auf diese Argumente. In Russland polemisierte Lenin gegen die Ökonomisten, die die Arbeiterbewegung auf den „Brot-und-Butter“-Kampf reduzieren wollten; in Holland führten Gorter und Pannekoek die Polemik gegen den wachsenden Einfluss des Reformismus in den Gewerkschaften und in der parlamentarischen Arena an. In den USA schieb Louis Boudin ein wichtiges Buch, The Theoretical System of Karl Marx (1907) als Antwort auf die revisionistischen Argumente – wir werden später darauf zurückkommen. Doch es war vor allem Rosa Luxemburg in Deutschland, die mit dem Kampf gegen den Revisionismus assoziiert wird und die im Kern den marxistischen Begriff des Niedergangs und katastrophalen Zusammenbruchs des Kapitalismus bekräftigte.

Beim Studium der Polemik Rosa Luxemburgs gegen Bernstein, Sozialreform oder Revolution (1900), fällt auf, wie oft die vom Letztgenannten vorgebrachten Argumente jedes Mal, wenn sich der Kapitalismus den Anschein gab, die Krise – wenn auch nur oberflächlich – überwunden zu haben, wiedergekäut wurden: „Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer mehr Anpassungsfähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr differenziert. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus äußert sich nach Bernstein erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des Nachrichtendienstes, zweitens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigen Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großer Schichten des Proletariats in den Mittelstand, drittens endlich in der ökonomischen und politischen Hebung der Lage des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes.“[8]

Wie oft ist uns nicht nur von den offiziellen Ideologen der Bourgeoisie, sondern auch von jenen, die eine weitaus radikalere Ideologie parat zu haben meinen, erzählt worden, dass Krisen eine Sache der Vergangenheit seien, weil der Kapitalismus heute auf nationaler oder gar internationaler Ebene vernetzt sei, weil er unbegrenzten Zugriff zum Kredit und zu anderen finanziellen Manipulationen habe. Wie oft ist uns erzählt worden, dass die Arbeiterklasse aufgehört habe, eine revolutionäre Kraft zu sein, weil sie nicht mehr mit der absoluten Verelendung konfrontiert sei, die Engels in seinem Buch über die Bedingungen der Arbeiterklasse in Manchester 1844 geschildert hatte, oder weil sie immer weniger unterscheidbar gegenüber den Mittelschichten sei. So hörten sich die lautstarken soziologischen Refrains der 1950er und 1960er Jahre an vom Schlage eines Herbert Marcuse und Cornelius Castoriadis. Und sie waren erneut zu vernehmen in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit dem kreditfinanzierten Boom, der sich erst kürzlich als Mogelpackung entlarvt hatte.

Entgegen dieser Argumente bestand Luxemburg darauf, dass die „Organisation“ des Kapitals durch Kartelle und Kredite, weit entfernt davon, die Krisen zu überwinden, eine Antwort auf die Widersprüche des Systems war und dazu neigte, diese Widersprüche auf eine höhere und verheerendere Stufe zu heben.

Der Kredit wurde von Luxemburg im Kern als ein Mittel zur Erleichterung der Ausweitung des Marktes verstanden, während das Kapital sich in immer weniger Händen konzentrierte. Zu diesem historischen Zeitpunkt war dies sicherlich der Fall – es gab eine reale Möglichkeit für den Kapitalismus, außerhalb seiner Sphäre zu expandieren, und der Kredit beschleunigte größtenteils diese Expansion. Doch Luxemburg begriff gleichzeitig auch die zerstörerische Seite des Kredits, da diese Expansion des Marktes auch die Grundlage für den zukünftigen Konflikt mit den Massen von in Bewegung gesetzten Produktivkräften legte: „So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonders mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und dies ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist – ganz allgemein ausgedrückt – doch nichts anderes, als den Rest von Stabilität aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Potenzen in höchsten Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit die Krisen, die nichts anderes als der periodische Anprall der einander widerstrebenden Potenzen der kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf der Hand.“[9]

Damals war der Kredit noch nicht das, was er heute zum größten Teil geworden ist – nicht so sehr ein Mittel zur Beschleunigung der Expansion in einen realen Markt, sondern ein künstlicher Markt an sich, von dem der Kapitalismus in zunehmendem Maße abhängig geworden ist. Doch die Funktion des Kredits als eine Medizin, die die Krankheit noch verschlimmert, ist dabei in dieser Epoche und vor allem seit dem Ausbruch des so genannten „credit crunch“ von 2008 noch evidenter geworden.

Auch in der Tendenz der Kapitalisten, sich selbst auf nationaler und gar internationaler Ebene zu organisieren, erkannte Luxemburg nicht eine Lösung der Antagonismen des Systems, sondern eine wirksame Kraft, diese Antagonismen noch schroffer und zerstörerischer zu gestalten: „… (Kartelle) verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so den Antagonismus zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten aufs höchste steigern. Dazu kommt die direkte revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion, technische Vervollkommnung etc. So erscheinen die Kartelle in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als  kein ‚Anpassungsmittel‘, das ihre Widersprüche verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Unterganges geschaffen hat.“[10]

Diese Vorhersagen sollten sich – vor allem als die Organisation des Kapitals von der Ebene der Kartelle zu den nationalen „staatskapitalistischen Trusts“ wechselte, die sich 1914 gegenseitig die Kontrolle über den Weltmarkt streitig machten – angesichts der gesamten Geschichte des 20. Jahrhunderts zutiefst bewahrheiten.

Luxemburg antwortete ebenfalls auf Bernsteins Argument, dass das Proletariat keine Revolution zu machen braucht, weil es einen immer höheren Lebensstandard infolge seiner effektiven Organisierung in Gewerkschaften und durch die Aktivitäten seiner Repräsentanten im Parlament genieße. Sie warnte, dass die gewerkschaftlichen Aktivitäten enge Grenzen haben; sie beschreibt diese Aktivitäten als „Sisyphusarbeit“, notwendig, aber ständig frustriert in ihren Bemühungen, den Anteil des Arbeiters an dem Produkt seiner Arbeit zu erhöhen, dies wegen der unvermeidlichen Steigerung der Ausbeutungsrate, die von der Entwicklung der Produktivität bewirkt wird. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus sollte die historischen Grenzen der Gewerkschaften gar noch deutlicher aufzeigen. Selbst wenn die Aktivitäten in den Gewerkschaften (wie auch parallel auf dem Tätigkeitsfeld des Parlaments und der Kooperativen) noch ihre Gültigkeit für die Arbeiterklasse hatten, so waren die Revisionisten jedoch bereits dabei, die Realität zu verfälschen, indem sie argumentierten, dass solche Tätigkeiten der Arbeiterklasse ständige und unbegrenzte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen sichern könnten.

Und während Bernstein eine Tendenz zur Abmilderung der Klassenverhältnisse durch die starke Zunahme kleiner Unternehmen und somit zum Wachstum der Mittelschichten erblickte, bekräftigte Luxemburg die Existenz jener Tendenz, die allerdings erst im folgenden Jahrhundert vorherrschend wurde: die Entwicklung des Kapitalismus zu immer gigantischeren Formen der Konzentration und Zentralisierung sowohl auf der Ebene der „Privat“-Unternehmen als auch auf der Ebene des Staates und der imperialistischen Bündnisse. Andere Linksrevolutionäre wie Boudin antworteten auf die Behauptung, dass das Proletariat selbst zur Mittelschichte werde, mit dem Argument, dass viele Angestellte und technische Berufe, die angeblich die Arbeiterklasse schlucken werden, in Wahrheit selbst ein Produkt des Proletarisierungsprozesses sind – auch diese Tendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher abgezeichnet. Boudins Worte aus dem Jahr 1907 klingen vertraut, wie auch die fadenscheinigen Argumente, die gegen sie gerichtet werden: „Ein großer Teil dessen, was als neue Mittelklasse bezeichnet wird und als solche in den Einkommensstatistiken erscheint, ist in Wirklichkeit Teil des regulären Proletariats. Die neue Mittelklasse ist, wie immer sie aussehen mag, ein gehöriges Stück kleiner, als man aus den Einkommenstabellen entnehmen könnte. Diese Konfusion ist einerseits dem alten und fest verwurzelten Vorurteil geschuldet, dem zufolge Marx angeblich allein der Handarbeit Wert schaffende Eigenschaften zuschrieb, und andererseits auf die Trennung der Aufsicht vom Eigentumsbesitz zurückzuführen – praktiziert in den Aktiengesellschaften, wie oben angeführt. Aufgrund dieser Umstände werden große Teile des Proletariats als Angehörige der Mittelklasse, d.h. der niederen Schichten der kapitalistischen Klasse, gezählt. Dies ist bei nahezu all jenen zahllosen und an Zahl zunehmenden Berufen der Fall, in denen das Arbeitsentgelt als ‚Gehalt‘ statt als ‚Lohn‘ bezeichnet wird. All diese Gehaltsempfänger, die möglicherweise das Gros, aber mit Sicherheit einen großen Anteil an der ‚neuen‘ Mittelklasse stellen, sind, gleich, wie hoch ihr Gehalt ist, in Wirklichkeit genauso Teil des Proletariats wie die untersten Tagelöhner.“[11](eigene Übersetzung)

Kurs auf das Debakel der bürgerlichen Zivilisation

Die heutige offene Wirtschaftskrise findet in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Fäulnis des Kapitalismus statt. Luxemburg antwortete auf Bernstein in einer Zeit, die sie, auch hier mit bemerkenswerter Klarheit, als eine Periode charakterisierte, die noch nicht die Niedergangsepoche war, aber eine, in der das Nahen dieser Epoche immer offensichtlicher wurde. Diese Passage taucht in Luxemburgs Entgegnung auf Bernsteins empirische (und empirizistische) Frage auf: Warum haben wir seit den frühen 1870er Jahren keinerlei Manifestationen des alten Zehn-Jahres-Krisenzyklus mehr erlebt? Luxemburgs Antwort bestand darin, darauf zu bestehen, dass dieser Zyklus das Produkt der Jugendphase des Kapitalismus war; der Weltmarkt befand sich damals in einer „Übergangsperiode“ zwischen der Periode seines maximalen Wachstums und dem Anbruch der Niedergangsepoche: „Der Weltmarkt ist immer noch in der Ausbildung begriffen. Deutschland und Österreich traten erst in den 70er Jahren in die Phase der eigentlichen großindustriellen Produktion, Russland erst in den 80er Jahren, Frankreich ist bis jetzt noch zum großen Teil kleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum beträchtlichen Teil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erst in den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einen regen und regelmäßigen Warenverkehr mit Europa getreten. Wenn wir deshalb einerseits die plötzlichen sprungweisen Erschließungen neuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu den 70er Jahren periodisch auftraten und die bisherigen Krisen, sozusagen die Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarkts vorgeschritten, der einen fatalen periodischen Anprall der Produktivkräfte an die Marktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen, erzeugen würde. Wir befinden uns in einer Phase, wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und noch nicht seinen Untergang begleiten.“[12]

Interessanterweise ließ Luxemburg in der zweiten Ausgabe, die 1908 veröffentlicht wurde, diese Passage und das folgende Kapitel aus und erwähnte stattdessen die Krise von 1907-08, die sich gerade auf die mächtigsten Industrienationen konzentrierte: Für Luxemburg neigte sich die „Übergangsperiode“ offenbar ihrem Ende zu.

Ferner ließ sie anklingen, dass die frühere Erwartung, wonach die neue Epoche von einer „großen kommerziellen Krise“ eingeleitet werde, sich als falsch erweisen könnte – bereits in Sozialreform oder Revolution wies sie auf das Wachstum des Militarismus hin, eine Entwicklung, die sie immer mehr beschäftigen sollte. Hinter folgender Beobachtung lag sicherlich das Kalkül, dass die neue Epoche möglicherweise von einem Krieg statt von einer offenen Wirtschaftskrise eingeleitet werden könnte: „Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, der Ausgangspunkt der sozialistischen Umwälzung würde eine allgemeine und vernichtende Krise sein, so muss man unseres Erachtens dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Gedanken und dessen äußere Form. Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche, den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach unmöglich wird. Dass man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und erschütternden Handelskrise dachte, hatte unseres Erachtens seine guten Gründe, bleibt aber nichtsdestoweniger für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich.“[13]

Doch welche Form diese „Senilitätskrise“ auch immer annehmen sollte, Luxemburg bestand darauf, dass ohne diese Vision des katastrophalen Niedergangs des Kapitalismus der Sozialismus zu einer bloßen Theorie wird: „Vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus äußert sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die ihn auch in eine ausweglose Sackgasse drängt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein.“

„Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder – Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel‘ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie  richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel‘ wirklich solche, die einen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht das Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: Entweder hat Bernstein in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muss aber die Theorie der ‚Anpassungsmittel‘ nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die Frage.“[14]

In diesem Passus schildert Luxemburg mit völliger Klarheit die innige Beziehung zwischen der revisionistischen Anschauung und der Ablehnung der Marxschen Theorie des kapitalistischen Niedergangs – und umgekehrt die Notwendigkeit einer solchen Theorie als Grundstein einer zusammenhängenden Revolutionskonzeption.

Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir uns anschauen, wie Luxemburg und andere danach strebten, die Ursprünge der nahenden Krise im grundlegenden Prozess der kapitalistischen Akkumulation zu lokalisieren.

Gerrard, 2009

[1] Siehe zum Beispiel den Artikel „1895 – 1905: Parlamentarische Illusionen verhüllen die Perspektive der Revolution“ (Internationale Revue, Nr. 88, engl., franz., span. Ausgabe), oder das Schlusskapitel unseres Buches Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit.

[2] Aufheben Nr. 2/3: https://libcom.org/aufheben [3]

[3] Aufheben Nr. 2

[4] https://www.marxists.org/archive/marx/works/1891/06/29.htm [4].

[5] Engels an Florence Kelley-Wischnewetzky, 3. Februar 1886, MEW Bd. 36

[6] Brief an Nikolai Danielson, 22. September 1892, MEW Bd. 38

[7] Engels, Einleitung (zu Sigismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten, 15. Dezember 1887, MEW Bd. 21

[8] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 1, „Die Bernsteinsche Methode“.

[9] ebenda. Kapitel 2, „Anpassung des Kapitalismus“

[10] ebenda

[11] Das theoretische System von Karl Marx, 1907

[12] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 2

[13] ebenda, Kapitel 1

[14] ebenda

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [5]

Die ungarische Revolution 1919: Das Beispiel Russlands 1917 inspirierte die ungarische Arbeiterklasse, Teil 1

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Die ungarische Revolution 1919

Der revolutionäre Ansturm des ungarischen Proletariats wurde sehr stark durch eine internationale Triebkraft bestimmt. Er war das Ergebnis zweier Faktoren: die durch den Krieg unhaltbar gewordene Lage und die inspirierende Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution 1917.

Die ungarische Revolution 1919

Der revolutionäre Ansturm des ungarischen Proletariats wurde sehr stark durch eine internationale Triebkraft bestimmt. Er war das Ergebnis zweier Faktoren: die durch den Krieg unhaltbar gewordene Lage und die inspirierende Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution 1917.

Wie in der Einleitung zu dieser Serie gesagt, brachte der Erste Weltkrieg eine wahre Explosion der Barbarei mit sich. Aber noch gewaltiger war der „Frieden“, der seitens der kapitalistischen Großmächte in aller Eile geschlossen wurde, nachdem im November 1918 in Deutschland die Revolution ausbrach.[1] Denn der Frieden brachte auch nicht die geringste Erleichterung für das Leiden der Massen mit sich und auch keine Minderung des Chaos und des sich auflösenden gesellschaftlichen Lebens infolge der Kriegswirren.  Der Winter 1918 und der Frühling 1919 wirkten wie ein Schreckgespenst: Hunger, Lähmung des Transportwesens, gewaltige Konflikte unter Politikern, Besetzung von Ländern durch Siegermächte, Krieg gegen Sowjetrussland, ein gewaltiges Chaos auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, Ausbruch und Verbreitung einer Epidemie, die „Spanische Grippe“ genannt wurde, die fast ebenso viele Tote hinterließ wie der Krieg selbst. In den Augen der europäischen Bevölkerung war der „Frieden“ noch schlimmer als der Krieg.

Der Wirtschaftsapparat war bis aufs Äußerste ausgeblutet worden, so dass das ungewöhnliche Phänomen der Unterproduktion zu beobachten war, wie Bela Szantò[2] im Falle Ungarns feststellte: „Infolge der Kriegsanstrengungen der Kriegswirtschaft, die durch die Jagd nach Extraprofiten verursacht wurde, waren die Produktionsmittel vollständig verschlissen, Maschinen ruiniert worden. Deren Erneuerung hätte gewaltige Investitionen erfordert, während sie gleichzeitig nie hätten amortisiert werden können. Es gab keine Rohstoffe mehr. Die Fabriken standen still. Infolge der Demobilisierung und infolge der Schließung von Fabriken war eine riesige Massenarbeitslosigkeit entstanden“[3].

Am 19.7.1919 schrieb die Londoner Times: „Der Geist des Chaos regiert überall auf der Welt, von Amerika im Westen bis China im Osten, vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee; keine Gesellschaft, keine Zivilisation, so stark sie auch noch sein mögen, keine Verfassung, so demokratisch sie auch sein mag, kann sich diesem bösartigen Einfluss entziehen. Überall Anzeichen eines Zusammenbruchs der grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen, die durch diese fortgesetzten Spannungen hervorgerufen werden“[4]). Auf diesem Hintergrund löste das russische Beispiel eine Welle des Enthusiasmus und der Hoffnung für die Weltarbeiterklasse aus. Die Arbeiter hatten dem tödlichen Virus eines immer tiefer im Chaos versinkenden Kapitalismus etwas entgegen zu halten: den weltweiten revolutionären Kampf, der dank des Beispiels vom  Oktober 1917 richtungsweisend wirkte.

Die demokratische Republik des Oktober 1918

Ungarn, das immer noch dem Österreichisch-Ungarischen Reich angehörte und zu den besiegten Mächten im Krieg zählte, litt sehr  unter diesen Folgen. Gleichzeitig sollte das ungarische Proletariat, das äußerst stark in Budapest zusammengeballt war, wo ein Siebtel der Bevölkerung lebte und fast 80% der Industrie konzentriert war, eine gewaltige Kampfbereitschaft an den Tag legen.

Den Aufständen von 1915, die durch die dreiste Hilfe der Sozialdemokratischen Partei niedergeschlagen worden waren, folgte eine Phase der Apathie mit zaghaften Regungen in den Jahren 1916 und 1917. Aber im Januar 1918 schlug die soziale Unruhe um in das, was wahrscheinlich der erste internationale Massenstreik der Geschichte war, welcher zahlreiche Länder Mitteleuropas erfasste und in dessen Zentrum Budapest und Wien standen. Am 14. Januar brach die Bewegung los, am 16. Januar erreichte sie Niederösterreich und die Steiermark, am 17. Januar Wien, und am 23. Januar die großen Rüstungsbetriebe in Berlin. Die Bewegung hatte auch einen großen Widerhall in Slowenien, der Tschechoslowakei, Polen und Kroatien[5]. Der Kampf polarisierte sich um drei Ziele: Kampf gegen den Krieg, gegen die Nahrungsmittelknappheit und Solidarität mit der russischen Revolution. Zwei Schlachtrufe waren in verschiedenen Sprachen immer wieder zu hören: „Nieder mit dem Krieg“ und „Es lebe das russische Proletariat“.

In Budapest brach der Streik in zahlreichen Fabriken außerhalb der Kontrolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften aus, jeweils angespornt durch das Beispiel Russlands. Resolutionen zugunsten der Arbeiterräte waren verabschiedet worden… ohne dass sie jedoch selbst ins Leben gerufen wurden. Die Bewegung gab sich keine Organisationsform, was die Gewerkschaften wiederum ausnutzten, um an die Spitze der Bewegung zu treten und Forderungen aufzwingen, die nichts mit den Sorgen und Nöten der Massen zu tun hatten, insbesondere die Forderung nach allgemeinen Wahlen. Die Regierung wollte den Streik mit Hilfe von Soldaten niederschlagen lassen, die Kanonen und Maschinengewehre zum Einsatz bringen sollten. Der geringe Erfolg der Machtdemonstrationen und die wachsenden Zweifel der Soldaten, die weder an der Front kämpfen noch die Arbeiter unterdrücken wollten, schreckte die Regierung ab, welche dann innerhalb von 24 Stunden ihre Haltung änderte und den Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht ‚nachgab‘, welche niemand erhoben hatte - außer eben Gewerkschaften und Sozialdemokratie.

Ermuntert durch diesen Erfolg drangen diese in die Betriebe ein, um sich den Streiks entgegenzustellen. Sie wurden sehr kühl empfangen. Nichtsdestotrotz führten die Erschöpfung, die mangelnden Nachrichten aus Österreich und Deutschland und die schrittweise Wiederaufnahme der Arbeit durch die schwächsten Teile der Klasse dazu, die Moral der Beschäftigten der großen Metallbetriebe zu untergraben, die schließlich dann auch wieder die Arbeit aufnahmen.

Gestärkt durch diesen Sieg, begannen die Sozialdemokraten “eine Repressionskampagne gegen all die Kräfte, die sich für die Wiederbelebung des revolutionären Klassenkampfes unter den Massen einsetzten. In Népszava, der größten Zeitung der Partei, wurden verleumderische Artikel veröffentlicht, die viel Nahrung lieferten für politische Verfolgungen durch die reaktionäre Wkerle-Vaszonyi-Regierung“[6].

Ungeachtet der Repression nahmen die Unruhen weiter zu. Im Mai meuterten die Soldaten des Ojvideck-Regimentes gegen ihre Entsendung an die Front. Sie besetzten die Telefonzentrale und den Bahnhof. Die Arbeiter aus der Stadt eilten ihnen zu Hilfe. Die Regierung entsandte Sondertruppen, die drei Tage die Stadt bombardieren mussten, um wieder die Kontrolle herzustellen. Die Repression war gnadenlos: jeder zehnte Soldat – gleich ob er sich aktiv an dem Aufstand beteiligt hatte oder nicht, wurde erschossen; Tausende Menschen ins Gefängnis gesteckt.

Im Juni schoss die Polizei auf die streikenden Arbeiter einer Metallfabrik in der Hauptstadt, mehrere Arbeiter wurden getötet und verletzt. Die Arbeiter zogen schnell zu den benachbarten Betrieben, in denen sofort die Produktion eingestellt wurde und versammelten sich auf der Straße. Innerhalb von wenigen Stunden war ganz Budapest lahm gelegt. Am nachfolgenden Tag dehnte sich die Bewegung auf das ganze Land aus. Improvisierte Vollversammlungen, inmitten einer revolutionären Atmosphäre, stimmten über die zu treffenden Maßnahmen ab. Die Regierung verhaftete Delegierte, schickte wichtige Arbeiter an die Front, die Straßenbahnen wurden unter Begleitung von mit Bajonetten bewaffneten Soldaten wieder in Betrieb genommen. Nach acht Tagen Kämpfen endeten diese in einer Niederlage.

In der Arbeiterklasse kam es jedoch zu einer Bewusstseinsentwicklung: „Unter immer mehr Arbeitern breitete sich die Überzeugung aus, dass die Politik der Sozialdemokratischen Partei und das Verhalten der Führer der Partei nicht angebracht waren, um eine revolutionäre Orientierung zu verfolgen (…). Die revolutionären Kräfte hatten angefangen, sich zusammen zu schließen; die Beschäftigten der großen Fabriken nahmen direkt Kontakt zueinander auf. Fast ständig wurden geheime Treffen und Versammlungen  abgehalten; die Konturen einer unabhängigen proletarischen Politik fingen an sich abzuzeichnen“[7]. Diese Zirkel wurden langsam als die Revolutionäre Gruppe bekannt.

Trotz der Repression nahmen die Meutereien der Soldaten immer mehr zu. Täglich kam es zu neuen Streiks. Die Regierung, die unfähig war, einen verlorenen Krieg weiterzuführen, und die konfrontiert war mit einer immer stärker zerfallenden Armee, einer gelähmten Wirtschaft und einem totalen Versorgungsmangel, brach zusammen. Um solch ein gefährliches Machtvakuum zu verhindern, beschloss die Sozialdemokratische Partei, die damit wiederum unter Beweis stellte, für wessen Interessen sie eintrat, die bürgerlich demokratischen Parteien in einem Nationalrat zusammenzubringen.

Am 28. Oktober war der Soldatenrat gegründet worden, der sich mit der revolutionären Gruppe abstimmte; beide riefen zu einer großen Demonstration in Budapest auf, die sich zur historischen Burgstadt begeben sollte, um dem königlichen Gesandten einen Brief zu übergeben. Vor dieser hatte eine riesige Zahl Soldaten und Polizei Stellung bezogen. Die Soldaten ließen die Menge durch, aber die Polizei eröffnete das Feuer auf sie und tötete dabei viele Demonstranten. „Die Wut über die Polizei war riesengroß. Am nächsten Tag stürmten Arbeiter die Waffenschmieden und bewaffneten sich“ [8].

Die Regierung versuchte, die Armeeeinheiten aus Budapest zu verbannen, die an der Spitze der Arbeiterräte gestanden hatten, was wiederum einen Aufruhr hervorrief. Tausende Arbeiter und Soldaten versammelten sich in der Rakóczi Straße, die Hauptarterie der Stadt, um deren Abtransport zu verhindern. Eine Kompanie Soldaten, die den Befehl zur Abreise hatte, weigerte sich und verbrüderte sich mit der Menge vor dem Astoria Hotel. Gegen Mitternacht wurden die beiden Telefonzentralen besetzt.

Am Morgen und während des darauf folgenden Tages wurden öffentliche Gebäude, Kasernen, der Hauptbahnhof, Lebensmittelgeschäfte von Soldaten und bewaffneten Arbeitern besetzt. Massendemonstrationen zogen zu den Gefängnissen und befreiten die politischen Gefangenen. Die Gewerkschaften, die im Namen der Massen zu sprechen vorgaben, forderten, die Macht dem Nationalrat zu übergeben. Am Vormittag des 31. Oktober  übergab Herzog Haik – der Regierungschef – die Macht einem anderen Herzog, Károlyi, Chef der Partei der Unabhängigkeit und Präsident des Nationalrates.

Ohne einen Finger gerührt zu haben, fiel ihm die gesamte Macht in die Hände. Aber wegen der Bedrohung durch die noch unorganisierten und wenig bewussten, arbeitenden Massen konnte er die Macht nicht fest in seinen Händen halten, Deshalb verwarf die Regierung jeglichen revolutionären Anspruch und suchte ihre Legitimität durch die ungarische Monarchie, die ein Teil des niedergehenden Österreichisch-Ungarischen Reiches war. Während der König abwesend war, begaben sich Mitglieder des Nationalrates, mit den Sozialdemokraten an ihrer Spitze, auf die Suche nach dem Repräsentanten des Kaisers, Erzherzog Josef, der die neue Regierung ernannte.

Diese Nachricht empörte viele Arbeiter. Eine Kundgebung wurde auf dem Tisza Calman-Tér abgehalten. Trotz strömenden Regens versammelte sich eine große Menge und beschloss zum Sitz der Sozialdemokratischen Partei zu ziehen, um die Ausrufung der Republik zu verlangen.

Im 19. Jahrhundert war die Ausrufung der Republik eine Forderung der Arbeiterbewegung, die diese Regierungsform als offener und günstiger für ihre Interessen als die konstitutionelle Monarchie ansah. Aber in Anbetracht der neuen Situation, in der die Wahl einzig zwischen bürgerlicher oder proletarischer Macht bestand, stellte die Republik die letzte Schutzmauer des Kapitals dar. Die Republik wurde mit Unterstützung der Monarchie geboren und die hohen Kirchenführer, an deren Spitze der Erzbischof von Ungarn stand, wurden von dem ganzen Nationalrat aufgesucht. Der Sozialdemokrat Kunfi hielt die folgende berühmte Rede: „Ich als überzeugter Sozialdemokrat habe die außerordentliche Verantwortung übernommen zu sagen, dass wir nicht handeln, indem wir uns leiten lassen von Klassenhass oder Klassenkampf. Und wir rufen jeden dazu auf, die Klasseninteressen und eigenen Interessen beiseite zu schieben und uns bei der Bewältigung der vor uns stehenden Aufgaben zu helfen.“[9] Die ganze ungarische Bourgeoisie schloss sich hinter ihrem neuen Retter, dem Nationalrat, zusammen, deren treibende Kraft die Sozialdemokratische Partei war. Am 16. November wurde die neue Republik feierlich ausgerufen.

Die Gründung der Kommunistischen Partei

Die Arbeiterklasse kann ihren revolutionären Ansturm nicht erfolgreich abschließen, wenn sie in ihren Reihen nicht das lebensnotwendige Werkzeug der Kommunistischen Partei schafft. Aber es reicht nicht, dass diese einige internationalistische programmatische Positionen bezieht,  denn die Positionen müssen auch in konkreten Vorschlägen an das Proletariat umgesetzt werden. Die Partei muss sich durch die Fähigkeit auszeichnen, mit großem Weitblick die Ereignisse und die notwendigen Orientierungen sorgfältig zu analysieren. Daher ist es wichtig, dass die Partei international aufgebaut ist und keine einfache Summe von nationalen Parteien ist, somit kann sie besser das erdrückende Gewicht und die irreführenden Folgen einer  momentbezogenen und lokalen Sichtweise und die Fixierung auf nationale Besonderheiten bekämpfen, aber auch besser Solidarität, gemeinsame Debatten, eine globale Sicht und Perspektiven vorschlagen.

Das Drama der revolutionären Anstürme in Deutschland und Ungarn war die Abwesenheit einer Internationale. Sie wurde ziemlich spät gegründet, im März 1919, als der Aufstand in Berlin schon niedergeschlagen und der revolutionäre Ansturm in Ungarn gerade begonnen hatte[10].

Die ungarische Kommunistische Partei kämpfte besonders mit dieser Schwierigkeit. Wir erwähnten schon, dass einer ihrer Gründer die Revolutionäre Gruppe war, die von Delegierten und anderen aktiven Arbeitern der Budapester Großfabriken gebildet worden war[11]. Dieser schlossen sich GenossInnen an, die im November 1918 aus Russland gekommen waren, und die die von Béla Kun angeführte kommunistische Gruppe gegründet hatten, sowie die Revolutionäre Sozialistische Union mit anarchistischer Tendenz und die Mitglieder der sozialistischen Opposition, einem Kern, der innerhalb der ungarischen Sozialdemokratischen Partei nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegründet worden war.

Vor der Ankunft Béla Kuns und seiner GenossInnen hatten die Mitglieder der Revolutionären Gruppe die Möglichkeit erörtert, eine Kommunistische Partei zu gründen. Die Debatte über diese Frage führte zu einer Blockade, da es zwei Tendenzen gab, welchen keine Einigung gelang: einerseits die Anhänger der Bildung einer internationalistischen Fraktion innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, und andererseits diejenigen, die die Gründung einer neuen Partei als dringlich erachteten. Schließlich wurde beschlossen, eine Union mit dem Namen Ervin Szabó zu bilden[12], welche die Diskussion fortsetzen wollte. Mit dem Eintreffen der Militanten aus Russland änderte sich die Lage schlagartig. Das Prestige der Russischen Revolution und die Überzeugungskünste Béla Kuns ließen das Pendel zugunsten der unmittelbaren Bildung der Kommunistischen Partei ausschlagen. Am 24. November wurde diese schließlich gegründet. Das programmatische Dokumente der Partei enthielt viele wertvolle Punkte[13]: „Während die Sozialdemokratische Partei versuchte, die Arbeiterklasse zugunsten des Wiederaufbaus des Kapitalismus wirken zu lassen, besteht die Aufgabe der neuen Partei darin, den Arbeitern aufzuzeigen, dass dem Kapitalismus schon ein tödlicher Schlag versetzt wurde, und dieser eine Entwicklungsstufe erreicht hat, in welcher er sowohl moralisch als auch wirtschaftlich in den  Ruin getrieben wird“; „Massenstreik und bewaffneter Aufstand: dies sind die von den Kommunisten befürworteten Mittel der Machtergreifung. Sie arbeiten nicht auf die Gründung einer bürgerlichen Republik hin (…) sondern auf die Diktatur des Proletariats mittels der Arbeiterräte.“ Die Partei wollte, „die bewusste Entwicklung des ungarischen Proletariats unterstützen, es aus seinen alten Bindungen, die es an die unehrliche, ignorante und korrupte herrschende Klasse fesselten, lösen und (…) den Geist der internationalen Solidarität wiederbeleben, der bislang systematisch geknebelt wurde.“ Und das ungarische Proletariat sollte mit der „russischen Rätediktatur verbunden werden sowie mit allen anderen Ländern, wo eine ähnliche Revolution ausbrechen könnte.“

Eine Zeitung - Vörös Ujsàg (Rote Zeitung) wurde gegründet, und die Partei stürzte sich in eine fieberhafte Agitation, die in Anbetracht des entscheidenden Moments, den die Bewegung durchlief, unabdingbar war[14]. Aber diese Agitation wurde nicht weiter durch eine tiefer gehende programmatische Debatte und durch eine methodische, kollektive Einschätzung der Ereignisse untermauert. Die Partei war in Wirklichkeit noch ziemlich jung und unerfahren, sie verfügte über wenig Zusammenhalt, weshalb sie – wie wir im nächsten Artikel sehen werden – zahlreiche schwere Fehler beging.

Gewerkschaften oder Arbeiterräte?

In der historischen Phase zwischen 1914-23 stand das Proletariat vor einer komplizierten Frage. Einerseits hatten sich die Gewerkschaften während des imperialistischen Krieges als Rekrutierungskräfte für das Kapital verhalten, und die aufkommenden Reaktionen der Arbeiter entfalteten sich außerhalb der Gewerkschaften. Gleichzeitig lagen die heldenhaften Zeiten, in denen die Arbeiterkämpfe von den Gewerkschaften ausgetragen wurden, noch nicht so lange zurück; diese hatten große wirtschaftliche Entbehrungen, viel Repression, viele Anstrengungen gemeinsamer Treffen bedeutet. Die Arbeiter betrachteten die Gewerkschaften noch immer als auf ihrer Seite stehend und meinten sie wieder zurückerobern zu können.

Gleichzeitig gab es einen enormen Enthusiasmus für die Arbeiterräte in Russland, die dort 1917 die Macht ergriffen hatten. In Ungarn, Österreich, Deutschland strebten die Kämpfe nach der Bildung von Arbeiterräten. Während in Russland die Arbeiter eine umfangreiche Erfahrung hinsichtlich des Wesens, der Funktionsweise, der sie schwächenden Hürden und der Sabotageversuche seitens der herrschenden Klasse gesammelt hatten, verfügten die Arbeiter in Ungarn und Deutschland nicht über so viel Erfahrung.

All diese historischen Faktoren trugen zu dieser “hybriden” Situation bei, die von der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften geschickt ausgenutzt wurde, um am 2. November den Arbeiterrat Budapests zu bilden, der durch eine seltene Mischung von Gewerkschaftsführern, Sozialdemokratischen Führern zusammen mit Delegierten aus einigen der großen Betriebe Budapests einberufen worden war. In den darauf folgenden Tagen blühten alle möglichen „Räte“ auf, die aber nichts anderes waren als gewerkschaftliche Organisationen und Kooperativen, welche sich diesen in der Mode befindlichen Namen gaben: Polizeirat (er wurde am 2. November gegründet und total von der Sozialdemokratie kontrolliert), Beamtenrat, Studentenrat. Selbst ein Priesterrat wurde am 8. November gegründet. Diese Ausbreitung von „Räten“ verfolgte das Ziel, die eigenständige Gründung von Räten durch die Arbeiter selbst zu verhindern.

Die Wirtschaft war gelähmt. Der Staat konnte nicht viel einfordern, und da jeder von ihm Hilfe verlangte, bestand seine Reaktion im Drucken von Papiergeld um Subventionen zu leisten, die Löhne der staatlich Beschäftigten auszuzahlen und die laufenden Kosten zu übernehmen. Im Dezember 1918 traf der Finanzminister sich mit den Gewerkschaften, um sie zu bitten, die Lohnforderungen fallen zu lassen, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, damit die Wirtschaft wieder angekurbelt werden könne und die Zügel bei der Verwaltung der Wirtschaft in die Hand zu nehmen. Die Gewerkschaften waren sehr kooperationswillig.

Aber dies empörte die Arbeiter. Erneut wurden Massenversammlungen abgehalten. Die Kommunistische Partei, die erst kurz zuvor gegründet worden war, trat an die Spitze des Protestes. Sie hatte beschlossen, in den Reihen der Gewerkschaften zu wirken, bald darauf sollte sie die Mehrheit der Arbeiter der großen Betriebe für sich gewinnen. In ihrem Programm war die Bildung von Arbeiterräten geplant, aber deren Bildung war als vereinbar mit der Existenz von Gewerkschaften angesehen worden[15]. Dies führte zu einem ständigen Zickzackkurs. Der Arbeiterrat von Budapest, der von der Sozialdemokratie als Präventivmaßnahme ins Leben gerufen worden war, hatte sich in einen leblosen Körper verwandelt. Zu diesem Zeitpunkt gab es einige Bemühungen der Organisierung und Bewusstwerdung in einem Rahmen, wo die Gewerkschaften immer wenig kontrollieren konnten, wie zum Beispiel die Massenversammlung der Metallarbeitergewerkschaft als Reaktion auf die Pläne des Ministers. Nach zwei Tagen Debatten nahm diese eine sehr radikale Position ein. „Aus der Sicht der Arbeiterklasse kann die staatliche Kontrolle der Produktion keine Wirkung zeigen, da die Volksrepublik nur eine abgewandelte Form der kapitalistischen Herrschaft ist, wo der Staat weiterhin das ist, was er vorher war: das kollektive Organ der Klasse, die die Produktionsmittel besitzt und die Arbeiterklasse unterdrückt.“[16].

Die Radikalisierung der Arbeiterkämpfe

Die Desorganisierung und Lähmung der Wirtschaft trieb die ArbeiterInnen und die große Mehrheit der Bevölkerung an den Rand des Hungers. Unter diesen Umständen beschloss die Versammlung, dass „in allen großen Betrieben Fabrikkontrollräte gebildet werden sollen, die in ihrer Eigenschaft als Organe der Arbeitermacht die Produktion in den Betrieben, die Versorgung mit Rohstoffen und ebenso die Funktionsweise und den ganzen Ablauf in den Betrieben  kontrollieren“[17]. Aber sie verstanden sich nicht als Partnerorganisationen des Staates oder als „Selbstverwaltungsorgane“, sondern als Hebel und als Ergänzung im Kampf um die politische Macht: „Die Arbeiterkontrolle stellt nur eine Übergangsphase zum System der Arbeiterverwaltung dar, die wiederum die Übernahme der politischen Macht zur Voraussetzung hat (…) In Anbetracht all dessen verurteilen die Delegiertenversammlung und die Mitglieder der Organisation jegliche „Aussetzung“ des Klassenkampfes, auch wenn diese nur vorübergehend sein soll; sie verurteilen ebenso jede Unterstützung der konstitutionellen Prinzipien und betrachten als unmittelbare Aufgabe der Arbeiterklasse, die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte als Faktor der Diktatur des Proletariats zu organisieren“[18].

Am 17. Dezember beschloss der Arbeiterrat von Szeged, der zweitgrößten Stadt, die Kommunalverwaltung aufzulösen und die “Macht zu ergreifen”. Dies war ein isolierter Schritt, der die Nervosität in Anbetracht der sich verschlechternden Lage zum Ausdruck brachte. Die Regierung reagierte vorsichtig und nahm Verhandlungen auf, die zu einer Wiedereinsetzung der Kommunalverwaltung mit „sozialdemokratischer Mehrheit“ führten. Weihnachten 1918 verlangten die ArbeiterInnen einer Budapester Fabrik Zusatzlohn. Sofort schlossen sich ArbeiterInnen aus Nachbarbetrieben dieser Forderung an. Innerhalb von wenigen Tagen wurde in Budapest überall diese Forderung erhoben, die auch in den Provinzen aufgegriffen wurde. Den Unternehmern blieb nichts anderes übrig als nachzugeben[19].

Anfang Januar bildeten die Bergarbeiter von Salgótarján einen Arbeiterrat, welcher entschied, die Macht zu übernehmen und eine Miliz auf die Beine zu stellen.  Dies brachte die Zentralregierung in Rage, die sofort Elitetruppen schickte, welche den Bezirk militärisch besetzten und 18 Menschen erschossen und 50 verletzte. Zwei Tage später fassten die Arbeiter aus Sátoralja-Llihely den gleichen Beschluss – wiederum reagierte die Regierung auf die gleiche Weise und erneut kam es zu einem Blutbad. In Kiskunfélegyhaza organisierten die Frauen eine Demonstration insbesondere gegen zu hohe Lebensmittelpreise und allgemein gegen zu hohe Lebenshaltungskosten; die Polizei schoss auf die Menge und tötete 10 Demonstranten und verletzte 30. Zwei Tage später traten die Arbeiter von Pozsony auf den Plan; der Arbeiterrat der Stadt proklamierte die Diktatur des Proletariats. Aufgrund von mangelnden Kräften bat die Regierung die tschechoslowakische Regierung um die militärische Besetzung der Stadt (es handelt sich um eine Grenzregion).[20].

Das Bauernproblem wurde immer akuter. Aus der Armee entlassene Soldaten kehrten in ihre Dörfer zurück, damit breitete sich die Agitation aus. Auf Versammlungen wurde die Aufteilung des Bodens gefordert. Der Budapester Arbeiterrat[21] bekundete seine große Solidarität, eine Versammlung wurde vorgeschlagen mit dem Ziel, der „Regierung eine Lösung der Agrarfrage aufzuzwingen.“ Im ersten Treffen wurde keine Einigung erzielt, erst nach einem weiteren Anlauf wurde der Vorschlag der Sozialdemokraten akzeptiert, wonach „einzelne Bauernhöfe übernommen werden können bei gleichzeitiger Entschädigung der früheren Besitzer“. Dies beruhigte die Lage vorübergehend, aber nur wenige Wochen, wie wir im nächsten Artikel sehen werden. In Arad, in der Nähe der rumänischen Grenze, besetzten die Bauern Ende Januar das Land, und die Regierung schickte ein Großaufgebot Militär, um sie davon abzuhalten, was wiederum ein neues Massaker hervorrief.

Februar 1919: Repression gegen die Kommunisten

Im Februar verwandelte sich die Journalistengewerkschaft in eine Rat und verlangte die Zensur aller Artikel die sich gegen die Revolution richteten. Die Versammlungen der Drucker und der verwandten Berufe erhielten Zulauf und unterstützten diese Maßnahme. Auch die Metallarbeiter beteiligten sich an Aktionen  die das Ziel hatten die Mehrheit der Presse unter die Kontrolle der Arbeiter zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt war die Publikation von  Mitteilungen und geschriebenen Artikeln unter der Kontrolle der kollektiven Entscheidung der Arbeiter.        

Budapest war zu einem gewaltigen Ort von Debatten geworden[22]. Jeden Tag, jede Stunde fanden Diskussionen zu einer Reihe von Themen statt. Überall wurden Gebäude und Anlagen besetzt. Nur Generälen und großen Bossen wurde das Versammlungsrecht verweigert; und wenn sie es versuchten, wurden sie von Gruppen von Metallarbeitern und Soldaten auseinander getrieben, die dann ihre Luxuswohnungen besetzten.

Neben der Entwicklung der Arbeiterräte und auf dem Hintergrund des Chaos und der Unterbrechung der Produktion entstand eine zweite Organisationsform in den Betrieben – die Fabrikräte, die die Produktion und die Verteilung lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen übernahmen, um Mängel zu vermeiden. Ende Januar ergriff der Budapester Arbeiterrat eine kühne, zentralisierende Initiative: die Gasproduktion, Rüstungsbetriebe, die größten Baustellen, die Zeitung Deli Hirlap und das Ungarn-Hotel wurden unter Arbeiterkontrolle gestellt.

Dies stellte eine Herausforderung für die Regierung dar, und der Sozialist Garami reagierte mit einem Gesetzesvorschlag, der die Fabrikräte zu einer Handlangerrolle der Bosse verurteilte, nachdem die Unternehmer wieder die Produktion und die Verwaltung ihrer Betriebe übernehmen konnten. Gegen diese Maßnahme erhoben sich massive Proteste. In den Budapester Arbeiterräten waren die Diskussionen sehr lebhaft. Am 20. Februar „warf die Sozialdemokratie eine Bombe“ bei der dritten Sitzung zu diesem Gesetzesvorschlag. Ihre Delegierten unterbrachen das Treffen mit der sensationellen Nachricht: „Die Kommunisten haben einen Angriff gegen Népszava gestartet. Die Redaktionsräume sind mit Maschinengewehren gestürmt worden. Mehrere Redakteure sind schon gestorben. Auf den Straßen liegen viele Tote und Verletzte“[23].

Dadurch konnte der Gesetzesvorschlag gegen die Fabrikräte mit einer knappen Mehrheit verabschiedet werden, und dadurch wurde auch eine neue Stufe eingeleitet: die des Versuchs der gewaltsamen Niederschlagung der Kommunistischen Partei.

Die Erstürmung der Zeitung Népszava stellte sich bald als eine von der Sozialdemokratie inszenierte Provokation heraus. Diese Operation fand zu einem besonders wichtigen Zeitpunkt statt – überall entstanden mehr Arbeiterräte, die sich zunehmend gegen die Regierung richteten, gleichzeitig wurde dadurch der Höhepunkt einer Kampagne der Sozialdemokratie gegen die Kommunistische Partei erreicht, die diese seit Monaten eingefädelt hatte.

Schon im Dezember 1918 hatte die Regierung nach einem Vorschlag der Sozialdemokratie die Benutzung von Druckmaterialien verboten, weil sie damit den Druck und den Vertrieb von Vörös Ujsàg unterbinden wollte. Im Februar 1919 ging die Regierung gewaltsam vor. „Eines Morgens umstellte eine Gruppe von 160 mit Granaten und Maschinengewehren bewaffneten Polizisten das Sekretariat. Unter dem Vorwand einer Hausdurchsuchung drangen die Polizisten in das Gebäude ein, zerschlugen Möbel und Ausrüstung und schleppten alles in acht großen Fahrzeugen fort.“ [24]

Szanto berichtete, dass “die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs durch die weiße Konterrevolution in Deutschland von den ungarischen Konterrevolutionären als Signal für den Kampf gegen den Bolschewismus aufgefasst wurde.“[25]. Ein sehr einflussreicher bürgerlicher Journalist, Ladislas Fényes, startete eine hartnäckige Kampagne gegen die Kommunisten. Er forderte: „Sie müssen entwaffnet werden.“  Die Sozialdemokratie behauptete weiter, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg “ihren Versuch, die Einheit der Arbeiterbewegung zu untergraben, mit ihrem Leben bezahlt hatten.“ Alexander Garbai, der später Vorsitzender der ungarischen Arbeiterräte werden sollte, meinte, “Die Kommunisten sollten an die Wand gestellt und erschossen werden, weil niemand die Sozialdemokratische Partei spalten darf ohne dafür mit seinem Leben zu zahlen.“[26]. Man berief sich betrügerisch auf die Einheit der Arbeiter, die für das Proletariat grundlegend ist, um die bürgerliche Offensive zu unterstützen und auszuweiten.[27]

Die Frage der “Bedrohung der Einheit der Arbeiter” wurde von der Sozialdemokratie vor dem Arbeiterrat aufgeworfen. Die Arbeiterräte, die gerade erst ihre Aktivitäten aufgenommen hatten, wurden mit einer heiklen Frage konfrontiert, die sie schlussendlich lähmen sollte: mehrfach stellten die Sozialdemokraten den Antrag auf Ausschluss der Kommunisten aus Versammlungen, weil sie „die Arbeiterbewegung gespalten haben“. Sie setzten eigentlich nur die Kampagne ihrer deutschen Gesinnungsbrüder fort, die nach November 1918 die Frage der Einheit als Vorwand zum Ausschluss der Spartakisten genommen hatten, um somit eine Pogromatmosphäre gegen sie zu stiften.

Der Angriff gegen die Zeitung Népszava muss im gleichen Zusammenhang gesehen werden. Sieben Polizisten kamen dabei ums Leben. Im Verlauf der gleichen Nacht am 20. Februar wurde eine ganze Reihe von kommunistischen Militanten verhaftet. Die Polizei, die erzürnt war wegen des Todes ihrer Kollegen, folterte Gefangene. Am 21. Februar verbreitete Népszava eine Erklärung, in der Kommunisten als „konterrevolutionäre Söldner im Dienst der Kapitalisten“ angeprangert wurden und rief aus Protest zu einem Generalstreik auf. Zu einer Demonstration noch am Nachmittag vor dem Parlament wurde aufgerufen. 

Die Beteiligung an der Demonstration war enorm. Viele Arbeiter, die aufgrund der Vorwürfe gegen die Kommunisten erbost waren, beteiligten sich, aber insbesondere die Sozialdemokraten hatten viele Beamte, Kleinbürger, Armeeoffiziere, Geschäftsleute usw. mobilisiert, die strenge Maßnahmen seitens der bürgerlichen Justiz gegen die Kommunisten forderten.

Am 22. Februar berichtete die Presse über Folter an Gefangenen. Die Népszava verteidigte die Polizei. „Wir verstehen die Wut der Polizei und fühlen tiefe Sympathie für die Trauer über ihre gefallenen Kollegen, die die Arbeiterpresse verteidigten. Wir können dankbar dafür sein, dass die Polizei unsere Partei unterstützt hat, dass sie organisiert ist und Solidaritätsgefühle gegenüber dem Proletariat zeigt.“[28]

Diese widerwärtige Sprache lieferte die Schlüsselbegriffe für eine zweistufige Offensive gegen das Proletariat, die von der Sozialdemokratie angeführt wurde: erstens die Kommunisten als revolutionäre Avantgarde niederschlagen, anschließend immer gewalttätiger gegen die proletarischen Massen vorgehen. Am gleichen Tag, den 22. Februar, wurde der Antrag auf Ausschluss der Kommunisten von den Arbeiterräten angenommen. Sollten die Kommunisten damit vollständig enthauptet werden? Es sah danach aus, dass die Konterrevolution gewinnen würde.

Im nächsten Artikel werden wir sehen, wie diese Offensive durch eine starke Reaktion durch das Proletariat zurückgeschlagen wurde.

C. Mir, 3. März 2009

[1] Der allgemeine Waffenstillstand wurde am 11. November 1918, wenige Tage nach dem Ausbruch der Revolution in Kiel (Norddeutschland) und der Abdankung Kaiser Wilhelms unterzeichnet. Siehe die Artikelserie zu diesem Thema, die in International Review Nr. 133 begann.

[2] Siehe das Buch dieses Autors: Die ungarische Räterepublik, S. 40, spanische Ausgabe.

[3] So wurden Erscheinungen wie Unterproduktion, die durch die totale und vollständige Mobilisierung aller Ressourcen für Rüstung und Krieg verursacht wurde, auch von Gers Hardach in seinem Buch Der Erste Weltkrieg (S. 86, spanische Ausgabe) aufgegriffen. In Deutschland wurden von 1917 an Zeichen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs mit einer Unterbrechung der Versorgung und einem wachsenden Chaos festgestellt, das schließlich gar in einer Blockade der Kriegsproduktion mündete.

[4] Karl Radek, von Szantò zitiert (S. 10, spanische Ausgabe).

[5] In seinem Buch Weltkommunismus, schrieb der aus Österreich stammende alte kommunistische Militant Franz Borkenau: „Es war auf verschiedenen Ebenen die grösste revolutionäre Bewegung mit rein proletarischem Ursprung welche die moderne Welt je gesehen hatte.  (…) Die internationale Koordination welche die Komintern später zu erreichen versuchte entstand hier automatisch, innerhalb der Grenzen der zentralen Staaten, aus der Gemeinschaft der Interessen in allen Ländern heraus, und durch die Dringlichkeit von zwei Hauptproblemen, Brot und die Verhandlungen von Brest-Litovsk (dies waren Friedensverhandlungen zwischen der Sowjetregierung und den Deutschen Reich im Januar-März 1918). Es waren überall die Forderungen nach einem Frieden ohne Annexionen und Zahlungen mit Russland, nach mehr Nahrung und politischer Demokratie zu hören.“ (Seite 92 der englischen Ausgabe, von uns übersetzt)

[6] Béla Szantò, Die ungarische Revolution 1919, Spanische Ausgabe, S. 21.

[7] Szantò, S. 24.

[8] Szantò, S. 28.

[9] Szantò, S. 35.

[10] Siehe: “Deutschland 1918 – Bildung der Partei, Abwesenheit der Internationale”, International Review Nr. 135

[11] Sie ähnelten den revolutionären Obleuten in Deutschland. Es gibt einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Bildung der Bolschewistischen Partei in Russland, der KPD in Deutschland und der Ungarischen KP: „Die Tatsache, dass die drei erwähnten Kräfte die wir erwähnt haben eine entscheidende Rolle im Szenario der Entstehung der Partei bildeten war keinesfalls eine Eigenheit der Situation in Deutschland. Eine der Charakteristiken des Bolschewismus während der Russischen Revolution war der Weg mit dem er grundsätzlich die Kräfte die innerhalb der Arbeiterklasse existierten vereinte: die Partei der Vorkriegszeit, welche das Programm und die organisatorische Erfahrung repräsentierte; die fortgeschrittensten Arbeiter, welche in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen  über ein Klassenbewusstsein verfügten; und die revolutionäre Jugend, welche durch den Kampf gegen den Krieg politisiert worden war.“ (International Review Nr. 135)

[12] Ein Militanter des linken Flügels der Sozialdemokratie, der 1910 die Partei verließ und sich auf anarchistische Positionen zubewegte. Er starb 1918, nachdem er sich mit einer internationalistischen Position energisch gegen den Krieg gestellt hatte.

[13] Wir zitieren die Zusammenfassung der Prinzipien durch Béla Szantó im oben erwähnten Buch.

[14] Bei der Agitation und der Aufnahme von neuen Militanten war die Partei sehr erfolgreich. Innerhalb von vier Monaten wuchs sie von 4.000 auf 70.000 Mitglieder an.

[15] Die gleiche Position herrschte im russischen Proletariat und unter den Bolschewiki vor. Aber während die Gewerkschaften in Russland sehr schwach waren, waren sie in Ungarn und in anderen Ländern viel stärker.

[16] Szantò, S 43.

[17] ebenda.

[18] ebenda

[19] Als Ausgleich schlug der Sozialdemokratische Minister vor, dass die Fabrikbesitzer 15 Millionen Kronen als Kredit bekommen sollten. Dies bedeutete, dass die Lohnerhöhungen, die den Arbeitern zugestanden worden waren, innerhalb weniger Tage aufgrund der Inflation aufgefressen sein würden.

[20] Dieses Gebiet sollte unter tschechischer Herrschaft bis zum Ausbruch der Revolution im August 1919 bleiben.

[21] Von Januar an lebte er mit all den Wendungen wieder auf, die wir oben erwähnt haben. Die großen Betriebe schickten Delegierten, viele von ihnen waren Kommunisten, die die Wiederaufnahme dieser Treffen forderten.

[22] Dies war eines der entscheidenden Merkmale der Russischen Revolution, wie sie zum Beispiel John Reed in seinem Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten, hervorhob.

[23] Szantò, S. 60.

[24] Szantò, S. 51.

[25] ebenda

[26] Szantò, S 52.

[27] Wir werden in einem späteren Artikel sehen, dass die Frage der Einheit das trojanische Pferd der Sozialdemokratie war, um die Kontrolle über die Arbeiterräte aufrechtzuerhalten, als diese die Macht ergriffen.

[28] Szantò, S 63.

Historische Ereignisse: 

  • Ungarn; Revolution; 1919 [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [7]

Die ungarische Revolution 1919: Das Beispiel Russlands inspirierte die ungarische Arbeiterklasse, Teil 2

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Im ersten Teil dieses Artikels[1] haben wir gesehen, wie die Sozialdemokratische Partei, Hauptbollwerk des Kapitalismus, ein widerwärtiges Manöver vollzog, um den überall zunehmenden Arbeiterkämpfen entgegenzutreten. Dieses Manöver zielte darauf ab, die Kommunisten für einen seltsamen Ansturm verantwortlich zu machen, der gegen die Reaktion der sozialdemokratischen Zeitung Népszava ausgeführt wurde, um sie zu kriminalisieren und später eine Welle der Unterdrückung auszulösen. Dies sollte, angefangen bei den Kommunisten, durch die Vernichtung der entstehenden Arbeiterräte und die Niederschlagung jeglicher revolutionärer Bestrebungen im ungarischen Proletariat enden.

Im zweiten Teil werden wir nun sehen, wie dieses Manöver scheiterte. Als die revolutionäre Situation weiter reifte, leitete die Sozialdemokratische Partei ein weiteres, ebenso riskantes Manöver ein, das schlussendlich zu einem Erfolg für die Kapitalisten wurde: Der Zusammenschluss mit der Kommunistischen Partei, „die Machtergreifung“, und die Organisierung der „Diktatur des Proletariats“, wodurch die aufsteigende Kampfbewegung und die Selbstorganisierung des Proletariats aufgefangen werden konnte. Dadurch wurde das Proletariat in eine Sackgasse und in eine Niederlage geführt.

März 1919: Krise der bürgerlichen Republik

Die Wahrheit über den Angriff auf die Zeitung Népszava wurde bald bekannt. Die Arbeiter fühlten sich getäuscht, ihre Wut wurde noch größer, als sie von den Folterungen an den Kommunisten erfuhren. Die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratischen Partei wurde untergraben. All das begünstigte die Popularität der Kommunisten. Die Forderungskämpfe nahmen seit Ende Februar 1919 immer mehr zu; die Bauern besetzten das Land ohne die Umsetzung der schon lange versprochenen „Agrarreform“ abzuwarten.[2] Immer mehr ArbeiterInnen beteiligten sich an den Sitzungen des Arbeiterrates von Budapest, in tumultartigen Diskussionen wurde heftige Kritik an den Führern der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften geübt. Die bürgerliche Republik, die im Oktober 1918 so viele Illusionen geweckt hatte, enttäuschte immer mehr. Die von den Kriegsschauplätzen zurückgeführten 25.000 Soldaten waren in ihren Kasernen eingesperrt worden; sie organisierten sich nunmehr in Soldatenräten. In der ersten Märzwoche wählten nicht nur die Vollversammlungen in den Kasernen ihre Delegierten, wobei der Anteil der kommunistischen Delegierten zunahm. Es gab auch immer mehr Abstimmungen, wo man kundtat, dass man „nicht mehr den Befehlen der Regierung folgen wird, solange diesen nicht vom Soldatenrat Budapests zugestimmt worden ist“.

Am 7. März wurde eine außerordentliche Sitzung des Budapester Arbeiterrates eröffnet, der eine Resolution verabschiedete. Darin wurde „die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und die Übernahme der Leitung der Produktion durch die Räte“ gefordert. Aber auch wenn die Vergesellschaftung des bürgerlichen Staatsapparates ohne dessen Zerstörung nur eine lahme Maßnahme sein kann, spiegelte diese Resolution dennoch das große Selbstvertrauen der Räte wider und war eine Antwort auf zwei dringende Fragen: Erstens: die durch die Unternehmer ausgeübte Sabotage eines immer stärker desorganisierten Teils der Produktion und deren Kriegstreiben; Zweitens: der schreckliche Mangel an Lebensmitteln und lebensnotwendiger Produkte.

Die Ereignisse überstürzten sich. Der Arbeiterrat der Metallarbeiter stellte der Regierung ein Ultimatum. Ihr wurden fünf Tage bis zur Übergabe der Macht an die Parteien der Arbeiterklasse eingeräumt[3]. Am 19. März fand die bis zum damaligen Zeitpunkt größte Demonstration statt, zu der vom Budapester Arbeiterrat aufgerufen worden war. Die Arbeitslosen forderten Zahlungen und Lebensmittelkarten sowie kostenlose Wohnungen. Am 20. März streikten die Schriftsetzer; deren Streik wurde am folgenden Tag mit zwei Forderungen ausgedehnt: Freilassung der kommunistischen  Führer und Einsetzung einer „Arbeiterregierung“.

Während diese Ereignisse eine Reifung der revolutionären Situation zeigen, bringen sie aber auch zum Ausdruck, dass die Arbeiterklasse bei weitem noch nicht das politische Niveau erreicht hatte, das für den Sturm auf die Macht erforderlich ist.  Um die Macht zu ergreifen und in den Händen zu halten, muss das Proletariat auf zwei Kräfte bauen: die Arbeiterräte und die Kommunistische Partei. Im März 1919 steckten  die Arbeiterräte in Ungarn noch in ihrer Anfangsphase. Sie hatten gerade erst ihre Macht und ihre Selbständigkeit verspürt; sie waren noch dabei, sich aus der erstickenden Umklammerung durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu lösen.

Ihre beiden Hauptschwächen waren:

–  ihre Illusionen über die Möglichkeit einer “Arbeiterregierung”, in der Sozialdemokraten und Kommunisten vereint wären. Wie wir später sehen werden, erwies sich dies als Grab für die weitere revolutionäre Entwicklung;

– ihre Organisation erfolgte noch nach Wirtschaftsbereichen: Räte der Metallindustrie, Schriftsetzer, Textilarbeiter usw. Seit 1905 erfolgte die Organisierung der Räte auf horizontaler Ebene, alle Arbeiter waren ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer Branche, einer Region, Land usw. übergreifend  organisiert. In Ungarn bestanden die Räte auf der Grundlage von Wirtschaftsbezirken und Städten; dies birgt die Gefahr der Zerstreuung und des Branchenegoismus in sich.

Im ersten Teil des Artikels hoben wir hervor, wie schwach und heterogen die Kommunistische Partei noch war,  und dass die Debatten in ihren Reihen erst angefangen hatten. Ihr fehlte eine solide internationale Struktur, welche sie hätte leiten können; die Kommunistische Internationale hielt gerade ihren Gründungskongress ab. Aus diesem Grund litt sie unter großen Schwächen, wie wir sehen werden. Es mangelte ihr an Klarheit, weshalb sie leicht in die Falle lief, die von der Sozialdemokratie gestellt wurde.

Der Zusammenschluss mit der Sozialdemokratischen Partei und die Ausrufung der Sowjetrepublik

Oberst Vix, Repräsentant der Entente[4], stellte ein Ultimatum, in dem die Schaffung einer entmilitarisierten Zone auf ungarischem Gebiet verlangt wurde, das direkt vom alliierten Militärkommando befehligt wurde und eine Fläche von 200 km umfasste, d.h.  ungefähr die Hälfte des Landes.

Die herrschende Klasse tritt der Arbeiterklasse nie mit offenem Visier entgegen. Die Geschichte zeigt, dass sie versucht, die Arbeiterklasse in Sackgassen zu treiben. Die Rechte eröffnete das Feuer mit der Drohung einer militärischen Besetzung, die im April konkret in einer richtigen Invasion umgesetzt wurde. Die Linke wiederum trat sofort mit einer pathetischen Erklärung des Präsidenten Károlyi auf: „Das Land ist in Gefahr. Die schwierigste Stunde unserer Geschichte ist gekommen. (…) Der Moment ist gekommen, wo die ungarische Arbeiterklasse mit ihrer Macht, der einzig organisierten Kraft im Land, mit ihren internationalen Beziehungen  das Vaterland vor Anarchie und Zerstückelung retten muss. Ich schlage deshalb eine homogene sozialdemokratische Regierung vor, die den Imperialisten entgegentreten wird. Bei diesem Kampf geht es um das Überleben unseres Landes. Um diesen Kampf erfolgreich zu führen, muss die Arbeiterklasse unbedingt wieder vereint werden, die von den Extremisten hervorgerufene Agitation und Unordnung müssen aufhören. Zu diesem Zweck müssen die Sozialdemokraten eine gemeinsame Linie mit den Kommunisten finden.“[5]

Das Kreuzfeuer seitens der Rechten gegen den Klassenkampf, die die militärische Besetzung ins Spiel brachten, und der Linken, die die Verteidigung der Nation in den Vordergrund stellten, verfolgte das gleiche Ziel: Rettung der Herrschaft der Kapitalisten. Die militärische Besetzung – die schlimmste Kränkung, die ein Nationalstaat erleiden kann – zielte in Wirklichkeit auf die Niederschlagung der revolutionären Tendenzen des ungarischen Proletariats ab. Zudem bot sie der Linken die Möglichkeit, die Arbeiter auf die Verteidigung des Vaterlandes einzuschwören. Diese Falle war schon im Oktober 1917 in Russland gestellt worden,  als die russische Bourgeoisie in Anbetracht ihrer Unfähigkeit, das Proletariat niederzuschlagen, die Besetzung Petrograds durch deutsche Truppen bevorzugte. Die Arbeiterklasse konnte aber dieses Manöver geschickt vereiteln, indem sie die Macht ergriff. Im Fahrwasser des Grafen Károlyi sich bewegend, legte der rechte Sozialdemokrat Garami die einzuschlagende Strategie dar: „Die Regierung den Kommunisten übertragen, ihren totalen Bankrott abwarten, und erst dann, wenn die Lage  heran gereift ist und die Gesellschaft von diesem Abschaum  befreit ist, können wir eine homogene Regierung bilden“[6]. Der zentristische Flügel der Partei[7] präzisierte diese Politik. „Wir müssen feststellen, dass Ungarn von der Entente geopfert wird;  da sie entschieden hat, die Revolution zu liquidieren, bleibt die einzige Waffe, über die diese verfügt, Sowjetrussland und die Rote Armee. Um deren Unterstützung zu gewinnen, muss die ungarische Arbeiterklasse in der Tat die Macht in ihren Händen halten, und Ungarn muss eine wahre Volksrepublik und Sowjetrepublik sein.“   Sie fügten an: „Um zu verhindern, dass die Kommunisten die Macht missbrauchen, müssen wir sie besser mit ihnen ergreifen.“ [8].

Der linke Flügel der sozialdemokratischen Partei nahm eine proletarische Position ein und bewegte sich auf die Kommunisten zu.  Dem gegenüber manövrierten die Rechten um Garami und die Zentristen um Garbai geschickt. Garami trat von all seinen Ämtern zurück. Der rechte Flügel opferte sich zugunsten des zentristischen Flügels, der „sich für ein kommunistisches Programms aussprach“,  damit gelang es ihm, die Linken zu verführen.[9]

Mit diesem Schwenk schlug die neue zentristische Führung die unmittelbare Verschmelzung mit der Kommunistischen Partei vor und nichts anderes als die Machtergreifung! Eine Delegation der Sozialdemokratischen Partei begab sich zum Gefängnis, um Béla Kun zu treffen und schlug ihm den Zusammenschluss der beiden Parteien und die Bildung einer „Arbeiterpartei“, den Ausschluss aller „bürgerlichen“ Parteien und ein Bündnis mit Russland vor. Die Gespräche dauerten weniger als einen Tag; im Anschluss daran verfasste Béla Kun ein Protokoll mit sechs Punkten, die besonders hervorgehoben wurden: „Die Führungsspitzen der ungarischen Sozialdemokratischen Partei und der ungarischen Kommunistischen Partei haben den vollständigen und unmittelbaren Zusammenschluss ihrer jeweiligen Organisationen beschlossen. Der Name der neuen Organisation wird Vereinigte Sozialistische Partei Ungarns PSUH) sein. (…) Die PSUH ergreift sofort die Macht im Namen der Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur wird von den Arbeiter–, Bauern– und Soldatenräten ausgeübt.  Es wird keine Nationalversammlung mehr geben (…) Das engst mögliche politisch–militärische Bündnis  mit Russland wird geschlossen“[10].

Präsident Károlyi, der die Verhandlungen aufmerksam verfolgte, reichte seinen Rücktritt ein und richtete eine Erklärung “an das Proletariat der Welt, um Hilfe und Gerechtigkeit zu erhalten. Ich trete zurück und übergebe die Macht an das Proletariat des ungarischen Volkes“[11].

Während der Demonstration am 22. März schloss sich „der ex–Homo Regius, der Erzherzog Joseph–August sowie Philippe Egalité der Demonstration auf Seiten der Arbeiter an.“[12]. Die neue, am nächsten Tag gebildete Regierung mit Béla Kun und anderen, aus dem Gefängnis befreiten kommunistischen Führern, wurde vom zentristischen Sozialdemokraten Garbai geleitet[13]. Sie verfügte über eine zentristische Mehrheit mit zwei für den linken Flügel reservierten Posten und zwei anderen, für die Kommunisten vorgesehenen Stellen, darunter eine für Béla Kun. Eine sehr riskante Operation begann, indem die Kommunisten als Geiseln der Politik der sozialdemokratischen Politik genommen wurden und die gerade gegründeten Arbeiterräte mit dem vergifteten Geschenk der „Machtübernahme“ sabotiert werden sollten. Die Sozialdemokraten überließen das Hauptamt Béla Kun, der voll in die Falle lief und zum Sprecher und Unterstützer einer ganzen Reihe von Maßnahmen wurde, welche sein Ansehen untergruben[14].

Die “Einheit” führt zur Spaltung der revolutionären Kräfte

Die Proklamierung der ‚Vereinigten‘ Partei bewirkte vor allem, dass die Annäherung zwischen den linken Sozialdemokraten und den Kommunisten aufgehalten wurde, die durch die Radikalisierung der Zentristen verführt worden waren. Aber das Schlimmste war, dass eine Pandora–Büchse unter den Kommunisten geöffnet worden war, die sich in verschiedene Tendenzen spalteten. Die Mehrheit um Béla Kun wurde zur Geisel der Sozialdemokraten; eine andere Tendenz bildete sich um Szamuelly, der in der Partei verblieb aber eine unabhängige Politik betreiben wollte. Die Mehrzahl der Anarchisten spaltete sich ab und bildete die Anarchistische Union, welche jedoch die Regierung mit einer Oppositionshaltung unterstützte[15].

Die einige Monate zuvor gegründete Partei, welche erst jetzt eine wirkliche Organisation schuf und zu intervenieren anfing, löste sich vollständig auf. Die Debatte wurde unmöglich, ihre Mitglieder gerieten in ständige Auseinandersetzungen. Diese hielten sich an keine Prinzipien oder eine unabhängige Analyse der Lage. Stattdessen lief man ständig den Ereignissen hinterher und ließ sich durch die subtilen Manöver der zentristischen Sozialdemokraten irreführen.

Die Desorientierung über die wirkliche Lage in Ungarn erfasste auch einen so erfahrenen und klaren Militanten wie Lenin. In seinen Gesammelten Werken sind die Gespräche mit Béla Kun am 22. und 23. März 1919 veröffentlicht[16]. Lenin bat Béla Kun: „Bitte mitzuteilen welche reellen Garantien Sie dafür haben, dass die neue ungarische Regierung wirklich kommunistisch und nicht nur einfach sozialistisch, das heißt sozialverräterisch wird? Haben die Kommunisten Mehrheit in der Regierung?Wann kommt der Rätekongress zusammen? Worin besteht reell die Anerkennung der Diktatur des Proletariats durch die Sozialisten?“. Lenin stellte die richtigen grundsätzlichen Fragen. Aber alles stützte sich auf persönliche Kontakte und nicht auf eine kollektive internationale Debatte. Lenin zog die Schlussfolgerung: „Die Antwort, die Genosse Béla Kun gab, war völlig zufriedenstellend und zerstreute alle unsere Zweifel. Es stellte sich heraus, dass die linken Sozialisten zu Béla Kun ins Gefängnis gekommen waren, um über die Regierungsbildung zu beraten. Und nur diese mit den Kommunisten sympathisierenden linken Sozialisten sowie Leute des Zentrums haben die neue Regierung gebildet, während die rechten Sozialisten, die sozusagen unversöhnlichen und unverbesserlichen Sozialverräter, völlig aus der Partei ausgeschieden sind, ausgeschieden sind, ohne dass ihnen ein einziger Arbeiter gefolgt wäre.“. Man kann hier erkennen, dass Lenin zumindest schlecht informiert war und die Lage nicht richtig einschätzte, denn das Zentrum der Sozialdemokratie verfügte in der Regierung über die Mehrheit und die linken Sozialdemokraten befanden sich in den Händen ihrer “Freunde” des Zentrums.

Von einem entwaffnenden Optimismus mitgerissen, zog Lenin die Schlussfolgerung: „Die Bourgeoisie selber hat die Macht den Kommunisten Ungarns abgetreten. Die Bourgeoisie hat der ganzen Welt gezeigt, dass sie, wenn eine schwere Krise eintritt, wenn die Nation in Gefahr ist, nicht reagieren kann. Es gibt nur eine einzige wirklich vom Volk getragene, vom Volk geliebte Macht – die Macht der Arbeiter–, Soldaten– und Bauernräte.“    

Einmal an der Macht wurden die Arbeiterräte sabotiert

Diese Macht bestand in Wirklichkeit nur auf dem Papier. Vor allem die Vereinigte Sozialistische Partei ergriff die Macht, ohne dass der Budapester Sowjet oder irgendein anderer Sowjet im Lande sich irgendwie daran beteiligte[17]. Auch wenn die Regierung sich formell dem Budapester Arbeiterrat „untergeordnet“ erklärte, präsentierte diese jegliche Dekrete, Befehle und Entscheidungen als Tatbestände, gegenüber denen der Rat nur ein relatives Vetorecht besaß. Die Arbeiterräte befanden sich in der Zwangsjacke der parlamentarischen Praxis. „Die Angelegenheiten des Proletariats wurden weiter verwaltet – oder besser gesagt – durch die alte Bürokratie sabotiert, anstatt durch die Arbeiterräte selbst vertreten zu werden; diesen gelang es nie, zu einem aktiven Organ zu werden“ [18].

Der schlimmste Schlag gegen die Räte war die Wahlaufruf seitens der Regierung, um eine „Nationalversammlung der Arbeiterräte“ zu bilden. Das von der Regierung aufgezwungene Wahlsystem bestand in der Durchführung der Wahlen an zwei Daten – (7. Und 14. April 1919), „den Modalitäten der formellen Demokratie folgend (Listenwahlen, mit Wahlkabinen usw.)“[19]. Dies war die Wiederauflage der typischen Mechanismen der bürgerlichen Wahlen, wodurch das Wesen der Arbeiterräte ausradiert wird. Während in der bürgerlichen Demokratie die gewählten Organe das Ergebnis einer Stimmabgabe durch atomisierte, voneinander getrennte Individuen sind, stützen sich die Arbeiterräte auf ein radikal neues und unterschiedliches Konzept politischen Handelns: Über Entscheidungen, zu treffende Maßnahmen wird in den Debatten beratschlagt und abgestimmt, an denen sich die organisierten Massen beteiligen. Die Massen begnügen sich nicht damit, Entscheidungen zu treffen, sondern setzen sie auch in die Praxis um.

Aber der Triumph des Wahlmanövers war nicht nur auf die Geschicklichkeit der Sozialdemokratie bei Manövern zurückzuführen, sie beuteten nur die bestehenden Verwirrungen nicht nur unter den Massen aus, sondern auch die der Mehrzahl der kommunistischen Militanten, insbesondere die der Gruppe um Béla Kun.  Die jahrelange Beteiligung an Wahlen und die parlamentarische Tätigkeit – eine während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus für den Fortschritt des Proletariats notwendige Tätigkeit – hatte Gewohnheiten und Sichtweisen aufkommen lassen, die mit einer eindeutig abgeschlossenen Phase verbunden waren, und jetzt eine klare Reaktion auf die neue Lage verhinderten, die den endgültigen Bruch mit dem Parlamentarismus und der Wahlbeteiligung verlangten.

Der Wahlmechanismus und die Disziplin der „Vereinigten“ Partei führten dazu, dass bei „der Vorstellung der Kandidaten für die Wahlen zu den Räten die Kommunisten die Sache der Sozialdemokraten vertreten mussten; einige von ihnen wurden noch nicht einmal gewählt.“ Szantó stellte fest, dass dies den Sozialdemokraten die Möglichkeit bot, „eine wortradikale, revolutionär–kommunistische Sprache zu sprechen, um revolutionärer zu erscheinen als die Kommunisten“[20].

Diese Politik rief einen heftigen Widerstand hervor. Die Aprilwahlen wurden im 8. Budapester Bezirk angezweifelt. Szamuelly gelang es, die offizielle Liste seiner eigenen Partei (!) zu annullieren und Wahlen aufzuzwingen, die sich auf die Ergebnisse der Debatten in den Vollversammlungen stützten, die wiederum einen Sieg einer Koalition von Dissidenten der PSUH und Anarchisten ermöglichten, die sich um Szamuelly zusammengeschlossen hatten.

Andere Versuche,  wirkliche Arbeiterräte ins Leben zu rufen, wurden Mitte April gestartet. Einer Bewegung der Stadtviertel–Räte gelang es, eine Konferenz der Stadtviertel–Räte in Budapest einzuberufen, welche die „sowjetische Regierung“ scharf kritisierte und eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Versorgungslage, zur Niederschlagung der Konterrevolutionäre und hinsichtlich des Verhältnisses zu den Bauern und der Fortsetzung des Krieges  machte.  Und sie schlug – gerade ein Monat nach den Wahlen – eine Neuwahl der Räte vor. Béla Kun, der als Geisel der Sozialdemokratie wirkte, erschien auf der letzten Sitzung der Konferenz und übte die Feuerwehrrolle aus; seine Sprache grenzte an Demagogie: „Wir stehen schon so weit links, dass man nicht noch weiter links rücken kann. Eine noch stärkere Linkswende könnte nur eine Konterrevolution werden“[21].

Die wirtschaftliche Umorganisierung stützte sich auf die gegen die Räte eingestellten Gewerkschaften

Der revolutionäre Ansturm hatte mit dem wirtschaftlichen Chaos, dem Warenmangel und der Sabotage durch die Unternehmer zu kämpfen. Während der Schwerpunkt einer jeden proletarischen Revolution die politische Macht der Räte ist, heißt dies aber nicht, dass man die Kontrolle der Produktion vernachlässigen darf. Auch wenn es unmöglich ist, eine revolutionäre Umwälzung der Produktion hin zum Kommunismus zu starten, solange die Revolution nicht weltweit gesiegt hat, darf man daraus nicht schlussfolgern, dass das Proletariat auf eine besondere Wirtschaftspolitik von Beginn der Revolution an verzichten könnte. Diese muss insbesondere zwei prioritäre Fragen berücksichtigen. Die erste ist – alle möglichen Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Ausbeutung der ArbeiterInnen zu reduzieren und sicherzustellen, dass sie so viel Zeit wie möglich haben,  um ihre Energie für die aktive Beteiligung an den Arbeiterräten zur Verfügung zu stellen.

Unter dem Druck des Budapester Arbeiterrates beschloss die Regierung die Abschaffung der Akkordarbeit und die Kürzung des Arbeitstages mit dem Ziel, „es den Arbeitern zu ermöglichen, sich am politischen und kulturellen Leben der Revolution zu beteiligen“[22].

Die zweite Maßnahme war der Kampf für eine bessere Versorgung und gegen die Sabotage, so dass Hunger und das unvermeidbare wirtschaftliche Chaos nicht das Ende der Revolution einläuten konnten. Nachdem sie mit diesem Problem konfrontiert wurden, schufen die Arbeiter schon vom Januar 1919 an Fabrikräte und Bereichsräte. Wie wir im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, verabschiedete der Budapester Rat einen mutigen Plan zur Kontrolle der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Aber die Regierung, die sich auf sie stützen musste, unternahm systematisch Anstrengungen, um ihnen die Kontrolle über die Produktion und die Versorgung zu entreißen und diese immer mehr den Gewerkschaften zu übertragen. Béla Kun beging damals schwerwiegende Fehler. So erklärte er im Mai 1919: “Unser Industrieapparat fußt auf den Gewerkschaften. Diese müssen sich mehr emanzipieren und zu gewaltigen Betrieben werden, die die Mehrheit der Beschäftigten umfassen, dann alle Beschäftigten einer Industriebranche insgesamt. Die Gewerkschaften beteiligen sich an der technischen Leitung; sie müssen sich darauf ausrichten, langsam die Führungsaufgaben zu übernehmen. So garantieren sie, dass die für das Regime zentralen Wirtschaftsorgane und die arbeitende Bevölkerung zusammen wirken und die Arbeiter sich an die Leitung des Wirtschaftslebens gewöhnen“[23]. Roland Bardy kommentiert diese Analyse kritisch: „Als Gefangener eines abstrakten Schemas, konnte sich Béla Kun nicht der Logik seiner Position bewusst sein, und dass die Sozialisten die Macht übernahmen, die ihnen vorher entrissen worden war (…) Eine Zeit lang werden die Gewerkschaften die Bastion der reformistischen Sozialdemokratie sein, und sich ständig in Konkurrenz mit den Sowjets befinden“[24].

Der Regierung gelang es durchzusetzen, dass nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Bauern Zugang zu den Kooperativen und den Konsumgenossenschaften erhielten. Dies gab den Gewerkschaften einen wichtigen Hebel zur Kontrolle in die Hand.

Béla Kun theoretisierte dies: „Die kommunistische Herrschaft ist die der organisierten Gesellschaft. Wer leben und Erfolg haben will, muss einer Organisation angehören. Die Gewerkschaften dürfen den Mitgliederbeitritt nicht erschweren“[25]. Wie Bardy meint: „Die Gewerkschaften für alle zu öffnen, war ein sicherer Weg, um das zahlenmäßige Übergewicht des Proletariats in seinen Reihen abzuschaffen und somit langfristig die „demokratische“ Funktionsweise der Klassengesellschaft wieder herzustellen.“ (…) „Die alten Arbeitgeber, Grundbesitzer und ihre Diener beteiligten sich nicht an der aktiven Produktion (Industrie und Landwirtschaft), sondern an den Dienstleistungen. Das Aufblähen dieses Bereiches ermöglichte es der alten herrschenden Klasse als Parasitenklasse zu überleben und von der Verteilung der Produkte zu profitieren, ohne jedoch in den aktiven Produktionsprozess integriert zu sein“[26]. Dieses System begünstigte die Spekulation und den Schwarzmarkt, ohne auch nur in der Lage zu sein, die Probleme des Hungers und des Mangels, unter denen die ArbeiterInnen der großen Städte litten, zu lösen.

Die Regierung ermunterte die Schaffung von großen Agrarbetrieben, die von einem System der „Kollektivierung“ beherrscht wurden. Dies war ein großer Betrug. ‚Produktionskommissare’ wurden an die Spitze der kollektivierten Bauernhöfe gestellt, und wenn sie keine arroganten Bürokraten waren, handelte es sich um die alten Großgrundbesitzer! Diese lebten übrigens immer noch auf ihrem Gut und forderten von den Bauern, dass diese sie weiterhin mit „Herr“ anredeten.

Von den kollektivierten Bauernhöfen erwartete man die Ausdehnung der Revolution auf dem Land und die garantierte Versorgung, aber sie leisteten weder das eine noch das andere. Die Tagelöhner und die armen Bauern, die zutiefst von der Wirklichkeit der kollektivierten Betriebe enttäuscht waren, nahmen immer mehr von ihnen Abstand. Übrigens verlangten deren Führer einen Tausch, den die Regierung unmöglich eingehen konnte: landwirtschaftliche Produkte im Austausch für Dünger, Traktoren und Maschinen zu liefern. Sie verkauften deshalb ihre Waren an Spekulanten und Aufkäufer; das hatte zur Folge, dass der Hunger und der Mangel solche Ausmaße erreichten, dass der Budapester Arbeiterrat verzweifelt die Umwandlung von Parks und Gärten in landwirtschaftlich benutzten Boden anordnete.

Die Entwicklung des weltweiten revolutionären Kampfes und die Lage in Ungarn

Die einzige Möglichkeit für das ungarische Proletariat, der Falle, in die es geraten war, zu entrinnen, bestand im Vorantreiben des Kampfes des Weltproletariats. In der Zeit von März bis Juni 1919 gab es große Hoffnungen trotz des heftigen Gegenschlags, den die Niederschlagung des Aufstands im Januar 1919 in Berlin hervorgerufen hatte[27]. Im März 1919 wurde die Kommunistische Internationale gegründet, im April die Bayrische Räterepublik ausgerufen, die durch die sozialdemokratisch geführte Regierung niedergeschlagen wurde. Die revolutionäre Agitation in Österreich, wo sich die Räte konsolidierten, wurde ebenfalls durch das Manöver eines Provokateurs namens Bettenheim abgewürgt, welcher die junge kommunistische Partei zu einem verfrühten Aufstand trieb, der im Mai 1919 leicht nieder geworfen werden konnte. In Großbritannien brach der große Streik in den Clyde Schiffswerften aus, bei dem Arbeiterräte gebildet wurden, und der auch Meutereien in der Armee auslöste. Streikbewegungen entstanden in Holland, Norwegen, Schweden, Jugoslawien, Rumänien, Tschechoslowakei, Polen, Italien und selbst in den USA. Aber diese Bewegungen steckten erst in ihrer Anfangsphase. Damit verfügten die Armeen Frankreichs und Großbritanniens, die am Ende des Krieges noch mobilisiert geblieben waren, noch über einen großen Spielraum, um die Polizistenrolle zu übernehmen und die revolutionären Erhebungen niederzuschlagen. Zunächst konzentrierten sie sich auf Russland (1918–20) und Ungarn (von April 1919 an). Als die ersten Meutereien in der Armee gemeldet wurden, und als Folge der Kampagnen, die im Krieg gegen das revolutionäre Russland geführt wurden, ersetzte man die Rekruten schnell  durch Kolonialtruppen, die gegenüber dem Proletariat viel resistenter waren.

Im Falle Ungarns zog die französische Kommandantur die Lehre aus der Weigerung der Soldaten, die Aufständischen von Szeged gewaltsam niederzuschlagen. Frankreich blieb ein wenig im Hintergrund und hetzte die Nachbarstaaten gegen Ungarn auf: Rumänien und die Tschechoslowakei wurden zur Speerspitze bei den Operationen gegen die ungarischen Arbeiter. Diese Staaten übten die Gendarmenrolle aus, aber sie wollten auch dem ungarischen Staat Gelände entreißen.

Das belagerte Russland konnte nicht die geringste militärische Hilfe leisten. Der Versuch der Roten Armee und der Guerilla–Kämpfer um Nestor Machno, im Juni 1919 eine Offensive im Westen zu starten, um eine Verbindung zu Ungarn aufzubauen, wurde durch den gewaltsamen Gegenangriff des Generals Denikin vereitelt.

Aber das zentrale Problem bestand darin, dass der Hauptfeind des Proletariats “in seinem eigenen Haus” wohnte[28]. Am 30. März schuf die Regierung der „Diktatur des Proletariats“ pompös die Rote Armee in Ungarn. Es war die gleiche alte, aber umgetaufte Armee. All die Schaltstellen waren weiterhin besetzt von den alten Generälen, die von einem Korps politischer Kommissare überwacht wurden, welche von den Sozialdemokraten beherrscht wurden, und aus dem die Kommunisten ausgeschlossen worden waren.

Die Regierung verwarf einen Vorschlag der Kommunisten, die Polizeikräfte aufzulösen. Die Arbeiter dagegen entwaffneten selbst die Wächter. Die Belegschaft mehrerer Budapester Betriebe verabschiedete Resolutionen zu diesem Thema, die sofort umgesetzt wurden: „Nur die Sozialdemokraten erteilten Erlaubnisse. Aber sie ließen es nicht zu, dass die Entwaffnung tatsächlich vollzogen wurde, und nur nach einem langen Widerstand stimmten sie der Entlassung der Polizei, der Gendarmerie und der Sicherheitsgarde zu“[29]. Die Rote Armee wurde per Dekret gebildet; und sie nahm in ihre Reihen entlassene Polizeikräfte auf.

Die Armee und Polizei, Rückgrat des bürgerlichen Staates, blieben somit dank dieser Taschenspielertricks intakt. Es überraschte deshalb nicht, dass die Rote Armee so leicht bei der April–Offensive auseinander brach,  die von den rumänischen und tschechischen Truppen lanciert worden war. Mehrere Regimenter wechselten gar die Seite.

Den mobilisierten Arbeitern gelang es am 30. April gegen die Invasionstruppen vor den Toren Budapests das Blatt zu wenden. Die Anarchisten und die Gruppe um Szamuelly betrieben eine verstärkte Agitation. An der 1. Mai Demonstration beteiligten sich viele Arbeiter; man rief nach der ‚Bewaffnung des Volkes’, und die Gruppe um Szamuelly verlangte, „Alle Macht den Räten“. Am 2. Mai wurde eine Massenveranstaltung organisiert, in der die Arbeiter zur Mobilisierung aufgerufen wurden. Innerhalb weniger Tage schlossen sich allein in Budapest 40.000 Freiwillige der Roten Armee an.

Die Rote Armee, die durch die Aufnahme vieler Arbeiter und die Ankunft von internationalen Brigaden mit französischen und russischen Freiwilligen verstärkt worden war, startete eine Großoffensive, bei der eine Reihe von Siegen über die rumänischen, serbischen und besonders tschechischen Truppen errungen wurden, die eine große Niederlage erlitten und deren Soldaten massiv desertierten. In der Slowakei führten die Aktionen der Arbeiter und rebellierenden Soldaten zur Bildung eines Arbeiterrates, die mit Unterstützung der Roten Armee die Slowakische Räterepublik ausrief (16. Juni). Der Rat schloss ein Bündnis mit der ungarischen Republik und verfasste ein Manifest, das an alle tschechischen Arbeiter gerichtet wurde.

Dieser Erfolg alarmierte die Weltbourgeoisie. „Die Pariser Friedenskonferenz, die über den Erfolg der Roten Armee besorgt ist, richtete am 8. Juni ein neues Ultimatum an Budapest, in dem gefordert wurde, dass die Rote Armee ihren Vormarsch einstelle, und die ungarische Regierung aufforderte nach Paris zu kommen, um „über die ungarischen Grenzen“ zu diskutieren.“ Später wurde ein zweites Ultimatum gestellt, in dem der Einsatz von Gewalt in Erwägung gezogen wurde, wenn das Ultimatum nicht eingehalten würde[30].

Der von Béla Kun unterstützte Sozialdemokrat Bohm wollte um jeden Preis Verhandlungen mit dem französischen Staat aufnehmen, der als ersten Schritt die Aufgabe der Slowakischen Sowjetrepublik forderte, dem am 24. Juni zugestimmt wurde. Diese Republik wurde dann am 28. Juni niedergeschlagen und alle Militanten ab dem darauf folgenden Tag gehängt.

Die Entente vollzog einen taktischen Wandel. Die Ausschreitungen der rumänischen Truppen und ihre territorialen Ansprüche waren die Ursache für ein stärkeres Zusammenrücken um die Rote Armee, was im Mai deren Siege begünstigt hatte. Eine provisorische Regierung wurde in aller Eile um zwei Brüder des früheren Präsidenten Károlyi gebildet, die ihre Regierungsgeschäfte in der von den Rumänen besetzten Zone aufnahm, aber sich wiederum zurückziehen musste. Sie murrte,  um den Anschein einer „unabhängigen Regierung“ zu erwecken. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie trat dann wieder in Erscheinung und unterstützte offen diese Regierung.

Am 24. Januar kam es in Budapest zu einem Aufstandsversuch, der von den rechten Sozialdemokraten organisiert wurde. Die Regierung verhandelte mit den Aufständischen und gab der Forderung nach einem Verbot der « Kumpel Lenins », den internationalen Brigaden und den von den Anarchisten kontrollierten Regimentern nach. Diese Repression beschleunigte das Auseinanderbrechen der Roten Armee : in ihren Reihen kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen, immer mehr Soldaten desertierten und die Meutereien nahmen zu. 

Die endgültige Niederlage und die brutale Niederschlagung

Die Demoralisierung erreichte in der Budapester arbeitenden Bevölkerung ihren Höhepunkt. Viele Arbeiter flüchteten mit ihren Familien aus der Stadt. Auf dem Land nahmen die Bauernaufstände gegen die Regierung zu. Rumänien begann erneut seine Militäroffensive. Von Mitte Juni an hatten die Sozialdemokraten wieder ihre Kräfte zusammengeschlossen, sie verlangten den Rücktritt Béla Kuns und die Bildung einer neuen Regierung unter Beteiligung der Kommunisten. Am 20. Juli befahl Béla Kun eine verzweifelte militärische Gegenoffensive gegen die rumänischen Truppen mit den verbliebenen Überresten der Roten Armee, welche sich dann aber am 23. Juli ergeben mussten. Am 31. Juli trat Béla Kun schließlich zurück. Eine neue Regierung mit den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften an der Spitze wurde gebildet, die sofort eine blutige Repression gegen die Kommunisten, Anarchisten und all die Arbeitermilitanten startete, die noch nicht hatten flüchten können. Szamuelly wurde am 2. August ermordet. 

Am 6. August wurde diese Regierung wiederum durch eine Handvoll Militärs gestürzt, die dabei auf keinen Widerstand stießen. Die rumänischen Truppen zogen in Budapest ein. Die Gefangenen wurden mit mittelalterlichen Foltermethoden gepeinigt, bevor sie getötet wurden. Verletzte oder kranke Soldaten wurden aus den Krankenhäusern geholt und auf die Straße geschleppt, wo sie auf alle möglichen Arten erniedrigt wurden, um dann getötet zu werden. In den Dörfern zwangen die Truppen die Bauern, Prozesse gegen ihre eigenen Nachbarn zu organisieren, die sie als verdächtig  betrachteten, diese Verdächtigen zu foltern und anschließend zu töten. Wer sich weigerte, dessen Haus wurde angezündet, mit den im Haus eingesperrten Bewohnern.

Während 129 Konterrevolutionäre in den 133 Tagen der Räterepublik erschossen worden waren, wurden zwischen dem 15. und 31. August mehr als 5.000 Menschen ermordet. 75.000 Menschen wurden verhaftet. Massenprozesse begannen im Oktober. 15.000 Arbeiter wurden von Militärtribunalen verurteilt, von denen viele die Todesstrafe erhielten oder zu Zwangsarbeit verurteilt wurden.

Zwischen 1920 und 1944 genoss die grausame Diktatur Hortys trotz ihrer Sympathien für den Faschismus die Unterstützung der westlichen Demokratien, dies geschah aus Dank für ihr Vorgehen gegen die Arbeiterklasse.

C. Mir, 4. September 2010

 

[1] siehe Teil 1 in derselben Ausgabe (Internationale Revue 47)

[2] Durch eine koordinierte Aktion besetzten die Bauernkomitees die landwirtschaftlichen Güter des größten Adligen, Graf Esterhazy.

[3] Dies spiegelt die wachsende Politisierung der Arbeiter wider, aber auch ihre unzureichende Bewusstseinsentwicklung, da sie eine Regierung forderten, in der die sozialdemokratischen Verräter und die Kommunisten zusammenarbeiten sollten, obwohl die Kommunisten wegen der Manöver der Sozialdemokraten eingesperrt worden waren.

[4] Während des Ersten Weltkriegs gehörte der Entente das imperialistische Lager um Großbritannien, Frankreich und Russland bis zur Oktoberrevolution 1917 an.

[5] Roland Bardy, 1919, La Commune de Budapest, S. 83. Der Großteil der in diesem Artikel verwerteten Informationen stützt sich auf die französische Ausgabe dieses Buches, das sehr reichhaltig dokumentiert ist.

[6] ebenda

[7] Der zentristische Flügel der ungarischen Partei bestand aus ebenso reaktionären Kadern wie die des rechten Flügels, aber sehr viel gerissener und fähig, sich an die Lage anzupassen.

[8] Roland Bardy, S. 84.

[9] In seinem Buch  Die Ungarische Revolution von 1919 zitiert Béla Szanto in der spanischen Ausgabe S. 88 (Kapitel – «Mit wem hätten sich die Kommunisten verbünden sollen?» einen Sozialdemokraten, Buchinger, der meinte, «das Bündnis mit den Kommunisten auf der Grundlage ihres gesamten Programms sei ohne die geringste Überzeugung umgesetzt worden».

[10] Roland Bardy, S. 85.

[11] ebenda, S. 86.

[12] ebenda, S. 99.

[13] Dieser Mensch hatte im Februar 1919 geschrien: «Die Gewehrläufe müssen auf die Kommunisten gerichtet werden», und im Juli 1919 erklärte er: «Ich kann die geistige Welt, auf die sich die Diktatur des Proletariats stützt, nicht verstehen» (Szanto, op.cit., S. 99).

[14] Béla Szanto, op. cit, S. 82 (spanische Ausgabe), berichtet, dass am darauf folgenden Tag Béla Kun seinen ParteigenossenInnen eingestand, «Die Dinge laufen zu gut, ich hab die ganze Nacht darüber nachgedacht, welche Fehler wir gemacht haben könnten», Kapitel: «Im Sturmlauf zur Diktatur des Proletariats».

[15] In der Anarchistischen Union hob sich eine eigenständig organisierte Tendenz ab, die sich «Die Kumpel Lenins» nannten, und die für die «Verteidigung der Macht der Arbeiterräte» eintrat. Sie spielte eine bedeutsame Rolle während der militärischen Verteidigung der Revolution.

[16] Band 29 der deutschen Ausgabe, S. 213, 230 und 231. Die Dokumente heißen «Niederschrift eines Funktelegramms an Béla Kun» und «Mitteilung über ein Funkgespräch mit Béla Kun».

[17] Der Arbeiterrat Szegeds  – eine Stadt in der entmilitarisierten Zone, die aber tatsächlich von 16.000 französischen Soldaten besetzt war – handelte auf revolutionäre Art und Weise. Am 21. März organisierte der Rat den Aufstand und besetzte alle strategisch wichtigen Punkte. Die französischen Soldaten weigerten sich gegen sie zu kämpfen, die Militärführung beschloss daher den Rückzug. Am 23. März wählte der Rat einen Regierungsrat, an dem sich ein Arbeiter aus der Glasindustrie, einer aus der Bauindustrie und ein Rechtsanwalt beteiligten. Am 24. März wurde Kontakt mit der neuen Budapester Regierung aufgenommen.

[18] Szantó, op. cit., S. 106, Kapitel «Theoretische und prinzipielle Widersprüche und ihre Folgen».

[19] Roland Bardy, op. cit., S. 101.

[20] Béla Szanto, op. cit., S. 91, Kapitel «Mit wem hätten sich die Kommunisen verbünden sollen?»

[21] Roland Bardy, op. cit., S. 105.

[22] ebenda, S. 117.

[23] ebenda, S. 111.

[24] ebenda, S. 112.

[25] ebenda, S. 127.

[26] ebenda, S. 126

[27] Siehe den vierten Teil unserer Serie zur Revolution in Deutschland in: International Review Nr. 136

[28] Béla Szanto, op. cit., S. 146: „Die Konterrevolution fühlte sich so stark, dass sie in ihren Veröffentlichungen Männer als ihnen zugehörig bezeichnen konnte, die an der Spitze der Arbeiterbewegung standen und wichtige Ämter in der Diktatur der Räte innehatten.“

[29] ebenda, S. 104, Kapitel  “Theoretische und prinzipielle Widersprüche und ihre Folgen”.

[30] Alan Woods, La République soviétique hongroise de 1919, la révolution oubliée. Auf spanisch: https://www.marxist.com/republica–sovietica–hungara–1919.htm [8]

Historische Ereignisse: 

  • Ungarn; Revolution; 1919 [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [7]

Editorial: Soziale Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, nukleare Katastrophe in Japan, Krieg in Libyen:

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Die letzten Monate waren reich an historischen Ereignissen. Auch wenn die Revolten im Maghreb und im Nahen Osten keinen Zusammenhang haben mit dem Tsunami, der über Japan hinweggefegt ist und eine nukleare Katastrophe zur Folge gehabt hat, so zeigen doch all diese Ereignisse mit aller Deutlichkeit auf, welche Alternative sich mehr denn je für die Menschheit stellt: Sozialismus oder Barbarei. Während die Erhebungen in vielen Ländern ein Echo gefunden haben, entlarvt sich die kapitalistische Gesellschaft als vollkommen unfähig, die Kernkraft unter Kontrolle zu halten. Umgekehrt steht der Heroismus der japanischen Arbeiter, die ihr Leben in den Trümmern der Atomanlage von Fukushima riskieren, in schreiendem Gegensatz zur Heuchelei der großen imperialistischen Staaten im Konflikt in Libyen. Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit vor dem kapitalistischen Horror retten

Die letzten Monate waren reich an historischen Ereignissen. Auch wenn die Revolten im Maghreb und im Nahen Osten keinen Zusammenhang haben mit dem Tsunami, der über Japan hinweggefegt ist und eine nukleare Katastrophe zur Folge gehabt hat, so zeigen doch all diese Ereignisse mit aller Deutlichkeit auf, welche Alternative sich mehr denn je für die Menschheit stellt: Sozialismus oder Barbarei. Während die Erhebungen in vielen Ländern ein Echo gefunden haben, entlarvt sich die kapitalistische Gesellschaft als vollkommen unfähig, die Kernkraft unter Kontrolle zu halten. Umgekehrt steht der Heroismus der japanischen Arbeiter, die ihr Leben in den Trümmern der Atomanlage von Fukushima riskieren, in schreiendem Gegensatz zur Heuchelei der großen imperialistischen Staaten im Konflikt in Libyen.

Massenmobilisierungen haben Regierungen gestürzt

Seit einigen Monaten haben Protestbewegungen in einem geografisch noch nie da gewesenen Ausmaß verschiedene Länder erfasst . Die ersten Revolten im Maghreb haben schnell eine Ausbreitung erfahren und einige Wochen später sind auch in Jordanien, Jemen, Bahrain, im Iran und in afrikanischen Ländern südlich der Sahara Demonstrationen ausgebrochen. All diese Bewegungen sind in ihrem Klassencharakter, und auch in der Reaktion der herrschenden Klasse, nicht identisch. Doch die ökonomische Krise welche die Bevölkerung seit 2008 in eine immer erdrückendere Misere stürzt, machte die korrupten und repressiven Regime in dieser Region immer unerträglicher. Die Arbeiterklasse hat bis anhin noch nicht als eine selbständige Kraft auftreten können in dem Sinne, dass sie die Richtung der Revolten, welche sich oft als Revolten aller ausgebeuteten Schichten, der ruinierten Bauernschaft und der verarmenden Mittelschichten manifestierten, hätte in die Hände nehmen können. Doch war der Einfluss der Arbeiter auf das Bewusstsein bei den Parolen und Organisationsformen, die sich die Bewegungen gaben, spürbar. Eine Tendenz zur Selbstorganisierung hat sich beispielsweise bei den Komitees zum Schutz der Quartiere gezeigt, welche sich in Ägypten und Tunesien gegen die Repression der Polizei und die absichtlich aus Gefängnissen entlassenen Diebesbanden, die ein Chaos anrichten sollten, formierten. Sicher, viele dieser Revolten haben offen versucht, die Bewegung durch Massendemonstrationen, Versammlungen und Treffen zur Koordination und Zentralisierung der Entscheide zu verstärken. Anderseits spielte die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Ereignisse. In Ägypten ist die Arbeiterklasse wohl die geballteste und erfahrenste der Region, und die Streiks waren dort am massivsten. Die schnelle Ausbreitung der Bewegung und die Zurückweisung der versuchten gewerkschaftlichen Kontrolle haben entscheidend dazu geführt, dass die Militärführung zusätzlich unter dem Druck der USA gezwungen war, Hosni Mubarak zu feuern.               

Da die Mobilisierungen zahlreich sind und der Sturm der Revolte auch in anderen Ländern aufkommt, hat die herrschende Klasse größte Schwierigkeiten alles im Griff zu behalten. Gerade in Tunesien und Ägypten, wo der „Frühling des Volkes“ angeblich triumphiert, gehen die Konfrontationen gegen den „demokratischen Staat“ weiter. Alle diese Revolten sind eine großartige Erfahrung auf dem Weg hin zu einem revolutionären Bewusstsein. Wenn diese Welle von Aufständen, das erste Mal seit langer Zeit, eine Verbindung schuf zwischen ökonomischen Problemen und politischen Fragen, so machte deren Antwort noch Halt vor den Illusionen welche auf der Arbeiterklasse lasten, vor allem vor den demokratischen und nationalistischen Verblendungen. Diese Schwäche hat den demokratischen Pseudo-Oppositionellen erlaubt, sich als eine Alternative zu den korrupten Regierungs-Cliquen darzustellen. In Wirklichkeit stammen diese „neuen“ Regierungen meist aus dem Harem der alten Regime und die Situation grenzt oft an Clownerie. In Tunesien hat die Bevölkerung einen Teil der Regierung zum Rücktritt gezwungen, weil sie allzu offensichtlich eine Neuauflage des Ben Ali Regimes war. In Ägypten hält das Militär, welches die historische Stütze Mubaraks war, die Geschicke des Staates in den Händen und manövriert aus dieser Position heraus. In Libyen wird der „Nationale Übergangsrat“ vom ehemaligen Innenminister Gaddafis  Abdel Fattah Yunes al Abidi und einer Bande von alten hochrangigen Funktionären angeführt, welche über Jahre die Repression organisiert haben und von der Gunst ihres Führers profitierten und jetzt flugs auf den Geschmack gekommen sind, sich als Verteidiger der Menschenrechte und der Demokratie ausgeben.

In Libyen tobt der Krieg auf den Trümmern der Revolte der Massen

Aufgrund dieser Schwächen hat sich auch die Situation in Libyen in eine besondere Richtung entwickelt. Was anfänglich eine Erhebung der Bevölkerung gegen das Regime von Gaddafi war, hat sich in einen Krieg zwischen verschiedenen Lagern der herrschenden Klasse verwandelt, auf den sich die großen imperialistischen Staaten wie Geier stürzen und ein surrealistisches und blutiges Schmierentheater veranstalten. Diese Verschiebung von der Ebene des Klassenkampfes auf die Ebene der Interessen der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen um die Kontrolle des libyschen Staates war vor allem deshalb möglich, weil die Arbeiterklasse in Libyen relativ schwach ist. Die lokale Industrie ist rückständig und vor allem auf die Erdölförderung konzentriert, welche direkt vom Gaddafi-Clan kontrolliert wird, der nie das Interesse hatte, die nationalen Interessen über seine eigenen Interessen zu stellen. Die Arbeiterklasse in Libyen ist zu großen Teilen aus ausländischen Arbeitskräften zusammengesetzt, welche sich anfänglich an den Protesten beteiligen konnten, aber dann aus Angst vor den Massakern flüchten mussten und sich wohl kaum mit einer „Revolution“ mit nationalistischen Akzenten identifizieren können. Libyen beweist heute auf tragische Art und Weise, wie notwendig es für die Arbeiterklasse ist, bei Volksaufständen eine zentrale Rolle zu spielen. Das Fehlen dieser Fähigkeit erklärt weitgehend die Entwicklung der Lage in Libyen.

Seit dem 19. März, nach mehreren Wochen von Massakern, hat unter der Fahne einer humanitären Intervention zum „Schutz der tyrannisierten libyschen Bevölkerung“ eine eigenartige Koalition Kanadas, der USA, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens usw. direkt militärisch interveniert, um den Nationalen Übergangsrat zu unterstützen. Täglich werden Marschflugkörper abgeschossen und Flugzeuge werfen Bombenteppiche ab, vor allem über den Gebieten, die von den Gaddafi-treuen Truppen kontrolliert werden. Dies ist nichts anders als ein Krieg. Was sofort ins Auge sticht, ist die Verlogenheit der Regierungen dieser großen imperialistischen Mächte, welche sich einerseits mit der Flagge der Humanität schmücken, um ihren Krieg zu rechtfertigen, und andererseits angesichts der Massaker an den revoltierenden Massen in Bahrain, Jemen und Syrien keinen Finger rühren. Wo war diese großartige Koalition, als Gaddafi 1996 im Gefängnis von Abu Salim in Tripolis 1000 Insassen umbringen ließ? Dieses Regime hat über 40 Jahre lang eingekerkert, gefoltert, terrorisiert, Leute verschwinden lassen und umgebracht… ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wo war diese Koalition als Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten oder Bouteflika in Algerien im Januar und Februar auf die Aufständischen schießen ließ? Hinter der verlogenen Rhetorik der Großmächte häufen sich die Toten in den Leichenhallen. Die NATO hat schon jetzt vorgesehen, ihre Militäroperation fortzusetzen, bis zum Triumph des Friedens und der Demokratie.

In Wahrheit beteiligt sich heute jede Großmacht im Namen der eigenen Interessen am Krieg in Libyen. Die Spannungen innerhalb dieser Kriegskoalition, die unfähig ist, geeint vorzugehen, illustrieren, wie diese Staaten am Abenteuer in Libyen mit unterschiedlichem Engagement teilnehmen und sich wie Hyänen über den Kadaver hermachen, nur um ihren eigenen Einfluss in der Region zu verstärken. Für die USA ist Libyen kein strategischer Hauptplatz, weil sie in der Region schon über Verbündete wie Ägypten und Saudi-Arabien verfügen. Dies erklärt auch die anfängliche Unentschlossenheit der USA bei den Verhandlungen der UNO. Die USA haben als historischer Verbündeter Israels in der arabischen Welt einen katastrophalen Ruf, den die Invasionen in Afghanistan und Irak nur verstärkt haben. Dazu kommt, dass während der Revolten Regierungen an die Macht kamen, welche offener sind für anti-amerikanische Tendenzen, und wenn sich die USA ihre Zukunft in der Region nicht verbauen wollen, müssen sie bei den neuen Regierungscliquen ihren Ruf aufpolieren. Doch die USA können Großbritannien und Frankreich das Feld nicht allein überlassen. Diese haben, in unterschiedlicher Form, auch den Zwang, ihren Ruf aufzubessern, vor allem Großbritannien nach den Interventionen in Afghanistan und im Irak. Die französische Regierung verfügt trotz all ihrer Missgeschicke in den arabischen Ländern über eine gewisse Beliebtheit, die unter De Gaulle aufgebaut und durch die Weigerung, sich 2003 am Krieg im Irak zu beteiligen, verstärkt wurde. Eine Intervention gegen einen Gaddafi, der für die Nachbarstaaten allzu unkontrollierbar und unberechenbar ist, eröffnet für Frankreich die Möglichkeit, seinen Einfluss zu verstärken. Hinter den schönen Parolen und der verlogenen Freundlichkeit interveniert jede herrschende Klasse dieser Länder zu ihren eigenen Gunsten in Libyen und beteiligt sich, neben Gaddafi, an diesem makaberen Todestanz.

In Japan und anderswo: die Natur kennt Phänomene, der Kapitalismus produziert Katastrophen

Einige Tausend Kilometer von Libyen entfernt, in Japan, der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, streut der Kapitalismus ebenfalls den Tod und zeigt, dass auch in den industrialisiertesten Ländern die Menschheit vor der Irrationalität und dem Leichtsinn der Bourgeoisie nicht sicher ist. Die Medien haben das Erdbeben und den Tsunami, die in Japan Zerstörung anrichteten, wie immer als ein Schicksal dargestellt, gegen das niemand etwas anrichten könne. Zweifellos, es ist nicht möglich zu verhindern, dass Naturgewalten ausbrechen, doch die Besiedlung von Hochrisikozonen mit Holzhäusern ist kein „Schicksal“ - und schon gar nicht der Bau von Atomkraftwerken in solch gefährdeten Zonen! Die herrschende Klasse ist direkt verantwortlich für die Tragweite dieser Katastrophe. Den Bedürfnissen der Produktion unterworfen, hat der Kapitalismus die Bevölkerung und die Industrie in krankhaftester Weise konzentriert. Japan ist eine Karikatur dieses geschichtlichen Phänomens: Millionen von Leuten sind an der Küste eines dünnen Landstrichs konzentriert, der besonders anfällig ist auf Erdbeben und dadurch ausgelöste Flutwellen. Erdbebensichere Infrastruktur existiert für die Reichen und für Bürogebäude, die zwar viele vor den Fluten beschützten, doch die Arbeiterklasse haust in hölzernen Hasenställen, in Gebieten von denen jeder weiß, dass sie hoch gefährdet sind. Es wäre logisch, die Bevölkerung weiter von den Küsten weg anzusiedeln. Doch Japan ist ein Exportland, und um den Profit zu maximieren, baut man die Fabriken in der Nähe der Häfen. Fabriken sind von den Wassermassen weggespült worden, was zusätzlich zur nuklearen Katastrophe ein ökonomisches Desaster bedeutet. Eine menschliche Katastrophe spielt sich in einem Zentrum des Weltkapitalismus ab. Größte Teile der Infrastruktur und Ausrüstung sind außer Betrieb und Zehntausende von Leuten ihrem Schicksal überlassen, ohne zureichende Wasserversorgung und Essen.

Doch die Irrationalität und der Leichtsinn der herrschenden Klasse beschränken sich nicht allein auf dies: 17 Atomkraftwerke wurden in dieser gefährdeten Region bebaut. Die Situation rund um den Reaktor von Fukushima, der stark beschädigt wurde, ist noch unsicher, doch die schwammigen Stellungnahmen der Regierenden lassen das Schlimmste befürchten. Es scheint sich ein nukleares Desaster von der Größenordnung Tschernobyls 1986 abzuspielen, vor den Augen einer komplett handlungsunfähigen Regierung, die sich darauf beschränkt, die Ruinen zu zuschütten und dabei zahlreiche Arbeiter opfert. Die Gewalt der Natur hat nichts mit der Katastrophe zu tun, die sich abspielt. Der Bau dieser Anlagen an den gefährdetsten Küsten ist wohl kaum eine brillante Idee, speziell wenn sie über Jahrzehnte in Gebrauch sind und minimal erneuert werden. Es hört sich verrückt an, dass die Anlage von Fukushima schon Hunderte von Störfällen hinter sich hat, welche auf schlechte Wartung zurückzuführen sind, und aufgrund dieser Schlamperei viele Kaderangestellte den Betrieb empört verlassen haben.

Nicht die Natur ist verantwortlich für dieses Desaster: Die absurden Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft sind von A bis Z schuld daran, sowohl in den ärmsten sowie auch in den mächtigsten Ländern. Die Situation in Libyen und die Ereignisse in Japan zeigen auf, dass uns die Bourgeoisie nur noch ein zunehmendes Chaos zu bieten hat. Die Revolten in den arabischen Ländern, auch wenn sie Schwächen beinhalten, zeigen uns einen anderen Weg - den des Kampfes der Ausgebeuteten gegen den kapitalistischen Staat, den einzigen Ausweg aus der generalisierten Katastrophe, welche die Menschheit bedroht.

V, 27. März 2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Maghreb [9]
  • Fukushima [10]
  • Lybien [11]
  • Revolten [12]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [13]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 1914-23: Zehn Jahre die die Welt erschütterten

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Die zehn Jahre zwischen 1914-1923 gehören zu den dichtesten Jahren der Geschichte der Menschheit. Innerhalb einer sehr kurzen Zeit fand ein schrecklicher Krieg statt, der  Erste Weltkrieg, der 30 Jahre wirtschaftliche Blütephase und ununterbrochenes Vorwärts schreiten der kapitalistischen Wirtschaft und des gesamten gesellschaftlichen Lebens zu Ende brachte. Gegenüber diesem Massentöten erhob sich 1917 das internationale Proletariat, angeführt von der russischen Arbeiterklasse. 1923 flachte das Echo dieser revolutionären Welle ab, nachdem sie durch die Reaktion der Bürgerlichen niedergeschlagen worden war. Innerhalb von 10 Jahren erlebte die Menschheit den Weltkrieg, der den Zeitraum der Dekadenz eröffnete, die Revolution in Russland und weltweit revolutionäre Anstürme und schließlich den Beginn einer von der bürgerlichen Konterrevolution ausgeübten Barbarei. Dekadenz des Kapitalismus, Weltkrieg, Revolution und Konterrevolution – sie alle prägten das wirtschaftliche, gesellschaftliche, psychologische und kulturelle Leben der Gesellschaft der Menschheit quasi ein Jahrhundert lang, und das alles dicht und intensiv gebündelt in einem kurzen Zeitraum von einem Jahrzehnt. Die heutigen Generationen müssen dieses Jahrzehnt gut kennen,  es verstehen, über dessen Bedeutung nachdenken, die Lehren daraus ziehen. Dies ist heute umso wichtiger, weil die Unkenntnis über die wahre Bedeutung dieses Zeitraums sehr groß ist. Dies ist vor allem auf den Berg von Lügen zurückzuführen, mit dem die herrschende Ideologie versucht hat, alles in Vergessenheit geraten zu lassen. Es spiegelt aber auch die Merkmale dieser Ideologie wider, welche bewusst oder unbewusst, gefesselt ist an die unmittelbare Situation und die Vergangenheit und die Zukunftsperspektiven ausblendet.

Diese Bindung an das Unmittelbare und Zufällige, dieses „für den Augenblick“ Leben, ohne Nachdenken, ohne Begreifen der Wurzeln, ohne sich an einer Perspektive zur Zukunft zu orientieren, erschwert die Kenntnis der Wesenszüge jener unglaublichen 10 Jahre, deren kritisches Studium uns hilfreiche Hinweise zum Begreifen der jetzigen Lage liefert.

Heute kennt man kaum den enormen Schock, den damals der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der damit verbundene qualitative Sprung in die Barbarei in der Bevölkerung auslöste. Nachdem die Menschheit quasi ein Jahrhundert lang imperialistische Krise mit all ihrem Terror, Zerstörung und insbesondere mit ihrer ideologischen und moralischen Barbarei erlebt hat, erscheint all dies heute als „das Normalste auf der Welt“,  was scheinbar keine Empörung und Rebellion mehr hervorrufen vermag. Aber damals war dies keineswegs die Haltung der Zeitgenossen, die seinerzeit zutiefst erschüttert wurden durch einen Krieg, dessen Bestialität einen bis dahin noch nie erreichten Punkt überschritt.

Noch weniger ist bekannt, dass dieses gewaltige Abschlachten im Ersten Weltkrieg nur dank der allgemeinen Erhebung des internationalen Proletariats mit den russischen ArbeiterInnen an der Spitze beendet wurde. Die ungeheure Sympathie, welche die Russische Revolution unter den Ausgebeuteten der ganzen Welt auf sich zog, ist auch kaum bekannt. Über die zahlreichen Episoden der Solidarität mit den russischen ArbeiterInnen und die Versuche der Nachahmung des russischen Beispiels woanders auf der Welt wurde ein dichter Schleier des Schweigens und der Verzerrung gelegt. Ebenso wenig bekannt sind die Gräueltaten zahlreicher demokratischer Regierungen, angefangen mit der deutschen, welche diese begingen, um den revolutionären Elan der Massen zu ersticken und niederzuschlagen.

Die größte und schlimmste Verzerrung kann man gegenüber der Oktoberrevolution 1917 feststellen. Sie wird systematisch als ein russisches Phänomen dargestellt, außerhalb des historischen Rahmens, den wir oben erwähnt haben; stattdessen werden zügellos Lügen und die schlimmsten Verleumdungen verbreitet. So sei sie zum Beispiel der Geniestreich – so die stalinistische Version oder ein Streich des Teufels, so die Gegner – Lenins und seiner Bolschewiki gewesen. Oder sie sei eine bürgerliche Revolution als Reaktion auf die zaristische Rückständigkeit gewesen, da damals die sozialistische Revolution unmöglich gewesen sei. Und der fanatische Eifer der Bolschewiki habe nur zu einer Niederlage führen können…

Aus diesem Blickwinkel wurde das internationale Echo der Oktoberrevolution als ein Modell dargestellt, das auf andere Länder übertragen werden könne. Dies ist die größte Deformation des Stalinismus. Diese Methode der Nachahmung des „Modells“ ist doppelt irreführend und hinterlistig. Erstens wird die Russische Revolution als ein nationales Phänomen dargestellt; und zweitens als ein „Sozialexperiment“, das von einer ausreichend entschlossenen und trainierten Gruppe einfach nach deren Willen übertragen werden könnte.

Diese Vorgehensweise verzerrt ganz gewaltig die Wirklichkeit der damaligen historischen Epoche. Die Russische Revolution war kein Experiment aus dem Labor, ausgetüftelt hinter den vier Wänden seines gewaltigen Territoriums. Sie war ein lebendiger und aktiver Bestandteil eines weltweiten Prozesses der Antwort der Arbeiter, ausgelöst durch den Krieg und die gewaltigen Leiden, die durch diesen hervorgerufen wurden. Die Bolschewiki hatten nicht die geringsten Absichten, ein fanatisches Modell aufzuzwingen, bei dem das russische Volk als Versuchskaninchen ausgenutzt wurde. In einer Resolution, die im April 1917 von der Partei verabschiedet wurde, stand: „Die objektiven Bedingungen der sozialistischen Revolution, welche fraglos in den fortgeschrittensten Ländern vor dem Krieg existierten, sind noch mehr heran gereift und   reifen als Konsequenz des Krieges mit einer Schnelligkeit weiter. Die Russische Revolution ist nur die erste Etappe der ersten Revolution die als Konsequenz des Krieges ausbricht. Die gemeinsame Aktion der Arbeiter verschiedener Ländern ist der einzige Weg welcher die kontinuierliche Entwicklung und den sicheren Erfolg der sozialistischen Weltrevolution garantiert.“

Es ist wichtig zu begreifen, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung die weltweite revolutionäre Welle von 1917-23 – wenn sie diese nicht total verzerrt – völlig unterschätzt. Zum Beispiel im Erweiterten Exekutivkomitee-Treffen der Komintern von 1925, d.h. als die Stalinisierung schon eingesetzt hatte, wurde die Revolution in Deutschland als eine „bürgerliche Revolution“ eingestuft, womit all das in den  Abfalleimer der Geschichte geworfen wurde, was die Bolschewiki zwischen 1917-23 verteidigt hatten.

Diese Meinung, die heute von so vielen Historikern wie Politikern verbreitet wird, wurde damals von ihren damaligen Kollegen nicht geteilt. Lloyd George, ein britischer Politiker sagte 1919: „In ganz Europa sprudelt ein revolutionärer Geist. Es gibt ein tief greifendes Gefühl nicht nur der Unzufriedenheit, sondern der Wut und Revolte der ArbeiterInnen gegen ihre Lebensbedingungen nach dem Krieg. Die gesamte bestehende Ordnung wird auf politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene durch die Bevölkerung von einem Ende Europas bis zum anderen infrage gestellt“.

Die Russische Revolution kann nur als ein Teil eines revolutionären Ansturms der gesamten internationalen Arbeiterklasse verstanden werden. Aber gleichzeitig muss man die historische Epoche berücksichtigen, in der dieser stattfand: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die tiefer gehende Bedeutung desselben, d.h. der Eintritt des Kapitalismus in seinen historischen Niedergang, seine Dekadenz. Mit anderen Worten – man muss die Grundlagen berücksichtigen, um die Lage und deren Bedeutung zu begreifen. Aber gleichzeitig verlieren der Weltkrieg und die ganze Reihe der darauf folgenden Ereignisse ihre Bedeutung oder erscheinen als etwas Außergewöhnliches ohne irgendwelche Folgen, oder sie werden dargestellt als das Ergebnis einer unheilvollen Konjunktur, die wir heute hinter uns gelassen haben, so dass die heutige Lage überhaupt keine Verbindung zu damals hätte.

In unseren Artikeln haben wir mit Nachdruck gegen diese Sicht Stellung bezogen. Wir sind dabei von einem historischen und weltweiten Standpunkt ausgegangen, der den Marxismus auszeichnet. Wir glauben, dass man solch eine kohärente Erklärung für diese Epoche liefern kann, die als Orientierung für das Begreifen auch der gegenwärtigen Epoche dient und damit beiträgt zur Befreiung der Menschheit vom Joch des Kapitalismus. Mit anderen Worten, sowohl die Lage damals als auch die heutigen Verhältnisse können nicht verstanden werden und bleiben ohne Perspektive für all diejenigen, die zu einer revolutionären Umwälzung beitragen wollen; man würde sich hilflos einem Empirismus unterwerfen und nur im Dunkeln umher tappen. 

Mit diesen Artikeln wollen wir – als Fortsetzung der anderen Beiträge zu diesem Themenkomplex – jene Zeit besser beleuchten; wir stützen uns dabei auf Zeugenaussagen und Berichte von Teilnehmern. Wir haben uns ausführlich mit der Russischen und Deutschen Revolution befasst. Jetzt wollen wir uns mit weniger bekannten Erfahrungen in anderen Ländern befassen; all das mit dem Ziel, einen weltweiten Blick zu entwickeln. Denn wenn man diese Epoche ein wenig kennen lernt, ist man ganz erstaunt über die Vielzahl von Kämpfen und das ungeheure Echo, das die Revolution 1917 weltweit fand. Wir wollen damit ebenfalls zur Debatte und anderen Beiträgen von GenossInnen und revolutionären Gruppen auffordern.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [7]

Internationaler Klassenkampf: Was ist los in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten?

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Die gegenwärtigen Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen für ihre Analyse zu entwickeln. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse. Sie tragen lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte zur Debatte bei.[1]

Eine Welle von Kämpfen und ihre Unterschiede

1. Seit 1848 und 1917-1919 haben wir solch eine breitgefächerte, simultane Welle von Revolten nicht mehr gesehen. Das Epizentrum der Bewegung lag in Nordafrika (Tunesien, Ägypten und Libyen, aber auch Algerien und Marokko), Proteste gegen die bestehenden Regime sind im Gaza-Streifen, Jordanien, Irak, Iran, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien ausgebrochen, während in einer Reihe anderer repressiver arabischer Staaten, insbesondere Syrien, eine  erhöhte Alarmbereitschaft herrscht. Und das Echo dieser Proteste ist auch in anderen Teilen Afrikas zu vernehmen: Sudan, Tansania, Simbabwe, Swaziland…  Den Widerhall dieser Revolten spürt man auch bei den Demonstrationen gegen korrupte Regierungen und gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Kroatien, angesichts der Spruchbänder und Slogans der Studentendemos in Großbritannien sowie des Arbeiterkampfes in Wisconsin und sicher auch in vielen anderen Ländern. Das heißt nicht, dass all diese Bewegungen in der arabischen Welt identisch wären; sie sind es weder auf der Ebene ihres Inhaltes, ihrer Forderungen, noch hinsichtlich der Reaktion der herrschenden Klasse, aber es gibt sicher eine Reihe von Gemeinsamkeiten, weshalb man von dem Phänomen insgesamt sprechen kann.

Der historische Kontext

2. Der historische Rahmen, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ist folgender:

– Eine tiefe, ja die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus, die die schwächeren arabischen Länder mit besonderer Wucht getroffen hat und die jetzt schon Millionen  Menschen in bittere Armut gestürzt hat, wobei die Aussichten sich immer mehr verschlechtern. Die Jugend, die im Gegensatz zu vielen „überalterten“ Industriegesellschaften einen großen Bevölkerungsanteil ausmacht, ist durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit für die unzähligen gebildeten, aber auch ungebildeten jungen Menschen besonders hart getroffen. Bei allen Protesten stand die Jugend an vorderster Front.

- Das unerträglich korrupte und repressive Wesen all dieser Regimes in der Region. Nachdem lange Zeit die Bevölkerung durch das brutale Vorgehen der Geheimpolizei oder der Armee atomisiert oder terrorisiert werden konnte, tragen diese Waffen des Staates nun mit dazu bei, dass der Wille in der Bevölkerung wächst, zusammenzukommen und gemeinsam Widerstand zu leisten. Das war besonders ersichtlich in Ägypten, als Mubarak seine Schlägerbanden und Zivilpolizisten  auf die Menschen hetzte, die den Tahrir-Platz besetzten, um diese zu terrorisieren. Diese Provokationen verstärkten nur die Entschlossenheit der Menschen, sich zu verteidigen; statt der erhofften Einschüchterung strömten noch mehr Menschen herbei. Die empörende Korruption und die Gier der herrschenden Cliquen, die ungeheure Mengen an privatem Reichtum gescheffelt haben, während der Großteil der Menschen täglich ums Überleben kämpft, hat die Flammen der Rebellion weiter angefacht, nachdem die Menschen erst einmal die Angst verloren hatten.

– Diese plötzliche Furchtlosigkeit, die so stark ins Auge sprang, ist nicht nur das Resultat von Veränderungen auf örtlicher und regionaler Ebene, sondern auch die Folge einer veränderten Stimmung, der Unzufriedenheit und des offenen Klassenkampfes auf internationaler Ebene. In Anbetracht der Wirtschaftskrise zeigen die Ausgebeuteten und die Unterdrückten immer weniger Bereitschaft, die ihnen abverlangten Opfer zu leisten. Auf dieser Ebene ist wiederum die Rolle der neuen Generation ausschlaggebend gewesen; in diesem Sinn haben auch die Jugendrebellion in Griechenland vor zwei Jahren, die Studentenkämpfe in Großbritannien und Italien, der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich ihren Einfluss in der “arabischen” Welt hinterlassen, insbesondere im Zeitalter von Facebook und Twitter, in dem es der herrschenden Klasse viel schwerer fällt, eine lückenlose Nachrichtensperre über die Kämpfe gegen die bestehenden Verhältnisse zu verhängen.

Zum Klassencharakter dieser Bewegungen

3. Der Klassencharakter dieser Bewegungen ist nicht einheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land und je nach Phase. Insgesamt jedoch kann man sie als Bewegungen der nichtausbeutenden Klassen, als Sozialrevolten gegen den Staat bezeichnen. Im Allgemeinen steht die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie spielt sicherlich eine wesentliche Rolle und übt Einfluss aus, was sich an den Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen an der spezifischen Entwicklung der Arbeiterkämpfe ablesen lässt, wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten, die ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung war, Mubarak fallen zu lassen (siehe dazu andere Artikel in unserer Presse). In den meisten dieser Länder ist die Arbeiterklasse nicht die einzige unterdrückte Klasse. Die Bauernschaft und andere Schichten, die aus noch älteren Produktionsweisen stammen, haben noch ein großes Gewicht auf dem Lande, auch wenn sie sehr zersplittert und durch Jahrzehnte kapitalistischen Niedergangs ruiniert sind. Dagegen lebt die Arbeiterklasse in den Städten, in denen das Zentrum der Revolten lag, Seite an Seite mit einer zahlenmäßig starken Mittelschicht, die zwar proletarisiert wird, dabei jedoch immer noch ihre Besonderheiten aufrechthält, und einer Masse von Slumbewohnern, die teilweise aus Arbeitern, teilweise aus kleinen Händlern und einem Heer von „Deklassierten“ bestehen. Selbst in Ägypten, wo es die am stärksten gebündelte und erfahrenste Arbeiterklasse im arabischen Raum gibt, haben, so hoben Augenzeugen hervor, die Proteste am Tahrir-Platz „sämtliche Klassen” mobilisiert, mit Ausnahme der höheren Chargen des herrschenden Regimes. In anderen arabischen Ländern war das Gewicht der nicht-proletarischen Schichten weitaus größer, als dies in den Kämpfen in den meisten zentralen Ländern der Fall ist.

Die Notwendigkeit, den Klassencharakter der Bewegung besser zu erfassen

4. Bei dem Versuch, den Klassencharakter dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei sich ergänzende Fehler vermeiden: auf der einen Seite die Vermengung all dieser Massen mit dem Proletariat (eine Position, die am deutlichsten von der Groupe Communiste Internationaliste – GCI verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Ablehnung alles Positiven in den Revolten, da sie nicht explizite Arbeiterrevolten sind. Ein Blick zurück auf die Ereignisse im Iran Ende der 1970er Jahre: auch damals gab es eine Volkserhebung, in der die Arbeiterklasse eine Zeitlang eine führende Rolle spielte, was jedoch am Ende nicht verhinderte, dass die Bewegung von den Islamisten einverleibt wurde. Auf einer größeren, historischen Ebene stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und allgemeinen gesellschaftlichen Revolten auch dem Staat in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus – einem Staat, der aus der Bewegung aller nicht-ausbeutenden Klassen hervorgeht, gegenüber dem die Arbeiterklasse aber ihre Selbständigkeit bewahren muss.

Die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse – ein Bezugspunkt?

5. In der Russischen Revolution 1917 wurden die Sowjets durch die Arbeiter ins Leben gerufen, aber sie stellten auch für die anderen unterdrückten Schichten ein Modell für ihre Organisierung dar. Ohne das richtige Augenmaß zu verlieren – es ist noch ein weiter Weg bis zum Anbruch einer revolutionären Situation, in der die Arbeiterklasse eine klare politische Führung gegenüber den anderen Schichten übernehmen kann –, ist  es offensichtlich, dass die Methoden des Arbeiterkampfes die sozialen Revolten in der arabischen Welt beeinflusst haben, was deutlich wird:

– In den Tendenzen zur Selbstorganisierung, deren deutlichster Ausdruck die Nachbarschaftsschutzkomitees waren, die als Reaktion auf die Taktik des ägyptischen Regimes gegründet wurden, kriminelle Banden auf die Bevölkerung zu hetzen. Sie werden auch deutlich in der „Delegiertenstruktur“ einiger der größten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz, überhaupt in dem ganzen Prozess kollektiver Diskussion und Entscheidungsfindungen.

- In der Besetzung von Räumen und Plätzen, die normalerweise vom Staat kontrolliert werden, um einen zentralen Brennpunkt für Versammlungen und die Organisierung auf breiterer Ebene zu schaffen.

– In dem kollektiven Eintreten für die Notwendigkeit, sich selbst entschlossen gegen Schläger und Polizisten zur Wehr zu setzen, die von dem Regime gegen sie gehetzt wurden, wobei man gleichzeitig aber Gewalt, Zerstörung und Plünderung als Selbstzweck vermeiden wollte.

– In den bewussten Anstrengungen, sektiererische und andere Spaltungen zu überwinden, von denen das Regime stets zynisch Gebrauch machte: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Schiiten und Sunniten, religiösen und weltlichen Gruppen, Männern und Frauen.

– In den zahlreichen Versuchen der Verbrüderung mit den unteren Rängen der Soldaten, den Rekruten.

Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse auf eine lange Tradition von Kämpfen schauen kann und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat, indem sie eine Reihe von Kämpfen begann, die – wie jene von 2006-07 – als „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese Kämpfe enthielten viele der wichtigsten Merkmale des Massenstreiks: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die kompromisslose Ablehnung der staatlichen Gewerkschaften, gewisse Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Formulieren von politischen und ökonomischen Forderungen. Hier erkennt man in Ansätzen die Fähigkeit der Arbeiterklasse, als Tribüne, als Dreh– und Angelpunkt für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten.

Das Gewicht der Illusionen und andere Gefahren

6. All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, es stehen noch viele Hindernisse im Weg, Illusionen und ideologische Schwächen.

– Illusionen – vor allem über die Demokratie – sind noch sehr stark in jenen Ländern, in denen eine Mischung aus militärischen Tyrannen und korrupten Monarchien herrscht, in denen die Geheimpolizei allgegenwärtig ist und Verhaftungen, Folter und Ermordung von Dissidenten an der Tagesordnung sind. Diese Illusionen bieten der demokratischen „Opposition“ eine Gelegenheit, sich als eine Regierungsalternative anzubiedern: El Baradei und die Muslimbruderschaft in Ägypten, die Übergangsregierung in Tunesien, der Nationalrat in Libyen … In Ägypten macht man sich vor allem große Illusionen über die Armee als eine Kraft, die „auf Seiten des Volkes“ steht, obgleich jüngste Repressionsmaßnahmen seitens der Armee gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sicherlich eine Minderheit von Leuten zum Nachdenken veranlasst hat. Ein wichtiger Aspekt des demokratischen Mythos‘ in Ägypten ist die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften, die von vielen der kämpferischsten Arbeiter geteilt wird, die zu Recht die Auflösung der diskreditierten staatlichen Gewerkschaften verlangen.

– Illusionen über Nationalismus und Patriotismus, die offenkundig wurden angesichts der breiten Aneignung der Nationalfahne in Ägypten und Tunesien als ein Symbol der „Revolution“ oder – wie in Libyen – der alten monarchistischen Fahne als ein Emblem all jener, die in Opposition zum Gaddafi-Regime stehen. Auch die Brandmarkung Mubaraks als Agenten des Zionismus auf vielen Spruchbändern in Ägypten zeigt, dass die israelisch-palästinensische Frage ein wichtiger Hebel zur Ablenkung vom Klassenkampf und zur Mobilisierung für imperialistische Konflikte bleibt. Dennoch bestand nur wenig Interesse daran, die palästinensische Frage in den Vordergrund zu stellen, da die Herrschenden das Leid der Palästinenser lange genug ausgeschlachtet haben, um vom Leid abzulenken, das sie ihrer eigenen Bevölkerung zumuten. Und es schwang sicherlich ein Element des Internationalismus mit, wenn Nationalfahnen anderer Länder geschwenkt wurden, um die Solidarität mit den Revolten in diesen Ländern zum Ausdruck zu bringen. Das schiere Ausmaß der Revolten in der „arabischen“ Welt und darüber hinaus ist eine Verdeutlichung der materiellen Wirklichkeit des Internationalismus, aber die patriotische Ideologie ist sehr anpassungsfähig, und bei diesen Ereignissen sehen wir, dass sie sich in populistische und demokratische Formen verwandeln kann.

– Illusionen über die Religion angesichts der häufigen Abhaltung öffentlicher Gebete und des Einsatzes von Moscheen als Organisationszentren der Rebellion. In Libyen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass von Anfang an gesonderte islamistische Gruppen (einheimische und nicht – wie Gaddafi behauptet – Ableger der al-Qaida) eine wichtige Rolle in der Revolte spielten.  Zusammen mit der Rolle von Stammesloyalitäten spiegelt dies die relative Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen sowie die Rückständigkeit des Landes und seiner staatlicher Strukturen wider.  Doch gemessen daran, wie sehr sich die radikalen Islamisten vom Schlage Bin Ladens als Antwort auf das Elend der Massen in den „muslimischen Ländern“ gebrüstet haben, haben die Revolten in Tunesien und Ägypten und sogar in Libyen und den Golfstaaten wie Jemen und Bahrain gezeigt, dass die Jihad-Gruppen mit ihrer Praxis kleiner terroristischer Zellen und mit ihrer schädlichen sektiererischen Ideologie durch den massiven Charakter der Bewegung und deren aufrichtigen Streben nach Überwindung der sektiererischen Spaltungen nahezu vollkommen marginalisiert worden sind.

Zur Tragödie in Libyen

7. Die gegenwärtige Lage in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten ist noch im Fluss. Als diese Zeilen geschrieben wurden, erwartete man Proteste in Riad, auch wenn das saudische Regime bereits dekretiert hatte, dass alle Demonstrationen den Gesetzen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die „Revolution“ angeblich schon triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und dem nun „demokratischen“ Staat, der mehr oder weniger von den gleichen Kräften verwaltet wird, die den Laden vor dem Abgang der „Diktatoren“ führten. Die Streikwelle in Ägypten, die viele ihrer Forderungen schnell durchsetzen konnte, scheint jetzt abgeebbt zu sein. Doch weder die Arbeiterkämpfe noch die breitere soziale Bewegung haben in jenen Ländern einen größeren Rückschlag erlitten. Es gibt Hinweise darauf, dass weiterhin breit gefächerte Diskussionen und Reflexionen zumindest in Ägypten stattfinden. Doch in Libyen haben die Dinge einen ganz anderen Verlauf genommen. Was anfangs als echte gesellschaftliche Revolte von unten begann, mit unbewaffneten Zivilisten, die mutig Kasernen stürmten und den Sitz der so genannten „Volkskomitees“ in Brand setzten, insbesondere im Osten des Landes, ist schnell zu einem sehr blutigen und totalen „Bürgerkrieg“ zwischen bürgerlichen Fraktionen ausgeartet, wobei die imperialistischen Mächte wie Geier über dem Gemetzel kreisen. Aus marxistischer Sicht ist dies ein Beispiel für die Umwandlung eines beginnenden Bürgerkrieges – im Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen den Klassen – in einen imperialistischen Krieg. Das historische Beispiel Spaniens 1936 – sehen wir einmal ab von den beträchtlichen Unterschieden im globalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und von der Tatsache, dass die anfänglichen Erhebungen gegen Francos Staatsstreich unverkennbar proletarischen Charakters waren – belegt, dass die nationale und internationale Bourgeoisie in solchen Situationen sowohl mit ihren fraktionellen, nationalen und imperialistischen Rivalitäten fortfährt als auch alle Ansätze einer sozialen Revolution ausmerzen kann.

8. Der Hintergrund für diese Wende der Ereignisse in Libyen ist die extreme Rückständigkeit des libyschen Kapitalismus, der mehr als 40 Jahre lang vorwiegend von einem Terrorapparat unter der direkten Führung Gaddafis beherrscht wurde. Diese Struktur hinderte die Armee daran, als eine Kraft zu wirken, die das nationale Interesse über das Partikularinteresse bestimmter Führer oder Fraktionen stellt, wie wir in Tunesien oder Ägypten gesehen haben. Gleichzeitig wird das Land von regionalen und Stammesspaltungen zerrissen; diese haben eine Schlüsselrolle bei  der Unterstützung für oder der Gegnerschaft zu Gaddafi gespielt. Ebenfalls scheint eine „nationale“ Spielart des Islamismus seit Beginn der Revolte eine Rolle gespielt zu haben, obgleich die Rebellion anfangs allgemeiner und sozialer ausgerichtet und nicht von tribalistischen oder islamistischen Motiven geleitet war. Die wichtigste Industrie in Libyen ist die Ölindustrie, und die Unruhen im Land haben den Ölpreis stark beeinflusst. Doch ein Großteil der in der Ölindustrie beschäftigten Arbeiter sind Migranten aus Europa, den anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, aus Asien und Afrika. Und obgleich es anfangs Berichte über Streiks in diesem Wirtschaftsbereich gab, ist die Massenflucht der ausländischen Arbeiter ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich kaum mit einer „Revolution“ identifizieren konnten,  in der die Nationalfahne hochgehalten wird.  In der Tat gab es Berichte über Verfolgungen und Übergriffen gegen schwarze Arbeitskräfte durch die „Rebellen“, da Gerüchte verbreitet wurden, dass einige der angeheuerten Söldner aus schwarzafrikanischen Staaten stammen sollten,  was zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber allen schwarzafrikanischen Migranten führte. Die Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen ist somit ein entscheidendes Element in der negativen Entwicklung der Lage dort.

Imperialistische Geier über Nordafrika

9. Ein klarer Beleg, dass die „Rebellion“ zu einem Krieg zwischen bürgerlichen Lagern ausgeartet ist, ist die überstürzte Abwendung hochrangiger Offizieller von Gaddafi (dazu gehören Botschafter im Ausland, Armee– und Polizeioffiziere sowie Beamte). Besonders die militärischen Befehlshaber  sind bei der „Regularisierung“ der bewaffneten Gaddafi-Gegner immer mehr in den Vordergrund gerückt. Doch das vielleicht deutlichste Zeichen ist die Entscheidung der „internationalen Gemeinschaft“, sich auf die Seite der „Rebellen“ zu stellen. Frankreich hat bereits den provisorischen Nationalrat in Bengasi als die Stimme des neuen Libyen anerkannt und den Gaddafi-Gegnern militärische Berater zu Seite gestellt. Nachdem man schon diplomatisch eingegriffen hatte, um den Rücktritt von Ben Ali und Mubarak zu beschleunigen, fühlten sich die USA und Großbritannien durch das Taumeln des Gaddafi-Regimes zu Beginn der Protestbewegung zu weiteren Taten ermuntert. So kündigte zum Beispiel William Hague übereilig an, dass sich Gaddafi bereits auf der Flucht nach Venezuela befände. Nachdem Gaddafis Kräfte im Begriff waren, die Oberhand zu gewinnen,  wurde das Gerede über die Einrichtung einer Flugverbotszone oder anderer Formen militärischen Eingreifens immer lauter. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels scheint es jedoch tiefgreifende Divergenzen innerhalb der EU und der NATO zu geben, wobei Großbritannien und Frankreich am stärksten für ein militärisches Eingreifen plädieren und die USA und Deutschland am stärksten zögern. Die Obama-Administration ist natürlich nicht aus Prinzip gegen militärische Interventionen,  aber sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, ein weiteres militärisches Fiasko in der arabischen Welt zu erleben. Es kann auch sein, dass einige Teile der herrschenden Klasse auf der Welt meinen, dass Gaddafis „Vorgehensweise“ der Terrorisierung der Massen eine Methode sein kann, eine abschreckende Wirkung gegen weitere mögliche Unruhen in der Region auszuüben. Eins ist jedoch sicher: Die Ereignisse in Libyen wie auch die ganze Entwicklung in der Region haben die groteske Heuchelei der Herrschenden dieser Welt an den Tag gelegt. Nachdem man jahrelang Gaddafis Libyen als eine Brutstätte des internationalen Terrorismus beschimpft hatte (was es natürlich auch war), zeigten sich die Führer von Ländern wie die USA oder Großbritannien erfreut, als Gaddafi im Jahr 2006 einen scheinbaren Sinneswandel vollzog und seine Massenvernichtungswaffen aufgab, weil die Regierungen dieser Länder nach Rechtfertigungen suchten, ihre Haltung gegenüber den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu begründen. Insbesondere Tony Blair hatte große Eile, den früheren “verrückten Terroristenführer” zu umgarnen. Heute, nur wenige Jahre später, wird Gaddafi wieder ein verrückter Terroristenführer genannt, und diejenigen, die ihn vorher unterstützt haben, müssen jetzt strampeln, um sich von ihm zu distanzieren. Und dies ist nur eine Episode in einer unendlichen Geschichte: All die neulich verjagten oder noch immer an der Macht befindlichen arabischen Diktatoren sind von den USA und anderen Mächten loyal unterstützt worden, und diese haben bislang wenig Interesse an den „demokratischen“ Bestrebungen der Menschen in Tunesien, Ägypten, Bahrain oder Saudi-Arabien gezeigt. Die  durch die Preissteigerungen und den Gütermangel verursachten Straßenproteste gegen die irakische Regierung, welche von den USA in den Sattel gehievt wurde, wie auch gegen die gegenwärtigen Herrscher im kurdischen Irak, auf die die Regierung mit Repression antwortete, zeigen auch, wie verlogen die Versprechen des „demokratischen Westens“ sind.

Erlebt die Demokratie einen neuen Aufschwung?

Zu den Perspektiven

10. Einige internationalistische Anarchisten in Kroatien äußerten auf www.libcom.org [14], dass die Ereignisse in den arabischen Staaten aus ihrer Sicht wie eine Neuauflage der Ereignisse in Osteuropa 1989 erscheinen, wo das Streben nach Wandel durch den Begriff der „Demokratie” sterilisiert wurde und eine Verbesserung in der Lage der Arbeiterklasse keineswegs eingetreten war. Hier handelt es sich um eine sehr legitime Sorge, wenn man das große Gewicht der demokratischen Verschleierungen innerhalb dieser neuen Bewegung betrachtet. Doch verliert man damit nicht einen wesentlichen Unterschied auf der Ebene der Klassenkonfiguration weltweit aus den Augen? Als der Ostblock 1989 zusammenbrach, hatte die Arbeiterklasse den Höhepunkt in ihren Kämpfen – Kämpfe, die sich seinerzeit politisch nicht weiterentwickelt hatten – bereits überschritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die daraufhin entfesselten Kampagnen über den angeblichen Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes sowie das Unvermögen der ArbeiterInnen Osteuropas, auf dem eigenen Klassenterrain zu reagieren, bewirkten einen längeren Rückschlag für die internationale Arbeiterklasse. Während die stalinistischen Regimes in Wirklichkeit unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten, gab es für die Länder im Westen noch immer einen gewissen wirtschaftlichen Spielraum, um den Eindruck zu erwecken, dass der globale Kapitalismus vor einer neuen Blüte stand. Heute stehen wir vor einer anderen Lage. Das globale Ausmaß der kapitalistischen Krise ist nie so offensichtlich gewesen; die ArbeiterInnen müssen heute überall auf der Welt erkennen, dass sie vor den gleichen Problemen stehen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise,  mangelnde Perspektiven innerhalb dieses Systems. Und während der letzten sieben, acht Jahre ist es zu einem langsamen, aber reellen Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe auf der ganzen Welt gekommen. An der Spitze dieser Kämpfe stand zumeist eine neue Generation von ArbeiterInnen, die nicht so stark durch die Rückschläge der 1980er und 1990er Jahre geprägt war und aus der weltweit politisierte Minderheiten hervorgegangen sind. In Anbetracht dieser tiefgreifenden Unterschiede besteht die Aussicht, dass die Ereignisse in der arabischen Welt keine negative Auswirkungen auf den Klassenkampf in den zentralen Ländern haben, sondern zur allgemeinen Verstärkung des Klassenkampfes beitragen werden:

– durch die Bekräftigung der Macht der massiven und illegalen Straßenaktionen; deren Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die Herrschenden der Welt ihre Selbstbeherrschung verlieren;

– indem die bürgerliche Propaganda, die die „Araber“ als eine gleichförmige Masse von gehirnlosen Fanatikern darstellt, durchkreuzt wird und die Fähigkeit der Massen dieser Regionen zum Diskutieren, Nachdenken und zur Selbstorganisierung deutlich geworden ist;  

– indem auch die Glaubwürdigkeit der Führer der zentralen Länder untergraben wird, deren Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit durch deren Wendungen gegenüber der arabischen Welt entblößt wurde.

Politisierten Minderheiten werden diese sowie andere Punkte eher ins Auge fallen als der Mehrheit der Arbeiter in den Industriestaaten, aber langfristig werden sie zur wirklichen Vereinigung des Klassenkampfes über alle nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg beitragen. Dies schmälert keinesfalls die Verantwortung und die Last der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern, die jahrelange Erfahrung mit den Freuden der „Demokratie“ und der „unabhängigen“ Gewerkschaften haben und deren historische und politische Traditionen tief verwurzelt und im Herzen des weltimperialistischen Systems gebündelt sind. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten, mit den demokratischen Illusionen zu brechen und den verarmten Massen der Bevölkerung einen anderen Weg aufzuzeigen, hängt vom Vermögen der Arbeiter in den zentralen Ländern ab, ihnen ein Beispiel eines selbstorganisierten und politisierten Arbeiterkampfes zu geben.

IKS, 11. März 2011

 

[1] Dieses Dokument wurde am 11. März 2011 redigiert, das heißt mehr als eine Woche vor der Intervention der „Koalition“ in Libyen. Aus diesem Grund bezieht es sich nicht auf diese Intervention, auch wenn es sie vorausahnt.

 

Syndikalismus in Deutschland, Teil 2: Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

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Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

Im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue 46) haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick

Im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue 46) haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick umfasste die 1870er Jahre bis ins Jahr 1903. Die 1897 gegründete FVDG verstand sich noch bis ins Jahr 1903 explizit als ein kämpferischer Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung und hatte kaum Verbindungen zum Syndikalismus, der in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien stark präsent war. Die FVDG hatte auf der theoretischen Ebene konsequent den Anspruch der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verteidigt, sich nebst ökonomischen auch um politische Fragen zu kümmern

Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte der Zerstreuung unter dem Sozialistengesetz und der Auseinandersetzungen mit dem großen gewerkschaftlichen Zentralverband, hatte es die FVDG aber nicht geschafft in ihren eigenen Reihen eine ausreichende Koordination für den gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Die bereits bestehende, schon klar syndikalistische Organisation der IWW in den USA war der FVDG in der Frage der Zentralisierung ihrer Aktivitäten meilenweit voraus. Der alltägliche Hang zu föderalistischer Zerstreutheit, auch wenn dies in der FVDG noch nicht theoretisiert wurde, sollte immer eine Schwäche der FVDG bleiben. Angesichts der aufkommenden Massenstreiks sollte die Abneigung gegen die Zentralisierung des Kampfes der Arbeiterklasse immer deutlicher ein Hindernis für die FVDG werden.  

Die Debatte um die neuen Kampfformen im Massenstreik der Arbeiterklasse im anbrechenden 20. Jahrhundert wurde für die FVDG eine große Herausforderung und führte zu einem deutlichen Schritt in Richtung Syndikalismus. Eine Entwicklung die sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verstärken sollte und die wir in diesem Artikel beleuchten.

Der Massenstreik stellt den verstaubten Gewerkschaftsgeist in den Schatten

Auf internationaler Ebene tauchen um die Wende ins 20. Jahrhundert immer mehr Vorboten des Massenstreiks als neue Kampfform der Arbeiterklasse auf. Der Massenstreik unterschied sich in seiner spontan ausbreitenden Dynamik, dem Branchen übergreifenden Charakter und vor allem der Aufnahme von politischen Forderungen vom althergebrachten Schema des wohl organisierten, beruflich beschränkten und lediglich auf ökonomische Forderungen begrenzten gewerkschaftlichen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts. In den international  aufkeimenden Massenstreiks manifestierte sich nun eine Lebendigkeit der Arbeiterklasse, welche die planmäßig vorbereitet und fest am jeweiligen Stand der gewerkschaftlichen Streikkassen klebenden Streiks weit in den Schatten stellte.        

Schon 1891 war ein Streik von 125`000 und 1893 von 250`000 Arbeitern in Belgien ausgebrochen, 1896 und 1897 entfaltete sich ein Streik der Textilarbeiter von St. Petersburg, 1900 unter den Bergarbeitern im US–Staat Pennsylvania, 1902 und 1903 im Bergbau in Österreich und Frankreich, 1902 erneut ein Massenstreik in Belgien um das allgemeinen Wahlrecht, 1903 unter den Eisenbahnern in Holland und im September 1904 eine landesweite Streikbewegung in Italien.

Deutschland mit seinen mächtigen und traditionsreichen Gewerkschaften und seiner dicht organisierten Arbeiterklasse war zu der Zeit nicht das Epizentrum dieses neuen Phänomens von gewaltigen, sich ausdehnenden Flutwellen des Klassenkampfes mit politischen Anliegen. Um so heftiger aber wurde die Frage des Massenstreiks in den Reihen der Arbeiterklasse in Deutschland diskutiert. Das Unbehagen gegenüber dem alten gewerkschaftlichen Schema des kontrollierten Klassenkampfs, der die heilige „Ruhe der Nation“ nicht erschüttern sollte beschrieb Arnold Roller, ein Mitbegründer der FVDG, treffend am Beispiel des Bergarbeiterstreiks von 1905 im Ruhrgebiet, an dem sich 200`000 Arbeiter beteiligten: „Man (die Gewerkschaft) beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens“ Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geist organisierten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsen, Bayern, usw. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks in Überstunden viele tausend Waggons mehr Kohle förderten – die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals zu verwenden. (...) Während die Arbeiter im Ruhrgebiet hungerten, verhandelten deren Vertreter im Parlament und erhielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen – aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die gesamte Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das Unternehmertum auszuüben.[1]

Wichtigster Auslöser der berühmten „Massenstreikdebatte“ von 1905/06 in der SPD und in den deutschen Gewerkschaften war aber zweifellos der gewaltige Massenstreik von 1905 in Russland, der in seiner Dimension und politischen Dynamik alles vorher Gesehene überstieg.[2]

Für die Gewerkschaften bedeuteten die Massenstreiks eine direkte Infragestellung ihrer Existenz und ihrer historischen Rolle. War ihre Rolle als geduldige ökonomische Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse nun überholt? Der Massenstreik von 1905 in Russland, eine direkte Reaktion auf die durch den Russisch–Japanischen Krieg enorm verschärften Leiden der Arbeiterklasse und Bauernschaft, hatte deutlich gezeigt, dass nun politische Fragen wie Krieg und Revolution ins Zentrum der Arbeiterkämpfe rückten. Fragen welche die Kragenweite des traditionellen gewerkschaftlichen Denkens bei weitem überstiegen. „Das Gewerkschaftswesen ist eine Aktion der Arbeiter, die nicht über die Schranken des Kapitalismus hinausgeht. Seine Absicht ist nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Sein Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.“, wie es Anton Pannekoek präzise ausdrückte.[3]

Den Führern der in Deutschland zu mächtigen Organen angewachsenen Gewerkschaften also den Vorwurf fehlender Flexibilität zu machen, weil sie sich nicht mit der Kampfform des politischen Massenstreiks anfreunden konnten, trifft nicht des Pudels Kern. Ihre abwehrende Haltung gegen die Massenstreiks resultierte schlicht aus dem Wesen und Denken ihrer gewerkschaftlichen Organisationen selbst, die sie repräsentierten und die für die neuen Erfordernisse des Klassenkampfes von nun an nicht mehr genügten.

Dass die politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse nun das Wesen der Massenstreiks zu verstehen hatten lag auf der Hand. Jedoch „für die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Führer galt als Axiom: Generalstreik ist Generalunsinn!“.[4] Ohne die Realität wahrhaben zu wollen, glaubten sie in den Massenstreiks lediglich und sehr schematisch den vom Anarchisten und ehemaligen Mitgründer der holländischen Sozialdemokratie Domela Nieuwenhuis propagierten „Generalstreik“ zu erkennen. Jahrzehnte zuvor hatte Engels 1873 berechtigterweise in seiner Schrift Die Bakunisten an der Arbeit die eigenartige Vision eines Generalstreiks als ein hinter den Kulissen wohl vorbereitetes Aufstandsszenario als Generalunsinn kritisiert. Diese alte Vision eines „Generalstreiks“ zeichnete sich durch eine überall und gleichzeitig erfolgenden Arbeitsniederlegung der Arbeiterklasse aus, generalstabsmässig geleitet von den Gewerkschaften. Damit sollte die Macht der herrschenden Klasse ausgehungert und innert Stunden aus den Angeln gehoben werden. Das spontane Element des Klassenkampfes wurden dabei komplett unterschätzt. Die Führung der SPD und der Gewerkschaften fühlten sich berechtigt, Engels Ausspruch zum geflügelten Wort zu machen, um damit jeglichen Ansatz zur Debatte über die handfesten Massenstreiks die vor allem von der Parteilinken in der SPD um Rosa Luxemburg gefordert wurde ignorant zu unterdrücken.

Tief im Kern standen sich das alte anarchistische Muster vom grandios geplanten ökonomischen Generalstreik und die Auffassung der grossen Gewerkschaftszentralen aber sehr nahe. Was für sie zählte war lediglich die Quantität der Kämpfe. Doch das Potenzial der Arbeiterkämpfe politische Fragen in die Hand zu nehmen, also ihre Qualität, wiesen sie beide glattweg von sich. War die FVDG, die bisher zumindest theoretisch immer die politische Aktivität der Arbeiter verteidigt hatte, fähig darauf eine Antwort zu geben?

Die Position der FVDG zum Massenstreik

Innerhalb der FVDG entbrannte die Debatte um den Massenstreik im Jahre 1904. Dies im Hinblick auf den kommenden Internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam, an dem diese Frage auf der Tagesordnung stand. In den Reihen der FVDG ging es nun darum, das Phänomen des Massenstreiks erst einmal zu verstehen, zumal auch ihre eigene ruhige Welt der geordneten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte von den Massenstreiks richtiggehend überrumpelt worden war. In ihrer allgemeinen Auffassung einer wohl geregelten Gewerkschaftsarbeit unterschied sich die kleine FVDG nicht wesentlich vom grossen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband. Da die FVDG durch ihren schwachen Einfluss aber keinerlei Möglichkeiten hatte die Klassenkämpfe zu kontrollieren, standen sie der Frage des Massenstreiks weit offener gegenüber als die grossen gewerkschaftlichen Zentralverbände. Irritiert stellte sich die FVDG nun die Frage ob die ausgebrochenen Massenstreiks die historische Bestätigung der alten, fast theatralisch anmutenden Generalstreiksvisionen sei.

Gustav Kessler, Mitgründer der „Lokalisten“ und politische Autorität innerhalb der FVDG starb im Juni 1904. Kessler hatte innerhalb der Führung der FVDG am stärksten den Weg der Orientierung an der Sozialdemokratie verkörpert. Der sehr heterogene Charakter der FVDG als lose Vereinigung von Berufsverbänden hatte immer auch minoritären anarchistischen Tendenzen wie derjenigen um Andreas Kleinlein Platz gelassen. Kesslers Tod und die Wahl Fritz Katers zum Vorsitzenden der Geschäftskommission der FVDG im Sommer 1904 eröffnete nun deutlich eine Periode zunehmender Offenheit gegenüber syndikalistischen Ideen.

Es war aber vor allem der französische Syndikalismus der GCT, welcher einem Teil der FVDG mit dem Konzept des „Generalstreiks“ eine Antwort anzubieten schien, ohne sich jedoch offiziell darauf zu beziehen. Unter Kesslers Einfluss hatte die FVDG bis zu Beginn des Jahres 1904 offiziell die Propaganda für die Generalstreiksidee noch abgelehnt.

Die FVDG nahm zur Frage des Massenstreiks am umfassendsten in Form der von Raphael Friedeberg 1904 verfassten Schrift Parlamentarismus und Generalstreik und einer im August des selben Jahres verabschiedeten Resolution der FVDG Stellung. Friedebergs Standpunkt (er blieb bis 1907 noch Mitglied der SPD) war in den Jahren von 1904–07 sehr prägend für die FVDG und verdient daher näherer Betrachtung.[5]

Friedebergs Broschüre widmet sich größtenteils mit einer berechtigten und feinfühlig formulierten Kritik dem zerstörerischen und einschläfernden Einfluss des Parlamentarismus, wie er damals von der sozialdemokratischen Führung als das Non plus Ultra des Klassenkampfes verstanden wurde: „Die parlamentarische Taktik, die Überschätzung des Parlamentarismus, ist schon zu sehr eingewurzelt in den Massen des deutschen Proletariates. Sie ist ja auch gar zu bequem; alles soll die Gesetzgebung, alles die Änderung der Verhältnisse bringen, die eigenen Persönlichkeit braucht nichts anderes herzugeben als alle paar Jahre in diesen oder jenen Stimmkasten einen sozialistischen Zettel zu stecken. (...) Es ist ein schlechtes Erziehungsmittel des Proletariats. (...)  Ich will zugeben dass der Parlamentarismus eine historische Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte des Proletariats gehabt hat, wohl auch noch haben wird.“  Wie wir sehen trägt dieser Anti–Parlamentarismus nicht den Charakter einer prinzipiellen Ablehnung, sondern geht von einem nun historisch erreichten Zeitpunkt aus, an dem sich dieses Propagandamittel für das Proletariat lediglich zu seinen Ungunsten entwickelt hatte.

In ähnlicher Weise wie Rosa Luxemburg unterstrich er dagegen den emanzipatorischen Charakter der großen Massenstreikbewegungen der vorangegangenen Jahre für das Proletariat: „Durch die Streiks schulen sich die Arbeiter, sie geben ihnen sittliche Kraft, sie bringen ihnen Solidaritätsgefühl, proletarisches Denken und Empfinden bei. Die Generalstreiksidee gibt den Gewerkschaften einen weiten Horizont wie ihn bisher der Gedanke der politischen Macht der Bewegung gegeben hat.“. Die „politische Macht“  war für Friedeberg Synonym für den Parlamentarismus. Dabei beschreibt er auch den ethischen Aspekt des Kampfes der Arbeiterklasse: „Wenn die Arbeiter aber den Klassenstaat stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen was niedrig und gemein an ihnen ist, alles was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalsstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist.“

Bezeichnend für die Texte von Friedeberg ist die stetige Verwendung des Begriffs „Generalstreik“,  auch wenn von den konkreten politischen Massenstreiks der vergangenen Jahre die Rede ist und diese Anlass zu seinen Schriften waren.  

Obwohl die Triebfeder von Friedebergs Broschüre eine ehrliche Empörung gegenüber dem konservativen Geist in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden war, die er mit Luxemburg teilte, kam er zu ganz anderen Schlussfolgerungen:

–   Er verwarf klar den bisher in der FVDG existierenden Drang sich auch um politische Fragen zu kümmern: „Wir führen keinen politischen Kampf und brauchen deshalb auch keine politischen Kampfformen. Unser Kampf ist ein ökonomischer und ein psychologischer.“ Dies war ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Haltung der FVDG. In oberflächlicher Gleichsetzung von „Politik gleich Parlamentarismus“ verwarf er die politische Dynamik welche ja gerade die Massenstreiks ausgezeichnet hatten.     

–   Zudem zeichnete Friedeberg eine (auch innerhalb der FVDG sehr minderheitliche) unmaterialistische Auffassung  des Klassenkampfes, basierend auf psychologischen Überlegungen und der Strategie der „Verweigerung der Persönlichkeit“ – er nannte es „historischer Psychismus“. Hier zeigte sich deutlich seine Anlehnung an gewisse anarchistisch–kleinbürgerliche Auffassungen, nach denen ein individueller Rebellengeist und nicht die kollektive Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse das tragende Element des Klassenkampfes sei.    

–   Obwohl Friedeberg richtig die reformistische sozialdemokratische Idee der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht anprangerte, verfiel er in eine gradualistische Auffassung desselben Zuschnittes, aber mit gewerkschaftlicher Prägung: „In den letzten Jahren allein sind die Gewerkschaften um 21 Prozent gewachsen, sie sind auf über eine Million Mitglieder gekommen, sodass wir mit Sicherheit, da für solche Dinge gewissermaßen gesetzmäßige Faktoren gelten, rechnen können, das in ca. 3–4 Jahren wir 2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder haben werden, in 10 Jahren 3–4 Millionen. Und wenn die Generalstreiksidee immer weiter in das Proletariat eindringt (...) mehr als 4–5 Millionen Menschen zur Niederlegung der Arbeit zu bringen und dadurch den Klassenstaat zu beseitigen“. In Wirklichkeit bedeutete die immer stärkere Einbindung der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften schon zur damaligen Zeit nicht bessere Bedingungen für die proletarische Revolution, sondern eine Fessel für die Arbeiterklasse.

–   Unter dem Drang ein „ethisches Kampfmittels ohne rohe Gewalt“ zu propagieren erkennt man bei Friedeberg aber auch eine große Unterschätzung der herrschenden Klasse und ihrer brutalen Repression in einer revolutionären Situation: „Das ist das Hauptzeichen der Generalstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. (...) Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind – das werden wir heute nicht bestimmen.“.

Doch im Wesentlichen sah Friedeberg in den aufkommenden Massenstreiks die Bestätigung der alten anarchistischen Generalstreiksidee. Seine grösste Schwäche bestand wohl darin, nicht erkannt zu haben, dass sich die Massenstreiks hin zu einem politischen Akt der Arbeiterklasse entwickelten. Stattdessen  beschränkte er die Perspektive der Massenstreiks auf eine rein ökonomische Ebene. Diese Auffassung brach deutlich mit der Tradition der FVDG, welche bis anhin immer vor einem rein ökonomischen Kampf  gewarnt hatte.

Die Basis der FVDG stand nicht geschlossen hinter den Auffassungen von Friedeberg, der Repräsentant eines minoritären sich zum Anarchismus hin bewegenden Flügels war. Dennoch waren Friedebergs Positionen für eine kurze Epoche bekanntes Aushängeschild der FVDG. Friedeberg selbst zog sich 1907 aus der FVDG in eine anarchistische Kolonie in Ascona zurück.

Ein Verständnis der Massenstreiks konnte die FVDG mit den Theorien Friedebergs nicht anbieten. Anstelle der Erkenntnis, dass die historisch anwachsende revolutionäre Stimmung diese neue Form von Arbeiterkämpfen hervorbrachte, welche eine Verschmelzung von ökonomischen und politischen Fragen darstellten, war die Generalstreiksidee mit der die FVDG nun auf die Bühne trat ein Schritt zurück – eine Flucht vor politischen Fragen.

Was war nun die Bedeutung und Rolle der FVDG bezüglich des Massenstreiks? Trotz all der Konfusionen, welche in den Schriften Friedebergs zu Tage traten, hatte die Debatte in der FVDG und ihre Schriften eine aufwühlende Funktion innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Es steht ihr das Verdienst zu, schon vor der Niederschrift der bekannten und viel klareren Broschüren von Luxemburg und Trotzki über den Massenstreik von 1905, auch innerhalb der SPD diese gewichtigen Fragen aufgeworfen zu haben.

Dass die FVDG zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorstellung der Revolution noch strikte von Gewerkschaften als Organe der Revolution ausging soll uns nicht erstaunen. Einerseits war sie ja selbst eine Vereinigung von Gewerkschaften – ein Schritt darüber hinaus zu gehen hätte ihre eigene Organisationsform direkt in Frage gestellt. Andererseits baute auch Rosa Luxemburg noch stark auf die Gewerkschaften, welche sie in mehreren Ländern als das direkte und vorwärts weisende Produkt des Massenstreiks (z.B. in Russland) beschrieb. Es dauerte noch fast 5 Jahre bis zur Veröffentlichung von Trotzkis Buch 1905, welches die Arbeiterräte als neue Organe der Revolution anstelle der Gewerkschaften beschrieb[6]. Was der FVDG und ihren Nachfolgeorganisationen immer blieb, war ihre Blindheit gegenüber den Arbeiterräten und ihr Festklammern an den Gewerkschaften als angebliche Organe der Revolution. Eine Schwäche die sich in den revolutionären Erhebungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fatal auswirken sollte.       

Geheimverhandlungen zur Verhinderung des Massenstreiks und die Debatte in Mannheim 1906

Innerhalb der SPD entbrannte ab 1905 nun ein regelrechter Kampf ob die Frage des Massenstreiks auf dem kommenden Parteitag von 1906 diskutiert werden durfte. Krampfhaft versuchte der Parteivorstand die damals wohl gewichtigste Erscheinung im Klassenkampf als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Der Parteitag der SPD von 1905 in Jena hatte sich nur pro forma in einer Resolution für den Massenstreik als eine „eventuell zu propagierende Maßnahme“ ausgesprochen. Der Massenstreik wurde darin lediglich zu einem letzten Verteidigungsmittel gegen einen allfälligen Entzug des allgemeinen Wahlrechts degradiert. Die von Rosa Luxemburg eingebrachten Lehren aus dem Massenstreik in Russland wurden vom überwiegenden Teil der Führung der SPD als „Revolutionsromantik“ und auf die deutschen Verhältnisse keinesfalls übertragbar bezeichnet. 

Es erstaunt daher nicht, dass sich nach dem Kongress in Jena 1905 der Parteivorstand im Februar 1906 in Geheimverhandlungen mit der Generalkommission der Zentralgewerkschaften auf eine gemeinsame Verhinderung von Massenstreiks einigte. Diese Abmachung kam aber ans Tageslicht. Die FVDG veröffentlichte in ihrem Organ Einigkeit Teile des Protokolls dieses geheimen Treffens, welches ihnen in die Hände gekommen war. Darin stand unter anderem: „Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen“. Diese Veröffentlichung löste in der SPD–Führung eine große „Empörung der Ertappten“ aus und zwang sie die Debatte um den Massenstreik auf dem Mannheimer Parteitag vom 22.–23. September 1906 erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch wenn es keine Zusammenarbeit zwischen der FVDG und der Parteilinken gab (im Gegenteil kritisierte Karl Liebknecht die Schwächen der FVDG – die er wie Luxemburg als „Anarchosozialisten“ bezeichnete – in übertrieben harter Manier), arbeitete die Veröffentlichung der Geheimprotokolle durch die Einigkeit Letzteren in die Hand. Als eine Strömung welche auf proletarischem Boden stand, war ihre Stossrichtung im Kampf gegen den Reformismus nicht grundsätzlich verschieden zu derjenigen der Revolutionäre.  

Bebels erste Worte in seinem Einleitungsreferat auf dem Mannheimer Parteitag widerspiegelten den ignoranten Unmut der Parteileitung, die sich bemüht sah sich wieder mit einer Frage auseinandersetzen zu müssen, welche sie ad acta zu legen gehofft hatte: „Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinander gingen, hat wohl niemand geahnt, dass wir in diesem Jahre schon wieder über den Massenstreik sprechen müssen. (...) Durch die Indiskretion der so genannten „Einigkeit“ in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen. (...)“[7]

Um sich aus der Peinlichkeit der durch die Einigkeit ans Licht geratenen Geheimabmachungen zu winden machte sich Bebel lustig über die FVDG und Friedebergs Beitrag: „Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und der Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer grossen Mehrheit der Meinung, dass diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen.“[8] Wer sollte nur 8 Jahre später (1914) angesichts des Krieges mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten „vollständig ohnmächtig (sein) die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen“? Exakt der Parteivorstand der SPD, der lauthals den Kriegskrediten zustimmte! Die FVDG hingegen sollte trotz all ihrer Schwächen 1914 angesichts der Kriegsfrage noch fähig sein eine proletarische internationalistische Position gegen den Krieg einzunehmen. 

In der darauf folgenden dürftigen Parteitagsdebatte um den Massenstreik standen anstelle von politischen Argumenten bürokratische Streitereien und Rechtfertigungen darüber, ob sich Parteimitglieder nun an den Parteibeschluss von Jena 1905 zum Massenstreik halten sollten, oder an denjenigen des Gewerkschaftskongresses vom Mai 1906, welcher den Massenstreik klar verworfen hatte. Die Debatte drehte sich im Wesentlichen um den Antrag Bebels und Legiens, Parteimitgliedern die in der FVDG organisiert waren ein Ultimatum zum Übertritt in die Zentralgewerkschaften zu stellen. Bei Nichtübertritt sollten sie sofort aus der Partei ausgeschlossen werden.

Anstelle über die politischen Lehren aus den erfolgten Massenstreiks zu sprechen oder gar auf die Ausführungen in der eine Woche vorher erschienen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Luxemburg einzugehen, wurde die Debatte auf einen kläglichen partei–juristischen Zank reduziert!

Nachdem Puttlitz, der eingeladene Vertreter der FVDG und Redakteur der Einigkeit aus Berlin, ausgelacht worden war, wandte sich Rosa Luxemburg vehement gegen den Versuch der Unterdrückung der politisch zentralen Massenstreik–Debatte mit rein formellen disziplinarischen Mitteln: „Ferner finde ich es unverantwortlich, wenn hier die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht werden soll; daß wir uns damit innerhalb der Parteireihen Zank und Zwist auf den Hals laden sollen. Es ist doch kein Zweifel, daß unter den Lokalorganisierten sehr viele brave Genossen vorhanden sind, und es wäre unverantwortlich, wenn wir, um den Gewerkschaften in dieser Frage direkt zu dienen, den Zwist in unsere Reihen hineintrügen. Wir respektieren die Ansicht, daß die Lokalisten nicht den Zwist in den gewerkschaftlichen Organisationen soweit treiben sollen, daß sie die gewerkschaftliche Organisation dadurch unterbinden; aber im Namen der soviel gepriesenen Gleichberechtigung muß man doch mindestens dasselbe für die Partei anerkennen. Wenn wir die Anarchosozialisten, wie der Parteivorstand vorschlägt, aus der Partei direkt ausschließen, so geben wir damit ein trauriges Beispiel dafür, daß wir nur Energie und Entschlossenheit finden, um unsere Partei nach links abzugrenzen, daß wir nach rechts aber die Tore nach wie vor sehr weit offen lassen.

Von Elm hat hier angeführt als ein Beispiel des anarchistischen Unsinns, daß in der „Einigkeit“ oder in einer Konferenz der Lokalorganisierten ausgesprochen sei: „Der Generalstreik wäre als das einzige Mittel des wirklichen revolutionären Klassenkampfes zu betrachten.“ Nun ist das selbstverständlich ein Unsinn und nichts anderes. Aber, werte Anwesende, es steht genausoweit entfernt von der sozialdemokratischen Taktik und von unseren Prinzipien, wenn David erklärt, die gesetzlichen, parlamentarischen Mittel sind die einzigen Mittel der Sozialdemokratie. Man sagt uns, die Lokalisten, die Anarchosozialisten untergraben auf Schritt und Tritt durch ihre Agitation die sozialdemokratischen Grundsätze. Aber es ist genau ebenfalls eine Untergrabung sozialdemokratischer Grundsätze, wenn einer von den Zentralverbänden, wie Bringmann auf Eurer Konferenz im Februar sich gegen das Prinzip des Klassenkampfes erklärte.“[9]

Wie schon auf dem Parteitag im Jahre 1900 bei der Debatte um den Hamburger Gewerkschaftsstreit, widersetzte sich Luxemburg dem Versuch, die Schwäche der FVDG als Vorwand zu gebrauchen um die Diskussion zentraler Fragen zu umgehen. Sie erkannte, dass die grosse Gefahr nicht von einer gewerkschaftlichen Minderheit wie der FVDG kam, deren Mitglieder in der SPD oft auf der Seite des linken Flügels standen, sondern vom Zentrum und der Parteirechten.

Spaltung der FVDG und der endgültige Bruch mit der SPD 1908

Auch wenn die FVDG für die reformistische Führung SPD und den zentralen Gewerkschaftsverband keineswegs dieselbe Gefahr darstellte wie der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie um Liebknecht und Luxemburg konnten sie die FVDG nicht ignorieren, nur weil sie eine kleine Minderheit darstellte und die Lehren aus den Massenstreiks nicht wirklich erkannte. Das internationale Auftauchen von mächtigen revolutionär–syndikalistischen Bewegungen wie ab 1905 in den USA mit der IWW machte syndikalistische Tendenzen für den Reformismus zu einer potentiellen Gefahr.

Die auf dem Parteitag 1906 in Mannheim eröffnete Strategie, Druck auf die Mitglieder der FVDG zum Übertritt in die zentralen Gewerkschaften auszuüben wurde über Monate fortgesetzt. Einerseits wurde bekannten und kämpferischen Mitgliedern der lokalen Gewerkschaften lohnenswerte Posten in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratien angeboten. Andererseits für den Parteitag der SPD in Nürnberg, der 1908 stattfinden sollte, erneut ein Antrag über die Unvereinbarkeit einer Doppelmitgliedschaft in SPD und FVDG  angekündigt.

Doch die FVDG zerbrach vor allem an ihren eigenen Unklarheiten und den unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Berufsverbände. In einer Zeit in der es den politischen Massenstreik und das Auftauchen der Arbeiterräte zu verstehen galt, zerrieb sie sich in einer internen Auseinandersetzung um die Frage: Anschluss an die zentralen Gewerkschaftsverbände oder, hin zu einem syndikalistischen Weg der die politischen Fragen den ökonomischen unterordnete – eine Gegenüberstellung die gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war. Auf ihrem außerordentlichen Kongress im Januar 1908  entschied die FVDG über einen Antrag der Maurer–Gewerkschaften die FVDG zugunsten eines Übertritts in die Zentralgewerkschaften aufzulösen. Obwohl dieser Antrag abgelehnt wurde bedeute er die Spaltung der FVDG und damit das Ende der langjährigen Geschichte einer unübersehbaren gewerkschaftlichen Opposition welche sich noch an die alte proletarische Tradition der Sozialdemokratie angelehnt hatte. Mehr als ein Drittel der FVDG trat sofort in die großen sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften über. Die Mitgliederzahl sank bis 1910 von ehemals 20`000 auf knapp 7000.

Der Führung der Sozialdemokratie fiel es danach nicht mehr schwer, den Bruch mit den Überresten der FVDG auf dem Parteitag im September 1908 mit einem endgültigen Verbot der Doppelmitgliedschaft FVDG–SPD zu besiegeln. Die Überreste der FVDG stellten für Legien und Konsorten nun keine ernstzunehmende Gefahr an der Basis mehr dar.

Wenn wir nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Syndikalismus in Deutschland suchen, so markiert das Jahr 1908 den Beginn einer neuen Etappe, die der erklärten Hinwendung von nur etwas weniger als der Hälfte der Mitglieder der FVDG zum revolutionären Syndikalismus. 

Hin zum revolutionären Syndikalismus

Da die FVDG als eine gewerkschaftliche Oppositionsbewegung entstanden war, die in ihren Anfangsjahren noch fest mit der Sozialdemokratie, also einer politischen Organisation der Arbeiterbewegung, verbunden war, hatte sie sich bis ins Jahr 1908 nie als syndikalistisch bezeichnet. Denn Syndikalismus bedeutet nicht lediglich Feuer und Flamme für gewerkschaftliche Aktivitäten zu sein, sondern eine Schritt weiter zu gehen und in den Gewerkschaften die einzige und alleinige Organisationsform zur Überwindung des Kapitalismus zu sehen – eine Rolle die diese von ihrem nach Reformen ringenden Wesen her gar nie spielen konnten und können.

Das wegweisende neue Programm der FVDG des Jahres 1911 „Was wollen die Lokalisten? Programm, Ziele und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ drückte diesen Standpunkt nun folgendermaßen aus: „Der Befreiungskampf der Arbeiter ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Kampf, den ganz naturgemäß die Gewerkschaft, als die Organisation der Produzenten, auf allen Gebieten zu führen hat. (...) Die Gewerkschaft (und nicht die politische Partei) ist allein in der Lage, die wirtschaftliche Macht der Arbeiter gehörig zur Entfaltung zu bringen...“

Und während doch gerade die grossen Massenstreiks und der vergangenen Jahre die spontane Dynamik des Klassenkampfes bewiesen hatten, und parallel dazu der Bruch der Bolschewiki mit dem alten Konzept der „Massenpartei“ 1903 die Notwendigkeit von Organisationen revolutionärer politischer Minderheiten klarmachte, focht das neue Programm der FVDG zwar mit gutem Willen gegen einen alten „Dualismus“, aber.. mit komplett falschen Schlussfolgerungen: „Daher verwerfen wir den schädlichen Dualismus (Zweiteilung), wie ihn Sozialdemokratie und die ihr zugehörigen Zentralgewerkschaften praktizieren. Wir meinen die widersinnige Teilung der Arbeiterorganisationen in einen politischen und einen gewerkschaftlichen Flügel.“ (...)  Da wir den parlamentarischen Kampf ablehnen und an seine Stelle den direkten politischen Kampf mit gewerkschaftlichen Mitteln und nicht um die politische Macht, sondern um die soziale Befreiung setzten, so verliert eine politische Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie ohnehin jede Existenzberechtigung.“

Dieses neue Programm drückte eine absolute Blindheit gegenüber dem historischen Auftauchen und revolutionären Charakter von Arbeiterräten aus und flüchtete in die erwartungsvolle Theoretisierung eines neuen Gewerkschaftstypus als Allerweltsmittel:

–   als Antwort auf die (tatsächlich) überlebte Massenpartei,

–   als Ersatz für die verbürokratisierten grossen Gewerkschaften,

–   als Organ der Revolution,

–   und schlussendlich als Architekt der neuen Gesellschaft.

Welch allumfassende Aufgabe!

Doch vertrat die FVDG, wie es bezeichnend war für den revolutionären Syndikalismus zur damaligen Zeit, eine klare Verwerfung des bürgerlichen Staates und es Parlamentarismus. Sie verteidigte den Kampf der Arbeiterklasse gegen Krieg und Militarismus.

Das Verhältnis der FVDG gegenüber dem Anarchismus blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablehnen. Lediglich die Tatsache dass Friedebergs Theorien (auf seinem Weg vom Sozialdemokraten zum Anarchisten) in den Jahren 1904–07 Aushängeschild für die FVDG gewesen waren bedeute keinesfalls eine Hinwendung der gesamten Organisation zum Anarchismus. Im Gegenteil befürchteten die stark zum Syndikalismus tendierenden Kräfte um Fritz Kater, dass gerade auch von den Anarchisten ein „Bevormundung“ drohe, so wie sie von der SPD immer gegenüber den Gewerkschaften ausgeübt worden sei. Kater bezeichnete noch in der Einigkeit vom August 1912 den Anarchismus als „ebenso überflüssig wie jede andere politische Partei“[10]. Es ist falsch zu meinen, dass es die Präsenz offizieller Anarchisten gewesen wäre, welche die FVDG in den Syndikalismus führte. Die Parteifeindlichkeit, welche in der harten Auseinandersetzung mit der SPD entstanden war, wandte sich in den Jahren vor dem Krieg auch gegen die anarchistischen Organisationen. Es war auch keinesfalls der Einfluss des charismatischen Anarchisten Rudolf Rocker ab 1919, welcher die Parteifeindlichkeit  in die Nachfolgeorganisation der FVDG, die FAUD hinein trug. Diese Entwicklung hatte deutlich vorher stattgefunden. Rocker theoretisierte sie in den 20er Jahren für den deutschen Syndikalismus nur viel deutlicher als dies vor dem Krieg geschah.

Die weiteren Jahre bis hin zum Kriegsausbruch 1914 waren bei der FVDG gekennzeichnet von einem Rückzug auf sich selbst. Die grosse Auseinandersetzungen mit den Mutterorganisationen waren ausgefochten. Die Trennung vom gewerkschaftlichen Zentralverband hatte 1897 stattgefunden. Der Bruch mit der SPD gute 10 Jahre später, 1908.

Es entstand eine kuriose Situation, welche ein immer wieder auftauchendes Dilemma des Syndikalismus aufzeigt: Sich als Gewerkschaft deklarierend, welche bei möglichst vielen Arbeitern verankert sein wollte, war die FVDG aber auf ein Minimum von Mitgliedern zusammengeschrumpft. Von den ca. 7000 Eingeschriebenen war nur ein geringer Teil auch wirklich aktiv. Eine Gewerkschaft war sie nicht mehr! Vielmehr waren die Überreste der FVDG nun auf Propagandavereine für syndikalistische Ideen zusammengeschrumpft, hatten also vielmehr den Charakter von politischen Gruppen. Doch politische Organisationen wollten sie partout nicht sein!

Die Überreste der FVDG blieben – und das ist für die Arbeiterklasse eine absolut zentrale Frage – auf internationalistischem Boden und wandten sich trotz all ihrer Schwächen gegen die Bestrebungen der Bourgeoisie hin zu Militarismus und Krieg. Die FVDG und ihre Presse wurde sofort bei Kriegsausbruch im August 1914 verboten und viele ihrer noch aktiven Mitglieder in Schutzhaft genommen.

In einem folgenden Artikel werden wir die Rolle der Syndikalisten in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und den Jahren der Deutschen Revolution 1918/19 und der weltrevolutionären Welle bis 1923 betrachten.

Mario 6.11.2009

[1] Arnold Roller (Siegfried Nacht): „Die direkte Aktion“ 1912. Roller verkörperte innerhalb der FVDG den bis dahin sehr minoritären anarchistischen Flügel.

[2] Siehe im Besonderen dazu auch: Internationale

 Nr. 90, 122, 123, 125 (engl., franz., span.) 

[3] Anton Pannekoek, „Das Gewerkschaftswesen“, 1936

[4] Paul Frölich, „Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat“, Kapitel: „Der politische Massenstreik“ 

[5] Friedeberg selber kam nicht etwa aus dem Anarchismus in die FVDG, sondern war SPD Stadtverordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Berliner Parteileitung.

[6] Trotzki schrieb 1907 zuerst das Buch Unsere Revolution. Einige Kapitel daraus dienten als Grundlage für das Buch 1905, welches 1908/09 geschrieben wurde.

[7] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, S 227.

[8] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, Seite 295.

[9] ebenda, Seite 315 (oder in R. Luxemburg, Ges. Werke. Bd. 2, Seite 174)

[10] siehe auch: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, S. 191–198

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Revolutionärer Syndikalismus [15]

Internationale Revue 48

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19. Kongress der IKS: Bereiten wir uns auf die Klassenkonfrontationen vor

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Im vergangenen Mai hat die IKS ihren 19. Kongress abgehalten. Ein Kongress stellt im Leben revolutionärer Organisationen einen Höhepunkt dar. Da diese ein integraler Bestandteil der Arbeiterklasse sind, ist es ihre Aufgabe, die Ergebnisse eines Kongresses an die Klasse weiterzugeben. Dies ist das Ziel dieses Artikels. Zuerst wollen wir herausstreichen, dass der 19. Kongress den Willen der IKS, sich gegen außen zu öffnen, in die Praxis umgesetzt hat, denn neben Delegationen der Sektionen der IKS waren nicht nur Sympathisanten von uns oder Leute von Diskussionszirkeln, an denen wir uns beteiligen, präsent, sondern auch Delegationen von Gruppen, mit denen die IKS in Diskussion und Kontakt steht: zwei Gruppen aus Südkorea und OPOP aus Brasilien[1]. Andere Gruppen wurden eingeladen und nahmen die Einladung an, konnten aber wegen der Hindernisse, welche die herrschende Klasse der europäischen Staaten Leuten außerhalb Europas immer mehr in den Weg legt, nicht teilnehmen.

In unseren Statuten steht:

„Der internationale Kongress ist das souveräne Organ der IKS. Deshalb hat er folgende Aufgaben:

–  Ausarbeitung von Analysen und generellen Orientierungen für die Organisation, vor allem bezüglich der internationalen Situation;

–  Untersuchen und Bilanzieren der Aktivitäten der Organisation seit dem letzten Kongress;

–  Formulieren unserer Arbeitsperspektiven für die Zukunft.“

Auf dieser Grundlage wollen wir den
19. Kongress bilanzieren und betrachten.

Die internationale Lage

Als ersten Punkt wollen wir unsere Analysen und Diskussionen über die internationale Situation erwähnen. Wenn die Organisation nicht in der Lage ist, sich ein klares Verständnis darüber zu erarbeiten, läuft sie Gefahr, nicht in angemessener Weise politisch auftreten zu können. Die Geschichte hat uns gelehrt, wie katastrophal eine falsche Analyse der internationalen Situation durch revolutionäre Organisationen sein kann. Nur die dramatischsten Fälle seien hier erwähnt: Die Unterschätzung der Kriegsgefahr durch die Mehrheit der 2. Internationale am Vorabend der imperialistischen Schlächterei des Ersten Weltkrieges 1914–18, auch wenn in der Zeit zuvor (durch den Anstoß des linken Flügels in der Internationale) deren Kongresse die Gefahr korrekt erkannt hatten und zur Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen sie aufgerufen hatten.

Ein anders Beispiel ist die von Trotzki vertretende Analyse während der 1930er Jahre, als er 1936 in den Arbeiterkämpfen in Frankreich und im Krieg in Spanien die Vorboten einer neuen internationalen revolutionären Welle sah. Diese Analyse brachte Trotzki 1938 dazu, eine „4. Internationale“ zu gründen, welche angesichts der „konservativen Politik der kommunistischen und sozialistischen Parteien“ deren Platz an der Spitze der „Massen von Millionen von Leuten, welche sich für den Weg zur Revolution einsetzen“, einnehmen sollte. Dieser Irrtum hat im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wesentlich zum Übertritt der Sektionen der 4. Internationale ins Lager der herrschenden Klasse beigetragen. Sie wollten sich um jeden Preis „an die Massen heften“, sie wurden von der Politik der „Résistance“ verschlungen, welche von den sozialistischen und sogenannten „kommunistischen“ Parteien geführt wurde – mit anderen Worten: zur Unterstützung des imperialistischen Lagers der Alliierten.

Etwas mehr in unserer politischen Nachbarschaft haben wir erlebt, wie sich Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke berufen, am ausgedehnten Streik vom Mai 1968 und an der darauf folgenden internationalen Bewegung von Arbeiterkämpfen vorbei lebten, indem sie diese als „lediglich Studentenbewegungen“ bezeichneten. Wir konnten auch das tragische Schicksal anderer Gruppen erleben, die den Mai 1968 als eine „Revolution“ bezeichneten, dann in die Enttäuschung stürzen und schlussendlich verschwanden, weil die Bewegung nicht das brachte, was sie sich davon erhofft hatten.

Heute ist es für revolutionäre Organisationen überaus wichtig, eine richtige Analyse der internationalen Situation zu erstellen, nur schon deshalb, weil die Herausforderungen der Geschichte, die sich in der letzten Zeit beschleunigt, bedeutend sind.

Wir haben in der letzten Nummer der Internationalen Revue die vom Kongress angenommene Resolution über die internationale Lage veröffentlicht, und es ist nicht notwendig, auf alle darin enthaltenen Aspekte zurückzukommen. Wir wollen lediglich die wichtigsten noch einmal unterstreichen.

Der erste und grundlegendste Aspekt ist der Weg, den die Krise des Kapitalismus durch die Staatsverschuldungen europäischer Staaten wie Griechenland eingeschlagen hat.

„In der Tat stellt diese potentielle Pleite einer wachsenden Reihe von Staaten eine neue Phase im Versinken des Kapitalismus in der unüberwindbaren Krise dar. Sie verdeutlicht die Grenzen der Maßnahmen, mit denen es der Bourgeoisie gelungen ist, den Fortgang der kapitalistischen Krise seit mehreren Jahrzehnten zu bremsen. (…) Die Maßnahmen, die von der G20 im März 2009 zur Vermeidung einer neuen „Großen Depression“ ergriffen wurden, zeigen die Politik auf, welche die herrschende Klasse seit einigen Jahrzehnten anwendet: Sie lässt sich zusammenfassen als Einschießung von beträchtlichen Kreditmassen in die Wirtschaft. Solche Maßnahmen sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie seit 35 Jahren den Kern der Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse dar beim Versuch, dem großen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu entgehen: der Unfähigkeit, zahlungsfähige Märkte zu finden, die ihre Produktion aufnehmen. (…) Der mögliche Zusammenbruch des Bankensystems und die Rezession zwangen alle Staaten, beträchtliche Summen in ihre Wirtschaft einzuschießen, während umgekehrt die Einnahmen sich im freien Fall befinden, weil die Produktion zurückgeht. Aus diesem Grund nahmen die Staatsdefizite in den meisten Ländern beträchtlich zu. Für die am meisten gefährdeten unter ihnen wie Irland, Griechenland oder Portugal bedeutete dies der potentielle Bankrott, die Unfähigkeit, die Staatsangestellten zu bezahlen und die Schulden zu begleichen. (…) Die „Rettungspläne“, welche die Europäische Bank und der Weltwährungsfond für sie ausarbeiteten, stellen lediglich neue Schulden dar, die ebenso wie die früheren zurück bezahlt werden müssen. Es ist mehr als ein Teufelskreis, es ist eine Höllenspirale. (…) Die Krise der Staatsschulden in den PIIGS (Portugal, Island, Irland, Griechenland, Spanien) ist nur ein kleiner Teil des Erdbebens, das die Weltwirtschaft bedroht. Nur weil die großen Industriemächte gegenwärtig noch über die Note AAA auf der Bewertungsskala der Rating–Agenturen verfügen (die gleichen Agenturen, die am Vorabend des Banken–Debakels von 2008 diesen ebenfalls die Bestnote erteilt hatten) heißt nicht, dass sich jene besser aus der Affäre ziehen würden. (…) Mit anderen Worten läuft die größte Weltmacht Gefahr, dass ihr das „offizielle“ Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Bezahlung der Schulden entzogen wird – mindestens mit Dollars, die noch etwas wert sind. (…) Und seither hat sich die Lage in allen Ländern mit den verschiedenen Aufschwungsplänen nur noch verschlimmert. So stellt der Bankrott der PIIGS nur die Spitze des Eisbergs des Bankrotts einer Weltwirtschaft dar, die ihr Überleben seit Jahrzehnten nur der verzweifelten Flucht nach vorn in die Verschuldung verdankt. (…) Die Krise der Verschuldung verschob sich von der Bankensphäre in diejenige der Staatskassen, wodurch die kapitalistische Produktionsweise in eine neue Phase ihrer zugespitzten Krise eingetreten ist, in der sich die Gewalt und die Ausdehnung ihrer Erschütterungen noch einmal beträchtlich verschärfen werden. Es gibt für den Kapitalismus keinen „Ausgang aus dem Tunnel“. Dieses System kann die Gesellschaft nur noch in eine ständig wachsende Barbarei ziehen.“

Die Zeit unmittelbar nach dem Kongress hat diese Analyse bestätigt. Einerseits hat sich die Verschuldungskrise der europäischen Länder, die sichtbar nicht mehr nur die „PIIGS“ betrifft, sondern die gesamte Eurozone erfasst hat, mehr und mehr zugespitzt. Der angebliche „Erfolg“ des Europäischen Gipfels vom 22. Juli zu Griechenland hat kaum etwas verändert. Schon alle vorangegangenen Gipfeltreffen hatten sich vorgenommen, die Schwierigkeiten in diesem Land dauerhaft in den Griff zu bekommen, doch mit geringstem Erfolg!

Andererseits haben zur selben Zeit als Obama größte Schwierigkeiten hatte, seine Budgetpolitik durchzusetzen, die Medien „entdeckt“, dass die USA auch mit einer gigantischen Staatsverschuldung konfrontiert sind, deren Niveau (130% des Bruttoinlandproduktes) den PIIGS in nichts nachsteht. Die Bestätigung der Analysen, die am Kongress gemacht worden sind, ist nicht etwa ein besonderes Verdienst unserer Organisation. Das „Verdienst“, das wir für uns beanspruchen können, ist die Treue gegenüber den klassischen Analysen der Arbeiterbewegung, welche immer, seit der Entwicklung der marxistischen Theorie, unterstrichen haben, dass die kapitalistische Produktionsweise, gleich wie die früheren, vergänglich ist und ihre Widersprüche nicht überwinden kann. Die Diskussion am Kongress hat sich in diesem marxistischen Rahmen entfaltet. Es wurden verschiedene Standpunkte ausgetauscht, vor allem bezüglich der fundamentalen Gründe der kapitalistischen Widersprüche (welche im Wesentlichen in unserer Debatte über die 30 glorreichen Jahre dargelegt sind[2]) und über die Möglichkeit, dass die Weltwirtschaft durch die hemmungslose Ankurbelung der Geldpresse in eine Hyperinflation stürzt, vor allem in den USA. Eine große Einigkeit bestand hinsichtlich der Dramatik der aktuellen Lage. Die Resolution zur internationalen Lage wurde einstimmig angenommen.

Der Kongress nahm sich ebenfalls der Entwicklung der imperialistischen Konflikte an, wie man der Resolution entnehmen kann. Diesbezüglich gab es in den zwei Jahren seit dem letzten Kongress keine grundlegenden Veränderungen, sondern im Wesentlichen eine Bestätigung dessen, dass die größte Weltmacht USA trotz all ihrer militärischen Bemühungen unfähig ist, ihre „Leadership“ wieder herzustellen, die seit dem Ende des „Kalten Krieges“ bestanden hatte. Das Engagement der USA im Irak und in Afghanistan konnte der Welt keine „Pax Americana“ aufzwingen, im Gegenteil: „Die „neue Weltordnung“, die Vater George Bush vor 20 Jahren prognostizierte und die er sich unter der Vorherrschaft der USA erträumte, entlarven sich je länger je mehr als ein „Weltchaos“ – ein Chaos, das die Konvulsionen der kapitalistischen Wirtschaft nur noch verschlimmern wird.“ (Punkt 8 der Resolution)

Es war wichtig, dass sich der Kongress ganz besonders der heutigen Entwicklung im Klassenkampf gewidmet hat, denn neben der Wichtigkeit, welche diese Frage für Revolutionäre immer hat, steht heute die Arbeiterklasse wie selten zuvor in allen Ländern Angriffen auf ihre Existenzbedingungen gegenüber. Diese Angriffe sind besonders brutal in den Ländern, die der Europäischen Zentralbank und dem IWF unterworfen sind, wie das Beispiel Griechenlands zeigt. Doch sie breiten sich auch auf alle anderen Länder aus, durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit für die Regierungen, die Staatsschulden zu reduzieren.

Schon die Resolution des 18. Kongresses hatte deshalb hervorgehoben: „Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden – Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe (Massenkämpfe) zunächst zuwider. (…) Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen –, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“

Der 19. Kongress hat nun festgestellt: „Die zwei Jahre, die uns vom letzten Kongress trennen, haben dies vollauf bestätigt. Diese Periode war nicht gezeichnet von verbreiteten Kämpfen gegen die massiven Entlassungen oder gegen die steigende Arbeitslosigkeit, welche die Arbeiterklasse in den am meisten fortgeschrittenen Ländern über sich ergehen lassen muss. Gleichzeitig gibt es aber bedeutende Kämpfe gegen die „notwendigen Kürzungen der Sozialausgaben“.“ Dennoch hält der Kongress fest: „Doch diese Antwort ist immer noch schüchtern, vor allem dort, wo die Sparmaßnahmen die brutalsten Formen angenommen haben, in Ländern wie z.B. Griechenland oder Spanien, auch wenn die Arbeiterklasse dort in letzter Zeit ein bedeutendes Niveau an Kampfbereitschaft gezeigt hat. In gewisser Weise scheint die Brutalität der Angriffe in den Reihen der Arbeiterklasse ein Gefühl der Machtlosigkeit ausgelöst zu haben, vor allem auch, weil sie durch „linke“ Regierungen durchgesetzt wurden.“ Seither hat die Arbeiterklasse in diesen Ländern aber bewiesen, dass sie nicht resigniert. So vor allem in Spanien, wo die Bewegung der „Empörten“ während mehrerer Monate zu einem Orientierungspunkt für die anderen Länder in Europa und in anderen Kontinenten geworden ist.  

Diese Bewegung in Spanien begann just im Moment, als der Kongress stattfand, deshalb konnten diese Ereignisse auf dem Kongress nicht diskutiert werden. Somit war der Kongress vor allem geprägt vom Nachdenken über die sozialen Bewegungen, welche die arabischen Länder seit Ende 2010 erfasst haben. In den Diskussionen zeigte sich keine absolute Einigkeit darüber, vor allem nicht über die Frage ihres neuartigen Charakters. Doch der gesamte Kongress sammelte sich um die Analyse welche in der Resolution enthalten ist:

„Die massivsten Bewegungen, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, entfalteten sich nicht in den am höchsten industrialisierten Ländern, sondern in Ländern der Peripherie des Kapitalismus, vor allem in einigen Ländern der arabischen Welt wie in Tunesien und Ägypten. Dort war die herrschende Klasse, nachdem sie erst mit einer brutalen Repression geantwortete hatte, gezwungen, die Diktatoren abzusetzen. Diese Bewegungen waren nicht klassische Arbeiterkämpfe, wie sie sich in diesen Ländern kurz zuvor ereignet hatten (z.B. die Arbeitskämpfe in Gafsa in Tunesien 2009 oder die massiven Streiks in der ägyptischen Textilindustrie während des Sommers 2007, die eine große Solidarität von anderen Sektoren erhielten). Sie haben oft die Form sozialer Revolten angenommen, in denen sich verschiedenste Teile der Gesellschaft wiederfanden: Beschäftigte des Staates und der Privatwirtschaft, Arbeitslose, aber auch Kleinhändler und Bauern und Freiberufliche, die Jugend usw. Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse über die meiste Zeit hinweg nicht direkt als solche erkennbar aufgetreten (wie zum Beispiel in den Streiks in Ägypten in der Endphase der Revolte) und konnte noch weniger eine führende Rolle einnehmen. Dennoch ist der Ursprung dieser Revolten (was sich in vielen Forderungen widerspiegelte) derselbe wie derjenige von Arbeiterkämpfen in anderen Ländern: die dramatische Zuspitzung der Krise und die zunehmende Misere, welche innerhalb der gesamten nichtausbeutenden Bevölkerung um sich greift. Wenn die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen im arabischen Raum im Allgemeinen nicht als Klasse aufgetreten ist, so war ihr Einfluss in den Ländern, in denen sie ein stärkeres Gewicht hat, dennoch spürbar. Dies vor allem durch die Atmosphäre einer großen Solidarität in den Revolten und die Fähigkeit, Fallen von blinder und verzweifelter Gewalt zu vermeiden, auch dann, wenn sie mit einer starken Repression konfrontiert waren. Wenn schlussendlich die herrschende Klasse in Tunesien und Ägypten auf den Ratschlag der USA hin die alten Diktatoren über die Klinge springen ließ, so geschah dies weitgehend wegen der starken Präsenz der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen.“

Das Erwachen der Arbeiterklasse in peripheren Ländern des Kapitalismus hat den Kongress gedrängt, auf unsere Analyse, die wir 1980 während der Massenstreiks in Polen gemacht hatten, zurück zu kommen: „Damals argumentierte die IKS auf der Basis der Positionen, die von Marx und Engels entwickelt wurden, dass der Funke zur proletarischen Revolution vor allem in den zentralen Ländern des Kapitalismus entspringen wird. Dies aufgrund der großen Konzentration der Arbeiterklasse in diesen Ländern und vor allem aufgrund ihrer historischen Erfahrung, welche sie eher in die Lage versetzt, von der herrschenden Klasse gestellte ideologische Fallen zu durchschauen. Einer der wichtigsten Schritte für die weltweite Arbeiterklasse in der Zukunft wird nicht nur die Entfaltung massiver Kämpfe in den zentralen Ländern Westeuropas sein, sondern auch die Fähigkeit, die demokratischen und gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden, indem sie den Kampf in die eigenen Hände nimmt. Diese Bewegungen werden für die weltweite Arbeiterklasse ein Orientierungspunkt sein, einschließlich für die Arbeiterklasse im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA, wo das Abgleiten in die zunehmende Armut, das schon heute Millionen von Beschäftigten betrifft, den „amerikanischen Traum“ in einen Albtraum verwandelt hat.“

Diese Analyse erhält eine erste Bestätigung durch die jüngste Bewegung der „Empörten“ in Spanien. Während die Demonstranten in Tunis und Kairo die nationalen Flaggen für ein Zeichen ihres Kampfes hielten, so fehlten diese seit Ende des letzten Frühlings in den meisten großen Städten Europas (vor allem in Spanien). Zweifelsohne ist die Bewegung der „Empörten“ noch mit starken Illusionen in die Demokratie behaftet, doch sie hatte die Qualität, aufzuzeigen, dass alle Staaten, selbst die „demokratischsten“ und damit auch die von Linken regierten, ein Feind der Arbeiterklasse sind.

Die Intervention der IKS in den sich entfaltenden Kämpfen

Wie wir bereits festgestellt haben, besteht die Fähigkeit revolutionärere Organisationen darin, die aktuelle historische Situation zu analysieren und mitunter auch in der Ehrlichkeit, sich von Analysen, welche durch die Realität in Frage gestellt werden, zu lösen. Dies ist eine Bedingung für die Qualität ihrer Intervention innerhalb der Arbeiterklasse, nicht nur was die Form angeht, sondern auch den Inhalt. Das heißt für eine revolutionäre Organisation schlussendlich, auf der Höhe der Verantwortung zu sein, deretwegen sie die Arbeiterklasse hervorgebracht hat.

Auf der Grundlage einer Einschätzung der Wirtschaftskrise, der furchtbaren Angriffe, die diese für die Arbeiterklasse nach sich zieht, und auf der Grundlage der ersten Antworten derselben auf diese Angriffe, ging der 19. Kongress der IKS davon aus, dass wir in eine neue Phase der Entwicklung des Klassenkampfes eintreten, die deutlich intensiver und massenhafter sein werden als in der Zeitspanne zwischen 2003 und heute. In dieser Hinsicht ist es aber vielleicht noch schwieriger als beim Verlauf der Krise, der diese Entwicklung im Großen und Ganzen bestimmt, kurzfristige Voraussagen zu treffen. Es gilt hingegen, eine allgemeine Tendenz auszumachen und angesichts der Entwicklung der Lage besonders wachsam zu sein, um schnell und angemessen reagieren zu können, wenn sie es erfordert, sei es mittels Stellungnahmen oder der direkten Intervention in den Kämpfen.

Der 19. Kongress schätzte die Bilanz der Intervention der IKS seit dem letzten Kongress als unbestreitbar positiv ein. Immer wenn es nötig war, und oft sehr schnell, wurden Stellungnahmen in zahlreichen Sprachen auf unserer Webseite und in den territorialen Zeitungen veröffentlicht. Im Rahmen dessen, was wir mit unseren bescheidenen Kräften leisten können, verbreiteten wir unsere Presse anlässlich der Demonstrationen, welche die sozialen Bewegungen begleiteten. Solche Bewegungen waren in der letzten Zeit insbesondere die Bewegung gegen die Rentenreform im Herbst 2010 in Frankreich oder die Mobilisierungen der Schülerinnen und Schüler gegen die Angriffe, die vor allem die zukünftigen Studentinnen und Studenten aus der Arbeiterklasse betrafen. Gleichzeitig hielt die IKS öffentliche Diskussionsveranstaltungen in zahlreichen Ländern verschiedener Kontinente ab, welche die sozialen Bewegungen zum Thema hatten. Gleichzeitig intervenierten die Mitglieder der IKS, wenn immer es möglich war, in den Versammlungen, Kampfkomitees, Diskussionszirkeln, Internetforen, um die Positionen und Analysen der Organisation zu verbreiten und an der internationalen Debatte teilzunehmen, die diese Bewegungen ausgelöst hatten.

Diese positive Bilanz dient in keiner Weise dazu, die Militanten der IKS „bei der Stange zu halten“ oder gegenüber den Lesern des Artikels zu bluffen. Sie kann von Allen, welche die Aktivitäten unserer Organisation kennen, überprüft und bestätigt werden, da es sich um unsere öffentlichen Aktivitäten handelt.

Weiter zog der Kongress eine positive Bilanz über unsere Intervention gegenüber Leuten und Gruppen, die kommunistische Positionen verteidigen oder sich solchen Positionen annähern.

Die Perspektive einer starken Entfaltung der Klassenkämpfe bringt auch ein Heranwachsen von revolutionären Minderheiten mit sich. Auch wenn die Arbeiterklasse noch nicht in massive Kämpfe eingetreten ist, so haben wir festgestellt (wie schon in der Resolution zur internationalen Lage vom 17. Kongress festgehalten[3]), dass ein solches Heranwachsen vor allem deshalb entsteht, weil seit 2003 die Arbeiterklasse den Rückschlag, den sie ab 1989 nach dem Zusammenbruch des sogenannten „sozialistischen“ Blocks durch die Kampagnen über das „Ende des Kommunismus“ und somit das „Ende des Klassenkampfes“ erlitt, wieder zu überwinden beginnt. Seither, auch wenn noch schüchtern, hat sich diese Tendenz durch regelmäßige Kontakte und Diskussionen mit Einzelpersonen und Gruppen in verschiedenen Ländern bestätigt. „Dieses Phänomen der Herausbildung von Kontakten betrifft nicht nur die Länder, in denen die IKS schon präsent ist. Und die Zunahme von Kontakten ist auch nicht sofort in allen Ländern spürbar, in denen die IKS aktiv ist – weit entfernt davon. Wir können sogar sagen, dass diese Erscheinungen nur einer Minderheit der Sektionen der IKS vorbehalten bleibt.“ (mündliche Präsentation des Berichts über die Kontakte auf dem Kongress)

In der Tat sind oft Kontakte in Ländern aufgetaucht, in denen die IKS nicht (oder noch nicht) mit Sektionen präsent ist. Dies hatten wir auch an der „panamerikanischen“ Konferenz festgestellt, welche im November 2010 abgehalten wurde und auf der unter anderen OPOP, Genossen aus Brasilien, Peru, der Dominikanischen Republik und Ecuador teilnahmen[4]. Wegen der Entwicklung dieses Umfeldes von Kontakten „hat unsere Arbeit ihnen gegenüber stark zugenommen, was auch einen arbeitsmäßigen und finanziellen Aufwand mit sich bringt, so wie ihn unsere Organisation noch nie für die Kontaktarbeit leistete, aber auch die zahlreichsten und spannendsten Diskussionen seit unserer Gründung erlaubte“ (Bericht über die Kontakte).

Dieser Bericht „schenkte den neuen Entwicklungen hinsichtlich unserer Kontakte besondere Aufmerksamkeit, namentlich der Zusammenarbeit mit Anarchisten. Es gelang uns bei gewissen Gelegenheiten, in Kämpfen gemeinsame Sache mit Leuten und Gruppen zu machen, die sich im gleichen Lager wie wir befinden – in demjenigen des Internationalismus.“ (Einführung des Berichts am Kongress) Diese Zusammenarbeit mit Leuten und Gruppen, die sich auf den Anarchismus berufen, stieß in der Organisation zahlreiche und fruchtbare Diskussionen an, die es uns erlaubten, die verschiedenen Facetten dieser Strömung besser kennen zu lernen und insbesondere die ganze Vielfältigkeit, die es in diesem Milieu gibt, besser zu verstehen (von simplen Linken, die bereit sind, alle möglichen bürgerlichen Bewegungen und Ideologien wie den Nationalismus zu unterstützen, bis hin zu eindeutig proletarischen Leuten mit einem standfesten Internationalismus).

„Eine andere Veränderung ist unsere Zusammenarbeit in Paris mit Leuten, die sich zum Trotzkismus bekennen (…) Grundsätzlich waren diese Leute (während den Mobilisierungen gegen die Rentenreform) sehr aktiv in der Hinsicht, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens in die eigenen Hände nehmen soll, und sie haben auch die Diskussionen in der Arbeiterklasse gefördert, so wie es die IKS tut. Aus diesen Gründen haben wir uns ihren Anstrengungen angeschlossen. Dass sich ihre Haltung auf Konfrontationskurs mit der klassischen Praxis des Trotzkismus befindet, ist umso besser.“ (mündliche Einführung zum Bericht)   

Der Kongress konnte auch eine positive Bilanz unserer Aktivitäten gegenüber Leuten ziehen, die revolutionäre Positionen verteidigen oder sich ihnen annähern. Dies ist eine sehr wichtige Arbeit gegenüber der Arbeiterklasse, da sie zur Bildung der zukünftigen revolutionären Partei beiträgt, welche für eine proletarische Revolution unabdingbar ist[5]. 

Organisationsfragen

Jede Diskussion über die Tätigkeit einer revolutionären Organisation muss sich auch der Bilanz ihrer Funktionsweise widmen. Gerade hier stellte der Kongress auf der Grundlage der verschiedenen Berichte große Schwächen in unserer Organisation fest. Wir haben bereits in unserer Presse und auch auf öffentlichen Veranstaltungen organisatorische Schwierigkeiten thematisiert, mit denen die IKS in ihrer Vergangenheit konfrontiert war. Dies nicht aus Exhibitionismus, sondern weil es einer traditionellen Vorgehensweise innerhalb der Arbeiterbewegung entspricht. Der Kongress diskutierte lange über diese Schwierigkeiten, im Besonderen über den Zustand des oft angeschlagenen Organisationsgewebes und die Schwierigkeit, wirklich kollektiv zu arbeiten, ein Problem, von dem einige Sektionen betroffen sind. Die IKS hat aber keine Krise wie 1981, 1993 und 2001. 1981 hatten wir erlebt, wie ein beträchtlicher Teil der Organisation die politischen und organisatorischen Prinzipien, auf deren Grundlage wir uns zusammengeschlossen hatten, in Frage stellte, was zu gravierenden Spannungen und zum Verlust der Hälfte unserer Sektion in Großbritannien führte. 1993 und 2001 war die IKS mit dem Problem des Clangeistes konfrontiert, der zu einem Loyalitätsverlust gegenüber der Organisation und zu erneuten Austritten führte (1995 vor allem von Mitgliedern der Sektion in Paris und 2001 von solchen des Zentralorgans)[6]. Einer der Gründe der letzten zwei Krisen ist für die IKS das Gewicht der Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des so genannten „sozialistischen“ Blocks, denn dieses Ereignis hat zu einem enormen Rückfluss im Bewusstsein der Arbeiterklasse geführt. Dazu kommt noch ein verstärkter sozialer Zerfall, der in der maroden kapitalistischen Gesellschaft um sich greift. Die heutigen Probleme haben teilweise dieselben Gründe, doch es ist kein Verlust der Überzeugung und der Loyalität zur Organisation sichtbar.        

Alle Genossinnen und Genossen der Sektionen in denen sich diese Schwierigkeiten zeigen, sind voll überzeugt von der Richtigkeit des Kampfes, den die IKS führt, sind absolut loyal und beweisen ihren selbstlosen Einsatz. Auch wenn die IKS mit der schwierigsten Periode seit dem Ende der Konterrevolution, das durch den Ausbruch der Bewegung im Mai 1968 markiert wurde, konfrontiert war, eine Periode gekennzeichnet von einem generellen Rückfluss des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft vom Beginn der 1990er Jahre an, so blieben die Mitglieder der IKS „standfest auf ihrem Posten“. Oft kennen sich diese Genossen und Genossinnen seit mehr als dreißig Jahren und arbeiten so lange politisch zusammen. Häufig gibt es aus diesem Grund zwischen ihnen freundschaftliche und von Vertrauen geprägte Beziehungen. Aber kleine Fehler, kleine Schwächen, Verschiedenheiten im Charakter, die jeder und jede bei den anderen akzeptieren muss, führen manchmal zu Spannungen oder zur wachsenden Schwierigkeit, nach Jahrzehnten überhaupt noch zusammen arbeiten zu können, gerade in kleinen Sektionen, die insbesondere wegen des allgemeinen Zurückweichens der Arbeiterklasse in den 1990er Jahren keine „Blutauffrischung“ mit neuen Mitgliedern erfahren haben. Heute beginnt diese „Blutauffrischung“ einige IKS–Sektionen wieder zu beleben, aber es ist klar, dass die neuen Mitglieder sich nur dann gut in die Organisation werden integrieren können, wenn sich das Organisationsgewebe als Ganzes verbessert. Der Kongress diskutierte offen über diese Schwierigkeiten, was einige der eingeladenen Gruppen dazu verleitete, auch über ihre Organisationsschwierigkeiten zu berichten. Natürlich fand der Kongress keine „Zauberlösung“ für diese Probleme, die auch schon an früheren Kongressen festgestellt worden waren. Die Aktivitätenresolution, welche die Organisation angenommen hat, erinnert deshalb an die auch schon früher vertretene Herangehensweise und ruft alle Genossinnen und Genossen und Sektionen dazu auf, sie systematisch in die Tat umzusetzen:

„Seit 2001 hat die IKS eine sehr anspruchsvolle theoretische Arbeit zur Vertiefung der Frage, was die Militanz in einer kommunistischen Organisation (und auch der Parteigeist) ist, aufgenommen. Wir mussten eine kreative Anstrengung leisten, um auf möglichst hohem Niveau folgende Aspekte zu verstehen:

–  die Ursprünge der proletarischen Solidarität und des Vertrauens,

–  die moralische und ethische Dimension des Marxismus,

–  die Demokratie und der Demokratismus und ihre Feindschaft gegenüber dem kommunistischen Engagement,

–  die Psychologie und Anthropologie und ihr Verhältnis zum Ziel des Kommunismus,

–  die Zentralisierung und die kollektive Arbeit,

–  die proletarische Debattenkultur,

–  der Marxismus und die Wissenschaften.

Kurzum, die IKS hat sich dafür eingesetzt, ein besseres Verständnis über die menschliche Dimension des kommunistischen Ziels und der kommunistischen Organisation zu erarbeiten. Dies um die Tragweite der Vision über ein kommunistisches Engagement neu zu entdecken, welche im Verlauf der Konterrevolution fast gänzlich verlorengegangen war, und auch um sie gegen die Angriffe von Zirkeln und Clans zu schützen, welche sich in einer Atmosphäre der Ignoranz und Leugnung gegenüber Fragen der Organisation und des Engagements entwickelt hatten“ (Punkt 10).

„Die Verwirklichung einheitlicher Prinzipien für die Organisation – die kollektive Arbeit – erfordern die Entfaltung aller menschlichen Qualitäten in Verbindung mit einer theoretischen Anstrengung zur Erfassung des kommunistischen Engagements als etwas Positives, so wie es im Punkt 10 formuliert ist. Dies erfordert, dass sich der gegenseitige Respekt, die Solidarität, die Reflexe der Zusammenarbeit, ein herzlicher Geist des Verständnisses und der Sympathie für die Anderen, soziale Beziehungen und die Großzügigkeit entwickeln müssen“ (Punkt 15).

Die Diskussion über „Marxismus und Wissenschaft“

Eines der Anliegen in den Diskussionen und in der vom Kongress angenommenen Aktivitätenresolution drehte sich um die Notwendigkeit, auch die theoretischen Aspekte der vor uns stehenden Fragen zu vertiefen. Aus diesem Grund widmete dieser Kongress – wie auch schon die früheren – einen Punkt der Tagesordnung einer theoretischen Frage: „Marxismus und Wissenschaft“, welche wir, wie die Mehrheit der anderen theoretischen Fragen, innerhalb der Organisation vorgängig diskutiert hatten, und zu der wir auch Texte veröffentlichten. Wir gehen hier nicht ausführlich auf dieses Thema ein, dem schon im Vorfeld des Kongresses zahlreiche Diskussionen in den Sektionen vorangegangen waren. Aber es gilt trotzdem darauf hinzuweisen, dass die Delegationen ob dieser Diskussion sehr zufrieden waren, was insbesondere auch den Beiträgen eines Wissenschafters, Chris Knights[7], zu verdanken war, den wir eingeladen hatten, an einem Teil des Kongresses teilzunehmen. Es war nicht das erste Mal, dass die IKS einen Wissenschafter zu ihrem Kongress einlud. Vor zwei Jahren war Jean–Louis Dessalles gekommen, um uns seine Überlegungen zur Entwicklung der Sprache darzulegen, was zu sehr interessanten und spannenden Diskussionen geführt hatte[8]. Wir möchten uns herzlich dafür bedanken, dass Chris die Einladung angenommen hat, und die Qualität seiner Interventionen wie auch deren Lebendigkeit und Verständlichkeit für wissenschaftliche Laien, die wir zum größten Teil sind, begrüßen. Chris Knight hat sich dreimal zu Wort gemeldet[9]. Er hat in der allgemeinen Debatte das Wort ergriffen und alle Anwesenden waren nicht nur von der Qualität seiner Argumente beeindruckt, sondern auch von seinem Verhalten, strikte die Redezeit und den Rahmen der Debatte zu respektieren (etwas, das den Mitgliedern der IKS oftmals schwer fällt). Danach präsentierte er in sehr bildlicher Art und Weise eine Zusammenfassung seine Theorie über die Ursprünge der Zivilisation und der menschlichen Sprache und erläuterte die ersten „Revolutionen“, welche die Menschheit kannte, in denen die Frau eine führende Rolle spielte (eine Idee, die er von Engels aufnimmt), Umwälzungen, auf die mehrere andere folgten und die der Menschheit jedes Mal einen Fortschritt erlaubten. Er sieht die kommunistische Revolution als Kulminationspunkt dieser Serie von Revolutionen und geht davon aus, dass die Menschheit die Fähigkeit besitzt, dorthin zu gelangen.

Die dritte Intervention von Chris Knight war ein sehr herzlicher Dank an unseren Kongress.

Nach dem Kongress haben alle Delegationen die Diskussion über „Marxismus und Wissenschaft“ und die Beteiligung von Chris Knight daran als einen der interessantesten und anregendsten Momente des Kongresses hervorgehoben – als etwas, das das Interesse der Gesamtheit der Sektionen für solche theoretischen Fragen stärkt.

Bevor wir zur Schlussfolgerung in diesem Artikel kommen, müssen wir noch erwähnen, dass die Teilnehmer an diesem IKS–Kongress, der fast exakt 140 Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune abgehalten wurde, den Kämpfern dieser ersten revolutionären Anstrengung des Proletariates gedachten.[10]         

Wir ziehen keine triumphalistische Bilanz über den 19. Kongress des IKS, vor allem weil er die Organisationsschwierigkeiten abstecken musste, mit denen wir kämpfen. Schwierigkeiten, die wir überwinden müssen, wenn die Organisation weiterhin an den Rendezvous teilnehmen will, zu denen die Geschichte die revolutionären Organisationen einlädt. Vor uns steht deshalb ein langer und schwieriger Kampf. Doch soll uns diese Perspektive nicht entmutigen. Denn schließlich ist der Kampf der ganzen Arbeiterklasse auch lang und schwierig, voller Hinterhalte und Niederlagen. Diese Perspektive soll die Organisationsmitglieder vielmehr in ihrem Willen bestärken, diesen Kampf zu führen. Ein grundlegender Wesenszug eines/r jeden kommunistischen Militanten ist es, ein/e Kämpfer/in zu sein.

IKS 31.07.2011


[1]  OPOP war schon auf dem letzten Kongress der IKS anwesend. Siehe zu dieser Gruppe mehr in den Artikeln über den 17. und 18. Kongress in Internationale Revue Nr. 40 und 44.

[2] Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 42,43,44, 45,46

[3] „Wie 1968 geht heute die Zunahme der Arbeiterkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher. Dabei stellt das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, lediglich die Spitze des Eisbergs dar.“ (Internationale Revue Nr. 40)   

[4] Siehe dazu unseren Artikel: “5ª Conferencia Panamericana de la Corriente Comunista Internacional – Un paso importante hacia la unidad de la clase obrera”. https://es.internationalism.org/RM120 [16]–panamericana.

[5] Der Kongress hat eine Kritik aufgenommen und diskutiert, welche im Bericht über die Kontakte an einer Formulierung in der Resolution über die internationale Situation vom 16. Kongress geübt wurde: „Die IKS bildet bereits das Skelett der zukünftigen Partei“. Die Kritik lautet: „Es ist nicht möglich, schon heute zu formulieren, welchen organisatorischen Anteil die IKS an der künftigen Partei haben wird, denn dies hängt vom allgemeinen Zustand und der Entwicklung des neuen Milieus und auch unserer Organisation ab“. Das heißt, die IKS hat die Verantwortung, das Erbe der Kommunistischen Linken lebendig zu halten und zu bereichern, damit die jetzigen und kommenden Generationen von Revolutionären und auch die künftige Partei davon profitieren können. Mit anderen Worten: Sie hat die Aufgabe, eine Brücke zwischen den Revolutionären von 1917–23 und der zukünftigen revolutionären Welle zu bilden.  

[6] Die Leute, welche ihre Loyalität gegenüber der Organisation aufgaben, verfielen oft einer Dynamik, welche wir als „parasitär“ bezeichnen: Unter dem Anschein, die „wirklichen“ Positionen der Organisation zu verteidigen, unternahmen sie alles Mögliche, um die Organisation zu verunglimpfen und zu diskreditieren. Wir haben zu dieser Frage einen Texte verfasst („Aufbau der revolutionären Organisation: Thesen über den Parasitismus“, in Internationale Revue Nr. 22). Es soll hier erwähnt werden, dass einige Genossen der IKS, die keineswegs solche Verhaltensweisen bestreiten und im besten Willen, die Organisation zu verteidigen, diese Analyse über den Parasitismus nicht teilen. Diese Meinungsverschiedenheiten kamen auch auf dem Kongress zur Sprache.        

[7]  Chris Knight ist ein britischer Akademiker, der bis 2009 am London East College Anthropologie unterrichtete. Er ist insbesondere Autor des Buches Blood Relations, Menstruation and the Origins of Culture, worüber wir Beiträge auf unserer englischsprachigen Webseite veröffentlichten (https://en.internationalism.org/2008/10/Chris–Knight [17]) und das sich treu auf die Evolutionstheorie von Darwin und auch auf die Arbeiten von Marx und vor allem Engels abstützt (namentlich auf Der Ursprung der Familie, des Eigentums und des Staats). Er bezeichnet sich als „100%igen“ Marxisten und Anthropologen. Er ist überdies Mitglied der Radical Anthropology Group und anderer Zusammenschlüsse, welche meist durch Straßentheater die kapitalistischen Institutionen denunzieren und lächerlich machen. Er wurde von der Universität entlassen, weil er eine Veranstaltung organisierte, die mit den Protesten gegen den G20–Gipfel im März 2009 in London in Zusammenhang stand. Chris Knight wurde des „Aufrufs zum Mord“ angeklagt, weil er eine Puppe, die einen Banker darstellte, aufgehängt hatte, die mit der Aufschrift „Eat the bankers!“ versehen war. Wir sind nicht mit allen Positionen und Aktionsformen von Chris Knight einverstanden. Doch aufgrund der Diskussionen, die wir mit ihm seit einiger Zeit führen, sind wir von seiner Aufrichtigkeit, seiner Treue zur Emanzipation der Arbeiterklasse und seiner Haltung, dass die Wissenschaften und eine Kenntnis darüber ein Instrument zur Emanzipation sind, überzeugt. In diesem Rahmen wollen wir Chris Knight unsere volle Solidarität gegenüber den repressiven Maßnahmen (Entlassung und Gefängnis), unter denen er zu leiden hat, ausdrücken.     

[8] Siehe den Artikel über den 18. Kongress der IKS in Internationale Revue Nr. 44 

[9] Wir haben auf unserer Website Auszüge aus den Redebeiträgen von Chris Knight publiziert. 

[10] Die angenommene Erklärung ist auf der Website in französischer Sprache zu finden.

Dekadenz des Kapitalismus (VII): Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion

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Wie wir im letzten Artikel dieser Serie sahen, war das zentrale Ziel der revisionistischen Attacken gegen den revolutionären Kern des Marxismus dessen Theorie des unvermeidlichen Niedergangs des Kapitalismus, der aus den unlösbaren Widersprüchen in seinen Produktionsverhältnissen herrührt. Eduard Bernsteins Revisionismus, den Rosa Luxemburg so scharfsinnig in Sozialreform oder Revolution widerlegte, gründete sich größtenteils auf eine Reihe empirischer Beobachtungen aus der beispiellosen Expansions– und Wohlstandsperiode, die die mächtigsten kapitalistischen Nationen in den letzten Jahrzehnten des    19. Jahrhunderts erlebt hatten. Der Anspruch, die Kritik an die „katastrophistische“ Sichtweise von Marx auf eine gründlich theoretische Untersuchung der ökonomischen Theorien von Marx zu gründen, war nur gering. Bernsteins Argumente ähnelten in vielerlei Hinsicht jenen Argumenten, die von etlichen bürgerlichen Experten in der wirtschaftlichen Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg und selbst im prekären „Wachstum“ in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts bevorzugt wurden: Der Kapitalismus liefert die Güter, ergo wird er immer in der Lage sein, Güter zu liefern.

Andere Ökonomen jedoch, die nicht völlig losgelöst von der Arbeiterbewegung waren, versuchten ihre reformistischen Strategien auf eine „marxistische“ Vorgehensweise zu gründen. Ein solcher Fall war der Russe Tugan–Baranowski, der 1901 ein Buch mit dem Titel Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England veröffentlichte. Der Arbeit von Struve und Bulgakow ein paar Jahre zuvor folgend, war Tugan–Baranowskis Studie Teil der „legalen marxistischen“ Antwort auf die russischen Volkstümler, die zu argumentieren versuchten, dass der Kapitalismus bei seiner Etablierung in Russland mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert werde; eine dieser Schwierigkeiten sei das Problem, ausreichende Märkte für seine Produkte zu finden. Wie Bulgakow versuchte Tugan, Marx‘ Schemata der erweiterten Reproduktion in Band 2 vom Kapital als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es kein grundsätzliches Problem bei der Realisierung von Mehrwert im kapitalistischen System gebe, dass es für ihn möglich sei, auf harmonische Weise wie in einem „geschlossenen System“ unendlich zu akkumulieren. Wie Rosa Luxemburg zusammenfasste:

„Die ‚legalen‘ russischen Marxisten haben über ihre Widersacher, die ‚Volkstümler‘, zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei – Struve, Bulgakow, Tugan–Baranowski – haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben.“ [1]

Tugans These wurde umgehend von jenen beantwortet, die noch der marxistischen Krisentheorie anhingen, insbesondere vom Sprecher der „marxistischen Orthodoxie“, Karl Kautsky, der insbesondere darauf bestand, dass der Kapitalismus, da weder die Kapitalisten noch die ArbeiterInnen die Gesamtheit des vom System produzierten Mehrwerts konsumieren können, konstant dazu getrieben werde, neue Märkte außerhalb seiner selbst zu erobern:

„Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im neunzehnten Jahrhundert der Fall war, enthält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholte. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgte, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr notwendiges Ende.

Dies ist in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den ‚orthodoxen‘ Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie.“ [2]

Mehr oder weniger gleichzeitig schaltete sich ein Mitglied des linken Flügels der amerikanischen Sozialistischen Partei, Louis Boudin, mit einer ähnlichen, wenn auch etwas ausgereifteren Analyse in The Theoretical System of Karl Marx in die Debatte ein. [3]

Während Kautsky, wie Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals – Antikritik (1915) hervorhob, das Problem der Krise mit dem Begriff der „Unterkonsumtion“ in Verbindung brachte  und in den etwas ungenauen Rahmen der relativen Geschwindigkeit von Akkumulation und Expansion des Marktes stellte[4], lokalisierte sie Boudin exakter im einmaligen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise und in den Widersprüchen, die zum Phänomen der Überproduktion führten:

„Unter den alten Sklaven– und Feudalsystemen gab es nie ein solches Problem wie die Überproduktion, und zwar weil bei der Produktion für den heimischen Verbrauch die einzige Frage, die sich stellte, folgende war: Wie viele der produzierten Produkte sollen dem Sklaven bzw. dem Leibeigenen gegeben werden, und wieviel soll zum Sklavenhalter bzw. Feudalherrn übergehen? Wenn jedoch die entsprechenden Anteile der beiden Klassen danach ermittelt werden, fährt jeder fort, seinen Anteil zu konsumieren, ohne irgendwelche Probleme dabei zu erzeugen. Mit anderen Worten, die Frage war stets, wie die Produkte verteilt werden sollen, und es stellte sich aus dem Grund nie die Frage der Überproduktion, weil das Produkt nicht auf dem Markt verkauft werden sollte, sondern von den Personen verbraucht wurde, die unmittelbar in seine Produktion mit einbezogen waren, sei es als Sklave oder als Herr (…) Nicht so jedoch mit unserer modernen kapitalistischen Industrie. Es trifft zu, dass alle Produkte mit Ausnahme jener Portion, die zum Arbeitenden geht, wie einst an den Sklavenhalter nun an den Kapitalisten gehen. Das jedoch regelt die Angelegenheit keineswegs; der Grund hierfür ist, dass der Kapitalist nicht für sich selbst, sondern für den Markt produziert. Er hat kein Interesse an den Dingen, die der Arbeitende produziert, sondern will sie verkaufen; sie haben absolut keinen Wert für ihn, es sei denn, er ist in der Lage, sie zu verkaufen. Verkäufliche Güter in den Händen des Kapitalisten sind sein Vermögen, sein Kapital, doch wenn diese Güter unverkäuflich sind, sind sie wertlos, und sein ganzes Vermögen, das in seinen Lagerhäusern enthalten ist,  schmilzt in dem Augenblick dahin, wenn die Güter aufhören, marktfähig zu sein.

Wer kauft dann die Güter von unserem Kapitalisten, der neue Maschinen für ihre Herstellung eingesetzt und somit ihren Ausstoß weitgehend noch vergrößert hat? Natürlich gibt es andere Kapitalisten, die diese Dinge möglicherweise haben wollen, doch wenn die Produktion der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wird, was macht dann die kapitalistische Klasse mit dem gestiegenen Ausstoß, der nicht vom Arbeitenden aufgenommen werden kann? Die Kapitalisten selbst können ihn nicht nutzen, weder dadurch, dass jeder seine eigene Manufaktur hält, noch dadurch, dass sie sich ihn gegenseitig abkaufen. Und aus einem ganz einfachen Grund kann die kapitalistische Klasse nicht alle Mehrprodukte nutzen, die die Arbeitenden produzieren und die sie als ihre Profite aus der Produktion an sich reißen. Dies wird bereits durch die eigentliche Prämisse der kapitalistischen Produktion im Großmaßstab und der Akkumulation des Kapitals ausgeschlossen. Kapitalistische Produktion im Großmaßstab setzt die Existenz großer Beträge kristallisierter Arbeit in Form großer Eisenbahnen, von Dampfschiffen, Fabriken, Maschinen und anderer solcher angefertigter Produkte voraus, die nicht von den Kapitalisten konsumiert worden waren und die an sie als ihr Anteil oder Profit aus der Produktion früherer Jahre gefallen sind. Wie bereits festgestellt wurde, bestehen all die großen Vermögen unserer modernen kapitalistischen Könige, Prinzen, Barone und anderer Würdenträger der Industrie, mit oder ohne Titel, aus Werkzeugen und Maschinen in der einen oder anderen Form, das heißt, in einer nicht konsumierbaren Form. Es ist der Anteil der kapitalistischen Profite, den die Kapitalisten ‚angespart‘ und daher nicht konsumiert haben. Wenn die Kapitalisten all ihre Profite konsumieren würden, gäbe es keine Kapitalisten im modernen Sinn des Wortes, gäbe es keine Akkumulation des Kapitals. Damit das Kapital akkumulieren kann, darf der Kapitalist unter keinen Umständen seinen gesamten Profit konsumieren. Der Kapitalist, der dies tut, hört auf, ein Kapitalist zu sein und unterliegt in der Konkurrenz mit den anderen Kapitalisten. Mit anderen Worten, der moderne Kapitalismus setzt ein sparsames Verhalten der Kapitalisten voraus, das heißt, dass ein Teil der Profite des einzelnen Kapitalisten nicht konsumiert werden darf, sondern angespart werden muss, um das bereits existierende Kapital zu vergrößern (…) Er kann daher nicht seinen gesamten Anteil an den gefertigten Produkten konsumieren. Es liegt daher auf der Hand, dass weder der Arbeitende noch der Kapitalist die Gesamtheit des angewachsenen Fertigungsproduktes konsumieren kann. Doch wer dann kann es aufkaufen?“ [5]

Boudin unternimmt dann – in einer Passage, die Luxemburg ausführlich in einer Fußnote zu Die Akkumulation des Kapitals zitiert und die sie als eine „glänzende Kritik“ des Buches von Tugan–Baranowski darstellt [6] – den Versuch, darauf zu antworten, wie der Kapitalismus mit diesem Problem fertig wird:

„Das in den kapitalistischen Ländern produzierte Mehrprodukt hat – mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen – nicht darum die Räder der Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären verteilt worden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen geworden ist, sondern deshalb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun in Baumwoll– oder in Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von den Baumwoll– zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine ganz andere, als Tugan–Baranowski ihr beilegt. Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für den Kaptalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitaistischen Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom Kapitalismus standen und deshalb als Abladestelle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen. Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren, genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll– und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie nicht nur aufhören, eine Abnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer werden unterbringen können.“[7]

Boudin geht anschließend weiter als Kautsky, indem er darauf beharrt, dass die näher rückende Vervollständigung der Eroberung der Erde durch den Kapitalismus auch den „Anfang vom Ende des Kapitalismus“ bedeutet.

Luxemburgs Untersuchung des Akkumulationsproblems

Zur gleichen Zeit, als diese Antworten verfasst wurden, lehrte Luxemburg an der Parteischule in Berlin. Die Skizzierung der historischen Evolution des Kapitalismus als Weltsystem veranlasste sie, sich noch eingehender mit den Schriften von Marx zu befassen, und dies sowohl wegen ihrer Integrität als Lehrerin und als Militante (sie hatte einen Horror davor, alte Wahrheiten einfach nur in neuen Verpackungen zu präsentieren, und betrachtete es als die Aufgabe eines jeden Marxisten, die marxistische Theorie weiterzuentwickeln und zu bereichern) als auch wegen der immer dringenderen Notwendigkeit, die Perspektiven zu erkennen, die dem Weltkapitalismus bevorstehen. Bei ihren neuen Nachforschungen fand sie vieles bei Marx, das ihre Ansicht unterstützte, wonach das Problem der Überproduktion im Verhältnis zum Markt der Schlüssel zum Verständnis des Übergangscharakters der kapitalistischen Produktionsweise war (siehe „Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ in Internationale Revue Nr. 46). Dennoch schien es ihr, dass Marxens Schema der erweiterten Reproduktion in Band 2, mag auch Marx die Absicht gehabt haben, es als ein rein abstraktes, theoretisches Modell zu benutzen, um sich dem Problem anzunähern, beinhalteten, dass der Kapitalismus, den Marx aus argumentativen Gründen auf eine Gesellschaft reduzierte, die allein aus Kapitalisten und Arbeitern zusammengesetzt war, auf eine im Kern harmonische Angelegenheit, auf ein geschlossenes System hinauslaufen könnte, in dem ausreichend vom Mehrwert zur Verfügung gestellt wird, der durch die gegenseitige Interaktion der beiden Hauptabteilungen der Produktion (den Produktionsgüter– und Konsumgütersektor) produziert wird. Ihr schien dies im Widerspruch zu anderen Passagen bei Marx (zum Beispiel in Band 3) zu stehen, die auf die Notwendigkeit einer beständigen Ausweitung des Markts beharrten und die gleichzeitig eine immanente Grenze dieser Ausweitung postulierten. Wenn der Kapitalismus als ein sich selbst regulierendes System operieren könnte, mag es temporäre Ungleichgewichte zwischen den Produktionszweigen geben, aber keine unerbittliche Tendenz, unverdauliche Massen von Waren zu produzieren, also keine unlösbare Überproduktionskrise. Wenn der Kapitalist schlicht danach strebt, für sich selbst zu akkumulieren, und eine ständig wachsende Nachfrage generiert, um den gesamten Mehrwert zu realisieren, wie können dann Marxisten gegen die Revisionisten argumentieren, dass der Kapitalismus tatsächlich dazu verdammt ist, in eine Phase katastrophaler Krisen einzutreten, die die objektiven Fundamente einer sozialistischen Revolution schaffen?

Luxemburgs Antwort war, dass es notwendig sei, von abstrakten Schemata abzurücken und  den Aufstieg des Kapitalismus in seinen historischen Kontext zu setzen. Die gesamte Geschichte der kapitalistischen Akkumulation  könne nur als ein konstanter Prozess der Interaktion mit den nichtkapitalistischen Ökonomien, von denen er umgeben sei, begriffen werden. Die primitivsten Gemeinschaften, die vom Jagen und Sammeln lebten und noch keinen marktfähigen gesellschaftlichen Mehrwert generiert hatten, waren für den Kapitalismus nutzlos und mussten durch eine Politik der direkten Zerstörung und des Genozids (auch die menschlichen Ressourcen in diesen Gemeinschaften waren eher ungeeignet für die Sklavenarbeit) beiseite gefegt werden. Doch die Ökonomien, die einen marktfähigen Mehrwert entwickelt hatten und wo insbesondere die Warenproduktion bereits im Innern entwickelt war (große Zivilisationen wie Indien und China), boten nicht nur Rohstoffe, sondern auch enorme Märkte für die Produktion der kapitalistischen Metropolen, was den Kapitalismus in den zentralen Ländern in die Lage versetzte, das Überangebot an Waren abzusetzen. Dieser Prozess ist bereits eloquent im Kommunistischen Manifest beschrieben worden. Doch gleichzeitig bestand das Manifest darauf, dass, auch wenn die etablierten kapitalistischen Mächte versuchten, die kapitalistische Entwicklung ihrer Kolonien einzuschränken, diese Weltregionen unvermeidlich Teil der bürgerlichen Welt wurden, deren vor–kapitalistischen Ökonomien ruiniert und nach den Erfordernissen der Lohnarbeit umgebaut wurden – womit das Problem der zusätzlichen Nachfrage, die für die Akkumulation erforderlich ist, auf eine andere Ebene verlagert wurde. Umso mehr der Kapitalismus, wie Marx es selbst formuliert hatte, also dazu neigte, zu einem universellen System zu werden, desto mehr war er dazu verdammt, zusammenzubrechen: „Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.“[8]

Diese Vorgehensweise versetzte Luxemburg in die Lage, das Problem des Imperialismus zu begreifen. Das Kapital hatte erst begonnen, sich in die Frage des Imperialismus und seiner ökonomischen Fundamente zu vertiefen, der zu dem Zeitpunkt, als das Buch geschrieben worden war, noch nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Marxisten gerückt war. Nun waren sie mit dem Imperialismus als eine Antriebskraft nicht nur für die Eroberung der nicht–kapitalistischen Welt, sondern auch bei der Verschärfung interimperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten um die Vorherrschaft über den Weltmarkt konfrontiert. War der Imperialismus eine Option, war er für das Weltkapital von Nutzen, wie viele seiner liberalen und reformistischen Kritiker verfochten, oder war er eine immanente Notwendigkeit der kapitalistischen Akkumulation auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung? Auch hier waren die Implikationen weitreichend, denn wenn der Imperialismus nicht mehr als eine zusätzliche Option für das Kapital war, dann war es plausibel, zugunsten einer mäßigenden und pazifistischen Politik zu argumentieren. Luxemburg jedoch zog die Schlussfolgerung, dass der Imperialismus eine Notwendigkeit für das Kapital war – ein Mittel zur Verlängerung seiner Herrschaft, das ihn gleichermaßen unwiderruflich in den Ruin treibt.

„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, das um die Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten: gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ende zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Existenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.“

Die entscheidende Schlussfolgerung in Die Akkumulation des Kapitals war daher, dass der Kapitalismus in eine „Periode der Katastrophen“ eintreten werde. Es ist wichtig festzuhalten, dass Luxemburg nicht, wie oftmals fälschlicherweise behauptet wurde, behauptete, dass der Kapitalismus im Begriff sei, in einer Sackgasse zu landen. Sie machte sehr deutlich, dass das nichtkapitalistische Milieu „geographisch… die weitesten Gebiete der Erde“ umfasst und dass die nichtkapitalistischen Ökonomien nicht nur in den Kolonien immer noch existierten, sondern auch in großen Teilen Europas.[9] Sicherlich war der Umfang dieser wirtschaftlichen Zonen in Wertbegriffen verschwindend, verglichen mit der wachsenden  Kapazität des Kapitals, neue Werte zu generieren. Doch die Welt war noch weit entfernt davon, ein System des reinen Kapitalismus zu werden, wie es Marxens Reproduktionsschemata vorsahen:

„Das Marxsche Schema der Akkumulation ist – richtig verstanden – gerade in seiner Unlösbarkeit die exakt gestellte Prognose des ökonomisch unvermeidlichen Untergangs des Kapitalismus im Ergebnis des imperialistischen Expansionsprozesses, dessen spezielle Aufgabe ist, die Marxsche Voraussetzung: die allgemeine  ungeteilte Herrschaft des Kapitals, zu verwirklichen.

Kann dieser Moment je wirklich eintreffen? Allerdings ist das nur eine theoretische Fiktion, gerade weil die Akkumulation des Kapitals nicht bloß ökonomischer, sondern politischer Prozess ist.“[10]

Für Luxemburg war eine Welt aus lauter Kapitalisten und Arbeitern eine theoretische Fiktion, doch je mehr dieser Punkt erreicht wurde, desto schwieriger und desaströser wurde der Akkumulationsprozess, was Katastrophen auslöste, die nicht nur „rein“ ökonomisch waren, sondern auch militärisch und politisch. Der Weltkrieg, der ausbrach, kurz nachdem Die Akkumulation des Kapitals veröffentlicht worden war, war eine überwältigende Bestätigung dieser Prognose. Für Luxemburg gab es keinen rein wirtschaftlichen Kollaps des Kapitalismus und noch weniger eine automatische, garantierte Verbindung zwischen dem kapitalistischen Zusammenbruch und der sozialistischen Revolution. Was sie in ihrem theoretischen Werk ankündigte, war exakt das, was sich in der katastrophalen Geschichte des darauf folgenden Jahrhunderts bestätigen sollte: die wachsende Manifestation des Niedergangs des Kapitalismus als eine Produktionsweise, die die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellt und insbesondere die Arbeiterklasse dazu aufruft, die Organisation und das Bewusstsein zu entwickeln, die für die Überwindung des Systems und seine Ersetzung durch eine höhere Gesellschaftsordnung nötig sind.

Ein Sturm der Kritik

Luxemburg nahm an, dass ihre Thesen nicht besonders kontrovers sind, eben weil sie sie auf die Schriften von Marx und seiner späteren Nachfolger seiner Methode stützte. Und dennoch wurden sie mit einem Sturm der Kritik begrüßt – nicht nur von den Revisionisten und Reformisten, sondern auch von Revolutionären wie Pannekoek und Lenin, die sich in dieser Debatte auf der Seite nicht nur der legalen Marxisten in Russland, sondern auch der Austro–Marxisten wiederfanden, die Teil des semi–reformistischen Lagers innerhalb der Sozialdemokratie waren.

„Ich habe Rosas neues Buch Die Akkumulation des Kapitals gelesen. Sie ist da in ein erschreckendes Durcheinander geraten. Sie hat Marx entstellt. Ich bin sehr froh darüber, dass Pannekoek und Eckstein und O. Bauer alle übereinstimmend sie verurteilen und gegen sie äußerten, was ich 1899 gegen die Narodnikis sagte.“[11]

Es bestand Einigkeit darin, dass Luxemburg schlicht und einfach Marx falsch gelesen habe und ein Problem erfunden habe, wo keines existiere: Das Schema der erweiterten Reproduktion zeige, dass der Kapitalismus in der Tat ohne immanente Grenzen in einer Welt, die nur aus ArbeiterInnen und Kapitalisten besteht, akkumulieren könne. Die Gleichungen, die Marx am Schluss aufgestellt hatte, müssen also richtig sein. Bauer war ein bisschen nuancierter: Er erkannte an, dass die Akkumulation nur fortgesetzt werden kann, wenn sie von einer wachsenden effektiven Nachfrage gespeist wird, doch wartete er mit einer simplen Antwort auf: Die Bevölkerung wachse, und daher gibt es mehr ArbeiterInnen, eine Lösung, die das Problem auf den Nullpunkt zurücksetzt, da diese neuen ArbeiterInnen immer noch nur das variable Kapital konsumieren können, das ihnen von den Kapitalisten transferiert wird. Die entscheidende Ansicht – nahezu von allen damaligen Kritikern an Luxemburg vertreten – war, dass die Reproduktionsschemata in der Tat zeigten, dass es kein unlösbares Realisierungsproblem für den Kapitalismus gibt.

Luxemburg war sich sehr wohl bewusst, dass die Argumente, die von Kautsky (oder Boudin, obgleich er eine weitaus weniger bekannte Gestalt in der Bewegung war) zur Verteidigung derselben Thesen vorgestellt wurden, nicht eine solche Empörung ausgelöst hatten:

„Soweit steht fest: Kautsky widerlegte 1902 bei Tugan–Baranowski genau dieselben Behauptungen, die jetzt von den ‚Sachverständigen‘ meiner Akkumulationserklärung entgegengehalten werden, und die ‚Sachverständigen‘ der marxistischen Orthodoxie bekämpfen bei mir als horrende Abirrung vom wahren Glauben genau dieselbe, nur exakt durchgeführte und auf das Problem der Akkumulation angewandte Auffassung, die Kautsky vor nun 14 Jahren dem Revisionisten Tugan–Baranowski als die ‚allgemein angenommene‘ Krisentheorie der orthodoxen Marxisten entgegenhielt.“ [12]

Warum diese Aufregung? Sie ist leicht zu verstehen, sofern sie von den Reformisten und Revisionisten kam, weil sie vor allem darum besorgt waren, jegliche Möglichkeit eines Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems zu verneinen. Die Aufregung unter den Revolutionären ist schwerer zu begreifen. Wir können natürlich auf die Tatsache hinweisen – und dies ist sehr bedeutsam hinsichtlich der hysterischen Antwort –, dass Kautsky nicht danach strebte, sein Argument in Beziehung zum Reproduktionsschema zu setzen[13] und somit nicht als „Kritiker“ gegen Marx in Erscheinung trat. Möglicherweise liegt dieser konservative Geist vielen Kritikern Luxemburgs zugrunde: eine Sichtweise, wonach das Kapital eine Art Bibel ist, die alle Antworten für unser Verständnis des Aufstiegs und Falls der kapitalistischen Produktionsweise hat – in der Tat ein geschlossenes System! Im Gegensatz dazu argumentierte Luxemburg entschieden dafür, dass Marxisten das Kapital als das anerkennen, was es war – das Werk eines Genies, aber immer noch ein unvollendetes Werk, besonders in seinem zweiten und dritten Band; und ein Werk, das keinesfalls alle folgenden Entwicklungen in der Evolution des kapitalistischen Systems umfassen konnte.

Jedoch gab es unter all den empörten Antworten zumindest eine sehr klare Verteidigung der Theorie Luxemburgs in jener Zeit des Krieges und Umbruchs: „Rosa Luxemburg als Marxist“ vom Ungarn Georg Lukács, der damals Repräsentant des linken Flügels der kommunistischen Bewegung war.

Lukács‘ Essay, das in der Sammlung Geschichte und Klassenbewusstsein (1922) veröffentlicht wurde, beginnt mit der Skizzierung der grundsätzlichen methodischen Überlegung in der Debatte über Luxemburgs Theorie. Er argumentiert, dass der fundamentale Unterschied zwischen dem proletarischen und bürgerlichen Ausblick auf die Welt darin besteht, dass, während die Bourgeoisie durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu verdammt ist, die Gesellschaft vom Standpunkt einer atomisierten, konkurrierenden Einheit zu betrachten, das Proletariat allein eine Vision der Realität in ihrer Gesamtheit entwickeln kann:

„Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat. Die kapitalistische Trennung des Produzenten vom Gesamtprozess der Produktion, die Zerstückelung des Arbeitsprozesses in Teile, die die menschliche Eigenart des Arbeiters unberücksichtigt lassen, die Atomisierung der Gesellschaft in planlos und zusammenhanglos drauflosproduzierende Individuen usw. musste auch das Denken, die Wissenschaft und Philosophie des Kapitalismus tiefgehend beeinflussen. Und das gründlich Revolutionäre der proletarischen Wissenschaft besteht nicht bloß darin, dass sie der bürgerlichen Gesellschaft revolutionäre Inhalte gegenüberstellt, sondern in allererster Reihe in dem revolutionären Wesen der Methode selbst. Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips der Wissenschaft.“

Er geht dann dazu über, aufzuzeigen, dass ihr Mangel an solch einer proletarischen Methode Luxemburgs Kritiker daran hinderte, das Problem zu begreifen, das sie in Die Akkumulation des Kapitals formuliert hatte:

„Denn die Debatte, von Bauer, Eckstein usw. geführt, drehte sich nicht um die Frage, ob die Lösung des Problems der Akkumulation des Kapitals, die Rosa Luxemburg vorschlug richtig oder falsch war. Man stritt im Gegenteil darum, ob hier überhaupt ein Problem vorlag und bestritt mit der äußersten Heftigkeit das Vorhandensein eines wirklichen Problems. Vom methodischen Standpunkt der Vulgärökonomie ist dies durchaus verständlich, ja notwendig. Denn, wenn die Frage der Akkumulation einerseits als ein Einzelproblem der Nationalökonomie behandelt, andererseits vom Standpunkt des Einzelkapitalisten betrachtet wird, so liegt hier in der Tat überhaupt kein Problem vor.

Diese Ablehnung des ganzen Problems hängt eng damit zusammen, dass die Kritiker Rosa Luxemburgs an dem entscheidenden Abschnitt des Buchs („Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation“ achtlos vorbeigegangen sind und die Frage konsequent in der Form gestellt haben: ob die Formeln von Marx, die auf Grundlage der methodologisch isolierenden Annahme einer nur aus Kapitalisten und Proletariern bestehende Gesellschaft beruhen, richtig sind und wie man sie am besten auslegen kann. Dass diese Annahme bei Marx selbst nur eine methodologische war, um das Problem klarer zu fassen, von der aber zur umfassenden Fragestellung, zur Einstellung der Frage in die Totalität der Gesellschaft fortgeschritten werden muss, haben die Kritiker ganz übersehen. Sie haben übersehen, dass Marx in bezug auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation im ersten Band des Kapital gerade in bezug auf diese Frage ein Fragment ist, das gerade dort abbricht, wo dieses Problem aufgerollt werden muss; dass dementsprechend Rosa Luxemburg nichts anderes getan hat, als das Fragment von Marx in seinem Sinne zu Ende zu denken und seinem Geiste gemäß zu ergänzen.

Sie haben dennoch folgerichtig gehandelt. Denn vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, vom Standpunkt der Vulgärökonomie muss dieses Problem tatsächlich nicht gestellt werden. Vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten erscheint die wirtschaftliche Wirklichkeit als eine von ewigen Naturgesetzen beherrschte Welt, deren Gesetzen er sein Tun und lassen anzupassen hat. Die Realisierung des Mehrwertes, die Akkumulation vollzieht sich für ihn (allerdings selbst hier nur sehr oft, durchaus nicht immer) in der Form eines Tausches mit anderen Einzelkapitalisten. Und das ganze Problem der Akkumulation ist auch nur das einer Form der mannigfachen Wandlungen, die die Formeln G–W–G und W–G–W im Laufe der Produktion, Zirkulation usw. aufnehmen. So wird die Frage der Akkumulation für die Vulgärökonomie eine einzelwissenschaftliche Detailfrage, die mit dem Schicksal des Gesamtkapitalismus so gut wie überhaupt nicht verbunden ist, deren Lösung die Richtigkeit der Marxschen „Formeln“ hinreichend garantiert, die höchstens – wie bei Otto Bauer – „zeitgemäß“ verbessert werden müssen. Dass mit diesen Formeln die ökonomische Wirklichkeit prinzipiell niemals erfasst werden kann, da die Voraussetzung der Formeln eine Abstraktion von dieser Gesamtwirklichkeit ist (Betrachtung der Gesellschaft, als ob sie nur auf Kapitalisten und Proletariern bestünde), dass also die Formeln nur zur Klarlegung des Problems, als Sprungbrett zur Einstellung des richtigen Problems dienen können, haben Bauer und seine Genossen ebenso wenig begriffen, wie seinerzeit die Ricardo–Schüler die marxistischen Fragestellungen.“

Eine Passage in den Grundrissen, zu denen Lukács seinerzeit noch keinen Zugang hatte, bestätigt diese Vorgehensweise: Der Gedanke, dass die Arbeiterklasse ein ausreichender Markt für die Kapitalisten ist, ist eine Illusion, die typisch ist für die limitierte Vorstellungskraft der Bourgeoisie:

„Eigentlich geht uns hier das Verhältnis des einen Kapitalisten zu den Arbeitern des andren Kapitalisten noch gar nichts an. Es zeigt sich nur die Illusion jedes Kapitalisten, ändert aber nichts am Verhältnis von Kapital überhaupt zu Arbeit. Jeder Kapitalist weiß von seinem Arbeiter, dass er ihm gegenüber nicht als Produzent dem Konsumenten [gegenüber] steht und wünscht seinen Konsum, i.e. seine Tauschfähigkeit, sein Salär möglichst zu beschränken. Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der andren Kapitalisten als möglichst große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche Verhältnis. Die Illusion aber – wahr für den einzelnen Kapitalisten im Unterschied von allen andren –, dass außer seinen Arbeitern die ganze übrige Arbeiterklasse ihm gegenübersteht als Konsument und Austauscher, nicht als Arbeiter – Geldspender, entsteht eben dadurch. Es wird vergessen, dass, wie Mathus sagt, ‚the very existence of a profit upon any commodity pre–supposes a demand exterior to that of the labourer who has produced it’, und daher die demand of the labourer himself can never be an adequate demand. Da eine Produktion die andre in Bewegung setzt und sich daher Konsumenten in den Arbeitern des fremden Kapitals schafft, so erscheint für jedes einzelne Kapital die Nachfrage der Arbeiterklasse die durch die Produktion selbst gesetzt ist, als ‚adequate demand’. Diese durch die Produktion selbst gesetzte Nachfrage treibt sie voran über die Proportion, worin sie in bezug auf die Arbeiter produzieren müsste, einerseits; muss sie darüber hinaustreiben; andrerseits verschwindet oder schrumpft zusammen die Nachfrage exterior to the demand of the labourer himself, so tritt der collapse ein.“ [14]

Indem sie Marx‘ Buchstaben hinterfragte, erwies Luxemburg mehr als jeder andere ihr Vertrauen zu dem Geist seiner Worte; und es gibt noch mehr Worte von Marx, die zitiert werden könnten, um die zentrale Bedeutung des von ihr gestellten Problems zu stützen.

In den nächsten Artikel dieser Serie werden wir schauen, wie die revolutionäre Bewegung versuchte, den Prozess des Niedergangs des Kapitalismus, der sich vor ihren Augen in den turbulenten Jahrzehnten zwischen 1914 und 1945 abspielte, zu verstehen.

Gerrard


[1] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 24

[2] Neue Zeit, 1902, Nr. 5 (31), S. 140.

[3] Zuerst in Buchform veröffentlicht von Charles Kerr (Chicago) 1915, basierte diese Studie auf einer Reihe von Artikeln in der Internationalist Socialist Review zwischen Mai 1905 und Oktober 1906.

[4] „Wir sehen hier davon ab, daß Kautsky dieser Theorie den schiefen und zweideutigen Namen einer Erklärung der Krisen ‚aus Unterkonsumtion‘ anhängt, welche Erklärung Marx gerade im zweiten Bande des ‚Kapitals‘, S. 289, verspottet. Wir sehen ferner davon ab, daß Kautsky in der ganzen Sache nichts als das Krisenproblem erblickt, ohne, wie es scheint, zu bemerken, daß die kapitalistische Akkumulation auch abgesehen von Konjunkturschwankungen ein Problem darstellt.“ (Antikritik, Teil I). Interessant, dass so viele Kritiker Luxemburgs – nicht zuletzt die „marxistischen“ – sie beschuldigen, ein Unterkonsumtionist zu sein, wo sie so doch ausdrücklich diese Idee ablehnt! Es ist natürlich vollkommen richtig, dass Marx bei etlichen Gelegenheiten argumentierte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen“ (Kapital, Bd. III, Kap. 30, S. 501, MEW), doch Marx war vorsichtig genug, um zu erklären, dass er sich nicht auf die „absolute Konsumtionskraft“ bezieht, sondern auf „die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter.“ (ebenda, Kap. 15, S. 254, MEW). Mit anderen Worten: Krisen sind nicht das Resultat eines Widerstrebens der Gesellschaft, so viel wie physisch möglich zu konsumieren, noch sind sie – mehr der Punkt, angesichts der zahllosen Mystifikationen darüber, jener, die aus dem linken Flügel des Kapitals entstammen – durch „zu niedrige“ Löhne verursacht worden. Wenn dies der Fall wäre, dann könnten Krisen einfach durch die Anhebung der Löhne eliminiert werden, und dies ist genau das, was Marx im Kapital, Band II verspottet. Das Problem liegt vielmehr in der Existenz „antagonistischer Distributionsverhältnisse“, das heißt in den Lohnarbeitsverhältnissen selbst, die immer zu einem Mehr an Wert über das hinaus, was der Kapitalist seinen ArbeiterInnen zahlt, führen müssen.

[5] Boudin, S. 167–169, Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen

[6] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 23, Fußnote. Luxemburgs Hauptkritik an Boudin war seine anscheinend vorausgreifende Idee, dass Rüstungsausgaben eine Form der Verschwendung oder „waghalsige Ausgaben“ sind, was allem Anschein gegen ihre Bemerkung vom „Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation“ gerichtet ist, die in dem Kapitel mit demselben Titel in Die Akkumulation des Kapitals Erwähnung findet. Doch der Militarismus als ein Gebiet für die Akkumulation konnte nur in einer Epoche stattfinden, in der es eine reale Möglichkeit gab, durch den Krieg – oder: die kolonialen Eroberungen, um genau zu sein – substanzielle neue Märkte für die kapitalistische Expansion zu eröffnen. Mit dem Schrumpfen solcher Ventile konnte der Militarismus in der Tat zu einer reinen Verschwendung für den globalen Kapitalismus werden, auch wenn die Kriegswirtschaft eine „Lösung“ der Überproduktionskrise zu bieten scheint, mit der man die Wirtschaftsmaschinerie wieder in Bewegung setzen kann (am sichtbarsten in Hitlers Deutschland und während des Zweiten Weltkriegs). In der Realität drückt der Militarismus eine immense Zerstörung von Werten aus.

[7] Die Neue Zeit, 25. Jahrgang, 1. Band, Mathematische Formeln gegen Karl Marx, hier zitiert nach Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Fußnote im 23. Kapitel

[8] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 313 f. der Ausgabe im Dietz Verlag

[9] „In Wirklichkeit gibt es in allen kapitalistischen Ländern, auch in denen der höchstentwickelten Großindustrie, neben kapitalistischen Unternehmungen im Gewerbe und in der Landwirtschaft noch zahlreiche handwerksmäßige und bäuerliche Betriebe, die einfache Warenproduktion betreiben. In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerkmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Rußland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerksmäßigen aufweisen.“ (Antikritik, Kap. 1). Siehe den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 46: ‚Chronische Überproduktion: eine unvermeidliche Fessel der kapitalistischen Produktion‘ als einen Beitrag zum Verständnis der Rolle, die von den außerkapitalistischen Märkten in der Periode der kapitalistischen Dekadenz gespielt werden (IKS–online).

[10] Antikritik, Kap. 5.

[11] Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen, von Roman Rosdolskys The Making of  Marx’s Capital (Pluto Press, 1977). Darin unternimmt Roman Rosdolsky eine exzellente Kritik an Lenins Irrtum, der sich auf die Seite der russischen Legalisten und der Austro–Marxisten gegen Luxemburg stellte (s. S. 472f.). Obwohl er auch seine Kritik an Luxemburg hat, erkannte er den wahren Wert ihres Werkes und bestand darauf, dass der Marxismus notwendigerweise eine „Zusammenbruchs“–Theorie ist, und wies insbesondere auf die Tendenz zur Überproduktion, wie sie von Marx identifiziert worden war, als Schlüssel zum Verständnis hin. In der Tat sind einige seiner Kritiken an Luxemburg nur schwer zu entschlüsseln. Er besteht darauf, dass der Hauptirrtum darin lag, nicht zu verstehen, dass das Reproduktionsschema lediglich ein „heuristischer Ratschlag“ sei, wo doch schon Luxemburgs ganzes Argument gegen ihre Kritiker darin bestand, dass das Schema nur als heuristischen Ratschlag verstanden werden kann und nicht als ein wahres Abbild der historischen Evolution des Kapitals, nicht als mathematischen Beweis für die Möglichkeit einer unbegrenzten Akkumulation (siehe S. 490 in Rosdolskys Buch).

[12] Antikritik, Teil I.

[13] In der Tat stellte sich Kautsky später auf die Seite der Austro–Marxisten: „In seinem Hauptwerk kritisiert er heftig Rosa Luxemburgs ‚Hypothese‘, dass der Kapitalismus aus wirtschaftlichen Gründen zusammenbrechen muss; er behauptet, dass Luxemburg in Widerspruch zu Marx stehe, der das Gegenteil im zweiten Band des Kapital bewiesen habe, d.h. in den Schemata der Reproduktion“ (Rosdolsky, ob.zit., mit Zitat von: Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, S. 546–47)

[14] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 322 f. der Ausgabe im Dietz Verlag. Marx erklärt auch an anderer Stelle, dass die Idee, die Kapitalisten könnten selbst den Markt für die erweiterte Reproduktion bilden, auf dem mangelnden Verständnis des Charakters des Kapitalismus beruht: „Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein. Daher das sonderbare Phänomen, daß dieselben Ökonomen, die die Überproduktion von Waren leugnen, die von Kapital zugeben. Wird gesagt, daß nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiednen Produktionszweige stattfinde, so heißt dies weiter nichts, als daß innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozeß aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nichts als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozeß ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat. Es wird weiter damit verlangt, daß Länder, wo die kapitalistische Produktionsweise nicht entwickelt, in einem Grad konsumieren und produzieren sollen, wie er den Ländern der kapitalistischen Produktionsweise paßt. Wird gesagt, saß die Überproduktion nur relativ, so ist dies ganz richtig; aber die ganze kapitalistische Produktionsweise ist eben nur eine relative Produktionsweise, deren Schranken nicht absolut, aber für sie, auf ihrer Basis, absolut sind. Wie könnte es sonst an Nachfragen für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, wo wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr. Kurz, alle die Einwände gegen die handgreiflichen Erscheinungen der Überproduktion (Erscheinungen, die sich nicht um diese Einwände kümmern) laufen darauf hinaus, daß die Schranken der kapitalistischen Produktionsweise keine Schranken der Produktion überhaupt sind, und daher auch keine Schranken dieser spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise. Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann.“  (Das Kapital, Bd. III, Kapitel 15, Teil III, Hervorhebung von uns)

Editorial: Die ökonomische Katastrophe ist unvermeidbar

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In den letzten Monaten haben sich in kurzer Reihenfolge einschneidende Ereignisse abgespielt, welche die Dramatik der heutigen ökonomischen Situation bestätigen: die Unfähigkeit Griechenlands, seine Schulden in den Griff zu bekommen; gleichartige Probleme in Spanien und Italien; Zeichen einer extremen Verletzlichkeit Frankreichs im Falle eines Schuldenerlasses für Griechenland oder Italien; Blockierung des amerikanischen Repräsentantenhauses gegenüber einer Schuldenerhöhung des US-Staates; der Verlust der Note „AAA“ durch die USA – einer Bewertung, die bisher maximale Garantie für die Schuldrückzahlung hieß; zunehmende Anzeichen des drohenden Bankrotts von Banken, deren Beschwichtigungen niemanden mehr täuschen können, und der damit verstärkte Abbau von Personal, der schon am Laufen ist; die Bestätigung dieser Anzeichen durch den Zusammenbruch der französisch–belgischen Bank Dexia. Die Herrschenden dieser Welt rennen den Ereignissen nur hinterher, und die Löcher, die sie stopfen, brechen nur einige Wochen oder sogar Tag später wieder auf. Ihre Unfähigkeit, die Eskalation der Krise in den Griff zu bekommen, bestätigt nicht nur ihre Hilflosigkeit und ihr kurzfristiges Denken, sondern darüber hinaus die Tatsache, dass die katastrophale Dynamik des Kapitalismus nicht vermieden werden kann: Zusammenbruch von Finanzinstituten, Bankrott von Staaten, eine tiefe weltweite Rezession.

Die dramatischen Auswirkungen für die Arbeiterklasse

Die harten Sparmaßnahmen seit 2010 stürzen die Arbeiterklasse – und einen Großteil der restlichen Bevölkerung – in die Lage, wo sie der Mittel zur Existenzsicherung verliert. All die Sparmaßnahmen, die in der Euro–Zone verhängt wurden und noch geplant sind, ergäben eine lange Liste. Es ist trotzdem wichtig, einige dieser Maßnahmen zu beschreiben, da sie generell angewandt werden und bezeichnend sind für das Schicksal von Millionen von Ausgebeuteten. In Griechenland sind 2010 die Steuern auf Konsumgüter erhöht, das Pensionsalter auf 67 Jahre angehoben und die Löhne der staatlichen Angestellten brutal reduziert worden. Im September 2011 wurde beschlossen, 30’000Angestellte der öffentlichen Dienste in eine vorübergehende Arbeitslosigkeit zu schicken – mit einer 40%igen Reduktion ihrer Löhne –, den Rentnern mit mehr als 1200 Euro Einkommen monatlich 20% zu streichen und alle Einkommen über 5000 Euro jährlich mit mehr Steuern zu belasten[1]. In fast allen Ländern werden die Steuern angehoben, das Rentenalter erhöht, und bei den staatlichen Ausgaben werden Millionen gekürzt. Ein Resultat daraus ist eine empfindliche Schwächung der öffentlichen Dienste, auch derjenigen, die lebenswichtig sind. In Barcelona werden Operationssäle und Notfalldienste der Spitäler nur noch reduziert aufrecht erhalten, Spitalbetten wurden massenhaft gestrichen[2]; in Madrid haben 5000 nicht diplomierte Lehrer ihre Arbeit verloren[3], was mit einer Anhebung von 2 Arbeitsstunden wöchentlich für die diplomierten Lehrer kompensiert wird.

Die Arbeitslosenzahlen sind immer alarmierender: 7,9% in Großbritannien Ende August, 10% in der gesamten Euro–Zone (20% in Spanien) Ende September[4] und 9.1% in den USA in derselben Periode. Während des Sommers 2011 haben Entlassungen und Stellenabbau zugenommen: 6500 beim Technologiekonzern Cisco, 6000 bei Lockheed Martin, 10’000 bei HSCB, 30’000 bei der Bank of America, um nur einige zu nennen. Die Einkommen der ausgebeuteten Lohnabhängigen sind im Sinkflug: Nach offiziellen Angaben sank in Griechenland das Realeinkommen Anfang 2011 um mehr als 10%, in Spanien um mehr als 4%, und nur um etwas weniger in Portugal und Italien. In den USA überleben 45,7 Millionen Leute – dies sind 12% mehr als vor einem Jahr[5] – nur noch dank Essensmarken von 30 Dollar pro Woche, die vom Staat ausgegeben werden.

Doch das Schlimmste steht noch bevor.

Es stellt sich immer akuter die Frage der Überwindung des kapitalistischen Systems, denn in seinem Niedergang zieht es die Menschheit in den Ruin. Die Protestbewegungen, die als Reaktion auf die Angriffe seit Frühjahr 2011 in verschiedensten Ländern ausgebrochen sind, auch wenn sie Schwächen und Unsicherheiten in sich tragen, sind erste Meilensteine einer proletarischen Reaktion gegenüber der Krise des Kapitalismus (siehe dazu in dieser Internationalen Revue den Artikel „Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel: von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe“)

Seit 2008 kann die herrschende Klasse die Tendenz zur Rezession nicht mehr aufhalten

Anfang 2010 mochte die Illusion aufkommen, dass es den Staaten gelungen sei, den Kapitalismus vor einer andauernden Rezession in Sicherheit zu bringen – einer Rezession, die sich 2008 und zu Beginn des Jahres 2009 in einem schwindelerregenden Absturz der Produktion ausgedrückt hatte. Am Ende hatten weltweit alle großen Banken die massiven Injektionen von Geld in die Wirtschaft weitergeführt. Ben Bernanke, der Direktor der FED (die große Konjunkturpakete lancierte), erhielt deswegen den Übernamen „Hubschrauber–Ben“, weil er in den USA Dollars wie aus einem Hubschrauber über das Land warf. Zwischen 2009 und 2010 ist nach offiziellen Zahlen (die bekanntlich meist überbewertet sind) die Wachstumsrate in den USA von 2,6% auf +2,9% und in der Euro–Zone von -4,1% auf +1,7% gestiegen. In den sog. „Schwellenländern“ schienen die Wachstumsraten, welche gesunken waren, gegen Ende 2010 wieder den Stand vor der Finanzkrise zu erreichen: 10,4% in China und 9% in Indien. Alle Staaten und ihre Medien stimmten dann in den Kanon über den Aufschwung ein, auch wenn das Produktionsniveau aller hochentwickelten Länder in der Realität nie mehr das Niveau von 2007 erreichte. Mit anderen Worten: Anstelle einer Erholung war es nur eine Injektion von Palliativmedikamenten in eine generelle Abwärtsdynamik der Produktion. Und diese wirkte lediglich für ein paar Quartale:

–  In den hochentwickelten Ländern begannen die Wachstumsraten Mitte des Jahres 2010 wieder zurückzugehen. Die prognostizierte Wachstumsrate für die USA betrug 0,8%. Ben Bernanke kündigte an, dass der amerikanische Wiederaufschwung ein „Zeichen der Zeit“ sei. Doch das Wachstum in den großen europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) geht gegen Null. Auch wenn die Regierungen der südeuropäischen Länder (Spanien 0,6% 2011, nach -0,1% im Jahr 2010[6]; Italien 0,7% 2011[7]) immer wieder und mit allen Mitteln beteuern, ihre Länder befänden sich nicht in einer Rezession, so ist in der Realität, angesichts der Sparmaßnahmen, die sie einschlagen und weiter planen, ihre Perspektive nicht weit von derjenigen Griechenlands entfernt, wo die Produktion 2011 um 5% zurückging.

–  Für die „Schwellenländer“ ist die Situation alles andere als brillant. Auch wenn es dort 2010 bedeutende Wachstumsraten gegeben hat, fällt das Jahr 2011 viel schlechter aus. Der IWF prognostizierte ein Wachstum von 8,4% für 2011[8], doch es gibt viele Indizien gerade für einen Rückgang in China[9]. Es wird prognostiziert, dass das Wachstum Brasiliens, das 2010 noch 7,5% betrug, 2011 auf 3,7% fallen wird[10]. Was Russland angeht, ist das Kapital drauf und dran, sich aus diesem Land zurückzuziehen[11]. Kurzum, im Gegensatz zu dem, was die Ökonomen und viele Politiker seit Jahren erzählen, sind die sog. „Schwellenländer“ keinesfalls die Lokomotive eines weltweiten Wiederaufschwungs. Ganz im Gegenteil werden sie besonders stark unter dem Rückgang in den hochentwickelten Ländern leiden und einen Einbruch ihrer Exporte in Kauf nehmen müssen, die Hauptfaktor ihres Wachstums waren.

Der IWF nahm seine Prognosen über ein Wachstum von 4% in den Jahren 2011 und 2012 zurück, um anzudeuten, dass eine Rezession für das Jahr 2012 nicht auszuschließen sei. Dies, nachdem vorher immer wieder von einer „deutlichen Abschwächung“ des Wachstums fabuliert wurde[12]. Mit anderen Worten, die herrschende Klasse wird sich langsam selber bewusst, an welchem Punkt die Wirtschaft angelangt ist. Angesichts dieser Entwicklung muss man sich folgende Frage stellen: Weshalb haben die Zentralbanken nicht wie Ende 2008 und 2009 die Welt weiterhin mit Geld überschwemmt und die Geldmenge erheblich erhöht (in den USA wurde sie verdreifacht und in der Euro–Zone verdoppelt)? Der Grund liegt darin, dass die Ausschüttung von „leichtem Geld“ in die Wirtschaft die Widersprüche des Kapitalismus nicht löst. Was dabei herauskommt, ist weniger eine Produktionssteigerung als eine Inflation, welche in der Euro–Zone bei knapp 3%, in den USA bei etwas mehr als 3%, in Großbritannien bei 4.5%, und in den „aufstrebenden“ Ländern zwischen 6 und 9% liegt.

Die Herausgabe von Papier– oder elektronischem Geld führt zur Ausgabe von neuen Krediten… und zu einer höheren weltweiten Verschuldung. Dieses Szenario ist nicht neu. Genau so haben sich die großen Wirtschaftsmächte verschuldet – bis zur Unfähigkeit, ihre Schulden zurückzuzahlen. Sie sind heute zahlungsunfähig, und davon betroffen sind die europäischen Staaten, die USA und das gesamte Bankensystem.

Das Geschwür der öffentlichen Verschuldung

Die Euro–Zone

Die europäischen Staaten geraten immer mehr in Schwierigkeiten, nur schon die Zinsen für ihre Schulden zu bezahlen.

In der Euro–Zone sind die ersten Zahlungsverzüge gewisser Staaten deshalb aufgetreten, weil diese im Gegensatz zu den USA, Großbritannien und Japan die Währungsausgaben nicht mittels der eigenen Geldpresse steuern und mit „leichtem Geld“ die Laufzeiten ihrer Verbindlichkeiten verlängern können. Die Herausgabe von Euros untersteht der Europäischen Zentralbank EZB, welche in der Hand der großen Staaten Europas ist, vor allem Deutschlands. Und wie jedermann weiß, treibt eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Geldmenge bei gleichzeitiger Stagnation der Produktion nur die Inflation in die Höhe. Um dies zu verhindern, vergab die EZB nur zögerlich finanzielle Mittel an Staaten, die sie benötigten, um nicht selbst in die Situation des Zahlungsverzugs zu geraten.

Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb die Länder der Euro–Zone seit eineinhalb Jahren unter dem Schatten des Schuldnerverzugs Griechenlands stehen. Das Problem, vor dem die Euro–Zone steht, ist unlösbar, denn eine Weigerung, die Schulden Griechenlands zu bezahlen führt zu einer Einstellung der Hilfeleistung an Griechenland und zu dessen Austritt aus der Euro–Zone. Die Gläubiger Griechenlands, unter ihnen die europäischen Staaten und große europäische Banken, geraten damit wiederum in Schwierigkeiten, ihren Verpflichtungen nachzukommen, was ihren drohenden Bankrott beschleunigt. Die Euro–Zone selbst ist damit in Frage gestellt, deren Existenz für die nördlichen Exportstaaten, und speziell Deutschland, unabdingbar ist.    

Es ist vor allem Griechenland, das seit eineinhalb Jahren ins Rampenlicht des Schuldnerverzugs gerückt ist. Doch Staaten wie Spanien und Italien befinden sich in einer vergleichbaren Situation, sie sind nicht mehr in der Lage, die nötigen Steuereinnahmen zu generieren, um wenigstens einen Teil ihrer Schulden zurückzubezahlen[13]. Ein Blick auf den Schuldenberg Italiens, dessen Zahlungsunfähigkeit wohl vor der Türe steht, zeigt, wie die Euro–Zone auch dieses Land nicht dabei unterstützen kann, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Die Anleger glauben immer weniger an Italiens Rückzahlungsfähigkeit und geben daher nur noch Kredite mit sehr hohen Zinsen. Die Lage Spaniens ist vergleichbar mit derjenigen Griechenlands.

Die Stellungnahmen der Regierungen und Behörden in der Euro–Zone, vor allem der Regierung Deutschlands, legt ihre Hilflosigkeit gegenüber dem drohenden Bankrott einiger Staaten offen. Die Mehrheit der herrschenden Klasse in der Euro–Zone ist sich bewusst, das Problem liegt nicht darin zu wissen, ob Griechenland tatsächlich im Zahlungsverzug ist: die Ankündigung einer Beteiligung der Banken von 21% am Rettungspaket für Griechenland ist bereits eine Bestätigung dieser Situation, bestätigt auf dem Treffen von Merkel und Sarkozy vom 9. Oktober, an dem von einem Zahlungsausfall Griechenlands in der Höhe von 60% seiner Schulden die Rede war. Das Problem, vor dem die herrschende Klasse steht, ist Mittel zu finden, damit dieser Zahlungsausfall in der Euro–Zone so wenig Turbulenzen wie möglich verursacht. Denn der Fall Griechenland provoziert in ihren Reihen eine heikle Situation mit Divergenzen und Zweifeln. Auch die politischen Parteien, welche in Deutschland an der Macht sind, haben sich an der Frage entzweit, ob man Griechenland überhaupt finanziell stützen soll, wie man dies allenfalls tun soll und ob dies auch für andere Staaten gültig ist, welche im Laufschritt demselben Schicksal wie Griechenland entgegenlaufen. Als Beispiel dient anschaulich der Plan, der von den Behörden der Euro–Zone am 21. Juli zur „Rettung“ Griechenlands verabschiedet wurde und vorsieht, die Darlehenskapazität des Europäischen Stabilitätsfonds von 220 auf 440 Milliarden Euro zu erhöhen – mit der Konsequenz einer Beitragserhöhung der einzelnen Staaten. Während Wochen wurde der Plan von wichtigen Teilen der Regierungsparteien in Deutschland zurückgewiesen, erst nach einem Meinungsumschwung wurde er am 29. September vom Bundestag klar angenommen! Bis Anfang August sträubte sich die deutsche Regierung gegen den Ankauf von italienischen und spanischen Staatsanleihen durch die EZB. Angesichts der finanziellen Schieflage dieser Länder stimmte der deutsche Staat am 7. August dem Kauf solcher Obligationen durch die EZB doch zu[14]. Zwischen dem 7. und 22. August kaufte die EZB danach Staatsschulden dieser beiden Länder auf[15]! All diese Widersprüche und Zögerungen zeigen, wie eine international gewichtige Bourgeoisie wie diejenige Deutschlands sich ihres politischen Kurses nicht mehr sicher ist. Generell hat Europa, angeführt von Deutschland, den Weg der Sparprogramme eingeschlagen. Doch das schließt nicht aus, gewisse Staaten und Banken minimal durch die Errichtung des Europäischen Stabilitätsfonds zu stützen (was natürlich eine Vergrößerung der finanziellen Mittel dieser Institution erfordert), oder die EZB anzuweisen, genügend Geld zu drucken, um Staaten, die ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können, zu Hilfe zu eilen und damit deren Zahlungsunfähigkeit hinauszuschieben.

Gewiss, das Problem ist nicht allein das der deutschen Bourgeoisie, sondern der gesamten herrschenden Klasse, denn sie ist als gesamtes seit Ende der 1960er Jahre immer mehr in die Verschuldung gerutscht, um die Überproduktion in den Griff zu bekommen. Heute ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht nur sehr schwierig geworden ist, die Schulden zu amortisieren, sondern auch nur die Zinsen zu bezahlen. Der Wirtschaftskurs, der heute mittels der drakonischen Sparmaßnahmen einschlagen wird, vermindert nicht nur die Einkommen, er reduziert gleichzeitig auch die Nachfrage, was die Überproduktion verschärft und den Fall in die Rezession beschleunigt.

Die Vereinigten Staaten

Die USA standen im Sommer 2011 vor gleichartigen Problemen.

Die Verschuldungslimite von 14‘294 Milliarden Dollar, die 2008 gesetzt worden war, wurde im Mai 2011 erreicht. Sie musste angehoben werden, damit die USA, ähnlich wie die Eurozone, noch ihren Verpflichtungen nachkommen konnten, einschließlich der internen, d.h. der Gewährleistung der staatlichen Aufgaben. Auch wenn der unglaubliche Archaismus und die Dummheit der Tea Party ein die Krise verschärfender Faktor waren, so lag der eigentliche Grund des Problems, vor denen der Präsident und der Kongress der USA standen, woanders. Das eigentliche Problem bestand darin, dass man vor der folgenden Alternative stand, wovon eine Seite zu wählen war:

–  entweder Weiterverfolgung der Verschuldungspolitik des Bundes, wie es die Demokraten verlangten, d.h. letztlich von der FED verlangen, weiteres Geld zu schaffen mit dem Risiko, einen unkontrollierten Absturz des Wertes der Währung zu verursachen;

–  oder eine drastische Sparpolitik verfolgen, wie es die Republikaner forderten, insbesondere mit Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in den nächsten 10 Jahren um 4000 bis 8000 Milliarden Dollars. Zum Vergleich sei erwähnt, dass das BIP der USA 2010 14‘624 Milliarden Dollars betrug, was die Dimensionen der Budgetkürzungen und damit des Abbaus von Arbeitsplätzen, die ein solcher Plan vorsieht, ermessen lässt.

Zusammengefasst war die Alternative, vor der die USA in diesem Sommer standen, die folgende: Entweder Gefahr laufen, einer potentiell galoppierenden Inflation die Tür zu öffnen, oder eine Sparpolitik betreiben, die einzig zu einer starken Verringerung der Nachfrage führen konnte, und damit einen Rückgang oder sogar eine Vernichtung der Profite verursachen, was schließlich zu massenhaften Schließungen von Betrieben und zu einem schwindelerregenden Absturz der Produktion führen würde. Aus der Sicht der Interessen des nationalen Kapitals war sowohl die Position der Republikaner als auch diejenige der Demokraten legitim. Hin und her gerissen zwischen den Widersprüchen, in denen die nationale Wirtschaft stand, mussten sich die amerikanischen Behörden mit Halbheiten zufrieden geben – mit widersprüchlichen und planlosen Maßnahmen. Der Kongress stand wieder einmal vor der Zwang, gleichzeitig das Budget um Tausende von Milliarden Dollars zu kürzen und einen neuen Plan zur Schaffung von Arbeitsplätzen umzusetzen.

Der Ausgang des Streites zwischen Republikanern und Demokraten zeigt, dass die USA im Gegensatz zur Europa eher auf die Vergrößerung der Schulden setzen, denn die Limite der Bundesverschuldung wurde bis 2013 um 2100 Milliarden Dollars erhöht, und auf der anderen Seite sollen die Ausgaben in den nächsten 10 Jahren um 2500 Milliarden gekürzt werden.

Doch wie in Europa zeigt dieser Entscheid, dass der amerikanische Staat nicht weiß, welche Politik er einschlagen soll angesichts seiner Verschuldung.

Die Zurückstufung der amerikanischen Kreditwürdigkeit durch Standard and Poor’s und die Reaktionen, die dies hervorrief, sind eine Veranschaulichung der Tatsache, dass die Bourgeoisie genau weiß, dass sie in einer Sackgasse steckt und dass sie über keine Mittel verfügt, um daraus auszubrechen. Im Gegensatz zu vielen anderen Entscheiden der Rating–Agenturen seit dem Beginn der Suprime–Krise scheint dieser Beschluss folgerichtig: Die Agentur zeigt an, dass die Aktiven zu gering sind, um die Erhöhung der Verschuldung zu decken, die der Kongress beschlossen hat, und dass folglich die Fähigkeit der USA, ihre Schulden zurück zu zahlen, abgenommen hat. Mit anderen Worten wird für diese Institution der Kompromiss, der eine ernsthafte politische Krise in den Vereinigten Staaten um den Preis einer Erhöhung der Schuldenlast dieses Landes verhindert hat, die Zahlungsunfähigkeit des amerikanischen Staates selbst beschleunigen. Der Vertrauensverlust der Geldbesitzer dieser Welt in den Dollar, der unausweichlich auf den Urteilsspruch von Standard and Poor’s folgen wird, zieht seinen Wert nach unten. Dazu kommt, dass der Entscheid, die staatliche Verschuldungslimite der USA zu erhöhen, zwar die Lähmung der Bundesverwaltung abwendet, aber nichts am Bankrott zahlreicher Bundesstaaten und Gemeinden ändert. Seit dem 4. Juli befindet sich der Staat Minnesota im Schuldnerverzug, und er musste 22‘000 Staatsangestellte bitten, zu Hause zu bleiben[16]. Verschiedene amerikanische Städte (unter ihnen Central Falls und Harrisburg, Hauptstadt von Pennsylvania) befinden sich in derselben Lage; eine Lage, welcher Kalifornien – und nicht als einziger Staat – offenbar schon in naher Zukunft nicht entrinnen kann.

Angesichts der Vertiefung der Krise seit 2007 konnten die Staaten weder in der Eurozone noch in Nordamerika der Aufgabe ausweichen, die Verantwortung für Schulden mitzutragen, die eigentlich und ursprünglich durch den privaten Sektor eingegangen worden waren. Diese neuen öffentlichen Schulden vergrößerten einzig die Staatsschuld, die ihrerseits ohnehin schon seit Jahrzehnten wuchs. Daraus resultierte ein Schuldentilgungsplan, dem die Staaten nicht nachleben können. Sowohl in den USA als auch in der Eurozone drückt sich dies in massenhaften Entlassungen im öffentlichen Dienst, in den unendlichen Kürzungen der Löhne und in der ebenfalls unendlichen Erhöhung der Steuern aus.

Die drohende ernsthafte Bankenkrise

2008 und 2009, nach dem Untergang von einigen Banken wie Bear Stearns und Northern Rock und dem ungeschminkten Bankrott von Lehman Brothers, rannten die Staaten zahlreichen anderen zu Hilfe, indem sie sie rekapitalisierten, um sie vor dem gleichen Ende zu bewahren. Wie steht es nun um die Gesundheit der Finanzinstitute? Sie ist wieder äußerst schlecht. Zunächst sind die Buchhaltungen der Banken weit entfernt davon, nur noch gedeckte Forderungen aufzuweisen. Weiter sind zahlreiche Banken heute Inhaber eines Teils der Staatsanleihen, die vielleicht nicht mehr zurückbezahlt werden. Ihr Problem besteht darin, dass der Wert ihrer erworbenen Forderung in der Zwischenzeit beträchtlich geschrumpft ist.

Die kürzlich erfolgte Erklärung des IWF, die sich auf die Erkenntnis über die gegenwärtigen Schwierigkeiten der europäischen Banken stützte und forderte, dass diese ihre Eigenmittel um 200 Milliarden erhöhten, provozierte gehässige Reaktionen und Beteuerungen von Seiten der Finanzinstitute, wonach bei ihnen alles gut laufe. Und dies zu einer Zeit, als alles auf das Gegenteil hindeutete:

–  die amerikanischen Banken sind nicht mehr bereit, die amerikanischen Filialen europäischer Banken mit Dollars zu refinanzieren, und transferieren ihre in Europa platzierten Guthaben nach Hause;

–  die europäischen Banken leihen sich gegenseitig je länger je weniger Geld aus, weil sie je länger je weniger sicher sind, das Geld wieder zurück zu erhalten, und ziehen es vor, ihre Vermögen – wenn auch zu einem sehr tiefen Zins – bei der EZB anzulegen;

–  Folge dieses sich verallgemeinernden Vertrauensverlusts: Die Zinsen für Darlehen zwischen Banken steigen unaufhörlich, auch wenn sie noch nicht die Höhe von Ende 2008 erreicht haben[17].

Dem Ganzen die Krone aufgesetzt haben einige Wochen nach der Beteuerung der Banken über ihren guten Gesundheitszustand die Pleite und Liquidation der französisch–belgischen Bank Dexia, ohne dass eine andere Bank sich dafür interessiert hätte, ihr zu Hilfe zu kommen.

Zu ergänzen ist, dass die amerikanischen Banken es sich nicht leisten können, ihren europäischen Branchenfreunden gegenüber groß „die Muskeln spielen“ zu lassen: Aufgrund ihrer ernsthaften Schwierigkeiten hat die Bank of America soeben 10% ihrer Arbeitsplätze gestrichen und Goldman Sachs, die Bank, die zum Symbol für Spekulation schlechthin geworden ist, 1000 Leute entlassen. Und auch sie ziehen es vor, ihre flüssigen Mittel bei der FED zu hinterlegen, als anderen amerikanischen Banken zu leihen.

Die Gesundheit der Banken ist für den Kapitalismus wesentlich, denn dieser funktioniert nicht ohne ein Bankensystem, das ihn mit Geld versorgt. Die Tendenz, die wir gegenwärtig erleben, geht Richtung „Credit Crunch“, das heißt hin zu einer Situation, in der die Banken das Geld nicht mehr ausleihen, wenn auch nur das geringste Risiko besteht, dass es nicht mehr zurück bezahlt wird. Dies führt schlussendlich zu einem Stillstand der Kapitalzirkulation, d.h. Stillstand der Wirtschaft. Man versteht unter diesem Gesichtswinkel besser, warum das Problem der Erhöhung der Eigenmittel der Banken mittlerweile zuoberst auf der Tagesordnung der zahlreichen Sitzungen und Gipfel steht, die auf internationaler Ebene stattgefunden haben, noch weiter oben als die Lage von Griechenland, die allerdings auch immer noch ungelöst ist. Im Grunde genommen zeigt das Problem der Banken die äußerste Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Lage auf und veranschaulicht für sich allein die unentwirrbaren Schwierigkeiten, vor denen der Kapitalismus steht.

Als die USA die Note AAA verloren, titelte die französische Wirtschaftstageszeitung Les Echos am 8. August 2011 auf der ersten Seite: „Amerika herabgestuft, die Welt vor dem Ungewissen“. Wenn das wichtigste Wirtschaftsmedium der französischen Bourgeoisie eine solche Orientierungslosigkeit ausdrückt, eine solche Zukunftsangst, so drückt es die Ratlosigkeit der Bourgeoisie selber aus. Seit 1945 beruht der westliche Kapitalismus (und nach dem Zusammenbruch der UdSSR der Kapitalismus auf der ganzen Welt) darauf, dass die Stärke des amerikanischen Kapitals schließlich die letzte Sicherheit darstellt, indem es die Gesamtheit der Dollars zu Verfügung stellt, die überall auf der Welt die Zirkulation der Waren, und somit des Kapitals, sicherstellen. Nun ist die gewaltige Anhäufung von Schulden, welche die amerikanische Bourgeoisie seit Ende der 1960er Jahren gemacht hat, um der Rückkehr der offenen Krise des Kapitalismus etwas entgegen zu stellen, zu einem beschleunigenden und vertiefenden Faktor derselben Krise geworden. Alle, die einen Teil der amerikanischen Schulden halten – zuerst der amerikanische Staat selbst –, sind eigentlich Besitzer eines Guthabens – das je länger je weniger wert ist. Die Währung, in der diese Schuld zu bezahlen ist, wird ihrerseits im gleichen Ausmaß schwächer – wie der amerikanische Staat.

Das Fundament der Pyramide, auf der die Welt nach 1945 aufgebaut wurde, löst sich auf. 2007, während der Finanzkrise, wurde das Weltfinanzsystem durch die Zentralbanken gerettet, d.h. durch die Staaten; heute stehen diese am Rande des Bankrotts, und die Banken können sie keinesfalls retten; wohin sich die Kapitalisten auch wenden: Es gibt nichts, was einen wirklichen Wirtschaftsaufschwung ermöglichen könnte. In der Tat setzt sogar ein sehr geringes Wachstum die Emission von neuen Schuldtiteln voraus, damit die nötige Nachfrage geschaffen werden kann, die es erlaubt, die Waren abzusetzen; nun sind aber schon die Zinsen der bestehenden Schulden nicht mehr zahlbar und stürzen Banken und Staaten in die Zahlungsunfähigkeit.

Wie wir gesehen haben, werden Entscheide, die als unwiderruflich erklärt worden sind, innerhalb von wenigen Tagen wieder in Frage gestellt, Beteuerungen über die Gesundheit der Wirtschaft und der Banken werden ebenso schnell dementiert. In einem solchen Zusammenhang sind die Staaten mehr und mehr gezwungen, den Kurs jeden Tag neu zu bestimmen. Es ist wahrscheinlich, wenn auch nicht sicher – eben weil die Bourgeoisie durch eine noch nie erlebte Situation verwirrt ist –, dass sie angesichts der bestehenden Probleme und mit dem Ziel, Zeit zu gewinnen, weiterhin Geld übers Kapital gießt, und zwar über das Finanz–, das Handels– und das Industriekapital, auch wenn dies zu einer Inflation führt, die schon begonnen hat und die sich verstärken und je länger je mehr außer Kontrolle geraten wird. Dies wird nicht die Fortsetzung der Entlassungen, der Lohnkürzungen und der Steuererhöhungen verhindern; vielmehr wird die Inflation das Elend der großen Mehrheit der Ausgebeuteten verschlimmern. Am gleichen Tag, als Les Echos den Titel trug: „Amerika herabgestuft, die Welt vor dem Ungewissen“, titelte eine andere französische Wirtschaftstageszeitung, La tribune, „Überholt“ in Bezug auf die großen Entscheidungsträger dieses Planeten, von denen auf der Frontseite auch eine Foto zu sehen war. Ja, diejenigen, die uns Milch und Honig versprochen, dann uns getröstet haben, als offensichtlich geworden ist, dass uns nicht das Schlaraffenland, sondern ein Albtraum blüht, geben nun zu, dass sie „überholt“ sind. Sie sind überholt, weil ihr System, der Kapitalismus, definitiv hinfällig geworden und drauf und dran ist, die große Mehrheit der Weltbevölkerung in das schrecklichste Elend zu stürzen.

Vitaz, 10.10.2011


[1] https://www.lefigaro.fr/conjoncture/2011/09/22/04016 [18]–20110922ARTFIG00699–la–colere–gronde–de–plus–en–plus–fort–en–grece.php

[2] https://news.fr.msn.com/m6 [19]–actualite/monde/espagne–les–enseignants–manifestent–%C3%A0–madrid–contre–les–coupes–budg%C3%A9taires

[3] https://www.rfi.fr/europe/20110921 [20]–manifestations–enseignants–lyceens–espagne

[4] Statistique Eurostat

[5] Le Monde, 7.–8. August 2011

[6] https://finance [21]–economie.com/blog/2011/10/10/chiffres–cles–espagne–taux–de–chomage–pib–2010–croissance–pib–et–dette–publique/

[7] https://www.globalix.fr/content/la [22]–dynamique–de–la–dette–italiennela–dynamique–de–la–dette–italienne

[8] IWF, Perspektiven der Weltwirtschaft, Juli 2010

[9] Le Figaro, 3. Oktober 2011

[10] Les Echos, 9. August 2011

[11] http://www.lecourrierderussie.com/2011/10/12/poutine [23]–la–crise–existe/

[12] http://www.lefigaro.fr/flash [24]–eco/2011/10/05/97002–20111005FILWWW00435–fmi–recession–mondiale–pas–exclue.php

[13] siehe Le Monde, 5. August 2011

[14] Les Echos, August 2011

[15] Les Echos, 16. August 2011

[16] www.rfi.fr/fr/ameriques/20110702-faillite-le-gouvernement-minnesota-cesse-activites [25]

[17] https://www.gecodia.fr/Le–stress–interbancaire–en–Europe–s–approche–du–pic–post–Lehman_a2348.html [26]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 1: Warum tauchen 1905 Arbeiterräte auf?

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Am 2. März 1919, bei der Eröffnung des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale, behauptete Lenin, dass das „Sowjetsystem“ (wie Arbeiterräte in der russischen Sprache heißen), das noch bis vor Kurzem für die großen Arbeitermassen „Latein“ gewesen sei, mittlerweile sehr verständlich und insbesondere je länger je mehr eine allgemeine Praxis geworden sei. Er zitierte ein Beispiel: „Heute lese ich zum Beispiel in einer antisozialistischen Zeitung die telegraphische Mitteilung, dass die englische Regierung den Rat der Arbeiterdelegierten in Birmingham empfangen und ihre Bereitwilligkeit erklärt hat, die Räte als wirtschaftliche Organisationen anzuerkennen.“[1]

Heute, 90 Jahre später schreiben uns GenossInnen in verschiedenen Ländern, um uns zu fragen: „Was sind Arbeiterräte?“, weil sie feststellen, dass sie darüber zu wenig wissen, und sich gern eine klareres Bild darüber machen möchten. Das Bleigewicht der schrecklichsten Konterrevolution der Geschichte, die Schwierigkeiten, die seit 1968 die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse behindern; die Verfälschungen oder das vollständige Totschweigen der Kommunikations– und Kulturmedien über die historischen Erfahrungen des Proletariats führen dazu, dass Wörter wie Sowjet oder Arbeiterrat, die so selbstverständlich waren für die Arbeitergeneration der Jahre 1917–23, heute etwas Fremdes geworden sind oder in einem ganz anderen Sinn verwendet werden, als sie zu Beginn hatten.[2]

Dies wird also das Ziel des vorliegenden Artikels sein: einen Beitrag zu leisten zu einer einfachen Erklärung der Fragen: Was sind Arbeiterräte? Warum sind sie aufgetaucht? Welchen geschichtlichen Bedürfnissen entsprachen sie? Haben sie heute immer noch eine aktuelle Bedeutung? Um auf diese Fragen zu antworten, werden wir uns auf die geschichtliche Erfahrung unserer Klasse abstützen, eine Erfahrung, die ebenso von den Revolutionen von 1905 und 1917 geprägt ist wie von den Debatten und Schriften der Mitglieder revolutionärer Organisationen von damals: Trotzki, Rosa Luxemburg, Lenin, Pannekoek …

Die geschichtlichen Bedingungen, unter denen Arbeiterräte entstehen

Wieso tauchen die Arbeiterräte 1905 auf, und nicht schon 1871 in der revolutionären Commune von Paris?[3]

Das Auftauchen von Arbeiterräten in der russischen Revolution von 1905 kann nur auf dem Hintergrund einer Analyse der Gesamtheit der folgenden Faktoren verstanden werden: der geschichtlichen Bedingungen der damaligen Zeit; der Kampferfahrungen, die sich das Proletariat erworben hatte und der Intervention der revolutionären Organisationen.

Was den ersten Faktor betrifft, befand sich der Kapitalismus am Gipfel seiner Entfaltung, zeigte aber immer deutlichere Anzeichen seines Niedergangs, insbesondere im imperialistischen Bereich. Trotzki legte in seiner Schrift Ergebnisse und Perspektiven, auf die wir uns hier abstützen werden, dar: „Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts– und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt.“ Und noch genauer: „Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.“[4] Die massenhaften Bewegungen und die Generalstreiks waren Produkte dieser neuen Epoche und waren schon vor 1905 in verschiedenen Teilen der Welt in Erscheinung getreten: Generalstreik in Spanien 1902 und in Belgien 1903 und auch in Russland zu verschiedenen Zeitpunkten.

So kommen wir zum zweiten Faktor. Die Arbeiterräte tauchen nicht aus dem Nichts auf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. In den Jahren zuvor, seit 1896, brachen in Russland zahlreiche Streiks aus: Generalstreik der Textilarbeiter in Petersburg 1896 und 1897; die großen Streiks, die 1903 und 1904 den ganzen Süden Russlands erschütterten; etc. Sie stellten insofern Erfahrungen dar, als sich Tendenzen zur spontanen Mobilisierung zeigten, wo Kampforgane gebildet wurden, die nicht mehr den typisch gewerkschaftlichen Kampfformen entsprachen und mit denen der Boden für die Kämpfe von 1905 vorbereitet wurde: „(…) so wird doch jeder, der die innere politische Entwicklung des russischen Proletariats bis zu der heutigen Stufe seines Klassenbewusstseins und seiner revolutionären Energie kennt, die Geschichte der jetzigen Periode der Massenkämpfe mit jenen Petersburger Generalstreiks beginnen. Sie sind für das Problem des Massenstreiks schon deshalb wichtig, weil sie bereits alle Hauptmomente der späteren Massenstreiks im Keime enthalten.“ (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften)

Was schließlich den dritten Faktor betrifft, so haben die proletarischen Parteien (die Bolschewiki und andere Tendenzen) natürlich keine vorausgehende Propaganda zum Thema der Arbeiterräte gemacht, denn deren Entstehung überraschte sie; sie hatten auch nicht vermittelnde Organisationsstrukturen aufgestellt, um sie vorzubereiten. Das zeigte Rosa Luxemburg auf am Beispiel der spontanen Bewegungen, wie derjenigen des Textilarbeiterstreiks in St. Petersburg in den Jahren 1896 und 1897: „Der nächste Anlass der Bewegung war ein ganz zufälliger, ja untergeordneter, ihr Ausbruch ein elementarer; aber in dem Zustandekommen der Bewegung zeigten sich die Früchte der mehrjährigen Agitation der Sozialdemokratie“ (Massenstreik, Partei und Gewerkschaften) Dabei klärt sie stringent die Rolle der Revolutionäre: „Den Anlass und den Moment vorauszubestimmen, an dem die Massenstreiks in Deutschland ausbrechen sollen, liegt außerhalb der Macht der Sozialdemokratie, weil es außerhalb ihrer Macht liegt, geschichtliche Situationen durch Parteitagsbeschlüsse herbeizuführen. Was sie aber kann und muss, ist, die politischen Richtlinien dieser Kämpfe, wenn sie einmal eintreten, klarlegen und in einer entschlossenen, konsequenten Taktik formulieren.“ (ebenda)

Diese Analyse erlaubt es, das Wesen der großen Bewegung zu verstehen, die Russland im Laufe des Jahres 1905 erschütterte und die entscheidende Phase in den letzten drei Monaten dieses Jahres durchlief, von Oktober bis Dezember, als sich die Entfaltung der Arbeiterräte verallgemeinerte.

Die revolutionäre Bewegung von 1905 hat ihren unmittelbaren Ursprung im denkwürdigen „Blutsonntag“, dem 22. Januar 1905[5]. Diese revolutionäre Bewegung erlebte im März 1905 einen ersten Rückfluss, um darauf auf verschiedenen Wegen im Mai und Juli wieder aufzutauchen[6]. In dieser Zeit allerdings hatte sie die Form von spontanen Ausbrüchen, die einen schwachen Organisationsgrad offenbarten. Ab September hingegen besetzte die Frage der allgemeinen Organisierung der Arbeiterklasse den ersten Platz: Man trat in die Phase der zunehmenden Politisierung der Massen ein, in denen die Grenzen des unmittelbaren Kampfes um Forderungen erschienen, aber auch die Erschöpfung aufgrund der Brutalität der zaristischen Repression einerseits und dem Zögern der liberalen Bourgeoisie andererseits[7].

Die Massendebatte

Wir wollen hier an das historische Umfeld, aus welchem die ersten Sowjets entsprungen sind, erinnern. Aber worauf beruht ihr konkreter Ursprung? Sind die Sowjets das Produkt einer entschiedenen und kühnen Minderheit? Oder umgekehrt, sind sie mechanisch aus den objektiven Bedingungen entsprungen?

Wenn die revolutionäre Propaganda, die über Jahre hinaus betrieben wurde, wie wir schon gesagt haben, zur Bildung der Sowjets beigetragen haben und wenn Trotzki eine Rolle ersten Ranges innerhalb des Sowjets von Sankt Petersburg gespielt hat, so war das Auftauchen der ersten Sowjets nicht das direkte Resultat der Propaganda oder der organisatorischen Vorschläge der marxistischen Parteien (die zu diesem Zeitpunkt in Menschewiki und Bolschewiki gespalten waren). Auch stimmt es nicht, wie Volin[8] in seinem Buch Die unbekannte Revolution[9] uns den ersten Sowjet vorstellt, dass er das Resultat der Initiative der Anarchisten gewesen sei. Ohne die Wahrhaftigkeit der von ihm geschilderten Fakten zu bezweifeln, so ist es doch wichtig zu sehen, dass die von ihm in Erinnerung gerufene Versammlung – die von Volin selbst als „privat“ bezeichnet wird – zwar ein weiteres Element gewesen sein mag, welches zum Prozess der Bildung des Sowjets beitrug, aber es war nicht sein Gründungsakt.

Es ist üblich geworden, den Sowjet von Iwanow–Wosnesensk als den ersten oder einer der ersten Sowjets zu bezeichnen.[10] Insgesamt sind 40 bis 50 Sowjets ausgemacht worden, zusätzlich noch einige Bauern– und Soldatensowjets. Anweiler besteht auf ihrer sehr unterschiedlichen Herkunft: „Die Geburt der Sowjets hat sich entweder in mittelbarer Form im Rahmen der alten Organisationen herausgeschält – aus Streikkomitees oder z.B. aus Abgeordnetenversammlungen – in unmittelbarer Form aus Initiativen der lokalen Organisationen der sozialdemokratischen Partei, die den Zweck verfolgten, einen entscheidenden Einfluss auf die Sowjets auszuüben. Das begrenzte Verhältnis zwischen den Streikkomitees und den wirklichen Arbeiterabgeordneten, die diesen Namen verdienten, war offensichtlich. Nur in den wichtigsten Zentren, wo sich die Revolution der Klasse abspielte, wie (Sankt Petersburg einmal ausgelassen) in Moskau, Odessa, Novosibirsk und im Donezbecken, hatten die Räte eine klar abgegrenzte Form erlangt.“[11]

Aus diesem Grunde kann man die Urheberschaft der Sowjets nicht dieser oder jener Persönlichkeit oder Minderheit zuschreiben, sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, spontan aus einer Generation heraus. Grundsätzlich waren sie das kollektive Werk der Klasse: Sie entstanden aufgrund verschiedenen Initiativen, aus verschiedenen Diskussionen, aus Vorschlägen, die da und dort vorgebracht wurden. Der Verlauf und das Fortschreiten all dieser verschiedenen Ereignisse haben zusammen mit der aktiven Intervention der Revolutionäre zur Entstehung der Sowjets geführt. Wenn wir diesen Prozess näher betrachten, können wir zwei entscheidende Faktoren herausschälen: die Massendebatte und die ansteigende Radikalisierung der Kämpfe.

Das Reifen des Bewusstseins in den Massen, welches ab September 1905 festzustellen ist, drückte sich in einem unbändigen Willen und Bedürfnis nach Debatte aus. Das Aufwallen von belebten Diskussionen in den Fabriken, den Universitäten, in den Quartieren erschien als ein „neues“ Phänomen, welches maßgeblich im Septembermonat aufkam. Trotzki zitiert einige Erlebnisberichte: „Völlig freie Volksversammlungen innerhalb der Universität zu einer Zeit, da Trepow[12] auf den Straßen mit unbeschränkter Gewalt herrschte – das ist eines der staunenerregendsten Paradoxe der revolutionär–politischen Entwicklung während der Herbstmonate des Jahres 1905.“ An diesen Versammlungen nehmen mehr und mehr Arbeiter teil. „Das Volk füllte alle Gänge, Auditorien und Säle, und die Arbeiter zogen direkt von der Fabrik in die Universität.“ Und Trotzki fügt hinzu: „Die offizielle Telegraphenagentur schilderte mit Worten des Grauens und Entsetzens das Publikum, das sich in der Aula der Wladimir–Universität in Kiew versammelt hatte. Abgesehen von Studenten, wurde dieser Menschenhaufen nach dem Wortlaut des Telegramms gebildet von ‚unbeteiligten Personen beiderlei Geschlechts, Zöglingen der Mittelschulen und der städtischen Privatschulen, Arbeitern, verschiedenem Pöbel und sonstigen zerlumpten Subjekten’.“[13]

Es handelte sich aber keineswegs um einen „Menschenhaufen“, wie das die Informationsagentur berichtet, sondern um ein Kollektiv, das mit einer bestimmten Ordnung und Methode, mit einer großen Disziplin und einem hohen Reifegrad die Situation reflektierte, was auch von einem Berichterstatter der bürgerlichen Zeitung Russj (Russland) anerkannt wurde. Trotzki zitierte daraus: „Was mich besonders auf dem Meeting in der Universität frappierte, war die ungewöhnliche, musterhafte Ordnung! In der Aula wurde eine kleine Pause angesagt und ich schlenderte durch die Gänge. Der Hauptgang bot das bewegte Bild der Straße. Alle anliegenden Auditorien waren dicht besetzt – hier fanden die Meetings der einzelnen Fraktionen statt. Der Gang selbst war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Menge flutete in einem fort auf und ab. (...) Man konnte meinen, man befand sich auf einer zahlreich besuchten Abendgesellschaft, bloß ernster als gewöhnlich. Und dennoch war das alles Volk – unverfälschtes, urwüchsiges Volk, mit den schwieligen, roten Arbeiterhänden, mit jenen erdfarbigen Gesichten, die Leuten zu eigen sind, die sich bei Tage in geschlossenen, ungesunden Orten aufhalten.“[14]

Das war die gleiche Stimmung, wie man in der Industriestadt Iwanow–Wosnesenk zuvor im Mai vorgefunden hatte: „Die Vollversammlungen fanden jeden Morgen nach neun Uhr statt. Nachdem die Versammlungen (der Sowjets) beendet waren, begann die Vollversammlung, sie untersuchte alle Fragen, die im Zusammenhang mit den Streiks standen. Man legte über den Stand der Entwicklung, der Verhandlungen mit den Unternehmern und den Behörden einen Tätigkeitsbericht vor. Nach den Diskussionen legte man der Versammlung die Vorschläge, die von den Sowjets vorbereitet worden waren, vor. Darauffolgend hielten die Militanten der Parteien agitatorische Reden über die Lage der Arbeiterklasse und die Diskussionen gingen weiter, bis das Publikum von der Müdigkeit überwältigt wurde. Ab diesem Zeitpunkt fingen die Massen an, revolutionäre Hymnen zu singen und man beendete die Versammlung. Und das ging so alle Tage.“[15]

Die Radikalisierung der Kämpfe

Ein kleiner Streik, der in der Druckerei von Ssytin in Moskau ausgebrochen war, zündete die Lunte für die massiven Oktoberstreiks, während der sich die Sowjets generalisierten. Die Solidarität mit dem Streik von Ssytin, weitete den Streik auf mehr als 50 Moskauer Druckereien aus, am 26. September benannte sich die allgemeine Versammlung der Drucker und Typografen als Rat. Der Streik weitete sich auf andere Bereiche aus: auf die Bäckereien, auf die Metall– und die Textilindustrie. Die Agitation gewann einerseits die Eisenbahnsektoren und andererseits die Drucker von St. Petersburg für sich, weil letztere sich mit ihren Kollegen von Moskau solidarisierten.

Eine andere organisierte Front tat sich unerwartet auf: Eine Konferenz der Vertreter der Eisenbahner, die wegen den Alterskassenrenten zusammengekommen war, fand in St. Petersburg am 20. September statt. Die Konferenz richtete einen Appell an alle Arbeitersektoren, der sich nicht auf diese Frage begrenzte. Der Appell hob hervor, dass es notwendig sei, in den verschiedenen Arbeitssektoren Versammlungen abzuhalten, die ökonomische und politische Forderungen aufstellten. Ermutigt durch die Unterstützungstelegramme aus dem ganzen Land, berief die Konferenz eine neue Versammlung auf den 9. Oktober ein.

Kurz nach dem 3. Oktober beschloss „eine Delegiertenversammlung der Druckerei–, Maschinenbau–, Tischlerei–, Tabak– und vieler anderer Arbeiter (…), einen allgemeinen Delegiertenrat aller Moskauer Arbeiter ins Leben zu rufen“[16].

Der Streik der Eisenbahner, der spontan auf einigen Linien des Eisenbahnnetzes ausgebrochen war, wurde am 7. Oktober zu einem Generalstreik. In diesem Zusammenhang verwandelte sich die Versammlung, die für den 9. Oktober einberufen worden war, zu „einem Kongress der Delegierten der Eisenbahner von St. Petersburg. Es werden sofort auf allen telegraphischen Linien die Losungen des Streiks der Eisenbahner versandt: Achtstundentag, staatsbürgerliche Freiheiten, Amnestie, konstituierende Versammlung.“[17]

Die massiven Versammlungen an den Universitäten waren geprägt von intensiven Debatten über die Situation, die gemachten Erfahrungen, die Alternativen in der Zukunft, aber im Oktober ändert sich die Situation. Die Debatten flauen nicht ab, im Gegenteil, sie reifen bis zu dem Grad, dass sie zu offenen Kämpfen werden, ein Kampf der seinerseits beginnt, sich eine allgemeine Organisation zu geben, eine allgemeine Organisation, die nicht nur den Kampf leitet, sondern die massive Debatte integriert und vervielfacht. Die Notwendigkeit, sich zu versammeln und zu vereinigen, die verschiedenen Brennpunkte der Streiks zu vereinigen, wurde insbesondere vehement von den Arbeitern Moskaus vorangestellt. Ein Programm auszuarbeiten, das der Situation angepasste politische und ökonomische Forderungen aufstellt, die mit den wirklichen Möglichkeiten der Arbeiterklasse übereinstimmen – das war der Beitrag des Kongresses der Eisenbahner. Debatte, Einheitsorganisationen, Kampfprogramm, das sind die drei Säulen, auf denen die Sowjets aufgebaut werden. Entscheidend für die Bildung der Sowjets war also das Zusammenlaufen der verschiedenen Initiativen und Vorschläge der verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse, und keineswegs ein von irgendeiner Minderheit ausgearbeiteter „Plan“. In den Sowjets konkretisierte sich, was 60 Jahre zuvor, im Kommunistischen Manifest noch wie eine utopische Formel getönt hatte: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Die Sowjets, Organe des revolutionären Kampfes

„Bereits am 26.[18] abends fand in dem Gebäude des Technologischen Instituts die erste Sitzung des zukünftigen Delegiertenrats statt. Es waren nicht mehr als 30 bis 40 Delegierte anwesend, und es wurde beschlossen, das Proletariat der Hauptstadt zu einem politischen Generalstreik aufzufordern, sowie Vorschläge zur Wahl von Delegierten zu machen.“[19]

Dieser Sowjet machte den folgenden Aufruf: „Die Arbeiterklasse nimmt ihre Zuflucht zu dem letzten machtvollen Mittel der Arbeiterbewegung der ganzen Welt – zum Generalstreik … In den nächsten Tagen wird in Russland Entscheidendes vor sich gehen. Diese Ereignisse werden auf lange Jahre hinaus das Schicksal der Arbeiterklasse bestimmen, wir müssen diesen Ereignissen in voller Bereitschaft entgegensehen, einig durch unseren gemeinsamen ‚Rat’ …“[20]

Diese Stelle zeigt den Weitblick, die langfristige Perspektive dieses Organs, das erst gerade im Kampf entstanden war. Sie drückt ganz einfach eine klare politische Sichtweise im Einklang mit dem tiefen Wesen der Arbeiterklasse aus und bezieht sich auf die internationale Arbeiterbewegung. Dieses Bewusstsein ist sowohl Ausdruck als auch aktiver Faktor der Ausdehnung des Streiks auf alle Sektoren und in alle Landesteile, der ab dem 12. Oktober praktisch zum Generalstreik wird. Der Streik lähmt die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben, doch der Sowjet sorgt dafür, dass dies nicht zu einer Lähmung des  Arbeiterkampfes führt. Wie Trotzki es darstellte: „Er [der Streik] setzt Druckereien in Bewegung, wenn er Revolutionsbulletins bedarf, er benutzt den Telegraph für Streikbefehle und lässt Eisenbahnzüge mit den Delegierten der Streikenden fahren.“[21] Der Streik zeigt, „dass er mehr ist als eine einfache Arbeitsniederlegung, als ein passiver Protest mit über der Brust gekreuzten Armen. Er verteidigt sich und geht aus seiner Defensive zur Offensive über. In einigen südlichen Städten errichtet er Barrikaden, bemächtigt sich der Gewehrmagazine, bewaffnet sich und leistet, wenn auch nicht siegreichen, so doch heroischen Widerstand.“[22]

Der Sowjet ist die lebendige Bühne, auf der sich die Debatten um folgende Achsen drehen:

–  Welches Verhältnis zu den Bauern? Wie und unter welchen Bedingungen können sie, als unentbehrliche Verbündete, in den Kampf integriert werden?

–  Welche Rolle spielt die Armee? Werden die Soldaten aus der repressiven Maschinerie des Regimes desertieren?

–  Wie sich bewaffnen für die kommende, je länger je unausweichlichere Konfrontation mit dem zaristischen Staat?

Unter den Bedingungen von 1905 konnten diese Fragen nur gestellt, aber nicht beantwortet werden. Die Antworten sollte die Revolution von 1917 geben. Doch hätte sich das Potential, das sich 1917 entfaltete, ohne die großen Kämpfe von 1905 nicht aufbauen können.

Meistens nimmt man an, dass solche Fragen wie die, welche oben aufgeworfen worden sind, nur das Gespinst von kleinen Zirkeln von „Revolutionsstrategen“ sein können. Nichtsdestotrotz fand im Rahmen der Sowjets eine massenhafte Debatte genau über diese Fragen mit der Teilnahme und den Beiträgen von Tausenden von Arbeitern statt. Jene Pedanten, welche die Arbeiter für unfähig halten, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern, hätten den Beweis dafür erlebt, dass die Arbeiter darüber ohne Hemmungen diskutierten, zu leidenschaftlichen und  engagierten Sachverständigen wurden, die ihre Intuition, ihre Gefühle und ihre während Jahren erworbenen Kenntnisse in den Tiegel der kollektiven Organisation gossen. Oder wie Rosa Luxemburg es bildlich darstellte: „(…) im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen ‚Revolutionsromantiker’ (…)“.

Während am 26. Oktober kaum 40 Delegierte an der Sitzung des Sowjets teilnahmen, vergrößerten sich diese Zahlen von Tag zu Tag. Die erste Entscheidung einer jeden Fabrik, die sich als im Streik stehend erklärt, war, einen Delegierten zu wählen, dem ein bewusst von der Versammlung angenommenes Mandat erteilt wurde. Einige Branchen zögerten: Die Textilarbeiter von St. Petersburg, anders als ihre Kollegen in Moskau, schlossen sich dem Kampf erst am 29. an. Über die Textilarbeiter am 28. Oktober schreibt Trotzki: „Um die nicht streikenden Arbeiter zum Streik heranzuziehen, gebrauchte der Rat eine ganze Reihe von Mitteln – von den Aufrufen mit Worten bis zum Zwang mit Gewalt. Es war jedoch nicht nötig, zu äussersten Mitteln zu greifen. Wo der gedruckte Aufruf nicht half, dort genügte das Erscheinen eines Haufens von Streikenden, manchmal nur wenigen Leuten, dass die Arbeit eingestellt wurde.“[23]

Die Sitzungen des Sowjets waren die Antithese zu einem bürgerlichen Parlament oder einem Streitgespräch unter akademischen Gelehrten. „Von Vielrederei, dieser Krankheit aller Vertretungskörperschaften, war keine Spur. Die Fragen, die hier diskutiert wurden, die Ausbreitung des Streiks und die Forderungen an den Gemeinderat, waren rein praktischer Natur und wurden sachlich, kurz, energisch behandelt. Man fühlte, dass es auf jeden Moment ankomme. Die geringste Hinneigung zur Rhetorik begegnete entschiedener Abwehr seitens des Vorsitzenden, unter vollster Zustimmung der ganzen Versammlung.“[24]

Diese lebhafte und praktische Debatte, die sowohl tiefgreifend als auch konkret war, offenbarte eine Verwandlung im Bewusstsein und der gesellschaftlichen Psychologie der Arbeiter und wurde gleichzeitig zu einer mächtigen Triebkraft ihrer Entwicklung. Bewusstsein: kollektives Begreifen der gesellschaftlichen Lage und ihrer Perspektiven, der konkreten Macht der sich bewegenden Massen und der Ziele, die sie sich geben müssen; die Fähigkeit, die Freunde von den Feinden zu unterscheiden; der Entwurf einer neuen Sicht auf die Welt und ihre Zukunft. Aber gleichzeitig gesellschaftliche Psychologie: ein Faktor, der mit dem Bewusstsein zusammenhängt, aber doch von ihm zu unterscheiden ist; ein Faktor, der in der Moral und in der Lebenseinstellung der Arbeiter, in ihrer ansteckenden Solidarität, in ihrer Empathie mit anderen, in ihrer Aufgeschlossenheit und im Lernen und in ihrer selbstlosen Hingabe zur gemeinsamen Sache zum Ausdruck kommt.

Diese geistige Verwandlung mag denen als utopisch und unmöglich erscheinen, welche die Arbeiter nur durch das Prisma des Alltagslebens sehen, in dem sie sich als atomisierte Roboter ohne die geringste Initiative oder Kollektivgefühl zeigen, zerstört unter dem Gewicht der Konkurrenz und der Rivalität. Es ist aber genau die Erfahrung des Massenkampfes und der Entwicklung der Arbeiterräte, die aufzeigt, wie diese zur Triebkraft solcher Veränderungen werden, was Trotzki so beschrieben hat: „Der Sozialismus stellt sich nicht die Aufgabe, eine sozialistische Psychologie als Voraussetzung für den Sozialismus zu entwickeln, sondern sozialistische Lebensbedingungen als Voraussetzung einer sozialistischen Psychologie zu schaffen.“[25]

Die Vollversammlungen und die von ihnen gewählten und ihnen gegenüber verantwortlichen Räte werden sowohl das Gehirn als auch das Herz des Kampfes. Das Gehirn, damit Tausende von Menschen laut denken und Entscheidungen nach einer Zeit des Nachdenkens treffen können. Das Herz, damit diese Wesen aufhören, sich als verlorene Tropfen in einem Meer von sich gegenseitig fremden, potentiell feindlichen Menschen zu sehen, und stattdessen zu einem aktiven Teil einer großen Gemeinschaft werden, die sie alle vereinigt und jede und jeden ihre Stärke und Unterstützung fühlen lässt.

Indem der Sowjet sich auf diese festen Grundlagen stellte, gab er dem Proletariat eine Macht, die den bürgerlichen Staat herausforderte. Er wurde in zunehmendem Maße als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen: „In dem Maße, wie der Oktoberstreik sich entwickelte und ausbreitet, wurde der Rat naturgemäß zum Mittelpunkt der allgemeinen politischen Aufmerksamkeit. Seine Bedeutung wuchs von Stunde zu Stunde. Vor allem schloss sich ihm das industrielle Proletariat an. Der Einsbahnerverband knüpfte enge Beziehungen zu ihm an. Der „Verband der Verbände“, der sich seit dem 27. Oktober dem Streik angeschlossen hatte, war schon von den ersten Schritten an gezwungen, das Protektorat des Rates anzuerkennen. Zahlreiche Streikkomitees (…) passten ihre Handlungen den Beschlüssen des Rates an.“[26]

Viele anarchistische und rätistische Autoren haben die Sowjets als Fahnenträger einer föderalistischen Ideologie dargestellt, die auf die lokale und auf Betriebsebene beschränkte Autonomie baue und dem angeblich „autoritären und einschränkenden“ Zentralismus, der dem Marxismus eigen sei, entgegenstehe. Ein Gedanke von Trotzki beantwortet diese Einwände: „Die Rolle Petersburgs in der russischen Revolution kann keineswegs mit der von Paris in der Revolution des 18. Jahrhunderts verglichen werden. Die allgemeine ökonomische Rückständigkeit Frankreichs und die Primitivität ihrer Verkehrsmittel einerseits, die Zentralisation der Verwaltung andererseits erlaubten es Paris, die Revolution ihrem Wesen nach innerhalb seiner Mauern zu lokalisieren. Ganz anders bei uns. Die kapitalistische Entwicklung hatte in Russland so viele selbständige revolutionäre Herde entstehen lassen, als sie Zentren der Großindustrie geschaffen hatte. Diese Herde waren selbständig, aber doch eng miteinander verbunden.“[27]

Hier sehen wir in der Praxis, was proletarische Zentralisierung bedeutet. Sie ist das Gegenteil der bürokratischen und lähmenden Zentralisierung, die charakteristisch für den Staat und allgemein für die ausbeutenden Klassen in der ganzen Geschichte ist. Die proletarische Zentralisierung beruht nicht auf der Einschränkung der Initiative und der Spontaneität der verschiedenen Bestandteile; vielmehr fördert sie sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, um ihre Entwicklung zu unterstützen. Wie Trotzki erwähnt: „Die Eisenbahn und der Telegraph dezentralisierten die Revolution trotz des zentralisierten Charakter des Staates, zugleich aber brachten sie Einheit in alle ihre lokalen Erscheinungsformen. Wenn man auch schließlich die Stimme Petersburgs als die von überragendster Bedeutung anerkennen kann, so doch nicht in dem Sinne, dass diese Stimme die Revolution auf dem Newsky–Prospekt oder bei dem Winterpalais konzentrierte, sondern einzig und allein so, dass die Losungsworte und Kampfmethoden der Hauptstadt mächtigen revolutionären Widerhall im ganzen Lande geweckt haben.“[28]

Der Sowjet war das Rückgrat dieser massenhaften Zentralisierung: „(…) so müssen wir in Petersburg selbst den Arbeiter–Delegiertenrat an die Spitze stellen“, fährt Trotzki weiter: „Nicht nur deshalb, weil dies die größte Arbeiterorganisation ist, die Russland bisher sah, auch nicht deshalb, weil der Petersburger Rat für Moskau, Odessa und eine Reihe anderer Städte mustergültig war, sondern vor allen Dingen deshalb, weil diese rein proletarische Klassenorganisation als die Organisation der Revolution par excellence auftrat. Der Rat war die Achse, um die sich alle Ereignisse bewegten, zu ihm zogen alle Fäden hin, von ihm ging jeder Kampfruf aus.“[29]

Die Rolle der Sowjets in der Schlussphase der Bewegung

Ende Oktober 1905 wurde klar, dass die Bewegung vor der Wahl steht: entweder Aufstand oder niedergeschlagen werden.

Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, die Umstände zu analysieren, die zum zweiten Resultat führten[30]: Die Bewegung endete in der Tat mit einer Niederlage, und das zaristische Regime – noch einmal Herr der Lage – entfesselte eine grausame Repression. Und doch war die Weise, in der das Proletariat einen entschlossenen, heroischen und gleichzeitig völlig bewussten Kampf führte, eine Vorbereitung auf die Zukunft. Die schmerzliche Niederlage im Dezember 1905 bereitete die zukünftige Revolution von 1917 vor.

Der Petersburger Sowjet spielte dabei eine entscheidende Rolle: Er tat alles, was möglich war, um eine unvermeidliche Konfrontation unter den bestmöglichen Bedingungen vorzubereiten. Er bildete Arbeiterpatrouillen mit anfänglich defensivem Charakter (gegen die Strafexpeditionen der Schwarzhundertschaften, die der Zar aus dem Bodensatz der Gesellschaft auf die Beine gestellt hatte), stellte Waffendepots auf und organisierte und bildete Milizen aus.

Aber gleichzeitig wies der Petersburger Sowjet aus der Erfahrung der Arbeiteraufstände des 19. Jahrhunderts[31] darauf hin, dass der Schlüssel zur Situation die Haltung der Truppen war, weshalb sich der Hauptteil seiner Bemühungen auf die Frage konzentrierte, wie man die Soldaten für die eigene Sache gewinnen konnte.

Und tatsächlich fielen die Aufrufe und die Flugblätter an die Armeen, die Einladungen an die Truppen, sich an den Sitzungen des Sowjets zu beteiligen, nicht ins Leere. Sie stellten in einem gewissen Grad ein Echo auf die wachsende Unzufriedenheit unter den Soldaten dar, welche in der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin (verewigt durch den berühmten Film) oder im Aufstand der Kronstädter Garnison im Oktober gipfelten.

Im November 1905 rief der Sowjet zu einem massenhaft befolgten Streik auf, dessen Ziele direkt politisch waren: das Ende des Kriegsrechts in Polen und die Aufhebung des militärischen Sondergerichts, das die Seeleute und die Soldaten von Kronstadt verfolgte. Dieser Streik konnte Teile der Arbeiterklasse mobilisieren, die bisher nie gekämpft hatten, und wurde von den Soldaten mit enormer Sympathie aufgenommen. Doch offenbarte der Streik auch die Erschöpfung der Kampfkraft der Arbeiter und eine mehrheitlich passive Haltung unter den Soldaten und Bauern, besonders in den Provinzen, was zum Misserfolg des Streiks führte.

Im Oktober und November ergriff der Sowjet zwei scheinbar paradoxe Maßnahmen, die aber lediglich der Vorbereitung der Konfrontation dienten. Sobald der Sowjet verstanden hatte, dass der Oktober–Streik am Abklingen war, schlug er den Arbeiterversammlungen vor, dass alle Arbeiter geschlossen die Arbeit wieder aufnehmen. Es war ein Akt der Stärke, der die Entschlossenheit und bewusste Disziplin der Arbeiter zum Ausdruck brachte. Dies geschah im November, bevor die Bewegung schwächer wurde. Diese Aktion war ein Mittel zur Schonung der Kräfte vor der allgemeinen Konfrontation und zeigte dem Feind die Stärke und die unerschütterliche Einheit der Kämpfenden.

Sobald die russische liberale Bourgeoisie sich der proletarischen Macht bewusst wurde, schloss sie die Ränge um das zaristische Regime. Dieses Regime fühlte sich nun gestärkt und fing mit der systematischen Jagd auf die Sowjets an. Bald wurde klar, dass die Arbeiterbewegung in den Provinzen sich auf dem Rückzug befand. Trotzdem warf sich das Moskauer Proletariat in den Aufstand, der erst nach 14 Tagen heftigen Kampfes niedergeschlagen wurde.

Diese Niederschlagung des Moskauer Aufstands war der Schlussakt von dreihundert Tagen Freiheit, Brüderlichkeit, Organisierung und Gemeinschaft, wie sie „einfache Arbeiter“ erlebten, welche die liberalen Intellektuellen so zu nennen beliebten. Während den letzten zwei Monaten hatten diese „einfachen Arbeiter“ eine einfache und bewegliche Struktur, die Sowjets, errichtet, die innerhalb kurzer Zeit eine unermessliche Macht verkörperte. Aber am Ende der Revolution schienen sie spurlos und für immer verschwunden zu sein. Abgesehen von revolutionären Minoritäten und den Gruppen fortgeschrittener Arbeiter sprach niemand mehr über sie. Und doch kamen sie 1917 auf die gesellschaftliche Bühne mit universellem Anspruch und unwiderstehlicher Kraft zurück. Wir werden darauf im unserem folgenden Artikel eingehen.

C.Mir, 5.11.2009


[1] Der I. Kongress der Kommunistischen Internationale, Protokoll der Verhandlungen in Moskau vom 2. bis zum 19. März 1919, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, 1921

[2]  Das Wort „Sowjet“ ist heute verknüpft mit dem barbarischen staatskapitalistischen Regime der ehemaligen UdSSR, und das Wort „sowjetisch“ ist synonym mit dem russischen Imperialismus der langen Zeit des Kalten Krieges (1945–89).

[3] Obwohl Marx die Commune als „die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariats“ bezeichnete und sie bemerkenswerte und vorankündigende Gemeinsamkeiten mit dem aufwies, was später die Sowjets werden sollten, ist die Pariser Commune eher verwandt mit den radikaldemokratischen Organisationsformen der städtischen Massen in der Französischen Revolution: „Die Initiative zur Ausrufung der Kommune ging vom Zentralkomitee der Nationalgarde aus, das an der Spitze eines Systems von Soldatendelegiertenräten stand, die sich in den einzelnen Einheiten gebildet hatten. Die Bataillonsklubs als unterste Organe wählten einen Legionsrat, der je 3 Vertreter in das 60–köpfige ZK entsandte. Außerdem war eine Generalversammlung aus Vertretern der Kompanien vorgesehen, die einmal monatlich zusammentreten sollte. Alle Delegierten waren jederzeit abberufbar.“ (Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden, 1958, S. 15)

[4] Zitat von Trotzki aus seinem Vorwort zu F. Lassalles Reden vor dem Geschworenengericht wiedergegeben in Trotzkis Schrift Ergebnisse und Perspektiven, 9. Kapitel Europa und die Revolution, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg–pers/9–europa.htm#top [27]

[5] Wir können hier nicht auf die Chronik der Ereignisse eingehen. Vgl. dazu Internationale Revue Nr. 35, Vor 100 Jahren: Die Revolution von 1905, Teil 1, /content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i [28]

[6] Das Buch von Rosa Luxemburg Massenstreik, Partei und Gewerkschaften beschreibt und analysiert mit großer Schärfe die Dynamik der Bewegung mit ihren Höhen und Tiefen, in ihren aufsteigenden Momenten und denjenigen des plötzlichen Rückflusses.

[7] Russland war bei dieser Weltlage des Kulminationspunktes und beginnenden Niedergangs des kapitalistischen Systems gefangen im Widerspruch zwischen dem Hindernis, das der feudale Zarismus für die kapitalistische Entwicklung darstellte, und der Notwendigkeit für die liberale Bourgeoisie, sich auf dieses System abzustützen, und zwar nicht nur auf den bürokratischen Apparat zu ihrer Entwicklung, sondern auch auf das Repressionsbollwerk gegen die nicht drängenden Ansprüche des Proletariats. Vgl. dazu das Buch von Trotzki 1905.

[8] Volin war ein anarchistischer Revolutionär, der dem Proletariat immer treu blieb und auf der Grundlage einer internationalistischen Position jede Beteiligung am Zweiten Weltkrieg ablehnte.

[9] „Eines Abends, als wir wie gewöhnlich mit einigen Arbeitern – auch Nosar war dabei – bei mir zu Hause saßen, kam jemand auf den Gedanken, eine kontinuierliche Arbeiterorganisation ins Leben zu rufen: eine Art Komitee, oder vielmehr Rat, der die Fortsetzung der Ereignisse genau verfolgen und als Verbindungsglied für alle Arbeiter dienen sollte, der über die jeweilige Lage informieren sollte und gegebenenfalls die revolutionären Arbeiter um sich scharen könnte.“ Volin, Die unbekannte Revolution, Verlag Association, Kapitel 2, Seite 104 (Nosar war der erste Vorsitzende des Petersburger Sowjets im Oktober 1905)     

[10] Er entstand am 13. Mai 1905 in der Industriestadt Iwanow–Wosnesensk im Zentrum Russlands. Für weitere Details vgl. den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 37 über 1905 (2. Teil).

[11] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden, 1958

[12] Fjodor Fjodorowitsch Trepow, Berufsmilitär, war Chef der zaristischen Polizei in Warschau von 1860 bis 1861, dann wieder von 1863 bis 1866. Er hatte in Petersburg in den Jahren 1874–1880 die gleiche Funktion. Er war bekannt für seine brutalen Repressionsmethoden, die insbesondere in der Unterdrückung der Stundentenunruhen im Januar 1874 und der Demonstration vor der Kathedrale von Kazan 1876 zum Ausdruck kamen.

[13] Trotzki, 1905, Der Oktoberstreik, I. Kapitel

[14] ebenda

[15] Andres Nin, Los Soviets en Russia, S. 17 (unsere Übersetzung aus dem Spanischen)

[16] Trotzki, 1905, Der Oktoberstreik, II. Kapitel

[17] Ebenda, III. Kapitel

[18] Soweit hier aus Trotzki, 1905, in der deutschen Übersetzung, herausgegeben von der Kommunistischen Internationale, zitiert wird oder der Text sich auf solche Zitate bezieht, sind die Daten nach dem (neuen) gregorianischen Kalender angegeben, das heißt: Für die Umrechnung auf den 1905 in Russland noch geltenden julianischen Kalender sind 13 Tage abzuziehen.

[19] a.a.O., Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[20] a.a.O., von Trotzki zitiert

[21] a.a.O., Der Oktoberstreik, III

[22] a.a.O., VI

[23] a.a.O., Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[24] a.a.O.

[25] Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, Kapitel 7: Die Voraussetzungen des Sozialismus. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg–pers/7–vorsoz.htm#top [29]

[26] Leo Trotzki, Die russische Revolution 1905, Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[27] a.a.O.

[28] a.a.O.

[29] a.a.O.

[30] Siehe dazu insbesondere den Artikel in der International Revue Nr. 37 über 1905 und die Rolle der Sowjets (2. Teil): /content/633/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-ii [30] 

[31] Insbesondere aus den Barrikadenkämpfen, aus denen Engels in seiner Einleitung zu Marxens Klassenkämpfen in Frankreich die Schlussfolgerungen gezogen hatte; er schrieb diese Einleitung 1895, und sie wurde sehr bekannt, weil die Kritik von Engels an den Barrikadenkämpfen von den Opportunisten innerhalb der Sozialdemokratie benutzt wurde, um die Ablehnung der Gewalt und den ausschließlichen Gebrauch parlamentarischer und gewerkschaftlicher Mittel zu begründen.

Internationaler Klassenkampf: Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel

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Von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe

Vorbemerkung: Der Artikel wurde geschrieben bevor die OccupyWallstreet-Bewegung in den USA anfing. Deshalb konnten wir deren Einschätzung in diesem Artikel nicht mit berücksichtigen. In der Zwischenzeit haben wir einen separaten Artikel dazu veröffentlicht, https://de.internationalism.org/node/2181 [31])

Im letzten Editorial unserer Internationalen Revue Nr. 146 (englische, französische, spanische Ausgabe) haben wir über die Kämpfe in Spanien berichtet.[1] Seitdem hat sich das Beispiel dieser Kämpfe weiter auf Griechenland und Israel ausgedehnt.[2] In diesem Artikel wollen wir die Lehren dieser Bewegung ziehen und die Perspektiven untersuchen, die sich aus dem Bankrott des Kapitalismus und der brutalen Angriffe gegen die Arbeiterklasse und die große Mehrzahl der Weltbevölkerung ergeben.

Um diese zu begreifen, muss man kategorisch die alles auf die Gegenwart beziehende und empiristische Methode, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrscht, verwerfen. Diese untersucht nämlich jedes einzelne Ereignis isoliert, außerhalb des historischen Kontextes und durch eine Begrenzung auf das Land, in dem diese stattfinden. Diese photographische Herangehensweise ist eine Widerspiegelung des ideologischen Niedergangs der Kapitalistenklasse, denn „Das einzige, was diese Klasse der Gesellschaft insgesamt anbieten kann, besteht darin, von einem Tag zum nächsten,  ohne Hoffnung auf Erfolg, dem unaufhaltsamen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise zu widerstehen.“ (Manifest der IKS, 1989).[3]

Eine Photographie kann uns eine glückliche, lächelnde Person zeigen, aber solch ein Photo kann auch einen anderen Eindruck verbergen, wenn dieselbe Person nur wenige Sekunden zuvor ein ängstliches, besorgtes Gesicht macht. Wir brauchen eine Methode zur Einschätzung einer sozialen Bewegung. Man kann sie nur verstehen, indem man sie geschichtlich einordnet und untersucht, auf welchem Hintergrund sie entstanden ist und auf welche zukünftige Entwicklung sie hinweist. Man muss solche Bewegungen in einem weltweiten Kontext einordnen und sie nicht in dem national begrenzten Rahmen sehen, in dem sie entstehen. Und vor allem, sie müssen in ihrer Dynamik begriffen werden, nicht als das, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind, sondern was sie aufgrund der Tendenzen, Kräfte und Perspektiven werden können, die sie beinhalten und die früher oder später an die Oberfläche dringen werden.

Ist die Arbeiterklasse in der Lage, auf die Krise des Kapitalismus zu reagieren?

Wir haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen zweiteiligen Artikel veröffentlicht:[4] Warum hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht überwunden? Wir haben in diesem Artikel daran erinnert, dass die kommunistische Revolution nicht automatisch eintreten wird und dass ihr Zustandekommen von dem Zusammenwirken zweier Faktoren abhängt, den objektiven und subjektiven. Der objektive Faktor ist durch die Dekadenz des Kapitalismus gegeben[5] und durch die Entwicklung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch offensichtlich wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch andere Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen[6]. Der subjektive Faktor hängt mit dem kollektiven und bewussten Handeln des Proletariats zusammen.

Der Artikel zeigt auf, dass die Arbeiterklasse die Herausforderungen der Geschichte hat vorübergehen lassen. Bei der ersten Herausforderung, im 1. Weltkrieg, scheiterte der Versuch einer Reaktion durch eine Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1917-23. Bei der zweiten Herausforderung – der großen Depression von 1929 – trat die Arbeiterklasse als autonome Klasse nicht in Erscheinung. Und bei der dritten – dem 2. Weltkrieg – war die Arbeiterklasse nicht nur abwesend, sondern sie glaubte gar, dass die Demokratie und der Wohlfahrtstaat, diese beiden von den Siegermächten verbreiteten Mythen, einen Sieg für sie bedeuteten. Als die Krise Ende der 1960er Jahre wieder aufbrach, „hatte das Proletariat sich der Herausforderung zwar gestellt, (…), aber gleichzeitig konnte man die Vielzahl von Hindernissen sehen, vor denen es steht und die bislang seinen Weg zur proletarischen Revolution behindert haben“[7]. Diese Bremsen wirkten erneut während eines neuen Ereignisses welthistorischer Bedeutung: dem Zusammenbruch der sogenannten ‘kommunistischen’ Regime 1989, bei denen sie nicht nur keine aktive Rolle spielte, sondern bei denen sie zur Zielscheibe einer gewaltigen antikommunistischen Kampagne wurde, welche einen Rückgang ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft auslöste.

Was wir als „die fünfte Herausforderung“ der Geschichte bezeichnen können, begann 2007. Die immer offener werdende Krise offenbart das praktisch endgültige Scheitern der Politik des Kapitalismus, seine unüberwindbare Wirtschaftskrise in den Griff zu kriegen. Im Sommer 2011 wurde offensichtlich, dass die gewaltigen Geldspritzen, die in die Wirtschaft gepumpt wurden, den Aderlass nicht aufhalten können und der Kapitalismus in eine große Depression hineinrutscht, deren Ausmaß viel schlimmer sein wird als die von 1929.[8]

Aber in einer ersten Phase und trotz der Schläge, die das Proletariat einstecken musste, scheint das Proletariat erneut abwesend zu sein. Wir hatten solch eine Möglichkeit auf unserem 18. Internationalen Kongress (2009) ins Auge gefasst:  „Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathie entgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die„Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zu lassen –, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“[9]

Die gegenwärtigen Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland deuten darauf hin, dass die Arbeiterklasse anfängt, sich dieser „fünften Herausforderung der Geschichte zu stellen“. Sie fängt damit an, sich darauf vorzubereiten, die Mittel zu entwickeln, um einen Sieg zu erlangen.[10]

In dem oben erwähnten Artikel haben wir hervorgehoben, dass die beiden Stützpfeiler, auf denen der Kapitalismus, zumindest in den zentralen Ländern, ruhte, um die Arbeiterklasse im Griff zu halten, die Demokratie und der sogenannte Wohlfahrtstaat waren. Die drei gegenwärtigen Bewegungen haben deutlich werden lassen, dass diese Stützpfeiler langsam infrage gestellt werden ; obwohl all dies noch sehr konfus geschieht, wird diese Infragestellung durch die katastrophale Entwicklung der Krise beschleunigt.

Die Infragestellung der Demokratie

Die Wut auf die Politiker im Allgemeinen und auf die Demokratie ist in den drei Bewegungen zum Vorschein getreten, wie auch die Empörung über die Tatsache, dass die Reichen und ihre politischen Anhängsel sich immer mehr bereichern und immer mehr bestechlich werden, während der Großteil der Bevölkerung wie eine Ware im Dienst der skandalösen Profite der ausbeutenden Minderheit gesehen wird ; eine Ware, die in den Mülleimer geworfen wird, sobald die „Geschäfte nicht gut laufen“. Auch die drastischen Sparprogramme wurden an den Pranger gestellt. Von diesen Programmen spricht niemand während der Wahlkämpfe, die aber zur Hauptbeschäftigung der Gewählten werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Gefühle und Haltungen nicht neu sind: Man hat zum Beispiel während der letzten 30 Jahre immer über die Politiker geschimpft. Und solche Gefühle können auch in Sackgassen gelenkt werden, wie es die Kräfte der herrschenden Klasse gegenüber diesen drei Bewegungen immer wieder versuchen, indem sie Werbung machen für „eine partizipierende Demokratie“, eine „Erneuerung der Demokratie“ usw.

Aber neu und besonders wichtig ist, dass diese Themen, welche, ob man es will oder nicht, die bürgerliche Demokratie, den bürgerlichen Staat und deren Herrschaftsapparat infrage stellen, zum Diskussionspunkt in den zahlreichenden Vollversammlungen werden. Man kann nicht Individuen vergleichen, die ihre Abscheu alleine, atomisiert, passiv und resigniert zum Ausdruck bringen, mit denen, die so etwas gemeinsam in den Versammlungen äußern. Ungeachtet aller Fehler, Verwirrungen, Sackgassen, die dort unvermeidlich zum Ausdruck kommen und mit der größten Ausdauer und Nachdruck bekämpft werden müssen, liegt der Kern der Sache eigentlich in der Tatsache, dass die Sachen offen zur Sprache gebracht werden. Dies stellt eine wichtige Politisierung der großen Massen dar, und auch ein Anfang einer Infragestellung dieser Demokratie, die dem Kapitalismus während des letzten Jahrhunderts so wertvolle Dienste geleistet hat.

Das Ende des sogenannten „Wohlfahrtstaats“

Nach dem 2. Weltkrieg baute der Kapitalismus das auf, was als „Wohlfahrtstaat“ bekannt wurde.[11] Dieser stellte eine der Hauptstützen der kapitalistischen Herrschaft während der letzten 70 Jahre dar. Er hat die Illusion geschaffen, der Kapitalismus habe die brutalsten Aspekte seiner Wirklichkeit überwunden: der Wohlfahrtstaat garantiere eine Sicherheit gegenüber der Arbeitslosigkeit, den Renten, der kostenlosen Gesundheitsversorgung und Bildung, Sozialwohnungen usw.

Dieser „Sozialstaat“, der die politische Demokratie ergänzt, ist in den letzten 25 Jahren schon stark zurückgebaut worden, um bald völlig zu verschwinden. In Griechenland, Spanien oder Israel (wo vor allem die Wohnungsnot die Leute zu Protesten angetrieben hat) stand die Angst vor der Abschaffung der sozialen Mindeststandards im Mittelpunkt der Mobilisierungen. Es liegt auf der Hand, dass die Herrschenden versucht haben, diese Proteste in „Reformen“ der Verfassung, der Verabschiedung von Gesetzen, die diese Leistungen „garantieren“ usw. umzuwandeln. Aber die Welle wachsender Unzufriedenheit wird dazu beitragen, all diese Schutzwälle, die die Arbeiterklasse zurückhalten sollen, zu untergraben.

Die Bewegung der Empörten – ein Höhepunkt von acht Jahren Kämpfen

Der Krebs des Pessimismus beherrscht die gegenwärtige Ideologie und dringt  ebenfalls in die Arbeiterklasse und ihre revolutionären  Minderheiten ein. Wie oben erwähnt hat die Arbeiterklasse alle ihre Herausforderungen, vor welche sie die Geschichte während eines Jahrhunderts kapitalistischen Niedergangs gestellt  hat, nicht angenommen. Deshalb haben sich in ihren Reihen beängstigende Zweifel an ihrer eigenen Klassenidentität und ihrer Fähigkeiten breit gemacht, die so weit gehen, dass sogar bei Ausdrücken von Kampfbereitschaft einige den Begriff „Arbeiterklasse“ verwerfen.[12] Diese Skepsis ist umso stärker, da sie durch den Zerfall des Kapitalismus noch vergrößert wird:[13] Hoffnungslosigkeit, fehlende konkrete Projekte hinsichtlich der Zukunft begünstigen Zögern und Misstrauen gegenüber jeder Perspektive kollektiven Handelns.

Die Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland stellen ungeachtet all ihrer Schwächen einen Anfang wirksamer Mittel gegen das Krebsgeschwür breit gestreuter Skepsis dar. Allein das Auftreten von Kämpfen und die Kontinuität, die diese darstellen, sowie die darin zum Vorschein kommende Bewusstseinsentwicklung seit 2003 bewirkt dies.[14]

Sie sind keine Bewegung, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel erscheint, sondern eine langsame Kondensierung während der letzten acht Jahre von kleinen Wolken und Sprühregen, die jetzt eine neue Qualität erreicht haben.

Die Arbeiterklasse erholt sich seit 2003 von dem langen Zeitraum des Rückflusses ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft, die sie nach den Ereignissen von 1989 hatte einstecken müssen. Dieser Prozess entwickelt sich aber nur langsam, mit Widersprüchen und auf gewundenen Wegen. Dies sieht man anhand:

–  einer Reihe von ziemlich isolierten Kämpfen in verschiedenen Ländern sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie, die von Beispielen geprägt sind, welche einen „Wegweiser für die  Zukunft“ darstellen: die Suche nach Solidarität, Versuche der Selbstorganisierung, das Auftauchen von neuen Generationen, Nachdenken über die Zukunft;

–  eine Entwicklung von internationalistischen Minderheiten, die eine revolutionäre Kohärenz suchen, sich viele Fragen stellen und Kontakt untereinander suchen, debattieren, Perspektiven aufzeigen…

2006 brachen zwei Bewegungen aus – der Kampf gegen den CPE in Frankreich[15] und der massive Streik der Beschäftigten in Vigo, Spanien, welche trotz der räumlichen Trennung voneinander, der unterschiedlichen Bedingungen oder der Altersunterschiede der Beteiligten ähnliche Züge aufwiesen: Vollversammlungen, Ausdehnung auf andere Bereiche, Massendemonstrationen… Es war wie ein erster Warnschuss, der aber folgenlos blieb.[16]

Ein Jahr später gab es in Ägypten Keime eines Massenstreiks, der von einer großen Textilfabrik ausging. Anfang 2008 kam es in einer Reihe von Ländern, sowohl in der Peripherie als auch im Zentrum des Kapitalismus zu gleichzeitigen, aber voneinander isolierten Kämpfen. Schließlich traten andere Bewegungen hinzu, wie die sich in 33 Ländern entwickelnden Hungerrevolten im ersten Quartal 2008. In Ägypten wurden diese unterstützt und teilweise von der Arbeiterklasse getragen. Ende 2008 revoltierte die Arbeiterjugend in Griechenland, die von einem Teil der Arbeiterklasse Rückendeckung erhielt. Auch gab es Keime internationalistischer Reaktionen 2009 in Lindsey (Großbritannien) und eine explosive Streikwelle im Süden Chinas (im Juni).

Nach dem anfänglichen Zurückweichen des Proletariats gegenüber den ersten Auswirkungen der Krise fing das Proletariat wie erwähnt an, entschlossener zu kämpfen und 2010 wurde erneut Frankreich von einer massiven Protestbewegung gegen die Rentenreform erschüttert. In dieser Bewegung kam es zu ersten Versuchen der Bildung von branchenübergreifenden Vollversammlungen. Im Dezember protestierten die Jugendlichen in Großbritannien gegen die brutale Erhöhung der Studiengebühren. 2011 schließlich brachen in Ägypten und Tunesien die großen Sozialrevolten aus. Die Kämpfe der Arbeiterklasse schienen wieder an Fahrt zu gewinnen, um einen neuen Sprung nach vorne zu machen: die Bewegung der Empörten in Spanien, dann Griechenland und Israel.

Handelt es sich um eine Bewegung der Arbeiterklasse?

Diese drei Bewegungen können nur in dem eben erwähnten Zusammenhang begriffen werden. Sie sind wie ein erstes Teil in einem Puzzle, das all die Teile der letzten acht Jahre zusammenfasst. Aber die Skepsis bleibt weiterhin sehr stark und viele fragen sich: Kann man von einer Klassenbewegung der Arbeiterklasse sprechen, da diese nicht als solche auftritt und auch keine Streiks oder Versammlungen am Arbeitsplatz gemeldet wurden?

Die Bewegung nennt sich „die Empörten“, eine sehr treffende Bezeichnung aus der Sicht der Arbeiterklasse,[17]  aber dieser Begriff lässt nicht sofort deutlich werden, welche Kraft sie in sich birgt, da sie sich nicht direkt mit der Arbeiterklasse identifiziert. Zwei Faktoren lassen sie im Wesentlichen als eine Sozialrevolte erscheinen:

Der Verlust der Klassenidentität

Die Arbeiterklasse hat einen herben Rückschlag erlitten hinsichtlich ihres eigenen Identitätsgefühls: „Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das „Ende des Kommunismus“, den „endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus“ und das „Ende des Klassenkampfes“, ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Andersweitig hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ“ (17. Kongress der IKS, 2007, Resolution zur internationalen Situation).[18]

Dies erklärt zum Teil, weshalb die Teilnahme der Arbeiterklasse an diesen Bewegungen nicht im Vordergrund stand, sondern dass sich eher Arbeiter als Individuen beteiligten (Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner…), die nach einer Klärung suchen, sich gefühlsmäßig beteiligen, die aber nicht über die Kraft, den Zusammenhalt und die Klarheit verfügen, die man erlangt, wenn man kollektiv als Klasse handelt.

Aus diesem Identitätsverlust geht hervor, dass das Programm, die Theorie, die Traditionen, die Methoden des Proletariats von der großen Mehrheit der Arbeiter nicht als zu ihrer Klasse gehörig betrachtet werden. Sprache, Handlungsformen, Symbole – all das scheint bei der Bewegung der Empörten auf andere Quellen zurückzuführen zu sein. Dies ist eine gefährliche Schwäche, die geduldig bekämpft werden muss, damit es zu einer kritischen Wiederaneignung des theoretischen Erbes, der Erfahrung, der Traditionen der Arbeiterbewegung kommt, die diese während der letzten zwei Jahrhunderte erworben hat.

Die Anwesenheit von nicht-proletarischen Schichten

Unter den Empörten gibt es viele Mitglieder nicht-proletarischer Schichten, insbesondere eine immer stärker lohnabhängig werdende Mittelschicht. Wie wir in unserem Artikel zu Israel schrieben:

„Eine andere Methode besteht darin, sie als eine Bewegung des „Mittelstandes“ zu etikettieren. Es trifft zu, dass es sich, wie bei den anderen Bewegungen, hier um einen breiten sozialen Aufstand handelt, der die Unzufriedenheit vieler verschiedener Gesellschaftsschichten ausdrückt, vom kleinen Geschäftsmann bis zum Produktionsarbeiter, alle von ihnen von der Weltwirtschaftskrise, von der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm und von der Verschärfung der Lebensbedingungen durch den unersättlichen Hunger der Kriegswirtschaft in einem Land wie Israel in Mitleidenschaft gezogen. Doch der „Mittelstand“ ist ein vager, alles und nichts sagender Begriff, der sich auf jedermann mit einer Ausbildung oder einem Job und – in Israel wie in Nordafrika, Spanien oder Griechenland – auf die wachsende Zahl von ausgebildeten jungen Menschen bezieht, die in die Reihen des Proletariats gedrängt werden und in schlecht bezahlten und unqualifizierten Jobs arbeiten, wenn sie denn welche finden.“[19]

Obgleich die Bewegung als sehr vage und ungenau definiert erscheint, stellt dies ihren Klassencharakter nicht infrage, vor allem wenn wir die Entwicklung in ihrer Dynamik betrachten, d.h. im Hinblick auf die Zukunft, wie es die GenossInnen der TPTG gegenüber der Bewegung in Griechenland tun. „Was die Politiker aller Couleur bei dieser Bewegung der Versammlungen besorgt, sind die wachsende Wut und die Empörung der ArbeiterInnen (und der kleinbürgerlichen Schichten), und dass diese nicht mehr mittels der politischen Parteien und Gewerkschaften zum Ausdruck kommen. Sie sind also nicht mehr so kontrollierbar und es ist besonders gefährlich für das repräsentative System der politischen Parteienlandschaft und der Gewerkschaften im Allgemeinen.[20]“

Die Arbeiterklasse ist in dieser Bewegung nicht als führende Kraft zu erkennen, auch gibt es keine spürbare Mobilisierung von den Arbeitsplätzen ausgehend. Man spürt vielmehr die Präsenz der Arbeiterklasse anhand der Dynamik des Suchens, der Klärung, der Vorbereitung des gesellschaftlichen Nährbodens, der Erkenntnis, dass wichtige Kämpfe auf uns zukommen. Darin steckt seine Bedeutung, auch wenn dies nur ein sehr kleiner, sehr unsicherer Schritt ist. Hinsichtlich Griechenlands meinen die GenossInnen von TPTG, dass die Bewegung „ein Ausdruck der Krise der Beziehungen zwischen den Klassen und der Politik im Allgemeinen darstellt. Kein anderer Kampf hat sich während der letzten Jahrzehnte so zweideutig und explosiv entwickelt“,[21] und gegenüber Israel äußerte sich ein Journalist folgendermaßen: „Anders als in Syrien oder Libyen, wo Diktatoren ihre eigenen Bürger zu Hunderten abschlachten, war es in Israel nie die Unterdrückung, die die Gesellschaftsordnung zusammenhielt, soweit es die jüdische Gesellschaft betraf. Es war die Indoktrination – eine vorherrschende Ideologie, um einen Begriff zu verwenden, der von kritischen Theoretikern bevorzugt wird. Und es war diese kulturelle Ordnung, die in dieser Protestwelle Dellen abbekam. Erstmals erkannte der Kern des israelischen Mittelstandes – es ist zu früh, um einzuschätzen, wie groß diese Gruppe ist -, dass er kein Problem mit anderen Israelis oder mit den Arabern oder mit bestimmten Politikern hat, sondern mit der gesamten Gesellschaftsordnung, mit dem gesamten System. In diesem Sinn ist es ein einmaliges Ereignis in der Geschichte Israels.“[22]

Die Merkmale zukünftiger Kämpfe

Aus dieser Sicht können wir die Merkmale dieser Kämpfe als mögliche Charakteristiken zukünftiger Kämpfe betrachten, welche diese jeweils kritisch aufgreifen und auf eine höhere Stufe stellen müssen:

–  neue Generationen der Arbeiterklasse treten in den Kampf ein. Dabei gibt es aber im Vergleich zu der 1968er Bewegung  einen wichtigen Unterschied:  Während damals die Jugend meinte, man müsse wieder bei Null anfangen und die „Alten“ seien „besiegt und verbürgerlicht“, gibt es heute Ansätze für einen vereinten Kampf verschiedener Generationen der Arbeiterklasse.

–  direkte Aktionen der Massen. Die Kämpfe haben sich auf die Straße ausgedehnt, Plätze sind besetzt worden.  Die Ausgebeuteten sind dort direkt zusammengekommen, man konnte zusammenleben, diskutieren und handeln.

–  Der Beginn einer Politisierung: ungeachtet der falschen Antworten, die heute und später gegeben werden, ist es wichtig, dass die großen Massen anfangen, sich direkt und aktiv mit den großen Fragen der Gesellschaft zu befassen. Das ist der Anfang ihrer Politisierung als Klasse.

–  Die Versammlungen: Sie sind mit der proletarischen Tradition der Arbeiterräte von 1905 und 1917 in Russland verbunden, die sich während der Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1927-23 auf Deutschland und andere Länder ausdehnte. Sie sind eine Waffe für die Bildung der Einheit, der Entwicklung der Solidarität, der Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung und der Entscheidungen der Arbeitermassen. Der in Spanien sehr populäre Slogan „Alle Macht den Versammlungen“ spiegelt die aufkeimende zentrale Reflektion über Fragen wie den Staat, Doppelmacht usw. wider.

 – Die Debattenkultur: Die Klarheit, welche die Entschlossenheit und das Heldentum der proletarischen Massen inspiriert, kann nicht dekretiert werden. Genauso wenig ist sie das Ergebnis einer Indoktrinierung durch eine kleine Minderheit, die die Wahrheit „gepachtet“ hätte. Sie entsteht durch das Zusammenfließen von Erfahrung, dem Kampf und insbesondere der Debatten. Die Debattenkultur war bei diesen drei Bewegungen deutlich spürbar: alles wurde zur Diskussion gestellt. Alles was politisch, sozial, ökonomisch, menschlich ist, wurde durch diese gewaltigen improvisierten Agoras kritisch überprüft. Wie wir in der Einleitung zum Artikel der GenossInnen der TPTG aus Griechenland schrieben, ist dies von besonderer Bedeutung: „Die entschlossenen Bemühungen, um zur Entstehung dessen beizutragen, was die GenossInnen der TPTG „öffentlichen proletarischen Raum“ bezeichnen, welche es einer ständig wachsenden Zahl von Mitgliedern unserer Klasse ermöglichen wird, nicht nur den kapitalistischen Angriffen gegen unsere Lebensbedingungen entgegenzutreten, sondern auch die Theorien und Aktionen zu entfalten, die uns allen einen neue Art des Lebens ermöglichen“;[23]

 – die Herangehensweise an die Frage der Gewalt. „Seit jeher war das Proletariat der extremen Gewalt von Seiten der Bourgeoisie ausgesetzt, und im Falle einer versuchten Interessensverteidigung auch der Repression, sowohl im imperialistischen Krieg als auch durch die alltägliche Gewalt der Ausbeutung. Im Gegensatz zu den ausbeutenden Klassen ist das Proletariat keine gewalttätige Klasse von sich aus. Wenn auch das Proletariat Gewalt anwenden muss, und unter Umständen sehr entschlossen, so wird es ich nicht mit ihr identifizieren. Die notwendige Gewalt zum Umsturz des Kapitalismus muss in den Händen des Proletariats eine bewusste und organisierte Gewalt sein. Ihr muss ein Prozess des Bewusstseins und der Organisation anhand verschiedener Kämpfe gegen die Ausbeutung vorangehen.“[24] Wie während der Bewegung der Studenten 2006 waren die Herrschenden mehrere Male geneigt gewesen, die Bewegung der Empörten (insbesondere in Spanien) in die Falle gewalttätiger Zusammenstöße mit der Polizei zu locken, als die Bewegung zerstreut und schwach war, um diese somit zu diskreditieren und deren Isolierung zu erleichtern. Diese Fallen konnten vermieden werden und ein aktives Nachdenken über die Frage der Gewalt hat eingesetzt.[25]

Schwächen und Verwirrungen, die bekämpft werden müssen

Wir wollen diese Bewegungen überhaupt nicht glorifizieren. Nichts ist der marxistischen Methode fremder als einen entschlossenen Kampf, so wichtig und reichhaltig er auch sein mag, als ein endgültiges, abgeschlossenes und monolithisches  Modell darzustellen, das man wortwörtlich nachahmen könnte. Wir sind uns dessen Schwächen und Schwierigkeiten bewusst und sehen diese klar vor uns.

Die Anwesenheit eines „demokratischen Flügels“

Diese drängt auf die Verwirklichung einer „echten Demokratie“. Dieses Projekt wird von mehreren Richtungen vertreten, sogar von der Rechten in Griechenland. Es liegt auf der Hand, dass die Medien und Politiker sich auf diesen Flügel stützen, um die gesamte Bewegung dazu zu drängen, sich damit zu identifizieren.

Die Revolutionäre müssen energisch all die Verschleierungen, irreführenden Maßnahmen,  die Scheinargumente dieser Tendenz bekämpfen. Warum gibt es aber noch eine starke Neigung, sich nach all den Jahren von Täuschungen, Irreführungen und Lügen von den Verlockungen der Demokratie verführen zu lassen? Man kann drei Gründe anführen. Der erste liegt in dem Gewicht der nicht-proletarischen Schichten, die sehr anfällig sind für die demokratischen und interklassischen Verschleierungen. Der zweite Grund liegt in der Macht der in der Arbeiterklasse noch sehr verbreiteten demokratischen Verwirrungen und Illusionen, die besonders unter den Jugendlichen noch stark sind, weil sie noch nicht über viel politische Erfahrung verfügen. Der dritte Grund liegt in dem Druck, den der gesellschaftliche und ideologische Zerfall des Kapitalismus ausübt, welche die Tendenz begünstigt, sich in ein Gebilde „über den Klassen und den Konflikten“ zu flüchten, d.h. den Staat, der angeblich eine gewisse Ordnung, Gerechtigkeit und Vermittlung anbieten könne.

Aber es gibt noch einen tieferliegenden Grund, auf den wir hinweisen müssen. Im Der 18. Brumaire des Lois Bonaparte stellte Marx fest: „Proletarische Revolutionen dagegen, (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen...“.[26] Heute deckt die ganze Entwicklung den Bankrott des Kapitalismus auf, die Notwendigkeit ihn zu überwinden und eine neue Gesellschaft zu errichten. Aber in einer Arbeiterklasse, die an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelt und ihre Klassenidentität noch nicht wieder hergestellt hat, bringt dies jetzt und noch eine Zeitlang die Tendenz hervor, sich an morsche Äste zu klammern, auf falsche „Reformen“ und Hoffnung zu setzen auf eine „Demokratisierung“, selbst wenn man daran Zweifel hegt. All dies bietet der herrschenden Klasse noch einen Spielraum, bei dem sie Spaltung und Demoralisierung vorantreiben möchte, und es somit der Arbeiterklasse noch schwerer macht, dieses Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte und ihre Klassenidentität zu entwickeln.

Das Gift des Apolitischen

Es handelt sich um eine alte Schwäche, unter der das Proletariat seit 1968 leidet und die ihren Ursprung in der gewaltigen Enttäuschung und der tiefen Skepsis hat, welche die stalinistische und sozialdemokratische Konterrevolution hervorgerufen hatten, wodurch das Gefühl entsteht, dass jede politische Option, auch diejenige, welche sich auf die Arbeiterklasse beruft, in ihrem Kern schon den Keim des Verrats und der Unterdrückung enthalte. Daraus schlagen die Kräfte der herrschenden Klasse Profit,  welche durch die Vertuschung ihrer eigenen Identität und durch das Aufzwingen der Fiktion einer Intervention als „freie Bürger“ in der Bewegung aktiv sind und dort die Kontrolle über die Versammlungen an sich reißen und die Bewegung von Innen her sabotieren wollen. Die GenossInnen der TPTG zeigen dies sehr klar auf: „Am Anfang herrschte ein Gemeinsinn bei den Anstrengungen der Selbstorganisierung der Besetzung des Platzes und offiziell wurden die politischen Parteien nicht geduldet. Aber die linken Gruppen und insbesondere diejenigen, die aus SYRIZA stammen (eine Koalition der radikalen Linken), beteiligten sich schnell an den Versammlungen des Syntagma und besetzten wichtige Stellungen in der Gruppe, die gebildet worden war, um die Besetzung des Syntagma-Platzes zu betreiben, insbesondere im „Unterstützungssekretariat“ und in der „Kommunikationsgruppe“. Diese beiden Gruppen sind am wichtigsten, weil sie die Tagesordnungen der Versammlungen festlegen wie auch die Durchführung der Diskussionen leiten. Man konnte beobachten, dass diese Leute ihre politisch Zugehörigkeit nicht an den Tag legten und dass sie als Einzelpersonen auftraten“.[27]

Die Gefahr des Nationalismus

Diese Gefahr ist in Griechenland und Israel größer. Wie die GenossInnen der TPTG bemerken, „herrscht der Nationalismus (insbesondere in seiner populistischen Form) vor; er wird gleichzeitig von den verschiedenen Cliquen der Extremen Rechten und den linken und linksextremen Parteien begünstigt. Selbst für viele Arbeiter und Kleinbürger, die von der Krise betroffen sind, aber keiner politischen Partei angehören, erscheint die nationale Identität als eine letzte imaginäre Zufluchtsstätte, während alles andere dabei ist zusammenzubrechen. Hinter den Slogans „gegen die Regierung, die sich ans Ausland verkauft hat“ oder „für das Wohl des Landes“, „die nationale Souveränität“,  erscheint die Forderung einer „neuen Verfassung  als magische und vereinigende Lösung“.[28]

Dieser Hinweis der GenossInnen ist sehr richtig und tiefsinnig. Der Identitätsverlust und das Vertrauen in die Arbeiterklasse in ihre eigenen Kräfte, der langsame Prozess des Kampfes der Arbeiter auf der ganzen Welt begünstigt die Tendenz, sich „an etwas Nationalem“ festzuklammern. Dies ist aber nur eine utopische Flucht vor einer feindseligen Welt, die voll von Unsicherheiten ist.

Die Folgen der Kürzungen im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich, das wahre Problem, das durch die Schwächung dieser Dienstleistungsbereiche entstanden ist, werden benutzt, um die Kämpfe um die nationalistischen Schranken der Forderung einer „guten Erziehung“ (denn sie würde uns auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger machen) und eines „Gesundheitswesens im Dienste aller Bürger“ zu propagieren.

Die Angst und die Schwierigkeit, sich den Klassenkonfrontationen zu stellen

Deshalb wird die massive Mobilisierung der Arbeitslosen, der Prekären, der Arbeitslosenzentren usw.  erschwert, was wiederum ein Zögern, Zweifel und eine Tendenz begünstigt, sich an „Versammlungen“ festzuklammern, deren Teilnehmerzahl jeden Tag sinkt und deren „Einheit“ in Wirklichkeit nur die in ihren Reihen aktiven bürgerlichen Kräfte begünstigt. Dadurch entsteht für die Herrschenden ein Spielraum, die damit alle möglichen Tricks zur Sabotage der Vollversammlungen von Innen heraus einsetzen können. Gerade dies prangern die GenossInnen der TPTG an: „Die Manipulation der großen Versammlung auf dem Syntagma-Platz (es gibt weitere in anderen Stadtvierteln Athens und anderen Städten)  durch Mitglieder von Parteien oder von linken Organisationen, die  aber nicht als solche auftreten, liegt auf der Hand und dies ist ein echtes Hindernis für die Ausrichtung der Kämpfe auf einer Klassenebene. Aber aufgrund der tiefgreifenden Legitimitätskrise des politischen Repräsentationssystems im Allgemeinen müssen diese auch ihre eigene politische Identität verbergen und ein – nicht immer erfolgreich gelungenes – Gleichgewicht behalten zwischen allgemeinen und abstrakten Reden über die ‘Selbstbestimmung’, die ‘direkte Demokratie’, ‘kollektives Handeln’, ‘Antirassismus’ und ‘sozialen Wandel’ usw. und andererseits den extremen Nationalismus und das räuberische Verhalten einiger einzelner Mitglieder der extremen Rechten bändigen, die sich an den Versammlungen auf dem Platz beteiligten“.[29]
Der Zukunft mit klarem Kopf entgegensehen

Während es auf der Hand liegt, dass „der Kapitalismus überwunden werden muss, wenn die Menschheit überleben will“,[30] ist die Arbeiterklasse noch lange nicht dazu in der Lage, dieses Urteil zu vollstrecken. Die Bewegung der Empörten stellt einen kleinen Schritt in dieser Richtung dar.

In dem oben erwähnten zweiteiligen Artikel erwähnten wir, dass „einer der Gründe, weshalb die Vorhersagen der Revolutionäre in der Vergangenheit hinsichtlich des Ausgangs der Revolution nicht verwirklicht wurden, darin liegt, dass sie die Stärke der herrschenden Klasse unterschätzt haben, insbesondere deren politische Schlauheit.[31] Und diese Fähigkeit der Herrschenden, ihre politische Gerissenheit gegen die Kämpfe einzusetzen, ist heute spürbarer als je zuvor. So wurden zum Beispiel die Bewegungen der Empörten dieser drei Länder woanders sehr stark ausgeblendet; und wenn sie erwähnt wurden, dann nur mit der Version, dass sie eine „demokratische Erneuerung“ anstreben. Ein anderes Beispiel: die britische Bourgeoisie konnten die Unzufriedenheit ausschlachten, um die vorhandene Wut in einer nihilistischen Revolte enden zu lassen, die dann wiederum als Vorwand eingesetzt wurde, um die Repression zu verstärken und einschüchternd gegenüber jeder Reaktion der Klasse aufzutreten.[32]

Die Bewegungen der Empörten stellten eine erste Stufe dar in dem Sinne, da sie Schritte unternahmen, damit die Arbeiterklasse ihr Selbstvertrauen entwickelt und ihre eigene Klassenidentität aufbaut, aber dieses Ziel ist bei weitem noch nicht erreicht worden, denn dazu ist die Entwicklung von massiven Kämpfen auf einem direkt proletarischen Boden erforderlich, bei dem deutlich wird, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, gegenüber der Sackgasse des Kapitalismus den nicht-ausbeutenden Schichten eine revolutionäre Alternative anzubieten.

Wir wissen nicht, wie diese Perspektive umgesetzt werden kann, und wir bleiben wachsam gegenüber den Fähigkeiten und Initiativen der Massen, wie die vom 15. Mai in Spanien. Wir sind uns sicher, dass die internationale Ausdehnung der Kämpfe eine entscheidende Rolle dabei spielen wird.

Die drei Bewegungen haben den Keim eines internationalistischen Bewusstseins gepflanzt: während der Bewegung der Empörten in Spanien sagte man, dass die Bewegung inspiriert wurde durch den Tahrir-Platz in Ägypten;[33] sie strebte eine internationale Ausdehnung der Kämpfe an, auch wenn dies in der größten Konfusion geschah. Die Bewegungen in Israel und Griechenland erklärten ausdrücklich, dass sie dem Beispiel der Bewegung der Empörten in Spanien folgten. Die Demonstranten in Israel trugen Spruchbänder wie „Mubarak, Assad, Netanjahu, alle gleich“, was nicht nur eine beginnende Bewusstwerdung über den Feind aufzeigt, sondern auch ein embryonales Bewusstsein darüber, dass ihr Kampf mit dem der Ausgebeuteten der anderen Länder geführt werden muss und nicht gegen sie, wie es der Rahmen der nationalen Verteidigung verlangt.[34] „In Jaffna trugen Dutzende von arabischen und jüdischen Protestierenden Schilder, auf denen auf Hebräisch und Arabisch zu lesen war: „Araber und Juden wollen erschwingliche Wohnungen“ und „Jaffna will nicht Angebote nur für die Reichen“. (…) In der City von Akku wie auch in Ostjerusalem, wo es anhaltende Proteste sowohl von Juden als auch von Arabern gegen Wohnungsräumungen Letzterer im nahegelegenen Sheikh Jarrah gibt,  wurden gemeinsame jüdische und arabische Zeltlager errichtet. In Tel Aviv wurden Kontakte zu den Bewohnern der Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten geknüpft, die die Zeltstädte besuchten und sich an den Diskussionen mit den Protestierenden beteiligten“.[35] Die Bewegungen in Ägypten und Tunesien sowie in Israel haben eine neue Lage entstehen lassen. Dies geschah in einem Teil der Welt, der wahrscheinlich Hauptschauplatz der weltweiten imperialistischen Zusammenstöße ist. Wie wir in unserem Artikel schrieben: „Die jüngste internationale Welle von Revolten gegen die kapitalistische Sparpolitik öffnet die Tür zu einer anderen Lösung: die Solidarität aller Ausgebeuteten über religiöse oder nationale Spaltungen hinweg; Klassenkampf in allen Ländern mit dem ultimativen Ziel einer weltweiten Revolution, die die Negation der nationalen Grenzen und Staaten sein wird. Ein oder zwei Jahre zuvor wäre eine solche Perspektive für die meisten völlig utopisch gewesen. Heute betrachtet eine wachsende Zahl von Menschen die globale Revolution als eine realistische Perspektive gegenüber der kollabierenden Ordnung des globalen Kapitals.“[36]

Die drei Bewegungen haben zur Herausbildung eines proletarischen Flügels beigetragen. Sowohl in Griechenland als in Spanien aber auch in Israel[37] entstehen „proletarische Flügel“ auf der Suche nach Selbstorganisierung, nach einem unnachgiebigen Kampf auf der Grundlage von Klassenpositionen und dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus. Die Probleme wie auch das Potenzial und die Perspektiven dieser großen Minderheit können im Rahmen dieses Artikels nicht aufgegriffen werden. Sicher ist, dass dies eine entscheidende Waffe für die Arbeiterklasse ist, mit der sie ihre zukünftigen Kämpfe vorbereiten wird.

C.Mir., 23.9.2011



[1]  Cf. https://fr.internationalism.org/node/4752 [32]. Da der Artikel diese Erfahrung im Einzelnen aufgriff, werden wir hier seinen Inhalt nicht wiederholen.

[2]  Siehe die Artikel über diese Bewegungen http://fr.internationalism.org/node/4776.

[3]  „Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit“, Manifest des 9. Internationalen Kongresses der IKS, 1991

[4]  Cf. Revue internationale nos 103 [33] et 104 [33].   Internationale Revue Nr. 103, 104, , engl., franz., span. Ausgabe,

[5] Zur Debatte um dieses wesentliche Konzept der Dekadenz des Kapitalismus siehe u.a. Revue internationale no 146, „Pour les révolutionnaires, la Grande Dépression confirme l‘obsolescence du capitalisme“.

[6] Revue internationale no 103, „A [33] [33]l‘aube [33] [33]du [33] [33]xxi [33]e [33] [33]siècle, [33] [33]pourquoi [33] [33]le [33] [33]prolétariat [33] [33]n‘a [33] [33]pas [33] [33]encore [33] [33]renversé [33] [33]le [33] [33]capitalisme ? [33]“: „Die zweite Bedingung der proletarischen Revolution besteht in der Entfaltung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, womit offenbart wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch neue Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen.“

[7] Revue internationale no 104, „A [34] [34]l‘aube [34]du [34] [34]xxi [34]e [34] [34]siècle, [34] [34]pourquoi [34] [34]le [34] [34]prolétariat [34] [34]n‘a [34] [34]pas [34] [34]encore [34] [34]renversé [34] [34]le [34] [34]capitalisme ? II [34]“.

[8] Weltrevolution Nr. 168: „Die Weltwirtschaftskrise: Ein mörderischer Sommer“ 

[9] Cf. Revue internationale no 138, „Résolution [35] [35]sur [35] [35]la [35] [35]situation [35] [35]internationale [35]“.

[10] „Da die Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus über keine ökonomische Basis verfügt, besteht ihre eigentliche Stärke abgesehen von ihrer Zahl und ihrer Organisation in der Fähigkeit, sich über das Wesen, die Ziele und die Mittel ihres Kampfes bewusst zu werden“. Revue internationale Nr. 103, ebenda,

[11] „Die Verstaatlichungen und eine Reihe von gesellschaftlichen Maßnahmen (wie eine größere Kontrolle des Staates im Gesundheitswesen) sind vollkommen kapitalistische Maßnahmen (...). Die Kapitalisten haben ein ureigenes Interesse daran, dass die Arbeiter in gutem gesundheitlichem Zustand sind. (...) Aber diese kapitalistischen Maßnahmen werden als ‘Errungenschaften der Arbeiter’ dargestellt.“ Revue internationale Nr. 104, ebenda.

[12] Wir können hier nicht näher darauf eingehen, warum die Arbeiterklasse die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist und warum ihr Kampf die Zukunft für alle nicht-ausbeutenden Schichten darstellt, eine brennende Frage, wie wir später bei der Bewegung der Empörten sehen werden. Siehe dazu unsere Artikel in Internationale Revue Nr. 14 & 15 „Wer kann die Welt verändern“.

[13] Internationale Revue Nr. 13, „Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“.

[14] Siehe dazu die Artikel zur Analyse des Klassenkampfes in Internationale Revue.

[15] IKS Online 2006, „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“.

[16] Die herrschende Klasse versucht diese Ereignisse zu verheimlichen. Die nihilistischen Revolten in den Vorstädten im November 2005 in Frankreich sind viel bekannter, selbst im politisierten Milieu, als die bewusste Bewegung der Studenten fünf Monate später.

[17] Empörung bedeutet weder Resignation noch Hass. Gegen die unerträgliche Entwicklung des Kapitalismus spiegelt Resignation eine Passivität wider, eine Tendenz alles zu verwerfen, ohne zu wissen, wie man sich wehrt. Hass im Gegenzug bringt ein aktives Gefühl zum Ausdruck, denn die Ablehnung kann in Kampf umschlagen, aber es handelt sich um einen blinden Kampf, ohne Perspektiven und Reflektion, um eine Alterntive zu entwickeln, Hass ist rein zerstörerisch. Es fließen eine Reihe von individuellen Reaktionen zusammen, aber nichts Kollektives kommt zustande. Die Empörung bringt die aktive Umwandung der Ablehnung zum Ausdruck, wobei man versucht bewusst zu kämpfen, eine Alternative zu entwickeln; sie ist also kollektiv und konstruktiv. „Die Empörung macht eine moralische Erneuerung nötig, einen kulturellen Wandel. Auch wenn manche Vorschläge ein wenig blauäugig oder seltsam erscheinen, sie spiegeln eine Begierde wider, die noch schüchtern und konfus zum Ausdruck kommt, „anders leben zu wollen“. „Vom Tahrir-Platz zur Puerta del Sol“

[18] Cf. Revue internationale Nr.130, „Résolution [36] [36]sur [36] [36]la [36] [36]situation [36] [36]internationale [36]“.

[19] Weltrevolution Nr. 168, „Proteste in Israel: „Mubarak, Assad, Netanjahu“ alle gleich“ .

[20] ICC online, „Une [37] [37]contribution [37] [37]du [37] [37]TPTG [37] [37]sur [37] [37]le [37] [37]mouvement [37] [37]des [37] [37]‚Indignés‘ [37] [37]en [37] [37]Grèce [37]“.

[21] Idem.

[22] „Révoltes sociales en Israël…“, op.cit.

[23] „Une contribution du TPTG“, op. cit.

[24] IKS Online 2006, „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“.

[25] Cf CCI-on line, “Qu [38]’ [38]y [38] [38]a-t-il [38] [38]derrière [38] [38]la [38] [38]campagne [38] [38]contre [38] [38]les [38] [38]„violents“ [38] [38]autour [38] [38]des [38] [38]incidents [38] [38]de [38] [38]Barcelone ? [38]“.

[26] Karl Marx, Der 18. Brumaire des Lois Bonaparte. MEW 8, S. 118.

[27] „Une contribution du TPTG…“, op. cit. Cf. aussi ICC on-line, „L‘apolitisme‘ [39] [39]est [39] [39]une [39] [39]mystification [39] [39]dangereuse [39] [39]pour [39] [39]la [39] [39]classe [39] [39]ouvrière [39]“.

[28] Idem.

[29] Idem.

[30] Losung der dritten Internationale.

[31] Revue internationale Nr.104, op. cit.

[32] IKS Online, 2011 „Die Krawalle in Großbritannien und die Sackgasse des Kapitalismus“.

[33] Die „Plaza de Cataluña“ wurde in „Plaza Tahrir“ umgetauft, was nicht nur einen internationalistischen Willen zum Ausdruck bringt, sondern auch ein Hohn für den katalonischen Nationalismus, der meint, der Platz sei sein größtes Prunkstück.

[34] Ein Demonstrant wurde in einem Interview mit dem Nachrichtensender RT gefragt, ob die Proteste von den Ereignissen in den arabischen Ländern inspiriert worden seien. Er antwortete: „Das, was auf dem Tahrir-Platz passierte, hat einen großen Einfluss. Das heißt, wenn Menschen begreifen, dass sie die Macht haben, dass sie sich selbst organisieren können, brauchen sie keine Regierung mehr, die ihnen vorschreibt, was sie tun sollen. Sie können nun ihrerseits der Regierung klar machen, was sie wollen.

[35] Idem.

[36] Idem.

[37] In dieser Bewegung „haben einige offen vor der Gefahr gewarnt, dass die Regierung militärische Zusammenstöße oder gar einen neuen Krieg auslösen könnte, um eine „nationale Einheit“ herzustellen oder die Bewegung zu spalten“ (ebenda). Dies stellt eine gewisse Distanzierung gegenüber dem israelischen Staat und seiner nationalen Einheit im Dienste der Kriegswirtschaft und des Krieges dar.

Syndikalismus in Deutschland, Teil 3: Die syndikalistische FVDG im Ersten Weltkrieg

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In den vorhergehenden zwei Artikeln haben wir aufgezeigt, wie sich ab den 1880er Jahren in den deutschen Gewerkschaften eine proletarische Oppositionsbewegung formierte. Anfänglich wandte sie sich gegen die Reduzierung des Arbeiterkampfes auf ökonomische Fragen, welche von den gewerkschaftlichen Zentralverbänden vorgegeben worden war. Später richtete sie sich ebenfalls gegen Illusionen in den Parlamentarismus und gegen die wachsende Staatsgläubigkeit der SPD. Doch erst ab 1908, nach dem Bruch mit der SPD, bewegte sich die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften FVDG offen in Richtung Syndikalismus. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 stellte die Syndikalisten in Deutschland vor die Feuerprobe: entweder Unterstützung der nationalistischen Politik der herrschenden Klasse oder Verteidigung des proletarischen Internationalismus. Neben den internationalistischen Minderheiten um Liebknecht und Luxemburg waren die revolutionären Syndikalisten der FVDG in Deutschland eine Strömung, die dem Kriegstaumel trotzte – aber leider allzu oft vergessen geht.

Die Prüfung der Stunde: Burgfrieden oder Internationalismus?

Hand in Hand mit der Sozialdemokratie, welche am 4. August 1914 offen für die Kriegskredite stimmte, hatten auch die Führungen der großen sozialdemokratischen Gewerkschaften ihr Haupt vor den Kriegsplänen der herrschenden Klasse gebeugt. An der Vorständekonferenz der sozialdemokratischen Gewerkschaften vom 2. August 1914, auf der beschlossen wurde, alle Lohnkämpfe und Streiks zugunsten des Burgfriedens und für eine ungestörte Kriegsmobilisierung einzustellen, hatte Rudolf Wissell die chauvinistische Haltung, die in den sozialdemokratischen Gewerkschaften überhand nahm, auf den Punkt gebracht: „Wird Deutschland in dem gegenwärtigen Kampfe besiegt, was wir alle nicht hoffen, so sind auch nach Beendigung des Krieges alle gewerkschaftlichen Kämpfe aussichtslos und zwecklos. Siegt Deutschland, so kommt auch eine aufsteigende Konjunktur, und es brauchen dann die Mittel der Organisation nicht so sehr in die Waagschale geworfen zu werden.“[1] Die schreckliche Logik der Gewerkschaften bestand darin, das Schicksal der Arbeiterklasse direkt an den Ausgang des Krieges zu knüpfen: Wenn es der „eigenen Nation“ und ihren Herrschenden durch Kriegsgewinn gut gehe, dann auch den Arbeitern, weil innenpolitische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft zu erwarten seien. Deshalb müsse man alle Mittel zur Herbeiführung eines militärischen Sieges Deutschlands unterstützen.

Die Unfähigkeit der sozialdemokratischen Gewerkschaften und der SPD, angesichts des Krieges eine internationalistische Haltung zu vertreten, erstaunt nicht. Wenn man die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse an den nationalen Rahmen fesselt, den bürgerlichen Parlamentarismus als Allerweltsmittel vergöttert, statt den internationalen Antagonismus zwischen Arbeiterklasse und Kapitalismus als Orientierung zu nehmen, führt dies unweigerlich ins Lager des Kapitals.

Tatsächlich war der Krieg für die herrschende Klasse in Deutschland erst mit dem offenen Einschwenken der SPD und ihren Gewerkschaften durchführbar geworden! Die sozialdemokratischen Gewerkschaften nahmen mitnichten nur eine Rolle als Mitläufer ein. Nein, sie entwickelten eine wahre Kriegspolitik mit chauvinistischer Propaganda und waren ein entscheidender Faktor bei der Errichtung einer intensiven Kriegsproduktion. Der „sozialistische Reformismus“ hatte sich in einen „sozialistischen Imperialismus“ verwandelt, wie es Trotzki 1914 formulierte.      

Unter den Arbeitern, die in den Wochen und Monaten des Kriegsausbruchs in Deutschland versuchten, gegen den Strom zu schwimmen, befanden sich auch viele, die vom Syndikalismus beeinflusst waren. Beispielhaft für den Zusammenprall kämpferischer Teile der Arbeiterklasse mit den vom Burgfrieden besessenen Führungen der sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften war im Mai–Juni 1914, kurz vor Kriegsbeginn, der Streik auf dem deutschen Passagierdampfer „Vaterland“. Das damals weltweit größte Passagierschiff war ein protziges Aushängeschild des deutschen Imperialismus. Teile der Mannschaft waren während der Jungfernfahrt von Hamburg nach New York unter der starken Präsenz von Arbeitern des syndikalistischen Industrieverbandes in den Streik getreten. Der sozialdemokratische Deutsche Transportarbeiter Verband wandte sich aggressiv gegen diesen Streik: „Deshalb haben alle diejenigen, die an diesen Versammlungen der Syndikalisten sich beteiligt haben, ein Verbrechen an den Seeleuten begangen. (…) Wilde Streiks verwerfen wir grundsätzlich“. (…) „Und in der gegenwärtigen ernsten Zeit, wo es darauf ankommt, alle Kräfte der Arbeiter zusammenzufassen, da treiben die Syndikalisten ihre Zersplitterungsversuche in die Reihen der Arbeiter und berufen sich noch obendrein auf die Worte von Karl Marx, dass die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann.“[2] Die Appelle der sozialdemokratischen Gewerkschaften für eine Einheit der Arbeiterbewegung waren nur noch Phrasen zur Kontrolle über die Regungen in der Arbeiterklasse, die im August 1914 von der SPD zugunsten der „Einheit für den Krieg“ verraten wurde.

Man kann der syndikalistischen Strömung in Deutschland in den Wochen vor dem Kriegsausbruch beileibe nicht den Vorwurf machen, den Klassenkampf beiseite gelegt zu haben. Im Gegenteil bildeten sie für kurze Zeit noch ein Sammelbecken kämpferischer Proletarier: „Da kamen Arbeiter, die das Wort Syndikalismus das erste Mal vernahmen und hier von heute auf morgen für ihre revolutionären Wünsche Befriedigung erhofften.“[3] Doch es stand vor allen Organisationen der Arbeiterklasse, auch der syndikalistischen Strömung, eine weitere Aufgabe. Nebst der Aufrechterhaltung des Klassenkampfes war es unabdingbar, den imperialistischen Charakter des sich abzeichnenden Krieges zu entlarven!

Was war die Haltung der syndikalistischen FVDG gegenüber dem Krieg? Am 1. August 1914 wandte sie sich in ihrem Hauptorgan Die Einigkeit klar gegen den aufkommenden Krieg, nicht als naive Pazifisten, sondern als Arbeiter, welche die Solidarität mit Arbeitern in anderen Ländern suchten: „Wer will den Krieg? Nicht das arbeitende Volk, sondern eine nichtsnutzige Militärkamarilla, die in allen europäischen Staaten nach kriegerischem Ruhm geizt. Wir Arbeiter wollen keinen Krieg! Wir verabscheuen ihn, er mordet die Kultur, schändet die Menschheit und vermehrt die Zahl der durch den bestehenden wirtschaftlichen Krieg Verkrüppelten ins Ungeheuerliche. Wir Arbeiter wollen den Frieden, den ganzen Frieden! Wir kennen keine Österreicher, Serben, Russen, Italiener, Franzosen usw. Arbeitsbruder ist unser Name! Den Arbeitern aller Länder reichen wir die Hände, um eine Untat zu verhindern, die einen Strom von Tränen aus den Augen der Mütter und Kinder erzeugen müsste. Barbaren und jeder Zivilisation feindliche Menschen mögen im Kriege eine hehre und heilige Äußerung erblicken. – Menschen mit einem fühlenden Herzen, Sozialisten, getragen von er Weltanschauung der Gerechtigkeit, Humanität und Menschenliebe, verachten den Krieg! Deshalb, Arbeiter und Genossen! Erhebt überall eure Stimme zum Protest gegen ein im Anzug befindliches Verbrechen an der Menschheit. Es kostet den Armen Gut und Blut, den Reichen aber bringt es Gewinn und den Vertretern des Militarismus Ruhm und Ehre. Nieder mit dem Krieg!“

Am 6. August erfolgte der Angriff deutscher Truppen auf Belgien. Franz Jung, ein revolutionärer syndikalistischer Sympathisant der FVDG und späteres Mitglied der KAPD, schildert seine ergreifenden Erlebnisse im kriegstaumelnden Berlin dieser Tage: „Zum mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hineingeraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: „Nieder mit dem Krieg!“ begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.“[4]

Lassen wir eine andere revolutionäre Stimme der damaligen Zeit, die internationalistische Anarchistin Emma Goldman sprechen: „In Deutschland blieben Gustav Landauer, Erich Mühsam, Fritz Oerter, Fritz Kater, und viele andere Genossen bei Verstand. Selbstverständlich waren wir bloß eine Handvoll verglichen mit den kriegsberauschten Millionen, doch es gelang uns ein Manifest unseres Internationalen Büros in der ganzen Welt zu verbreiten und wir enthüllten nun zu Hause die wahre Natur des Militarismus mit gesteigerter Energie.“[5] Oerter und Kater waren erfahrene Hauptexponenten der FVDG. Die FVDG blieb während des ganzen Krieges standfest in ihrer Haltung gegen den Krieg. Diese ist unumstritten wohl die herausragendste Stärke der FVDG – aber kurioserweise das am wenigsten dokumentierte Kapitel ihrer Geschichte.

Die FVGD wurde bei Kriegsbeginn sofort verboten. Viele ihrer Mitglieder – sie zählte 1914 noch rund 6000 – wurden in Schutzhaft genommen oder zwangsrekrutiert und an die Front geschickt. In der Zeitschrift Der Pionier, einem zweiten Organ der FVDG, schrieb sie am 5. August 1914 im Leitartikel „Das internationale Proletariat und der drohende Weltkrieg“: „Jeder weiß es, der Krieg zwischen Serbien und Österreich ist nur der sichtbare Ausdruck für das chronische Kriegsfieber…“. Die FVDG beschrieb, wie es den Regierungen in Serbien, Österreich und Deutschland gelungen war, die Arbeiterklasse für „die Kriegsfurie“ zu gewinnen, und denunzierte dabei die SPD und die Lüge des angeblichen Verteidigungskrieges: „Deutschland wird nie der „angreifende“ Teil sein, diese Auffassung werden die Herren in der Regierung uns schon beibringen, und aus diesem Grunde werden die deutschen Sozialdemokraten, wie das ihre Presse und Redner schon in sichere Aussicht gestellt haben, wie ein Mann in den deutschen Heeren zu finden sein.“. Die Einigkeit Nr. 32 vom 8. August war die letzte Ausgabe, welche die Mitglieder noch erreichte.

Ein internationalistischer Antimilitarismus

Wir haben im einführenden Teil dieser Artikelserie über die syndikalistische Bewegung eine Unterscheidung zwischen Antimilitarismus und Internationalismus gemacht: „Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und die zunehmend frenetische Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. (…) Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus.“[6] In welches Lager fügte sich die FVDG ein?

In der Presse der FVDG dieser Zeit stößt man wenig auf tiefschürfende oder ausgedehnte politische Analysen über die Hintergründe des Krieges oder über das Verhältnis zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten. Dieses Manko ergab sich aus dem gewerkschaftlichen Verständnis der FVDG. Sie verstand sich zu diesem Zeitpunkt vor allem als eine auf ökonomischem Gebiet kämpfende Organisation, obwohl sie in der Realität vielmehr ein Zusammenschluss von Gruppen war, die syndikalistische Ideen verteidigte, und keine Gewerkschaft. Die harten Auseinandersetzungen mit der SPD, die 1908 mit ihrem Ausschluss geendet hatten, erzeugten in ihren Reihen eine übertrieben pauschale Abneigung gegenüber der „Politik“ und damit den Verlust eines Erbes, das ihre Organisation in der Vergangenheit immer gegen die Trennung von Politik und Ökonomie verteidigte, welche von den großen sozialdemokratischen Gewerkschaften portiert wurde. Das Verständnis über die Dynamik der imperialistischen Spannungen war in den Reihen der FVDG nicht wirklich auf der Höhe der Zeit, sie wurde aber durch den Krieg unweigerlich gezwungen, zu einer höchst politischen Frage Stellung zu beziehen. 

Die Geschichte des Syndikalismus in Deutschland zeigt am Beispiel der FVDG auf, dass zu einer wirklich internationalistischen Haltung nicht alleine theoretische Analysen über den Imperialismus genügen. Auch ein gesunder proletarischer Instinkt, ein tiefes Solidaritätsgefühl mit der internationalen Arbeiterklasse, ist dazu unabdingbar – und genau dies bildete das Rückgrat der FVDG im Jahre 1914.

Die FVDG bezeichnete sich in ihren Schriften meist als „antimilitaristisch“, das Wort Internationalismus ist kaum zu finden. Doch um den Syndikalisten der FVDG gerecht zu werden, ist es absolut notwendig das wahre Wesen ihrer Oppositionsarbeit gegen den Krieg zu betrachten. Die Sichtweise der FVDG gegenüber dem Krieg war keine, die an den Landesgrenzen Halt machte oder wie der damals verbreitete Pazifismus Illusionen in die Möglichkeit eines friedlichen Kapitalismus hegte. Anders als die große Mehrheit der Pazifisten, welche sich mehrheitlich nach Kriegsausbruch flugs in den Reihen der Verteidigung der Nation gegen den angeblich noch grausameren ausländischen Militarismus befanden, warnte die FVDG am 8. August 1914 die Arbeiterklasse klar vor jeglicher Kooperation mit der nationalen Bourgeoisie: “Die Arbeiter dürfen daher auch jetzt nicht vertrauensselig auf die augenblickliche Humanität der Kapitalisten und Unternehmer bauen. Der augenblickliche Kriegsfuror darf das Bewusstsein der bestehenden Klassengegensätze zwischen Kapital und Arbeit nicht verwischen.“[7] 

Für die Genossen der FVDG ging es nicht darum, nur einen Aspekt des Kapitalismus, den Militarismus, zu bekämpfen, sondern sie stellten den Kampf gegen den Krieg in den allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse zur weltweiten Überwindung des Kapitalismus, so wie es Karl Liebknecht schon 1906 in der Schrift Militarismus und Antimilitarismus formuliert hatte. Liebknecht hatte 1915 im Artikel Antimilitarismus! berechtigterweise heroisch und radikal scheinende Formen des Antimilitarismus wie die Desertion kritisiert, da sie durch die Ausscheidung gerade der tüchtigsten Antimilitaristen aus den Armeen dieselben noch mehr in die Hände der Militaristen liefere und daher „alle bloß individuell geübten und individuell wirkenden Methoden grundsätzlich zu verwerfen sind“. In der internationalen syndikalistischen Bewegung gab es verschiedenste Auffassungen über den antimilitaristischen Kampf. Domela Nieuwenhuis, ein historischer Repräsentant der Generalstreiks–Idee, hatte 1901 in seiner Broschüre Der Militarismus Mittel vorgeschlagen, die eine eigenartige Mischung von Reformen und individueller Verweigerung waren. Anders die FVDG, sie teilte die Sorge Liebknechts, dass der gemeinsame Klassenkampf aller Arbeiter, und nicht die individuelle Aktion das alleinige Mittel gegen den Krieg ist.

Die Presse der FVDG wurde vor allem von der Geschäftskommission in Berlin, bestehend aus fünf Genossen um Fritz Kater, getragen und drückte, aufgrund des losen organisatorischen Zusammenhaltes der FVDG, stark deren eigene politische Positionen aus. Die internationalistische Haltung beschränkte sich innerhalb der FVDG aber nicht wie in der syndikalistischen CGT in Frankreich auf eine Minderheit der Organisation. Es kam angesichts der Kriegsfrage nicht zu Spaltungen. Es war vielmehr die Zerschlagung der Organisation und der Zwangseinzug an die Front, welche dazu führten, dass nur eine Minderheit noch permanente Aktivitäten aufrechterhalten konnte. Hauptsächlich in Berlin und in ca. 18 anderen Ortsgruppen waren syndikalistische Gruppen noch aktiv. Sie standen nach dem Verbot der Einigkeit im August 1914 durch das Mitteilungsblatt in Verbindung und ab dessen Unterdrückung im Juni 1915 durch das Organ Rundschreiben, welches im Mai 1917 ebenfalls verboten wurde. Durch die starke Repression gegen die internationalistischen Syndikalisten in Deutschland trugen ihre Publikationen ab Kriegsbeginn vielmehr den Charakter interner Bulletins, und nicht öffentlicher Zeitschriften: „Die Vorstände, resp. Vertrauensleute haben die benötigte Anzahl der Exemplare für ihre vorhandenen Mitglieder umgehend auszugeben, und das Blatt nur diesen zuzustellen.[8]

Die Genossen der FVDG hatten auch den Mut, sich dem Einschwenken der Mehrheit der syndikalistischen CGT in Frankreich zur Beteiligung am Krieg entgegenzustellen: „All diese Kriegstreiberei internationaler Sozialisten, Syndikalisten und Antimilitaristen kann nicht im entferntesten dazu beitragen, unsere Prinzipien zu erschüttern.“[9], schrieben sie zur Kapitulation der CGT–Mehrheit. Die Kriegsfrage war innerhalb der internationalen syndikalistischen Bewegung ein Prüfstein geworden. Sich der großen syndikalistischen Schwester, der CGT, entgegenzustellen, erforderte eine entschlossene Treue zur Arbeiterklasse, waren die CGT und ihre Theorien doch über Jahre wichtiger Orientierungspunkt bei der Hinwendung der FVDG zum Syndikalismus gewesen. Die Genossen der FVDG unterstützen während des Krieges die internationalistische Minderheit um Pierre Monatte, welche aus der CGT hervorging.

Weshalb blieb die FVDG internationalistisch?

Alle Gewerkschaften in Deutschland erlagen 1914 dem nationalistischen Kriegsfieber. Weshalb war die FVDG eine Ausnahme? Diese Frage lässt sich nicht alleine mit dem „Glück“, eine standhafte und internationalistische Geschäftskommission besessen zu haben, beantworten – obwohl dem so war. Genauso wenig lässt sich die Kapitulation der sozialdemokratischen Gewerkschaften gegenüber der Kriegsfrage mit dem „Pech“ einer verräterischen Gewerkschaftsführung erklären.

Die FVDG hatte sich auch kaum deshalb ein internationalistisches Rückgrat erworben, weil sie sich ab 1908 klar zum Syndikalismus hinbewegte. Das Beispiel der französischen CGT zeigt, dass der Syndikalismus in der damaligen Zeit an und für sich keine Garantie für den Internationalismus darstellte. Man kann generell sagen: Weder ein Bekenntnis zum  Marxismus noch eines zum Anarchismus oder zum Syndikalismus stellten an sich eine Garantie dar, internationalistisch zu sein.

Die FVDG verwarf die patriotische Lüge der herrschenden Klasse, eingeschlossen der Sozialdemokratie, eines reinen „Verteidigungskrieges“ (eine Falle in die Kropotkin tragischer Weise gestolpert war). Sie denunzierte in ihrer Presse die Logik, dass sich jede Nation als die Angegriffene darstellt, Deutschland gegen den dunklen russischen Zarismus, Frankreich gegen den preußischen Militarismus, usw.[10] Diese Klarheit konnte nur auf der Einsicht gedeihen, dass der Kapitalismus nicht mehr in fortschrittlichere oder rückständigere Nationen aufgeteilt werden konnte, sondern als Gesamtes zerstörerisch geworden war für die Menschheit. Eine internationalistische Haltung zeichnete sich zur Zeit des Ersten Weltkrieges vor allem durch die politische Denunziation des „Verteidigungskrieges“ aus. Nicht zufällig widmete Trotzki dieser Frage im Herbst 1914 eine ganze Broschüre.[11]

Die FVDG argumentierte oft auch mit menschlichen Prinzipien: „Der Sozialismus stellt menschliche über nationale Prinzipien“ (…) „Es ist (…) schwer jetzt auf der Seite der trauernden Menschheit zu stehen, doch wenn wir Sozialisten sein wollen, dann ist dies unser Platz.“[12] Die Frage der Solidarität und der menschlichen Verbindung mit anderen Arbeitern auf der ganzen Welt war damals eine Basis für eine internationalistisch Haltung. Der proletarisch formulierte Internationalismus der FVDG im Jahre 1914 aber, war damals ein Zeichen der Stärke der syndikalistischen Bewegung in Deutschland gegenüber der Gretchenfrage des Krieges.

Die fundamentalen Wurzeln des Internationalismus der FVDG liegen aber vor allem in ihrer Geschichte als langjährige Opposition gegen den schleichenden Reformismus innerhalb der SPD und der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Ihre Abneigung gegen das Allerweltsmittel des Parlamentarismus der SPD spielte eine wesentliche Rolle. Sie verhinderte, gerade im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften, eine ideologische Einbindung in den kapitalistischen Staat.

Die Zerrissenheit der FVDG in der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Krieges zwischen einem gewerkschaftlichen Verständnis, einer Abneigung gegen „die Politik“ (der SPD) und einer Realität als Propagandagruppen (welche wie schon oben beschrieben klare Analysen über den Imperialismus bremste) hatte offenbar nicht nur Schwächen zur Folge. Angesichts der unverblümten chauvinistischen Kriegspolitik der SPD und der anderen Gewerkschaften wurde in den Reihen der FVDG deutlich der alte Reflex ihres Widerstandes gegen die Entpolitisierung der Arbeiterkämpfe, den sie bis in die Massenstreikdebatte von 1904 hinein prägte, geweckt.

Auch wenn, wie im vorangegangenen Artikel beschrieben, der Widerstand der FVDG gegen den Reformismus eigenartige Schwächen in sich trug wie eine Abneigung gegen „die Politik“ – was 1914 zählte, war die Haltung gegenüber dem Krieg. Viel gewichtiger als ihre Schwächen war für die Arbeiterklasse in diesem Moment der internationalistische Beitrag der FVDG.

Entscheidend für eine internationalistische Standhaftigkeit war zudem die gesunde Reaktion, sich trotz schwierigster Bedingungen nicht in Deutschland zu verschanzen. Die FVDG suchte den Kontakt nicht nur mit Monattes internationalistischer CGT–Minderheit, sondern auch mit anderen Syndikalisten in Dänemark, Schweden, Spanien, Holland (Nationaal Arbeids Secretariaat) und Italien (Unione Sindacale Italiana), welche versuchten, sich dem Krieg entgegenzusetzen.

Ungenügende Zusammenarbeit mit anderen Internationalisten in Deutschland

Wie laut war die internationalistische Stimme der FVDG während des Kriegens innerhalb der Arbeiterklasse zu hören? Sie verwarf offen die perfiden Institutionen zur Integration in den Burgfrieden. Wie in ihrem internen Organ Rundschreiben formuliert, wandte sie sich konsequent gegen die Beteiligung an den Kriegsausschüssen[13]: „Gewiss nicht! Solche Funktionen sind nichts für die unserer Mitglieder oder Funktionäre (…) niemand kann das von ihnen verlangen“[14]. Doch dies richtete sich in den Jahren 1914–1917 fast ausschließlich an die eigenen Reihen. Mit einer realistischen Einschätzung über die augenblickliche Machtlosigkeit und die Unmöglichkeit, dem Krieg wirklich noch im Wege stehen zu können, aber vor allem mit einer berechtigten Angst vor der Zerschlagung der Organisation, wandte sich Fritz Kater im Namen der Geschäftskommission im Mitteilungsblatt vom 15. August 1914 an die Genossen der FVDG: „Unsere Ansichten über Militarismus und Krieg, wie wir sie seit Jahrzehnten vertreten und propagiert haben, für die wir bis ans Lebensende einstehen, passen nicht in eine Zeit überschwänglicher Kriegsbegeisterung, man verurteilt uns zum Schweigen. Das war vorauszusehen und daher war das Verbot für uns durchaus keine Überraschung. Wir haben uns damit in Ruhe abzufinden, ebenso auch alle übrigen Gewerkschaftsgenossen.“

Kater drückte einerseits die Hoffnung aus, die Aktivitäten wie vor dem Krieg aufrecht erhalten zu können (was aber durch die Repression unmöglich war), andererseits das minimale Ziel, die Organisation zu retten: „Die Geschäftskommission ist aber der Ansicht, pflichtvergessen zu handeln, wenn sie mit dem Verbot der Zeitungen nun auch die anderweitigen Aktivitäten einstellte. Das wird sie nicht tun. (…) Sie wird die Verbindung mit den einzelnen Organisationen aufrecht erhalten, und alles tun was nötig ist, um deren Zerfall zu verhindern.“

Die FVDG hat den Krieg tatsächlich überlebt. Dies aber nicht aufgrund einer besonders geschickten Überlebensstrategie oder eindringlichen Appellen, die Organisation nicht zu verlassen. Es war eindeutig ihre internationalistische Haltung, welche durch die Kriegszeit hindurch Anziehungspol für ihre Mitglieder blieb.

Als im September 1915 mit dem Zimmerwalder Manifest ein internationaler Aufruf mit großem Echo gegen den Krieg ertönte, wurde dies von der FVDG solidarisch begrüßt. Dies vor allem auch wegen ihrer Nähe zur internationalistischen Minderheit der CGT, welche in Zimmerwald präsent war. Doch die FVDG hegte gegen einen Großteil der Gruppierungen der Zimmerwalder Konferenz ein Misstrauen, weil diese noch allzu sehr mit der Tradition des Parlamentarismus verknüpft waren. Dieses Misstrauen war keinesfalls unberechtigt, denn sechs Anwesende in Zimmerwald, darunter Lenin, hatten dazu erklärt: „Das von der Konferenz angenommene Manifest stellt uns nicht ganz zufrieden. (…) Das Manifest enthält keine klare Charakteristik der Mittel für den Kampf gegen den Krieg.“[15]. Die FVDG verfügte auch nicht über die von Lenin angesprochene Klarheit über die Mittel für den Kampf gegen den Krieg. Ihr Misstrauen drückte vielmehr eine mangelnde Offenheit gegenüber anderen Internationalisten aus. Ihr Verhältnis gegenüber den anderen Internationalisten in Deutschland zeigt dies deutlich.

Weshalb gab es in Deutschland selbst keine Zusammenarbeit zwischen der internationalistischen Opposition des Spartakusbundes und den Syndikalisten der FVDG? Während einer langen Zeit hatten tiefe Gräben bestanden, die nicht überwunden werden konnten. Karl Liebknecht hatte 10 Jahre zuvor in der Massenstreikdebatte von 1904 die FVDG hart über den Leist der individualistischen Schwächen eines ihrer damaligen temporären Wortführers, Rafael Friedebergs, geschlagen. Soweit wir wissen, haben auch die Revolutionäre um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den Kontakt zur FVDG während der ersten Kriegsjahre nicht gesucht, sicher aus einer Unterschätzung der internationalistischen Fähigkeiten der Syndikalisten.

Die FVDG selbst hatte gegenüber Karl Liebknecht, der Symbolfigur der Bewegung gegen den Krieg in Deutschland war, eine sehr schwankende Haltung, welche ein Zusammenrücken verhinderte. Die FVDG konnte Liebknecht einerseits seine Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914, die dieser nicht aus Überzeugung, sondern lediglich aus falscher Fraktionsdisziplin (wie er danach selber kritisierte) erteilte, nie verzeihen. Andererseits verteidigte ihn die FVDG aber immer wieder in ihrer Presse, wenn Liebknecht Opfer der Repression wurde. Eigenartigerweise traute die FVDG es der revolutionären Opposition in der SPD nicht zu, sich vom Parlamentarismus zu lösen, einen Schritt, den sie selber auch erst durch die Trennung von der SPD 1908 vollständig gemacht hatte. Es existierte ein tiefes Misstrauen. Erst als dann Ende 1918 die revolutionäre Bewegung Deutschland voll erfasste, rief die FVDG ihre Mitglieder zeitweilig dazu auf, in Doppelmitgliedschaft auch dem Spartakusbund beizutreten.

Rückblickend suchten weder die FVDG noch der Spartakusbund in genügendem Maße den Kontakt auf der Basis ihrer gemeinsamen internationalistischen Haltung während des Krieges. Es war vielmehr die Bourgeoisie, welche die internationalistische Gemeinsamkeit der FVDG und der Spartakisten besser erkannte als diese beiden Organisationen selber: Die von der SPD–Führung kontrollierte Presse versuchte die Spartakisten oft als der „Kater–Tendenz“ nahe stehend zu verunglimpfen[16].

Wenn wir anhand der Geschichte der FVDG während des Ersten Weltkrieges für heute und für die Zukunft eine Lehre ziehen können, dann folgende: die Notwendigkeit, den Kontakt mit anderen Internationalisten zu suchen, auch wenn zu anderen Fragen Differenzen bestehen. Dies hat absolut nichts mit einer aus der Geschichte der geschlagenen Arbeiterbewegung der 20er und 30er Jahre bekannten „Einheitsfront“ zu tun (bei der aus einer Schwäche heraus sogar die Zusammenarbeit mit Organisationen des bürgerlichen Lagers gesucht wird) sondern damit, die wichtigste proletarische Gemeinsamkeit zu erkennen.

Mario 5.8.2011


[1] H.J. Bieber: Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 88

[2] Siehe: Folkert Mohrhof, Der syndikalistische Streik auf der „Vaterland“ 1914

[3] Die Einigkeit, Hauptorgan der FVDG, 27.6.1914, Karl Roche: „Ein Gewerkschaftsführer als Gehilfe der Staatsanwaltschaft“

[4] Franz Jung, Der Weg nach unten, Nautilus, S.89

[5] Emma Goldman, Gelebtes Leben. Emma Goldman hatte sich in Februar 1915 mit anderen internationalistischen Anarchisten wie Berkman und Malatesta offen gegen die Befürwortung des Krieges durch die anarchistische Autoritätsfigur Kropotkin und anderer gewandt. Die FVDG begrüßte im Mitteilungsblatt vom 20. Februar 1915 diese Verteidigung des Internationalismus gegenüber Kropotkin durch revolutionäre Anarchisten.

[6] „Was ist revolutionärer Syndikalismus?“, Internationale Revue Nr. 46

[7] Die Einigkeit Nr. 32, 8. August 1914

[8] Mitteilungsblatt, 15. August 1914

[9] Mitteilungsblatt, 10. Oktober 1914, zitiert nach Wayne Thorpe, Keeping the faith: The German Syndicalists in the First World War. Diese Arbeit ist neben den Originaldokumenten der FVDG die einzige (und sehr wertvolle) Untersuchung über den deutschen Syndikalismus im Ersten Weltkrieg.

[10] Siehe u.a. Mitteilungsblatt November 1914 und Rundschreiben August 1916.

[11] Der Krieg und die Internationale

[12] Mitteilungsblatt, 21. November 1914

[13] Kriegsausschüsse wurden ab Februar 1915 zuerst in der metallverarbeitenden Industrie im Raum Berlin gegründet. Sie umfassten Vertreter von Unternehmerverbänden im Metallbereich und Vertreter der großen Gewerkschaften. Ihr Ziel war es, den zunehmenden Arbeitsplatzwechsel der Arbeiter in Fabriken, die höheren Gehälter boten, zu stoppen. Diese „unkontrollierte“ Fluktuation war in den Augen der Regierung und der Gewerkschaften schädlich für eine effiziente Kriegsproduktion. Aufgrund der langsam beginnenden Ausblutung der Gesellschaft durch die Massaker des Krieges war ein Arbeitskräftemangel entstanden. Diese Kriegsauschüsse basierten auf einem früheren Vorstoß zur Bildung von Kriegsarbeitsgemeinschaften, der schon im August 1914 vom sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Theodor Leipart ins Leben gerufen worden war, unter der heuchlerisch  arbeiterfreundlich scheinenden Begründung, „die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen“ – es ging aber in Wirklichkeit darum, die Gesellschaft besser auf die Kriegsproduktion auszurichten.

[14] Zitiert nach Thorpe: Keeping the faith, a.a.O.

[15] Erklärung von Lenin, Sinowjew, Radek, Nerman, Höglund, Winter auf der Konferenz von Zimmerwald.

[16] z.B. Vorwärts, 9. Januar 1917


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