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Weltrevolution Nr. 178

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Die Tragödie von Lampedusa: Das Kapital und seine Politiker sind für die Katastrophe verantwortlich

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Anfang Oktober kenterte ein überfülltes Boot vor der Insel Lampedusa. Mehr als 350 Flüchtlinge starben bei diesem tragischen Ereignis. Einige Tage später sank ein anders Schiff vor der Küste Maltas und ein Dutzend Menschen ertranken dabei. Jedes Jahr verlieren etwa 20.000 Menschen ihr Leben, bevor sie die Festung Europa erreichen! Anfang Oktober kenterte ein überfülltes Boot vor der Insel Lampedusa. Mehr als 350 Flüchtlinge starben bei diesem tragischen Ereignis. Einige Tage später sank ein anders Schiff vor der Küste Maltas und ein Dutzend Menschen ertranken dabei. Jedes Jahr verlieren etwa 20.000 Menschen ihr Leben, bevor sie die Festung Europa erreichen! Seit den 1990er Jahren werden an den Küsten Südeuropas Leichen angeschwemmt, gleich wie an anderen Orten auf der Erde wo ein Strom hungriger und armer Menschen Zuflucht in anderen Staaten sucht.

Die Heuchelei der herrschenden Klasse

Wenn die Bourgeoisie heute betroffene Mine macht und Krokodilstränen vergießt, während schon seit langem Tausende von Menschen an ihren Küsten verenden, dann nur deshalb, weil das Ausmaß, die Verzweiflung und vor allem die Zahl der Opfer an einem einzigen Tag so unübersehbar war. Die herrschende Klasse hat Angst, dass sich die Bevölkerung empört und drüber nachzudenken beginnt.

Die verlogene Polemik um die „unterlassene Hilfe“ der italienischen Fischer soll die Aufmerksamkeit umlenken und Sündenböcke produzieren, während gleichzeitig das bürgerliche Gesetz Leute kriminalisiert, die den Flüchtlingen helfen![1] Das Hauptziel der gehirnwäscheartigen Medienkampagne ist ein Nebel zur Verhüllung der unter den Staaten abgesprochenen repressiven Maßnahmen. Die klassische ideologische Kampagne, die geführt wird, enthält einerseits offen fremdenfeindliche Töne, andererseits den „humanitären“ bürgerlichen Diskurs zur „Verteidigung der Menschenrechte“, und sie versucht, die Immigrant_innen vom Rest der Arbeiterklasse zu trennen und zu isolieren.

Eines ist klar, der krisengeschüttelte Kapitalismus und seine Politiker sind voll und ganz für diese erneute Tragödie verantwortlich. Sie, die Hunderttausende hungriger Menschen dazu zwingen, sich in das selbstmörderische Abenteuer der Flucht zu stürzen, gegen die Hindernisse, die ihnen von der herrschenden Klasse gestellt werden! Es überrascht nicht, wenn die gleichen Politiker, die nach Lampedusa kamen, um sich als betroffen zu präsentieren, von den angewiderten und schockierten Einheimischen am Flughafen ausgebuht wurden.[2]

Die Arbeiterklasse ist eine Klasse von Immigrant_innen

Wenn wir über diese Immigrant_innen schreiben, gilt es festzuhalten, dass alle Arbeiter- und Arbeiterinnen in Wirklichkeit „Entwurzelte“ sind. Seit den Anfangszeiten des Kapitalismus wurden sie von Land und Handwerk vertrieben. Während im Mittelalter die Ausgebeuteten noch an die Erde gebunden waren, schuf sich der Kapitalismus mit einem gewaltsamen Exodus vom Lande die notwendigen Arbeitskräfte. „Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. (…) Die Gesetzgebung behandelte sie als "freiwillige" Verbrecher und unterstellte, dass es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten.“[3] Die Entwicklung des Kapitalismus ist geschichtlich von der freien Verfügbarkeit der Arbeitskraft abhängig. Er produzierte unzählige Bevölkerungsverlagerungen und Migrationsströme, die alles Vorangegangene überstiegen, nur um Mehrwert herauszupressen. Genau aus diesen neuen einheitlichen Bedingungen der Ausgebeuteten hat die Arbeiterbewegung immer wieder hervorgehoben, dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“!

Ohne den Sklavenhandel im 17. und  18. Jahrhundert wäre die Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der industriellen Zentren und Sklavenhandelsplätzen wie Liverpool, London, Bristol, Zeeland (in Holland), Nantes oder Bordeaux nie so schnell vorangeschritten. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts und in Folge der „gütigen Befreiung“ der Schwarzen in die Lohnarbeit, und begleitet von der kapitalistischen Akkumulation, haben andere ökonomische Faktoren einen Exodus vom Lande und riesige Migrationsströme verursacht, vor allem in den neuen Kontinent Amerika. In der Periode des 19. Jahrhunderts bis 1914 sind 50-60 Millionen Menschen aus Europa in die USA eingewandert, um dort Arbeit zu suchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten sich jährlich fast eine Million Menschen auf den Weg in die USA. Nur schon aus Italien sind zwischen 1901 und 1913 etwa 8 Millionen Menschen emigriert. Die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus spielten, erlaubten es dem kapitalistischen System immer mehr Arbeitskräfte aufzusaugen, die es für seine ungehemmte Expansion benötigte.

Durch den dekadenten Kapitalismus wird der Staat zu einem Bunker

Durch den historischen Niedergang des kapitalistischen Systems haben sich die Bevölkerungsverlagerungen und Migrationsströme nicht verringert. Ganz im Gegenteil! Die imperialistischen Kriege, vor allem die zwei Weltkriege, die Wirtschaftskrise, die Verarmung und die Katastrophen aufgrund der Klimaerwärmung, stoßen immer mehr Menschen in die Migration. Im Jahr 2010 wurde die Zahl der Migrant_innen weltweit auf 214 Millionen geschätzt (3.1% der Weltbevölkerung[4]). Es gibt Schätzungen, dass alleine wegen der Klimaerwärmung im Jahre 2050 zwischen 25 Millionen und einer Milliarde mehr Migrant_innen hinzukommen werden![5]

Aufgrund der permanenten Krise des Kapitalismus und der Warenüberproduktion spüren die Einwanderer_innen immer direkter die Grenzen des Marktes und die brutalen Reglementierungen der Staaten. Das Kapital kann die Arbeitskraft nicht mehr aufnehmen und muss sie zum großen Teil zurück schicken! Nachdem schon nach der Zeit der Öffnung der USA vor dem Ersten Weltkrieg ein „Quotensystem“ eingeführt worden war, um die Einwanderung drastisch zu filtern, endete dies mit der Errichtung einer Mauer an der mexikanischen Grenze. Hier bezahlen nach der Tragödie der boat people aus Asien nun die „Chicanos“ mit ihrem Leben. Die offene Wirtschaftskrise während der 1960er und 70er Jahre hat alle Staaten, vor allem in Europa, dazu gebracht ihre Muskeln auf dem Mittelmeer spielen zu lassen, um mit einer Armada von Schiffen und Patrouillenbooten die Immigranten abzufangen und zurück zu schicken. Das unausgesprochene Ziel der herrschenden Klasse ist klar: „Die Immigranten sollen bei sich zu Hause verrecken“! Dazu haben die eifrigen Demokraten Europas, vor allem in Frankreich, nicht davor zurückgeschreckt, auf die Zusammenarbeit mit Gaddafi in Libyen und die Behörden in Marokko zu bauen, um die Menschen, die der Hölle entfliehen wollen, in der Wüste sterben zu lassen.

Diese Politik der „Kontrolle“ der Grenzen, welche immer härter wird, ist ein Produkt der Dekadenz und des Staatskapitalismus. Sie ist nichts Neues. In Frankreich zum Beispiel war „1917 die Schaffung einer Identitätskarte eine wahre Umwälzung der administrativen und polizeilichen Gewohnheiten. Die Mentalität der heutigen Zeit hat sich mit dieser individuellen Stempelung abgefunden, deren polizeilichen Ursprünge nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Es ist aber nichts Neutrales, wenn die Institution der Identitätskarte geschaffen wurde, um Ausländer zu überwachen, und zwar mitten im Krieg“[6]

Heute erreicht die Paranoia der Staaten gegenüber den Ausländer_innen, die immer als suspekt betrachtet werden und die „nationale Ordnung gefährden“, einen Höhepunkt. Die gigantischen Mauern aus Beton und Stahl an den Grenzen[7], verziert mit Stacheldraht und Elektrodrähten, erinnern genau an die Zäune der Konzentrations- und Todeslager im Zweiten Weltkrieg. Wenn die europäischen Staaten in Berlin den Fall der „Mauer der Schande“, welche ein Symbol der Barbarei des Eisernen Vorhangs war, im Namen der „Freiheit“ feiern, so demaskieren sie sich selber als die neuen heuchlerischen Erbauer von Mauern!

Das Leid der Migrant_innen

Die Dekadenz des Kapitalismus ist zur Epoche der großen Vertreibungen geworden, die es zu „bewältigen“ gilt, das Zeitalter der Deportierten, der Konzentrationslager und auch der Flüchtlinge (die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge ist von 700‘000 im Jahr 1950 auf 4,8 Millionen im Jahr 2005 gestiegen!). Der Völkermord an den Armenier_innen 1915 führte zu einer der ersten großen Massenfluchtbewegungen im 20. Jahrhundert. Zwischen 1944 und 1950 wurden fast 20 Millionen Menschen in Europa vertrieben oder evakuiert. Die Aufteilung der Staaten und die Grenzziehungen verursachten Massenvertreibungen. Während der „Eiserne Vorhang“ den Exodus von Menschen aus den Ostblockländern bremste, suchten die europäischen Länder die billigen Arbeitskräfte südlich des Mittelmeers. Die so genannten „nationalen Befreiungskämpfe“, die eine Folge der Krise und des Imperialismus währen des Kalten Kriegs waren, trugen weiter zum Elend und zur Vertreibung der verarmten Bauern und Bäuerinnen bei, die in die Millionenstädte insbesondere der peripheren Länder strömten, die Slums ausbauten und allen möglichen Tätigkeiten von mafiösen Banden ausgeliefert waren, vom Drogen- und Waffenhandel bis zur Prostitution. Die Plagen des 20. und 21. Jahrhunderts haben überall, namentlich im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika dazu geführt, dass ständige Flüchtlingslager wie Pilze aus dem Boden schossen; immer größere Menschenmassen (Palästinenser_innen, Afrikaner_innen …) wurden unter extremen (Über-)Lebensbedingungen zwischengelagert, Krankheiten und dem Hunger und den Mafias ausgeliefert.

Die Ausbreitung der „illegalen“ Arbeit

Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks gab es abgesehen von den wachsenden Konflikten zwei wichtige Erscheinungen, die auf den Weltarbeitsmarkt und die Wanderungsbewegungen einen Einfluss hatten:

- die Vertiefung der Wirtschaftskrise, insbesondere in den zentralen Ländern;

- das Aufstreben Chinas.

Zunächst kamen Arbeiter_innen aus den ehemaligen Ostblockländern in den Westen, namentlich nach Deutschland, begleitet von den ersten Produktionsauslagerungen und einem starken Druck auf die Löhne. Dann eröffneten Regime, die bisher eher am Rand des Weltmarktes gestanden hatten, wie Indien und China, die Möglichkeit, auf dem Land Millionen von Arbeier_innen ihrer Wurzeln zu berauben, so dass eine riesige Reservearmee aus frei verfügbaren Arbeitslosen geschaffen wurde.

Ihre extrem niedrigen Löhne auf einem gesättigten Markt erlaubten dem Kapital, den Druck auf die Kosten der Arbeitskraft erneut zu erhöhen, was zu neuen Produktionsauslagerungen führte. Dies erklärt, warum in den zentralen Ländern seit 1990 die Zahl der illegal und versteckt Beschäftigten in gewissen Wirtschaftszweigen gewaltig zugenommen hat, obwohl gleichzeitig die Kontrollen verstärkt worden sind, da diese Dynamik es erlaubte, die Kosten der Produktion und der Arbeitskraft zu senken. Im Jahr 2000 gab es in Europa ungefähr 5 Millionen Schwarzarbeiter_innen, in den USA 12 Millionen und in Indien 20 Millionen! Die meisten der zentralen Länder, welche die Kopfarbeit ausbeuten, stützen sich gleichzeitig auf billige Handarbeit von Papierlosen und Menschen ohne Berufsbildung, die ihre Arbeitskraft zu jedem noch so tiefen Preis verkaufen müssen, um zu überleben. In verschiedenen Wirtschaftszweigen organisierte sich in Komplizenschaft mit dem Staat ein paralleler und geheimer Arbeitsmarkt, was zu einem Zustrom von Migrant_innen und Flüchtlingen führte, die der Erpressung ausgeliefert sind, ihrer Papiere beraubt und in jämmerlichen Unterkünften vom Rest der Gesellschaft abschottet werden. Die Folge davon ist, dass heute ein wesentlicher Teil der landwirtschaftlichen Ernten durch ausländische Arbeitskräfte eingebracht wird, die oft Schwarzarbeit leisten. In Italien arbeiten 65% der landwirtschaftlichen Angestellten schwarz! Seit dem Fall der Berliner Mauer sind 2 Millionen Rumän_innen in die südlichen Regionen Europas ausgewandert, um Arbeiten in der Landwirtschaft anzunehmen. In Spanien beruhte ein wesentlicher Teil des „Booms“ vor dem Krach in der Immobilienbranche auf der Arbeit und dem Schweiß der unterbezahlten Schwarzarbeiter_innen, die oft auf Lateinamerika stammten (Ecuador, Peru, Bolivien usw.). Dazu kommen die „Grauzonen“ des Arbeitsmarktes wie die Prostitution. Im Jahr 2003 waren in Moldawien 30% der Frauen zwischen 18 und 25 Jahren verschwunden! Im gleichen Jahr arbeiteten 500‘000 Prostituierte aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks in Westeuropa. In Asien und in den Golf-Monarchien sind die gleichen Erscheinungen bei Hausangestellten oder auf dem Bau zu beobachten. In Katar machen die Eingewanderten 86% der Bevölkerung aus! Ein Teil der Jugend in China oder auf den Philippinen lässt sich mit dem Ziel ausbilden, später in Hongkong oder in Saudi-Arabien unter sklavenähnlichen Bedingungen zu arbeiten. Mit der Ausbreitung von kriegerischen Spannungen ist zu erwarten, dass in Zukunft noch mehr Menschen und solche Arbeiter_innen die Flucht ergreifen, insbesondere aus Afrika, Asien und aus dem Nahen Osten.

Der Kampf des Proletariats

Der sich entfesselnden Barbarei, der Polizeirepression gegen Einwanderer_innen und den fremdenfeindlichen Kampagnen, die ein Teil der Bourgeoisie mit ihren populistischen Botschaften zu führen versucht, kann das Proletariat nur seine eigene Empörung und seine internationale Klassensolidarität entgegenstellen. Dazu gehört natürlich, dass wir den herrschenden Diskurs entlarven, der versucht, Angstreflexe zu schüren, die Immigrant_innen und den „Ausländer“ verantwortlich zu machen für die Krise und die Arbeitslosigkeit. Nachdem früher die Aufmerksamkeit auf die „gelbe Gefahr“, die drohende „Invasion“ gelenkt worden ist, spielen heute die Medien und Politiker jeder Couleur mit den Ängsten, indem sie die „Kriminalität“ und die „Störung von Ruhe und Ordnung“ an die Wand malen. Unaufhörlich stopfen sie uns voll mit ihren Botschaften über „die Ausländer“, die „Illegalen“, die eine „unfaire Konkurrenz“ ausüben und die „sozialen Errungenschaft untergraben“ würden ... Und dies, obwohl die Migrant_innen die ersten und schwächsten Opfer des Systems sind! Eine solche plumpe und ekelerregende Taktik ist stets mit dem Ziel angewandt worden, die Proletarier_innen voneinander zu trennen. Aber die hinterhältigste Falle, der wir ausweichen müssen, ist diejenige des „guten Willens“ und der Pseudogroßzügigkeit der linken und „humanitären“ Organisationen, die aus den Einwanderer_innen eine „gesellschaftliche Sache“, einen Gegenstand einer „besonderen Politik“, eines „Teilbereichskampfes“ machen wollen, eine Rechtsfrage, die als solche im Rahmen des bürgerlichen Rechts zu behandeln sei.

Heute, wo die Fabriken eine nach der anderen schließen, wo die Auftragsbücher trotz der Ankündigung des „Wiederaufschwungs“ leer sind, wird es offensichtlich, dass alle Proletarier_innen von der Krise und der zunehmenden Armut getroffen werden – egal ob eingewandert oder nicht. Worin soll der Sinn der Idee liegen, dass die papierlosen Arbeiter_innen eine Konkurrenz seien, wenn die Arbeit eh eingestellt wird?

Angesichts aller ideologischen Angriffe und der Repressionspolitik muss sich das Proletariat auf seine historische Perspektive besinnen. Es muss damit beginnen, seine Solidarität zum Ausdruck zu bringen, die revolutionäre Kraft erkennen, die es in dieser Gesellschaft darstellt. Nur es allein wird fähig sein, im Kampf zu zeigen, dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“.

WH (21/10/2013)  

[1] Es ist absurd: Fischer, die in Sangatte Bootsflüchtlingen Sicherheitsbegleitung geleistet hatten, wurden im Namen des Gesetzes Bossi-Fini verfolgt, weil sie sich angeblich der « Hilfe zur illegalen Einwanderung » schuldig gemacht hätten!

[2] Der italienische Premierminister Alfano wurde von Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Union, und dem Zuständigen für innere Angelegenheiten Malmström begleitet. Sie traten mit Beteuerungen auf, im Namen der „Menschlichkeit“ die Überwachung der Grenzen mit dem Frontex-Dispositiv zu verstärken.   

[3] Marx, Das Kapital Bd. 1: https://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_3 [2]

[4] Quelle: INED

[5] 133 Naturkatastrophen wurden 1980 registriert. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren auf mehr als 350 pro Jahr angewachsen. Siehe:  https://www.unhcr.org [3]

[6] P-J Deschott, F. Huguenin, La république xénophobe, JC Lattès, 2001(von uns ins Deutsche übersetzt)

[7] In Südeuropa (Ceuta, Melilla), an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, zwischen Israel und Palästina, und in Südafrika gegenüber dem Rest des Kontinents, wo die Behörden von Gaborone daran sind, eine elektrifizierte Mauer von 2.4 Metern Höhe und 500 Kilometer Länge zu errichten.

Filmkritik - Hannah Arendt: Ein Lob auf das Denken

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Deutschlands leidvolle Geschichte des 20.Jahrhundert ist reich an dramatischen und schrecklichen Themen und eine ganze Anzahl von erfolgreichen Filmen in den letzten Jahren belegt dies eindrucksvoll: so etwa Der Pianist (über das Warschauer Ghetto), Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen (über die DDR und den Fall der Mauer) (1).

Die Regisseurin Margarete von Trotta hat sich bereits mehrmals mit heiklen Themen aus der jüngeren deutsche Geschichte auseinandergesetzt: Die bleierne Zeit (1981), eine dramatisierte Version vom Leben und Sterben der Terroristin Gudrun Ensslin von der Roten Armee Fraktion (die Umstände ihres Todes im Stammheimer Gefängnis konnten nie ganz geklärt werden); eine Filmbiographie über Rosa Luxemburg (1986); der Film Rosenstraße (2003), der sich mit dem Protest deutscher Frauen gegen die Gestapo im Jahre 1943 angesichts der Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner auseinandersetzt. In ihrem neuesten Film Hannah Arendt (2012/13) kehrt von Trotta thematisch zu den Themen Krieg, Shoah und Nazismus zurück, indem sie sich mit einer Episode aus dem Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt auseinandersetzt, die übrigens überzeugend von Barbara Sukowa dargestellt wird.

Hannah Arendt: Ein Lob auf das Denken

Filmkritik

Deutschlands leidvolle Geschichte des 20.Jahrhundert ist reich an dramatischen und schrecklichen Themen und eine ganze Anzahl von erfolgreichen Filmen in den letzten Jahren belegt dies eindrucksvoll: so etwa Der Pianist (über das Warschauer Ghetto), Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen (über die DDR und den Fall der Mauer) (1).

Die Regisseurin Margarete von Trotta hat sich bereits mehrmals mit heiklen Themen aus der jüngeren deutsche Geschichte auseinandergesetzt: Die bleierne Zeit (1981), eine dramatisierte Version vom Leben und Sterben der Terroristin Gudrun Ensslin von der Roten Armee Fraktion (die Umstände ihres Todes im Stammheimer Gefängnis konnten nie ganz geklärt werden); eine Filmbiographie über Rosa Luxemburg (1986); der Film Rosenstraße (2003), der sich mit dem Protest deutscher Frauen gegen die Gestapo im Jahre 1943 angesichts der Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner auseinandersetzt. In ihrem neuesten Film Hannah Arendt (2012/13) kehrt von Trotta thematisch zu den Themen Krieg, Shoah und Nazismus zurück, indem sie sich mit einer Episode aus dem Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt auseinandersetzt, die übrigens überzeugend von Barbara Sukowa dargestellt wird.

Hannah Arendt wurde 1906 als Spross einer jüdischen Familie geboren. Als junge Studentin besuchte sie Seminare und Vorlesungen des Philosophen Martin Heidegger, mit dem sie eine kurze, aber intensive Liebesbeziehung hatte. Die Tatsache, dass sie weder ihre Beziehung zu ihm noch die Person Heidegger abgelehnt hat, obwohl er 1933 der NSDAP beigetreten war(2), wurde ihr später immer wieder massiv zum Vorwurf gemacht. Ihre Beziehungen zu Heidegger und seiner Philosophie sind zweifelsohne komplex und könnten für sich genommen ein ganzes Buch füllen; und die Rückblenden zu ihren Begegnungen mit Heidegger sind vermutlich die am wenigsten gelungenen im Film, da sich von Trotta bei diesen Szenen ihrer zentralen Filmthematik am wenigsten sicher scheint: der „Banalität des Bösen“.

Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 floh Arendt aus Deutschland und emigrierte nach Paris, wo sie, trotz ihrer kritischen Haltung, in der zionistischen Bewegung aktiv war. In Paris heiratete sie 1940 ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher. Im Zuge der deutschen Invasion Frankreichs wurde Arendt vom französischen Staat in einem Lager in Gurs interniert. Von dort gelang ihr die Flucht und nach so mancher Strapaze erreichte sie 1941 schließlich die USA.

Ohne einen Cent in ihren Taschen bei ihrer Ankunft gelang es ihr bald, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, und schließlich erhielt sie als erste Frau überhaupt eine Professur an der renommierten Princeton-Universität. 1960, wo der Film einsetzt, war Arendt bereits eine bekannte und anerkannte Intellektuelle, die schon zwei ihrer bekanntesten Werke veröffentlicht hatte: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) und Vom tätigen Leben (1958).

Obgleich sie sicher keine Marxistin war, interessierte sie sich für die Arbeiten Marx‘ und somit auch für die von Rosa Luxemburg (3). Ihr Ehemann Heinrich war erst ein Spartakist gewesen, dann im Oppositionsflügel der KPD, der sich gegen die Stalinisierung der KPD in den 20ern wandte. Er folgte Brandler und Thalheimer in die KPD-Opposition (aka KPO), nachdem sie aus der Partei ausgeschlossen worden waren (4). Der Film erwähnt Heinrichs Parteimitgliedschaft: Wir erfahren von einem befreundeten amerikanischen Paar, dass „Heinrich bis zum Ende bei Rosa Luxemburg war“. Des Weiteren ist Arendts philosophisches Werk, besonders ihre Analyse der Mechanismen des Totalitarismus ist bis zum heutigen Tag relevant. Ihr rigoroses Denken und ihre Integrität erlaubten es Arendt, die Klischees und Allgemeinplätze der damaligen herrschenden Ideologie zu durchbrechen: Sie (ver-)störte durch ihre Ehrlichkeit.

Die Eingangsszene ruft die Entführung Adolf Eichmanns in Argentinien durch den Mossad in Erinnerung. Während der Nazi-Herrschaft hatte Eichmann zahlreiche wichtige Positionen inne, u.a. organisierte er erst die Deportation der Juden aus Österreich, dann die Durchführung der „Endlösung“, insbesondere den Transport der europäischen Juden in die Todeslager von Auschwitz, Treblinka und andere. Das Ziel David Ben-Gurions, dem damaligen ersten Premierminister von Israel und Verantwortlichen für die Mossad-Operation, war offensichtlich, einen Gerichtsprozess zu inszenieren, der die Fundamente des jungen israelischen Staates zementieren sollte. Außerdem sollten die Juden selbst über einen der Täter ihres Genozids urteilen.

Als Arendt von dem bevorstehenden Eichmann-Prozess erfuhr, meldete sie sich freiwillig für das literarische Magazin The New Yorker, um vom Prozess zu berichten. Ihre detaillierte und akribische Berichterstattung vom Prozess erschien zunächst in einer Serie von Artikeln, schließlich als Buch mit dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Die Veröffentlichung löste einen riesigen Skandal in Israel, aber mehr noch in den USA aus: Arendt sah sich einer unglaublich aggressiven und feindseligen Medienkampagne ausgesetzt: „die sich selbst-hassende Jüdin“ und „die Rosa Luxemburg des Nichts“ waren nur zwei der etwas weniger schlimmen Verleumdungen, die ihr entgegen geschleudert wurden. Ihr wurde nahegelegt, von ihrer Universitätsberufung zurückzutreten, aber sie lehnte dies ab. Es ist eben diese Phase, die die Entwicklung von Arendts Denken und ihre Reaktion gegen jene Medienkampagne markieren, welche das Material für diesen Film liefern.

Arendts Denken und ihre Reaktion auf diese Medienkampagne bilden die Basis für den Film. Wenn man es recht bedenkt, dann ist es wahrlich eine Herausforderung, einen Film über das widersprüchliche Denken und die manchmal schmerzhafte Entwicklung einer Philosophin filmisch zu thematisieren, ohne die Thematik zu trivialisieren. Eine Herausforderung, die von Trotta und Sukowa mit Bravour meistern.

Wie konnte Arendts Bericht überhaupt solch einen Skandal auslösen? (5) Bis zu einem bestimmten Punkt war solch eine Reaktion nachvollziehbar und sogar zwangsläufig: auch wenn Arendt ihre Kritik so präzise wie ein kunstfertiger Chirurg das Skalpell anlegt, waren für viele Menschen der Zweite Weltkrieg und die ungeheuerlichen Leiden der Shoah noch zu nah, die Traumata noch zu aktuell, um sich diesen Ereignissen mit Abstand zu nähern. Doch die lautesten Stimmen waren auch die mit dem größten Interesse; Interesse, dass der Vorhang des Schweigens über die unbequemen Wahrheiten gezogen wird, die Arendts Kritik offenlegte.

Arendt ging ans Eingemachte, als sie Ben-Gurions Versuch, den Eichmann-Prozess zu instrumentalisieren, um Israels Existenz mit dem Leid der Juden während der Shoah zu rechtfertigen, argumentativ auseinander nahm.

Für dieses Vorhaben musste Eichmann regelrecht ein Monster sein, ein „würdiger“ Vertreter der monströsen Verbrechen der Nazis. Auch Arendt selbst hatte erwartet, ein Monster auf der Anklagebank vorzufinden, doch je mehr sie ihn beobachtete, desto weniger war sie nicht von seiner Schuld, aber von seiner „Monstrosität“ überzeugt.

In den Prozessszenen platziert von Trotta Arendt nicht in den Gerichtssaal, sondern in den Presseraum, wo die Journalisten den Prozess über die Videoüberwachung beobachten. Dieser Kunstgriff erlaubt es von Trotta den echten Eichmann im Film zu zeigen (statt eines Schauspielers, der Eichmann darstellt). Wie Arendt sehen und erleben wir als Zuschauer so einen mehr als durchschnittlichen Mann (Arendt verwendet den Begriff „Banalität“ im Sinne von „Durchschnittlichkeit“), der weder etwas mit dem mörderischen Wahnsinn Hitlers noch mit der verrückten Kaltblütigkeit eines Goebbels (die beide im Film „Der Untergang“ von Bruno Ganz und Ulrich Matthes großartig dargestellt wurden) gemeinsam hat. Im Gegenteil, wir sehen uns konfrontiert mit einem kleinen Bürokraten, dessen intellektueller Horizont kaum über die Wände seines Büros hinausreicht, der sich hauptsächlich mit der Hoffnung auf den Aufstieg auf der Karriereleiter und bürokratischen Rivalitäten beschäftigte. Eichmann ist kein Monster, war Arendts Schlussfolgerung: „es wäre sehr beruhigend gewesen, wenn man hätte glauben können, dass Eichmann ein Monster sei (…) Das Problem mit Eichmann war aber eben, dass so viele so sind wie e, und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch war und dass sie noch immer schrecklich und schrecklich normal sind (6).“ (eigene Übersetzung, S.274) Um es auf den Punkt zu bringen: Für Arendt bestand Eichmanns Verbrechen primär nicht darin, dass er im selben Maße wie Hitler für die Vernichtung der Juden verantwortlich war, sondern in erster Linie darin, dass er die Fähigkeit des eigenständigen Denkens abgelegt hat und sich legal und mit ruhigem Gewissen als Rädchen in der totalitären Maschinerie eines verbrecherischen Staates bewegt hat. Der nie in Zweifel gezogene „gesunde Menschenverstand“ der prominenten NS-Führer diente ihm als „moralische Instanz“. Die Wannsee-Konferenz (auf der die logistische Umsetzung der so genannten Endlösung beschlossen wurde) war dementsprechend „ein sehr wichtiger Moment für Eichmann, da er noch nie zuvor mit so vielen Nazigrößen persönlich in Kontakt gekommen war (…) Nun konnte er mit eigenen Augen sehen, dass nicht nur Hitler oder Heydrich oder die ‚Sphinx‘ Müller und nicht nur die SS oder die Partei, sondern die ganze Elite der Bürokratie miteinander in Konkurrenz standen und gegeneinander kämpften, um die Führung in diesen ‚blutigen‘ Angelegenheiten zu übernehmen“ (S.111f, eigene Übersetzung).

Arendt lehnt ausdrücklich die These ab, derzufolge „potenziell alle Deutschen schuldig“ seien oder eine „Kollektivschuld“ trügen. Für Arendt verdiente Eichmann die Hinrichtung für seine Taten (auch wenn dies die Millionen Opfer nicht wieder zum Leben bringen würde). Insgesamt kann man festhalten, dass ihre Analyse eine kühne Absage an die antifaschistische Ideologie ist, die bald offizielle Staatsideologie wurde, besonders in Israel. Aus unserer Sicht ist die Banalität, die Arendt beschreibt, die der kapitalistischen Welt, in der die Menschen verdinglicht und entfremdet werden. Sie werden reduziert auf den Status von Objekten, Waren oder Rädchen im kapitalistischen Getriebe. Dieses maschinelle Funktionieren ist nicht allein charakteristisch für den Nazistaat. Arendt erinnert uns daran, dass die Politik, das eigene Territorium „judenrein“ zu machen, bereits 1937 vom polnischen Staat in Betracht gezogen war, und auch die demokratische französische Regierung – besonders der französische Außenminister Georges Bonnet – hatte vor dem Zweiten Weltkrieg die Ausweisung von 200 000 „nicht-französischer“ Juden nach Madagaskar angedacht (hierzu hatte Bonnet sogar seinen deutschen Amtskollegen Ribbentrop um Rat gefragt). Ferner argumentierte Arendt, dass auch die Nürnberger Prozesse nichts weiter als Schauprozesse der Siegermächte waren, in denen die Richter Länder repräsentierten, die sich ebenfalls Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten: der russische Staat für die Toten im Gulag, der amerikanische Staat für den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Auch mit dem israelischen Staat ging Arendt nicht zimperlich um. Im Unterschied zu anderen Berichterstattern betonte sie in ihrem Buch die Ironie des Eichmann-Prozesses, in dem rassistisch motivierte Verbrechen durch einen israelischen Staat angeklagt wurden, der selbst „rassische“ Merkmale in seinen Gesetzen einbaute: „Nach den Rabbinerregeln gilt das Gesetz, dass es jüdischen Bürgern nicht erlaubt ist, Nicht-Juden zu heiraten; Ehen, die im Ausland geschlossen wurden, werden zwar anerkannt, aber die Kinder von ‚Mischehen‘ gelten vor dem Gesetz als illegitim (…) und sollte jemand eine nicht-jüdische Mutter haben, kann er in Israel weder heiraten noch beerdigt werden.“ Es ist in der Tat eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jene, die der Nazipolitik der „Rassenreinheit“ entkommen konnten, dann selbst versuchten, ihre eigene „Rassenreinheit“ im Gelobten Land zu kreieren. Arendt verabscheute Nationalismus im Allgemeinen und den israelischen Nationalismus im Besonderen. Bereits im Jahre 1930 stellte sie sich gegen die zionistische Politik und deren Verweigerung eines gemeinsamen, friedlichen Lebens mit den Palästinensern. Auch zögerte sie nicht, die heuchlerische Politik der Regierung Ben-Gurions öffentlich anzuprangern, die zwar einerseits die Verbindungen zwischen Nazis und einigen arabischen Staaten öffentlich machte, andererseits aber verschwieg, dass in Westdeutschland eine nicht unerhebliche Zahl von Nazigrößen auf verantwortungsvollen Posten schützten.

Ein weiteres Skandalthema war die Frage des Judenrates – die Judenräte waren von den Nazis mit dem Ziel geschaffen worden, die sogenannte Endlösung effizienter umsetzen zu können. Dies füllt nur einige Seiten in ihrem Buch, aber sie gehen ans Herz. Sie schreibt: „Wo immer Juden lebten, stets gab es anerkannte jüdische Anführer, und diese Führerschaft kollaborierte– beinahe ohne Ausnahme – auf die eine oder andere Weise, aus dem einen oder anderen Grund mit den Nazis. Die ganze Wahrheit war, dass, wenn die jüdische Bevölkerung total unorganisiert und führerlos gewesen wäre, es zwar auch Chaos und unglaublich viel Leid gegeben hätte, aber die gesamte Opferzahl hätte kaum zwischen 4½ und 6 Millionen Menschen erreicht (…) Ich habe mich mit diesem Kapitel der Geschichte beschäftigt, weil der Prozess in Jerusalem gescheitert ist, diese wahren Dimensionen vor der Weltöffentlichkeit zu offenbaren. Warum? Nun, es bietet das deutlichste Beispiel für die Erkenntnis, dass der moralische Kollaps in der respektablen europäischen Gesellschaft durch die Nazis ein totaler war“(eigene Übersetzung, S. 123). Sie enthüllte sogar ein Element der Klassenunterscheidung zwischen den jüdischen Anführern und der anonymen Masse: inmitten des allgemeinen Desasters verfügten jene, die entkommen konnten, entweder über hinreichenden Reichtum, mit dem sie ihre Flucht kaufen konnten, oder waren der „internationalen Gemeinschaft“ bekannt genug, um in Theresienstadt, einer Art privilegiertes Ghetto (inhaltlich??), am Leben erhalten zu bleiben. Die Beziehungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und dem Nazi-Regime, und mit anderen europäischen Bevölkerungen war viel komplizierter, als die offizielle manichäische Ideologie der Siegermächte bereit war zuzugeben.

Die Naziherrschaft und die Shoah nehmen einen zentralen Platz in der modernen europäischen Geschichte ein, heute sogar noch mehr als in den 1960ern. Trotz des Bemühens etwa der Autoren des Buches „Schwarzbuch des Kommunismus“, gilt der Nationalsozialismus bis heute als das „ultimative Böse“. In Frankreich bildet die Shoah neben der Résistance einen sehr wichtigen Bestandteil des Lehrplans Geschichte, unter Ausschluss fast aller anderen Aspekte des 2.Weltkrieges. Und doch, zumindest rein rechnerisch war der Stalinismus gemessen an der Anzahl seiner Opfer weit schlimmer: 20 Millionen Tote in Stalins Gulag und mindestens 20 Millionen Tote während Maos „Großem Sprung“. Natürlich hat dies zu einem Gutteil mit der opportunistischen Kalkulation zu tun, dass die Nachfolger Stalins und Maos noch immer an der Macht sind, dass sie Menschen sind, mit denen man „Geschäfte machen“ muss und kann. Arendt setzt sich nicht direkt mit dieser Frage auseinander, aber in einer Erörterung der Anklagepunkte gegen Eichmann besteht sie auf die Tatsache, dass die Naziverbrechen nicht ein Verbrechen gegen die Juden, sondern ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit in Gestalt der jüdischen Menschen gewesen war, gerade weil den Juden die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies abgesprochen wurde; sie wurden als unmenschliches Übel dargestellt, das es auszulöschen galt. Dieser rassistische, fremdenfeindliche und obskure Aspekt des Naziregimes wurde freimütig verkündet, was es Teilen der herrschenden europäischen Klasse, aber auch der Bauernschaft und des Handwerks, die von der Wirtschaftskrise ruiniert worden waren, ermöglichte, sich in ihm bequem zu machen. Auf der anderen Seite hatte der Stalinismus stets behauptet, fortschrittlich zu sein: Man sang noch immer: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“, und das erklärt auch, warum bis zum Fall der Mauer und sogar danach gewöhnliche Menschen weiterhin die stalinistischen Regimes im Namen einer besseren Zukunft verteidigten (7).

Arendts zentrale These ist, dass sowohl die „unvorstellbare“ Barbarei der Shoah als auch die Durchschnittlichkeit der Nazibürokraten ein Produkt der Vernichtung der „Fähigkeit zum Denken“ entspringt. Eichmann „denkt nicht“, er führt die Befehle der Maschinerie aus, kommt seiner Tätigkeit gründlich und gewissenhaft nach, ohne jegliche Skrupel, ohne je die Verbindung zu dem Horror der Konzentrationslager zu sehen, obgleich sie ihm dennoch bewusst war. In diesem Sinne sollte von Trottas Film als eine Eloge des kritischen Denkens gesehen werden.

Hannah Arendt war keine Marxistin, auch keine Revolutionärin. Da sie aber Fragen stellte, die die offizielle antifaschistische Ideologie untergruben, wurde sie so zur Gegnerin des banalen Konformismus und der Abschaffung des kritischen Denkens. Das Verdienst ihrer Analyse besteht darin, dass sie ein Tor zur Reflexion des menschlichen Gewissens öffnet (ähnlich wie die Arbeit des US-Psychologen Stanley Milgram über die Mechanismen der „Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber Autorität“ von Folterknechten, was in Henri Verneuils Film „I wie Ikarus“ filmisch dargestellt wird).

Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Arendts Werk von der demokratischen Bourgeoisie und deren Intelligenz erhielt – für die sie eine Art Ikone wurde –, ist nicht ganz harmlos. Die Wiederaneignung ihrer Analyse des Totalitarismus ist deutlich vom dem Versuch geprägt, eine Kontinuität zwischen den Bolschewiki und der Russischen Revolution von 1917 einerseits und dem totalitärem Apparat des stalinistischen Staates andererseits herzustellen. Die Botschaft lautet: Stalin ist nur Lenins Vollstrecker gewesen, und die Moral der Geschichte: Die proletarische Revolution kann nur zu Totalitarismus und neuen Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen. So manche etablierten bürgerlichen Ideologen wie Raymond Aron haben nicht gezögert, Arendts Analyse des stalinistischen totalitären Staates für ihre Kampagnen während des Kalten Krieges und über den angeblichen Zusammenbruch des Kommunismus nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu benutzen.

Hannah Arendt war eine Philosophin und wie Marx sagte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Der Marxismus ist nicht eine „totalitäre“ Doktrin, sondern vielmehr eine theoretische Waffe der ausgebeuteten Klasse für die revolutionäre Transformation der Welt. Und eben deshalb ist nur der Marxismus wirklich in der Lage, wichtige Beiträge der Kunst, der Wissenschaft sowie der Philosophie aufzugreifen, so etwa frühere Philosophen wie Epikur, Aristoteles, Spinoza, Hegel usw., aber auch jene unserer Zeit wie Hannah Arendt mit ihrem tiefen und kritischen Blick auf die moderne Welt und ihrer Eloge auf das Denken.

Jens

1 [4]Siehe unsere Filmkritik in der Nr.113 der englisch-sprachigen International Review (https://en.internationalism.org/ir/113_pianist.html [5])

2 [6]The Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Nazipartei)

3 [7] 1966 besprach Arendt JP Nettls Rosa Luxemburg Biographie in der New Yoek Review of Books. In diesem Artikel geißelte sie sowohl die Weimarer als auch die Bonner Regierungen und erklärte, dass die Ermordungen Luxemburgs und Liebknechts ausgetragen wurden „unter den Augen und höchstwahrlich mit Zustimmung der sozialdemokratischen Regierung, die damals an der Macht war (…) Dass die Regierung damals faktisch in den Händen der Freikorps war, weil sie die volle Unterstützung des „Sozialisten“ Noskes genossen, der als Experte der nationalen Verteidigung und zuständig für militärische Angelegenheiten war, wurde erst kürzlich von dem letzten Überlebenden der Attentate, Kapitän Pabst bestätigt. Die Bonner Regierung – in diesem wie in anderen Aspekten folgt sie nur allzu gern den finsteren Spuren der Weimarer Republik – verkündete öffentlich in ihrem Magazin durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, dass die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs absolut legal gewesen seien, „eine Exekution auf der Grundlage des Kriegsrechts.“ Dies war mehr als die Weimarer Republik je behauptet hatte…“.

4 [8]Die KPO war eine der Oppositionsgruppen gegen den Stalinismus, welche aber nie völlig mit dem Stalinismus brach. Wie Trotzki konnten sie nie den Gedanken akzeptieren, dass in Russland die Konterrevolution herrschte.

5 [9]Wer des Französischen mächtig ist, der sei auf eine interessante Dokumentation verwiesen (bestehend aus Radiointerviews) von France Culture: Hannah Arendt et le procès d'Eichmann [10] [1]

6 [11] Die Zitate sind der Penguin Ausgabe von 2006 entnommen, die von Amos Elon eingeleitet wurde. Eigene Übersetzung der Zitate ins Deutsche.

7 [12]Siehe z.B. diese fazinierende Dokuserie (deutsch und englisch) über das Leben in der ehemaligen DDR [2].

  • Adolf Eichmann [13]

  • Hannah Arendt [14]

  • Heinrich Blücher [15]

  • Faschismus [16]

  • Eichmann Prozess [17]

  • Hannah Arendt und die Banalität des Bösen [18]

  • Israel [19]

Links:
[1] https://www.franceculture.fr/emission-la-fabrique-de-l-histoire-histoire... [20]
[2] https://www.youtube.com/watch?v=7fwQv5h7Lq8 [21]

Leute: 

  • Heinrich Blücher [22]
  • Hannah Arendt [23]
  • Adolf Eichmann [24]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Außerhalb der Kommunistischen Linken [25]

Historische Ereignisse: 

  • Eichmann Prozess [26]
  • Banalität des Bösen [27]

Theoretische Fragen: 

  • Religion [28]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [29]

Rolle der Frau bei der Entstehung der Kultur (Teil 3)

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Im Gegensatz dazu, und dies ist unsere erste Frage, ist Darmangeat weitaus weniger eindeutig bei der Frage, warum die geschlechtliche Arbeitsteilung diese Rolle den Männern überlassen sollte, sagt er doch selbst, dass „physiologische Gründe (…) problematisch sind bei der Erklärung, warum Frauen von der Jagd ausgeschlossen wurden“ (S. 314f.) Auch ist nicht klar, warum die Jagd und die Nahrung als ihr Produkt prestigeträchtiger sein sollten als das Produkt des Sammelns und des Gartenbaus, besonders wenn Letztere die Hauptquelle der gesellschaftlichen Ressourcen sind.

 

Noch grundsätzlicher: woher kam die erste Arbeitsteilung, und warum sollte sie auf dem Geschlecht beruhen? Hier sehen wir, wie Darmangeat sich in seiner eigenen Vorstellungskraft verliert: „Wir können uns vorstellen, dass selbst eine keimhafte Spezialisierung der menschlichen Spezies gestattete, eine größere Effektivität zu erlangen, als wenn ihre Mitglieder weiterhin jede Handlung ohne Unterscheidung ausgeübt hätte (…) Wir können uns ebenfalls vorstellen, dass sich diese Spezialisierung durch die Stärkung der gesellschaftlichen Bande im Allgemeinen und der Bande innerhalb der Familiengruppen im Besonderen in der gleichen Richtung auswirkte.“[9] [30] Gut, natürlich können wir uns viel „vorstellen“, doch ist dies nicht vielmehr das, was eigentlich demonstriert werden sollte?

Was die Frage angeht: „Wie kam die Arbeitsteilung auf der Grundlage der Geschlechter zustande?“, scheint dies für Darmangeat „nicht sehr schwierig zu sein. Es erscheint offensichtlich, dass für die Mitglieder prähistorischer Gesellschaften dieser Unterschied der am unmittelbarsten ersichtliche ist.“[10] [30] Wir können hier einwenden, dass, auch wenn geschlechtliche Unterschiede sicherlich „unmittelbar ersichtlich“ für die ersten menschlichen Wesen gewesen waren, dies keine ausreichende Erklärung für die Entstehung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung ist. Primitive Gesellschaften sind reich an Einordnungen, besonders jene, die auf Totems beruhen. Warum sollte die Arbeitsteilung nicht auf dem Totemismus basieren? Dies ist offensichtlich ein bloßes Hirngespinst – genauso wie Darmangeats Hypothese. Was noch schwerer wiegt, ist, dass Darmangeat einen anderen äußerst eindeutigen Unterschied nicht erwähnt, einen Unterschied, der überall in archaischen Gesellschaften wichtig ist: den Unterschied des Alters.

Wenn es darum geht, trägt Darmangeats Buch – trotz seines eher prahlerischen Titels – nicht viel Erhellendes bei. Die Unterdrückung der Frauen beruhte auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung. So sei es. Doch wenn wir fragen, woher diese Teilung kommt, werden wir abgespeist „mit bloßen Hypothesen, demzufolge wir uns vorstellen können, dass gewisse biologische Einschränkungen, die wahrscheinlich mit der Schwangerschaft und dem Stillen zu tun haben, das physiologische Substrat für die geschlechtliche Arbeitsteilung und den Ausschluss der Frauen von der Jagd bilden“ (S. 322).[11] [30]


Von den Genen zur Kultur

Am Ende seiner Argumentation lässt uns Darmangeat mit folgender Schlussfolgerung zurück: Im Ursprung der Frauen-Unterdrückung liegt die geschlechtliche Arbeitsteilung, und trotzdem war diese Teilung ein erheblicher Schritt vorwärts in der Arbeitsproduktivität, selbst wenn ihre Ursprünge in einer weit entfernten und unzugänglichen Vergangenheit verborgen bleiben.

Darmangeat bemüht sich hier darum, dem marxistischen „Modell“ treu zu bleiben. Doch was ist, wenn das Problem verkehrt herum gestellt wurde? Wenn wir das Verhalten jener Primaten betrachten, die dem Menschen am nächsten sind, insbesondere die Schimpansen, dann sehen wir, dass nur die männlichen Tiere jagen gehen – die weiblichen sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Jungen zu füttern und auf sie aufzupassen (und sie vor den männlichen Artgenossen zu schützen: Wir sollten nicht vergessen, dass männliche Primaten oftmals Kindsmord am Nachwuchs anderer männlicher Artgenossen praktizieren, um sich für ihre eigenen reproduktiven Bedürfnisse Zugang zu den Muttertieren zu verschaffen). „Arbeitsteilung“ zwischen männlichen Tieren, die jagen, und weiblichen Tieren, die es nicht tun, ist also nichts menschlich Spezifisches.  Das Problem – das nach einer Erklärung ruft – ist nicht, warum die Jagd dem männlichen Geschlecht des Homo sapiens vorbehalten war, sondern warum es der männliche Homo sapiens ist, und nur der männliche Homo sapiens, der das Produkt seiner Jagd verteilt. Was bemerkenswert ist, wenn wir den Homo sapiens mit seinen Cousins unter den Primaten vergleicht, ist der Wirkungsbereich der oft sehr strengen Regeln und Tabus, die genauso unter den Aborigines in den glühenden Wüsten Australiens wie unter den Eskimos im arktischen Eis angetroffen werden und die den kollektiven Verzehr der Jagdbeute voraussetzen. Der Jäger hat nicht das Recht, sein eigenes Produkt zu konsumieren; er muss es zurück ins Lager bringen, um es an die anderen zu verteilen. Die Regeln, die die Verteilung regulieren, variieren beträchtlich von einem Volk zum anderen, aber ihre Existenz ist universell.

Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass die Geschlechtsunterschiede des Homo sapiens ein gutes Stück geringer sind als beim Homo erectus, was in der Tierwelt allgemein ein Indikator für ausgewogenere Verhältnisse zwischen den Geschlechtern ist.

Überall sind das Teilen von Nahrung und das kollektive Einnehmen von Mahlzeiten das Fundament der ersten Gesellschaften. In der Tat hat das gemeinsame Mahl bis in die modernen Zeiten überlebt: Selbst heute ist es unmöglich, sich irgendeinen großen Moment im Leben (Geburt, Hochzeit oder Begräbnis) ohne das gemeinsame Mahl vorzustellen. Wenn Menschen in schlichter Freundschaft zusammenkommen, findet dies fast immer rund um ein gemeinsames Essen statt, ob am Barbecue in Australien oder um einen Restauranttisch in Frankreich.

Dieses Teilen von Nahrung, das anscheinend aus uralten Zeiten stammt, ist ein Aspekt des menschlichen kollektiven und gesellschaftlichen Lebens, der sich stark von dem unserer weit entfernten Verfahren unterscheidet. Wir werden hier mit dem konfrontiert, was der Darwinologe Patrick Tort als einen „unbezahlbaren Ausdruck des ‚Egoismus‘ unserer Gene“ beschrieben hat: Die Mechanismen, die von Darwin und Mendel beschrieben worden waren und von den modernen Genetikern bestätigt wurden, haben ein soziales Leben generiert, in dem die Solidarität eine zentrale Rolle spielt, wobei dieselben Mechanismen durch den Wettbewerb funktionieren.[12] [30]

Diese Frage des Teilens ist unserer Ansicht nach fundamental, aber nur Teil eines viel weiter gefassten wissenschaftlichen Problems: Wie können wir den Prozess erklären, der eine Spezies, deren Verhaltensänderungen vom langsamen Rhythmus der genetischen Evolution bestimmt wurden, in unsere eigene Spezies umwandelt, deren Verhalten – auch wenn es sich natürlich noch immer auf unserem genetischen Erbe gründet – sich dank einer viel schnelleren Evolution der Kultur verändert? Und wie können wir erklären, dass ein auf Konkurrenz basierender Mechanismus eine Spezies geschaffen hat, die nur durch Solidarität überleben kann: die wechselseitige Solidarität der Frauen bei der Kindsgeburt und -aufzucht, die Solidarität von Männern auf der Jagd, die Solidarität der Jäger gegenüber der Gesellschaft als Ganzes, wenn sie die Jagdbeute beisteuern, die Solidarität der Gesunden mit den Alten oder Verletzten, die nicht mehr in der Lage sind, zu jagen oder ihre eigene Nahrung zu finden, die Solidarität der Alten gegenüber den Jungen, denen sie nicht nur die lebenswichtigen Kenntnisse über die Natur und Welt beibringen, sondern auch die gesellschaftlichen, historischen, rituellen und mystischen Kenntnisse, die das Überleben einer strukturierten Gesellschaft ermöglichen? Dies scheint uns das fundamentale Problem zu sein, dass sich durch die Frage der „menschlichen Natur“ stellt.

Dieser Übergang von einer Welt zu einer anderen fand in einem Zeitraum von mehreren hunderttausend Jahren statt, eine wichtige Periode, die wir in der Tat als eine „revolutionäre“ beschreiben können.[13] [30] Sie ist eng verknüpft mit der Evolution des menschlichen Gehirns, seiner Größe (und mutmaßlich auch seiner Struktur, auch wenn dies natürlich weitaus schwieriger in den archäologischen Funden nachzuweisen ist). Das Wachstum der Hirngröße stellt unsere sich entfaltende Spezies vor einer ganzen Reihe von Problemen, von denen der schiere Energiebedarf des Hirns nicht das geringste ist: ungefähr 20 Prozent der gesamten Energieaufnahme eines Individuums – enorme Proportionen.

Obwohl die Spezies zweifellos vom Prozess der Enzephalisation (der evolutionären Entwicklung der Großhirnrinde) profitiert hat, stellte dies ein ganz reales Problem für die Frau dar. Die Größe des Kopfes bedeutet, dass die Geburt früher eintreten muss, andernfalls passt der Embryo nicht mehr durch das mütterliche Becken. Dies wiederum setzt einen weitaus längeren Zeitraum der Abhängigkeit des Kleinkindes voraus, das, verglichen mit anderen Primaten, „vorzeitig“ zur Welt kommt; das Wachstum des Gehirns erfordert mehr Pflege, sowohl strukturell als auch energetisch (Proteine, Lipide, Kohlehydrate). Wir scheinen es mit einem unlösbaren Rätsel oder vielmehr mit einem Rätsel zu tun zu haben, das die Natur erst nach dem langen Zeitraum löste, in dem Homo erectus lebte und sich über Afrika verbreitete, in dem sich jedoch allem Anschein nach weder im Verhalten noch in der Morphologie viel änderte. Dann aber folgte eine Periode der rasanten Weiterentwicklung, die ein Wachstum des Gehirnumfangs und das Auftreten all der spezifisch menschlichen Verhaltensformen erlebte: Sprache, symbolische Kultur, Kunst, der intensive Gebrauch von Werkzeugen und deren große Vielfalt, etc.

Es gibt ein weiteres Rätsel. Wir haben die radikalen Änderungen im männlichen Homo sapiens zur Kenntnis genommen, doch die physiologischen und Verhaltensänderungen im weiblichen Homo sapiens sind nicht weniger bemerkenswert, besonders vom Standpunkt der Reproduktion aus.

Es gibt in diesem Zusammenhang einen auffälligen Unterschied zwischen dem weiblichen Homo sapiens und anderen Primaten. Unter Letzteren (und besonders jenen, die uns am nächsten stehen) signalisiert das Weibchen im Allgemeinen den Männchen seine Eisprungphase (und damit die Phase seiner größten Fruchtbarkeit) auf die deutlichste Weise: mit unübersehbaren Genitalorganen, einem „geilen“ Verhalten besonders gegenüber dem dominanten Männchen, charakteristischen Ausdünstungen. Unter den Menschen verhält es sich genau umgekehrt: Die Sexualorgane sind verborgen und ändern sich nicht während des Eisprungs, und die weiblichen Menschen sind sich nicht einmal bewusst, wenn sie „brünstig“ sind.

Am anderen Ende des Eizyklus‘ ist der Unterschied zwischen dem Homo sapiens und anderen Primaten gleichermaßen frappierend: ergiebige und sichtbare Monatsblutungen, das Gegenteil zum Schimpansen zum Beispiel. Da Blutverlust Energieverlust bedeutet, müsste die natürliche Selektion eigentlich gegen überflüssigen Blutfluss arbeiten; also kann Letzterer nur mit einem ausgesuchten Vorteil erklärt werden – aber welchem?

Ein weiteres bemerkenswertes Kennzeichen der menschlichen Menstruation ist ihre Periodizität und Synchronität. Viele Untersuchungen haben bereits die Leichtigkeit aufgezeigt, mit der viele Gruppen von Frauen ihre Perioden synchronisieren, und Knight zeigt mit einer Tabelle der Monatszyklen unter Primaten auf, dass die menschliche Frau eine Periode hat, die vollkommen mit dem Mondzyklus übereinstimmt. Warum? Oder ist dies nur Zufall?

Man könnte versucht sein, dies alles als irrelevant für die Erklärung der Sprache und der menschlichen Besonderheiten im Allgemeinen abzutun. Solch eine Reaktion wäre darüber hinaus in völliger Eintracht mit der aktuellen Ideologie, die die Periode der Frauen wenn nicht als Tabu, so doch als etwas Negatives betrachtet: Man denke nur an all die Reklamefeldzüge für „weibliche Hygieneprodukte“, deren Fähigkeiten, die Periode unsichtbar zu machen, angepriesen werden. Die Entdeckung der immensen Bedeutung des Menstruationsblutes und all dessen in der primitiven menschlichen Gesellschaft, was mit ihm assoziiert wird, die sich beim Studium des Buchs von Knight erschließt, ist somit umso erschreckender für uns als Mitglieder der modernen Gesellschaft. Und der Glaube an die enorme Macht – jenseits von Gut und Böse – der Perioden der Frauen ist, so meinen wir, ein universelles Phänomen. Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass die Monatsblutungen alles „regulieren“, einschließlich der Harmonie im Universum.[14] [30] Selbst in Völkern, wo es eine starke männliche Vorherrschaft gibt und wo alles getan wird, um Frauen zu entwerten, regen ihre Perioden die Furcht in den Männern an. Menstruationsblut wird als etwas „Giftiges“ betrachtet, eine kaum noch zurechnungsfähige Ansicht, die für sich genommen ein Hinweis auf seine Macht ist. Man ist gar versucht, den Schluss zu ziehen, dass die Gewalt der Männer gegen Frauen in direkter Proportion zur Furcht steht, die die Frauen in Männern auslösen.[15] [30]

Die Universalität dieses Glaubens ist bedeutend und verlangt nach einer Erklärung. Wir können uns drei mögliche Deutungen vorstellen:

· Er könnte das Resultat von Strukturen sein, die im menschlichen Geist angelegt sind, wie Lévi-Strauss‘ Strukturalismus suggeriert. Heute würden wir eher sagen, dass sie im human-genetischen Erbe angelegt sind – doch dies scheint allem zu widersprechen, was über die Genetik bekannt ist.

· Es könnte auf das Prinzip „dieselbe Ursache - dieselben Auswirkungen“ zurückgeführt werden. Gesellschaften, die sich in Hinsicht ihrer Produktionsverhältnisse und ihrer Techniken gleichen, produzieren die gleichen Mythen.

· Die Ähnlichkeit der Mythen könnte schließlich auf einen gemeinsamen historischen Ursprung zurückgeführt werden. Wenn dies der Fall wäre, dann müsste angesichts der Tatsache, dass die verschiedenen Gesellschaften, in denen Menstruationsmythen vorkommen, geographisch weit auseinanderliegen, der gemeinsame Ursprung sehr weit zurückliegen.

Knight favorisiert die dritte Erklärung: Er betrachtet in der Tat die universelle Mythologie rund um die Menstruation als etwas sehr Altes, das auf die eigentlichen Ursprünge der Menschheit zurückgeht.


Die Entstehung der Kultur

Wie sind diese verschiedenen Fragen miteinander verknüpft? Wie könnte der Link zwischen der Menstruation der Frauen und der kollektiven Jagd aussehen? Und wie zwischen den beiden und anderen auftretenden Phänomenen wie Sprache, symbolische Kultur, eine Gesellschaft, die auf gemeinsamen Regeln beruht? Diese Fragen scheinen uns fundamental zu sein, weil all diese „Evolutionen“ keine isolierten Phänomene sind, sondern Elemente in einem einzigen Prozess, der vom Homo erectus zu uns führt. Die Hyper-Spezialisierung der modernen Wissenschaften erschwert, was größtenteils auch von den Wissenschaftlern so gesehen wird, das Verständnis dieses umfassenden Prozesses, der von einer einzelnen spezialisierten wissenschaftlichen Disziplin nicht erfasst werden kann.

Was wir an Knights Werk am bemerkenswertesten finden, ist eben dieses Bemühen, genetische, archäologische, paläontologische und anthropologische Daten in einer „allumfassenden Theorie“ der menschlichen Evolution zusammenzubringen, analog zu den Anstrengungen der theoretischen Physik, die uns die Super-String- oder die Schleifenquantengravitationstheorie beschert hat.[16] [30]

Versuchen wir also diese Theorie zusammenzufassen, die heute als „Sexstreiktheorie“ bekannt ist. Um es einfach und schematisch zu sagen, stellt Knight die Hypothese auf, dass es zunächst bei den weiblichen Homo, die mit den Schwierigkeiten der Kindsgeburt und der Säuglingspflege konfrontiert waren, zu einer Verhaltensänderung gekommen war: Die Frauen wandten sich vom dominanten Männchen ab, um in einer Art von gegenseitigem Unterstützungspakt ihre Aufmerksamkeit den zweitrangigen Männchen zu schenken. Die Männchen akzeptierten, die Weibchen zurückzulassen, wenn sie jagen gingen, und ihnen die Jagdbeute zurückzubringen; im Gegenzug erlangten sie Zugang zu den Weibchen und somit eine Chance zur Reproduktion, was ihnen bis dahin vom Alphamännchen verwehrt worden war.

Diese Verhaltensänderung bei den Männchen – die anfangs, wir erinnern uns, den Evolutionsgesetzen unterworfen war – ist nur unter bestimmten Bedingungen möglich, insbesondere unter zwei: Einerseits  darf es für die Männchen nicht möglich sein, anderswo Zugang zu Weibchen zu finden; andererseits müssen die Männchen darauf vertrauen können, dass sie in ihrer Abwesenheit nicht verdrängt werden. Dies sind also kollektive Verhaltensweisen. Die Weibchen - die die treibende Kraft in diesem evolutionären Prozess sind – müssen gegenüber den Männchen eine kollektive Sexverweigerung aufrechterhalten. Diese kollektive Verweigerung wird den Männchen wie auch anderen Weibchen deutlich durch die Monatsblutung signalisiert, die mit einem „universellen“ und sichtbaren Ereignis synchronisiert ist: dem Mondzyklus und den Gezeiten, die sie in der semiaquatischen Umgebung des afrikanischen Grabenbruchs, wo die Menschheit zuerst auftauchte, begleiten.

Die Anfänge der Solidarität sind gemacht: zunächst unter den Weibchen, dann auch unter den Männchen. Kollektiv ausgeschlossen vom Zugang zu den Weibchen, können sie eine in wachsendem Maße organisierte kollektive Großwildjagd in die Tat umsetzen, die die Fähigkeit zur Planung und zur Solidarität im Angesicht von Gefahren erfordert.

Gegenseitiges Vertrauen entsteht in der kollektiven Solidarität innerhalb jedes Geschlechts, aber auch zwischen den Geschlechtern: das weibliche Vertrauen in der männlichen Beteiligung an der Kinderaufzucht, das männliche Vertrauen darin, dass ihnen nicht die Chance zur Reproduktion vorenthalten wird.

Dieses theoretische Modell gestattet uns, das Rätsel zu lösen, das Darmangeat unbeantwortet ließ: Warum sind Frauen so strikt von der Jagd ausgeschlossen? Gemäß des Modells Knights kann dieser Ausschluss nur ein absoluter gewesen sein, denn wenn sich einige Weibchen – und insbesondere jene, die noch unbelastet waren von eigenem Nachwuchs – der gemeinsamen Jagd mit den Männchen anschließen konnten, dann hätten Letztere Zugang zu empfängnisbereiten Weibchen gehabt und wären nicht mehr gezwungen gewesen, die Jagdbeute mit aufziehenden Weibchen und ihren Jungen zu teilen. Damit das Modell funktioniert, sind die Weibchen gezwungen, eine totale Solidarität unter Ihresgleichen aufrechtzuerhalten. Von diesem Standpunkt aus ist es möglich, das Tabu zu verstehen, das eine absolute Trennung zwischen Frauen und Jagd aufrechterhält und das das Fundament für allen anderen Tabus ist, die sich um die Menstruation und dem Blut der Jagd drehen und die den Frauen verbieten, mit irgendwelchen Schneidewerkzeugen umzugehen. Die Tatsache, dass dieses Tabu, einst eine Quelle der weiblichen Stärke und Solidarität, unter anderen Umständen zu einer Quelle der gesellschaftlichen Schwäche und Unterdrückung werden sollte, mag auf dem ersten Blick paradox erscheinen: In der Realität ist dies nur ein besonders auffälliges Beispiel für eine dialektische Umkehrung, eine weitere Veranschaulichung der tiefen dialektischen Logik allen evolutionären und historischen Wandels.[17] [30]

Die Weibchen, die am erfolgreichsten dieses neue Verhalten unter Ihresgleichen und unter den Männchen durchsetzten, hinterließen mehr Nachkommen. Der Prozess der Großhirnbildung konnte fortgesetzt werden. Das Tor zu einer Weiterentwicklung des Menschen war offen.

Gegenseitige Solidarität und gegenseitiges Vertrauen wurden also nicht durch eine Art glückseligen Mystizismus in die Welt gesetzt, sondern im Gegenteil durch die mitleidlosen Gesetze der Evolution.

Dieses gegenseitige Vertrauen ist eine Vorbedingung für die Entstehung einer echten Fähigkeit zur Sprache, die von der gegenseitigen Akzeptanz gemeinsamer Regeln (Regeln, die so elementar sind wie die Idee, dass ein einziges Wort dieselbe Bedeutung für mich wie für dich hat) und von einer Gesellschaft abhängt, die auf Kultur und Gesetz basiert, die nicht mehr dem langsamen Rhythmus der genetischen Evolution unterworfen, sondern in der Lage ist, sich weitaus schneller neuen Umgebungen anzupassen. Eines der ersten Elemente der neuen Kultur ist logischerweise der Transfer all dessen vom genetischen in den kulturellen Bereich (wenn wir es so sagen können), das die Entstehung dieser neuen Gesellschaftsform ermöglicht hat: Die ältesten Mythen und Rituale drehen sich rund um die Menstruation der Frauen (und den Mond, der ihre Synchronität garantiert) und ihre Rolle in der Regulierung nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der natürlichen Ordnung.


Einige Schwierigkeiten und eine mögliche Fortsetzung

Wie Knight selbst sagt, ist seine Theorie eine Art von „Ursprungsmythos“ und bleibt eine Hypothese. Dies an sich ist selbstverständlich kein Problem; ohne Hypothesen und Spekulationen gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Die Religion, nicht die Wissenschaft, versucht bestimmte Wahrheiten zu etablieren.

Was uns angeht, so würden wir gern zwei Einwände gegen das Narrativ erheben, das Knight vorschlägt.

Der erste betrifft die verstrichene Zeit. Als Blood Relations 1991 veröffentlicht wurde, datierten die ersten Anzeichen künstlerischen Ausdrucks und daher der Existenz einer symbolischen Kultur, die in der Lage ist, Mythen und Rituale, die sich im Zentrum seiner Hypothese befinden, zu transportieren, vor nur 60.000 Jahren. Doch die ersten Gebeine moderner Menschen sind etwa 200.000 Jahre alt: Was passierte also in den 140.000 „fehlenden“ Jahren? Und wie könnte der Vorläufer einer völlig ausgebildeten Kultur zum Beispiel unter unseren unmittelbaren Ahnen ausgesehen haben?

Dies stellt nicht so sehr die Theorie an sich in Frage, sondern ist ein Problem, das nach weiterer Untersuchung verlangt. Seit den 1990er Jahren haben Ausgrabungen in Südafrika (Blombos Caves, Klasies River, Kelders) allem Anschein nach den Zeitraum des erstmaligen Gebrauchs von Kunst und abstrakten Symbolismus auf 80.000 oder gar 140.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurückdatiert.[18] [30] Was den Homo erectus anbetrifft, scheinen die Überreste, die bei Dmanisi in Georgien Anfang der Nuller Jahre entdeckt und auf ein Alter von 1,8 Millionen Jahren datiert wurden, bereits auf einen gewissen Grad an Solidarität hinzuweisen: Ein Individuum lebte etliche Jahre ohne Zähne, was nahelegt, dass andere ihm beim Essen halfen.[19] [30] Gleichzeitig waren ihre Werkzeuge immer noch primitiv, und laut den Experten praktizierten sie noch keine Großwildjagd. Dies alles sollte uns nicht überraschen: Darwin hat seinerzeit bereits festgestellt, dass menschliche Merkmale wie Empathie, die Wertschätzung des Schönen und der Freundschaft bereits im Tierreich existierten, wenn auch auf einem, verglichen mit der Menschheit, rudimentären Niveau.

Unser zweiter Einwand ist gewichtiger und betrifft die „Antriebskraft“, die das Wachstum des menschlichen Gehirns bewirkte. Knight ist mehr darauf bedacht, festzulegen, wie dieses Wachstum ermöglicht wurde, und so steht diese Frage nicht im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: Laut seinem Interview auf unserem Kongress hat er im Grunde die Theorie der „wachsenden sozialen Komplexität“ sich zu eigen gemacht, eine Theorie, wonach die menschlichen Wesen sich dem Leben in immer größeren Gruppen anpassen mussten (diese Theorie wird von Robert Dunbar verfochten[20] [30] und ist auch von J.-L. Dessalles in seinem Buch Warum wir sprechen aufgegriffen worden, dessen Argumente er selbst auf unserem letzten Kongress vorstellte). Wir können hier nicht in die Details gehen, doch scheint uns diese Theorie nicht ohne Probleme zu sein. Immerhin variiert die Größe der Primatengruppen von einem Dutzend im Falle der Gorillas bis zu etlichen Hundert für die Hamadryas-Paviane: Es wäre daher notwendig, sowohl aufzuzeigen, warum Hominini gesellschaftliche Bedürfnisse entwickelten, die über die der Paviane hinausgingen (dies steht noch aus), als auch zu demonstrieren, dass Hominini in immer größeren Gruppen lebten, bis hin zur „Dunbar-Zahl“ zum Beispiel.[21] [30]

Alles in allem ziehen wir es vor, den Prozess der Großhirnbildung  und der Sprachentwicklung mit der wachsenden Bedeutung der „Kultur“ (im breitesten Sinn des Wortes) in der menschlichen Fähigkeit, sich der Umwelt anzupassen, in Verbindung zu bringen. Es gibt häufig die Neigung, sich die Kultur allein in materiellen Begriffen (Steinwerkzeuge, etc.) vorzustellen. Doch wenn wir das Leben von Jäger-Sammler-Völkern in unserer eigenen Epoche untersuchen, sind wir über nichts so beeindruckt wie über ihre profunde Kenntnis über ihre natürliche Umgebung: das Verhalten der Tiere, die Merkmale von Pflanzen, etc. Jedes jagende Tier „kennt“ das Verhalten seiner Beutetiere und kann sich dem bis zu einem gewissen Punkt anpassen. Bei menschlichen Wesen ist diese Kenntnis jedoch nicht genetisch, sondern kulturell bedingt und muss von Generation zu Generation übermittelt werden. Während die Nachahmung die Übermittlung eines beschränkten Grades von „Kultur“ erlaubt (Affen, die einen Stock benutzen, um zum Beispiel Termiten zu angeln), liegt es auf der Hand, dass die Übermittlung menschlicher (oder eigentlich proto-menschlicher) Kenntnisse etwas mehr als Nachahmung erfordert.

Man könnte auch behaupten, je mehr die Kultur die Genetik bei der Bestimmung unseres Verhaltens ersetzt, desto wichtiger wird die Übermittlung dessen, was wir die „spirituelle“ Kultur (Mythen, Rituale, die Kenntnis heiliger Plätze, etc.) nennen, für die Aufrechterhaltung des Gruppenzusammenhalts. Dies wiederum führt uns zur Verknüpfung der Sprachentwicklung mit einem anderen äußeren Merkmal, das in unserer Biologie verankert ist: die „frühe“ Menopause der Frauen, gefolgt von einer langen Periode der Unfruchtbarkeit, was ein weiteres Merkmal ist, das die menschlichen Frauen nicht mit ihren Primaten-Cousinen teilen.[22] [30] Wie konnte eine „frühe“ Menopause von der natürlichen Selektion favorisiert werden, obwohl sie offensichtlich das weibliche Reproduktionspotenzial einschränkt? Die wahrscheinlichste Hypothese ist wohl die, dass Frauen in der Menopause ihren Töchtern besser helfen können, das Überleben ihrer eigenen Enkelkinder und damit ihres eigenen genetischen Erbes sicherzustellen.[23] [30]

Die Probleme, die wir gerade angeschnitten haben, betreffen den Zeitraum, der von Blood Relations abgedeckt wird. Doch es gibt eine weitere Schwierigkeit, die den Zeitraum der bekannten Geschichte angeht. Es ist naheliegend, dass die primitiven Gesellschaften, von denen wir Kenntnis haben (und welche Darmangeat beschreibt), sich stark von den hypothetischen ersten menschlichen Gesellschaften Knights unterscheiden. Um nur das Beispiel von Australien zu nehmen, dessen Aboriginal-Gesellschaft eine der technisch primitivsten ist, die wir kennen: Die Hartnäckigkeit von Mythen und rituellen Praktiken, die der Menstruation große Bedeutung zumessen, geht Hand in Hand mit einer völligen Vorherrschaft der Männer über die Frauen. Wenn wir davon ausgehen, dass Knights Hypothese weitgehend korrekt ist – wie können wir dann erklären, was sich zu einer veritablen „männlichen Konterrevolution“ auswuchs? In seinem Kapitel 13 (S. 449) unterbreitet Knight eine Hypothese, um das zu erklären. Er behauptet, dass das Verschwinden der Megafauna – Arten wie der gigantische Wombat – und eine Zeit des trockenen Wetters am Ende des Pleistozän die Jagdmethoden durcheinanderbrachten und dem Überfluss ein Ende bereiteten, den er als materielle Vorbedingung für das Überleben des primitiven Kommunismus betrachtete. 1991 schrieb Knight, dass ein archäologischer Beweis seiner Hypothese noch aussteht. Seine eigenen Forschungen beschränken sich auf Australien. Auf jeden Fall hat es für uns den Anschein, dass dieses Problem ein weites Untersuchungsgebiet eröffnet, das es gestatten würde, die wahre Geschichte des längsten Zeitraums in der Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen: von unseren Ursprüngen bis zur Erfindung der Landwirtschaft.[24] [30]


Die kommunistische Zukunft

Wie kann das Studium der menschlichen Ursprünge unsere Auffassung über eine künftige kommunistische Gesellschaft verdeutlichen? Darmangeat sagt uns, dass der Kapitalismus die erste menschliche Gesellschaft sei, die es gestatte, sich ein Ende der geschlechtlichen Arbeitsteilung und die Gleichheit der Frauen vorzustellen – eine Gleichheit, die heute in einigen wenigen Ländern Gesetz geworden sei, die aber nirgendwo eine faktische Gleichheit sei: „… auch wenn der Kapitalismus das Los der Frauen an sich weder verbessert noch verschlimmert hat, ist er dennoch das erste System, das es ermöglicht hat, die Frage ihrer Gleichheit mit Männern zu stellen; und obwohl er sich als unfähig erwiesen hat, diese Gleichheit Wirklichkeit werden zu lassen, hat er dennoch die Elemente zusammengeführt, die sie realisieren werden.“[25] [30]

Zwei Kritiken erscheinen uns angebracht zu sein: Die erste ist, dass die immense Bedeutung der Integration der Frauen in die Welt der Lohnarbeit ignoriert wird. Trotz allem hat der Kapitalismus den Arbeiterfrauen zum ersten Mal in der Geschichte der Klassengesellschaften eine ganz reale materielle Unabhängigkeit von den Männer geschenkt und somit die Möglichkeit, auf Augenhöhe mit den Männern am Kampf für die Befreiung des Proletariats und somit der Menschheit in ihrer Gesamtheit teilzunehmen.

Die zweite Kritik betrifft den eigentlichen Gleichheitsbegriff. Dieser Begriff ist mit dem Brandzeichen der bürgerlichen Ideologie versehen, eine Hinterlassenschaft des Kapitalismus, und nicht das Ziel einer kommunistischen Gesellschaft, die im Gegenteil die Unterschiede zwischen den Individuen anerkennt und – um Marx‘ Ausdruck zu benutzen – auf ihre Fahnen schreibt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“[26] [30] Nun, außerhalb des Gebiets der Science Fiction haben Frauen sowohl eine Fähigkeit als auch ein Bedürfnis, die bzw. das die Männer niemals haben werden: zu gebären.[27] [30] Ohne diese Fähigkeit hätte die Menschheit keine Zukunft, doch sie ist auch eine körperliche Funktion und daher ein Bedürfnis für Frauen.[28] [30] Eine kommunistische Gesellschaft muss daher jeder Frau, die es wünscht, die Möglichkeit zu geben, mit Freude zu gebären, im Vertrauen darauf, dass ihr Kind in der menschlichen Gemeinschaft willkommen geheißen wird.

Hier können wir womöglich eine Parallele zur evolutionistischen Vision ziehen, die Knight unterbreitet. Proto-Frauen stießen den Evolutionsprozess in Richtung Homo sapiens und symbolischer Kultur an, weil sie ihre Kinder nicht mehr allein aufziehen konnten: Sie mussten die Männer dazu bringen, der Kindesaufzucht und der Erziehung der Jungen materielle Unterstützung zukommen zu lassen. Auf diese Weise führten sie das Prinzip der Solidarität unter Frauen, die von ihren Kinder in Anspruch genommen werden, unter Männern, die von der Jagd in Beschlag genommen werden, und zwischen Frauen und Männern, die gemeinsam ihre gesellschaftliche Verantwortung teilen, in die menschliche Gesellschaft ein.

Heute sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der der Kapitalismus uns immer mehr auf den Status atomisierter Individuen reduziert, worunter Kinder aufziehende Frauen am meisten leiden. Nicht nur, dass die „Herrschaft“ der kapitalistischen Gesellschaft die Familie auf ihren kleinsten Ausdruck (Mutter, Vater, Kinder) reduziert, die allgemeine Desintegration des sozialen Lebens bedeutet darüber hinaus, dass immer mehr Frauen sich in der misslichen Lage befinden, ihre sehr jungen Kinder allein aufzuziehen, und die Notwendigkeit, Arbeit zu finden, distanziert sie häufig von ihren eigenen Müttern, Schwestern oder Tanten, die einst das natürliche Unterstützungsnetzwerk für Frauen mit kleinen Kindern waren. Die „Welt der Arbeit“ ist mitleidlos gegenüber Frauen mit Kindern. Sie sind gezwungen, ihre Säuglinge nach bestenfalls ein paar Monaten abzustillen (abhängig vom verfügbaren Schwangerschaftsurlaub, wenn überhaupt) und sie einem Kindermädchen anzuvertrauen, oder sind – wenn sie arbeitslos sind – vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten und gezwungen, sich mittels äußerst begrenzter Ressourcen um ihre Babys zu kümmern.

In einem gewissen Sinn befinden sich Arbeiterinnen in einer Lage, die vergleichbar ist mit der ihrer fernen Vorfahren - nur eine Revolution kann ihre Situation verbessern. So wie die „Revolution“ es nach Knights Hypothese Frauen erlaubte, sich der sozialen Unterstützung erst durch andere Frauen, dann durch die Männer beim Gebären und bei der Erziehung ihrer Kinder zu versichern, so muss auch die kommende kommunistische Revolution die Unterstützung der Frauen bei ihrer Schwangerschaft und die kollektive Erziehung der Kinder in den Mittelpunkt stellen. Nur eine Gesellschaft, die ihren Kindern und ihrer Jugend einen privilegierten Platz einräumt, kann den Anspruch erheben, eine hoffnungsvolle Zukunft anzubieten: Von diesem Standpunkt aus kompromittiert sich der Kapitalismus allein durch die Tatsache, dass ein wachsender Teil seiner Jugend als „überzählig“ betrachtet wird.

Jens 


[1] [30]Editions Smolny, Toulouse 2009 und 2012. Wenn nicht anders festgestellt, sind die Zitate und Seitenangaben der ersten Edition entnommen.

[2] [30]Darmangeat stellt einige interessante Ideen über die gewachsene Bedeutung der physischen Kraft bei der Bestimmung der Geschlechterrollen nach der Erfindung der Landwirtschaft vor (das Pflügen zum Beispiel).

[3] [30]Darmangeat besteht zweifellos zu Recht  darauf, dass die Beteiligung an gesellschaftlicher Produktion eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für die Sicherstellung einer günstigen Umgebung für Frauen ist.

[4] [30]In dem Abschnitt „Die Familie“, MEW, Band 21, S. 68.

[5] [30]Bruce Trigger, Understanding early civilizations.

[6] [30]Knights Buch widmet ein Abschnitt der „männlichen Menstruation“ (S. 428). Ebenfalls verfügbar in PDF auf Knights Website.

[7] [30]„Der menschliche Geist hat seine Erfordernisse, von denen eines die Kohärenz ist“ (S. 319). Wir möchten hier nicht auf die Frage eingehen, woher diese Erfordernisse kommen und warum sie ihre besonderen Formen annehmen – Fragen, die Darmangeat unbeantwortet lässt.

[8] [30]Um eine leidenschaftliche, aber kritische Schilderung des Denkens von Lévi-Strauss zu erhalten, verweisen wir den Leser/die Leserin auf Knights Kapitel „Lévi-Strauss and ‚The Mind‘“.

[9] [30]C. Darmangeat, 2. Ausgabe, S. 214f.

[10] [30]Ebenda.

[11] [30]Merkwürdigerweise hebt Darmangeat selbst nur einige Seiten zuvor hervor, dass in bestimmten nordamerikanischen Indianergesellschaften unter bestimmten Bedingungen „Frauen alles tun konnten; sie meisterten die gesamte Bandbereite weiblicher und männlicher Aktivitäten“ (S. 314).

[12] [30]Siehe den Artikel über Patrick Torts L’Effet Darwin und Chris Knights Artikel über Solidarität und das egoistische Gen.

[13] [30]Vgl. „The great leap forward“ von Anthony Stigliani.

[14] [30]Bemerkenswerterweise ist das Wort für die Periode der Frauen in der deutschen, französischen, spanischen und englischen Sprache „die Regel“.

[15] [30]Dies ist ein Thema, das sich durch das gesamte Buch Darmangeats zieht. Siehe unter anderem das Beispiel der Huli in Neuguinea (S. 222, 2. Ausgabe).

[16] [30]Und besser noch: hat sich dabei verdient gemacht, die Theorie lesbar und zugänglich für den Laien zu machen.

[17] [30]Daher kommen wir, wenn Darmangeat uns erzählen will, dass Knights These „kein Wort über die Gründe verliert, warum es Frauen systematisch und vollkommen verboten wurde, zu jagen und Waffen zu bedienen“, nicht umhin, uns zu fragen, ob er das Buch bis zu seinem Schluss gelesen hat.

[18] [30]Siehe die Wikipedia-Artikel über Blombos Cave.

[19] [30]Siehe den Artikel in La Recherche: „Etonnants primitifs de Dmanisi“.

[20] [30]Siehe zum Beispiel Dunbar, The Human Story. Robin Dunbar erklärt die Evolution der Sprache mit dem Wachstum menschlicher Gruppen; Sprache erschien als eine weniger aufwändige Form der gegenseitigen Körperpflege, durch die unsere Primaten-Cousins ihre Freundschaften und Bündnisse aufrechterhalten. „Dunbars Zahl“ hat als die größte Zahl enger Beziehungen, die das menschliche Gehirn zu behalten in der Lage ist (ungefähr 150), Eingang in die anthropologische Theorie gefunden; Dunbar meint, dass dies die maximale Größe der ersten menschlichen Gruppen gewesen sei.

[21] [30]Die Hominini (der Zweig des evolutionären Stammbaums, zu dem die modernen Menschen gehören) trennte sich von den Panini (der Zweig, der Schimpansen und Bonobos umfasst) vor etwa sechs bis neun Millionen Jahren.

[22] [30]Vgl. „Menopause in non-human primates“, US-National Library of Medicine).

[23] [30]Siehe die Zusammenfassung der „Großmutter-Hypothese“.

[24] [30]Einiges ist bereits in dieser Richtung getan worden, in einem Land auf der anderen Seite der Erde, Australien, vom Anthropologen Lionel Sims in einem Artikel mit dem Titel „The ‚Solarisation‘ of the moon: manipulated knowledge at Stonehenge“, veröffentlicht in Cambridge Archaeological Journal, 16:2.

[25] [30]Darmangeat, ob.zit., S. 426.

[26] [30]Nicht umsonst schrieb Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm: „Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleich wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht.“

[27] [30]Einer der wenigen originellen Science Fiction-Autoren heute, Iain M. Banks, hat eine pan-galaktische Gesellschaft („The Culture“) geschaffen, die praktisch kommunistisch ist und in der Menschen eine solche Kontrolle über ihre hormonellen Funktionen erlangt haben, dass sie fähig sind, beliebig das Geschlecht zu wechseln und somit auch zu gebären.

[28] [30]Was natürlich nicht bedeutet, dass alle Frauen Kinder in die Welt setzen wollen, und noch weniger, dass sie dazu gezwungen werden sollten.


Theoretische Fragen: 

  • Religion [28]
  • Vorkapitalistische Gesellschaften [31]

Syrien: Hinter dem diplomatischen Spiel die Sackgasse eines mörderischen Systems

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Das abscheuliche Spektakel um die Ausstellung der Kinderleichen nach dem Giftgasangriff am 21. August am Rande Damaskus‘ hat die Führer der Welt, deren heuchlerische Reaktionen allein von ihren imperialistischen Interessen diktiert wurden, nicht wirklich bewegt. Der Einsatz von Giftgas auf beiden Seiten im Ersten Weltkrieg, die Freisetzung von chemischen Kampfstoffen in Vietnam und die Atombombe gegen Japan sind allesamt Beispiel dafür, dass unsere wunderbaren Demokratien nie gezögert hatten, Zuflucht bei den mörderischsten Waffen zu suchen. Die Regierungserklärungen sind umso heuchlerischer, waren doch die Bombardierung und Massakrierung der syrischen Bevölkerung, die über 100.000 Opfer seit Kriegsbeginn, die Flucht von Millionen Menschen vor dem Gemetzel bis heute keine „rote Linie“, was die Bourgeoisie angeht.

 

Eine Verschärfung der imperialistischen Spannungen

Es ist möglich, dass der Einsatz von Chemiewaffen eine syrisch-russische Provokation (Assad war im vergangenen Jahr mehrmals von Obama gewarnt worden, dass er diese „rote Linie“ nicht überschreiten dürfe) gegen rivalisierende Mächte, hauptsächlich die USA und Frankreich, war. Doch in jedem Fall war die „rote Linie“ nie mehr als ein mediengerechter Vorwand, um die „öffentliche Meinung“ auf eine eventuelle Militärintervention vorzubereiten. Angesichts der wachsenden Tragödie ist das Hin und Her zwischen etlichen Staaten nichts anderes als ein Gerangel um imperialistische Interessen, bei dem die Bevölkerung vor Ort keinerlei Bedeutung hat. Und es sind exakt die Beziehungen zwischen den rivalisierenden Mächten, die die Dauer des Konflikts und das grauenhafte Leiden der Zivilbevölkerung erklären. Nur zum Vergleich: andere Regimes, die, wie jenes in Libyen, vom „arabischen Frühling“ weggespült wurden, hielten nicht annähernd so lange, weil sie nicht im Fokus inter-imperialistischer Rivalitäten standen.

Russland gelang ein diplomatischer Coup, als es vorschlug, die Chemiewaffen Syriens unter „internationale Kontrolle“ zu stellen; dies löste hastige diplomatische Initiativen seitens seiner Rivalen aus, die jedoch nicht die Machtlosigkeit Letzterer und insbesondere der USA verbergen konnten. Doch wie immer diese jüngste Krise und die von den Regierungsministerien getroffenen Entscheidungen ausgehen und ob es eine direkte Militärintervention in Syrien geben wird oder nicht - wir sehen einen spektakulären Anstieg von kriegsähnlichen Spannungen vor dem Hintergrund zunehmenden Chaos‘, einer zunehmend unkontrollierbaren Lage, in der sich die bewaffneten Konflikte immer mehr verbreiten. Der Einsatz von Chemiewaffen bei etlichen Gelegenheiten, die Ausweitung des Konflikts auf den Libanon, die Präsenz aller Arten von Aasgeiern in der Region, von Katar und Saudi-Arabien bis zur Türkei und den Iran, dessen Verstrickungen in den Konflikt eine besondere Quelle der Besorgnis für Israel darstellen, sind alle ein Beleg dafür, dass der Konflikt bereits über die Grenzen Syriens geschwappt ist. Noch wichtiger ist die Präsenz der größeren imperialistischen Mächte; sie veranschaulicht die Stufe, die die imperialistischen Rivalitäten seit dem Ende des Kalten Krieges erreicht haben. So sehen wir zum ersten Mal seit 1989 eine größere politische Konfrontation zwischen den alten Blockführern USA und Russland. Obgleich sehr geschwächt durch die Auflösung des Ostblocks und der Sowjetunion, erlebt Russland ein Revival, nachdem es in den 1990er Jahren in Tschetschenien, Georgien und im Kaukasus eine Politik der verbrannten Erde betrieben hatte. Für Russland ist Syrien von vitaler Bedeutung, um seine Präsenz in der Region sicherzustellen, an seinen strategischen Verbindungen zum Iran zwecks Eindämmung des Einflusses der sunnitisch dominierten Republiken an seiner Südgrenze festzuhalten und einen Hafen im Mittelmeer aufrechtzuerhalten.

Das Ausmaß dieser Spannungen kann auch an der Tatsache abgelesen werden, dass China sich heute viel offener als in der Vergangenheit den USA entgegenstellt. Nachdem China während der Epoche der Blöcke dem russischen Einfluss entzogen und nach dem Deal mit Nixon bezüglich des Vietnam-Krieges vom amerikanischen Lager neutralisiert worden war, wird es nun zu einem Hauptkontrahenten, der die USA immer mehr Sorgen macht. Nach seinem kometenhaften Aufstieg auf wirtschaftlicher Ebene verschafft China auch seinen imperialistischen Interessen in Afrika, im Fernen Osten und dem Iran – einem Hauptziel, um seinen Zugang zu den Energiequellen sicherzustellen - Geltung. Als Spätankömmling ist China ein wichtiger Faktor bei der weiteren Destabilisierung der imperialistischen Beziehungen.

Die Stärkung dieser beiden Mächte war vor allem aufgrund der wachsenden offensichtlichen Schwächung und Isolation der USA ermöglicht worden, deren Versuche, die Rolle des Weltgendarmen zu spielen, in Afghanistan und im Irak völlig gescheitert sind. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie schwierig die Dinge für die USA geworden sind, wenn man ihre „Intervention“ in Syrien mit ihrer Rolle im ersten Golfkrieg 1991 vergleicht.  Indem sie Saddam Husseins Invasion in Kuwait als Vorwand dafür benutzt hatten, um ihre riesige militärische Überlegenheit zur Schau zu stellen, bildeten sie erfolgreich eine militärische „Koalition“, die eine Reihe von arabischen Ländern, aber auch die Hauptmitglieder des westlichen Blocks, die bereits versucht waren, sich nach der Auflösung des Ostblocks aus dem Griff der USA zu befreien, mit einbezog. Deutschland und Japan waren zwar militärisch nicht involviert, finanzierten aber das Abenteuer, während Großbritannien und Frankreich direkt zum Kampf „aufgerufen“ wurden. Gorbatschows marode UdSSR tat nichts, um Amerika im Weg zu stehen. Nur ein Jahrzehnt später, mit dem zweiten Golfkrieg, hatte es Amerika mit einer aktiven diplomatischen Gegenoffensive aus Deutschland, Frankreich und Russland zu tun. Und während sowohl bei der Invasion Afghanistans 2001 als auch bei der Invasion des Irak 2003 Amerika auf die loyale diplomatische und militärische Unterstützung durch Großbritanniens zählen konnte, war die Abtrünnigkeit Großbritanniens von der geplanten militärischen Intervention in Syrien der Schlüssel zur Entscheidung der Obama-Administration, die Intervention abzublasen und der diplomatischen Option zuzuhören, die von Moskau vorgestellt wurde. Die Abstimmung im Unterhaus gegen Camerons Ansinnen, eine militärische Intervention zu unterstützen, ist Zeugnis für die tiefe Spaltung in der britischen Bourgeoisie, die aus der Verwicklung des Landes im afghanischen und irakischen Schlamassel (1) herrührt, aber vor allem ist es eine Maßnahme , um den US-Einfluss zu schwächen. Die plötzliche Entdeckung, dass Frankreich, das weiterhin den Vorstoß zur Intervention unterstützte, Amerikas „ältester Verbündeter“ ist, sollte kein Anlass für die Illusion geben, dass Frankreich dabei ist, die Rolle des treuen Adjutanten zu übernehmen, die einst Großbritannien (ungeachtet seiner eigenen Ambitionen, nach einer unabhängigeren Rolle zu trachten)in den meisten imperialistischen Unternehmungen der USA seit Ende des Kalten Krieges gespielt hatte. Das Bündnis zwischen den USA und Frankreich ist schon aus amerikanischer Sicht von untergeordneter Bedeutung und somit nicht verlässlich. Wir können dem die diskreten Misstöne aus Deutschland hinzufügen, dessen stille Annäherung an Russland eine weitere Sorge für Washington darstellt.

Zurzeit des ersten Golfkriegs 1991 versprach Präsident Bush sen.  eine Neue Weltordnung, mit den USA als Marshall, der die Dinge nett und friedlich gestaltet. Was wir derzeit sehen, ist eine imperialistische Massenschlägerei, die die Welt in die Barbarei und ins Chaos drängt.

Die strategische Bedeutung Syriens

Im Zusammenhang mit diesem neuen Schlachtfeld ist Syrien eine sehr wichtige strategische Trophäe. Das moderne Syrien entstand im 20. Jahrhundert mit dem Niedergang des osmanischen Reiches. Im Ersten Weltkrieg mobilisierte Großbritannien syrische Truppen, weil es versprach, dass dem Land die Unabhängigkeit gewährt werden sollte, sobald der Krieg gewonnen  war. Das Ziel Großbritanniens war es natürlich, seine Kontrolle über die Region aufrechtzuerhalten. Doch bereits 1916, im Anschluss an das geheime Sykes-Picot-Abkommen, trat Großbritannien die Kontrolle über Syrien an Frankreich ab. Hauptziel dieser Übereinkunft war es, die Bestrebungen Deutschlands zu blockieren, das bereits mit dem Bau der Bagdad-Bahn beabsichtigte, „Konstantinopel und die militärischen Kleingebiete des türkischen Reiches in Kleinasien in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen“ (1). Heute ist Syrien wegen der Instabilität der traditionellen Seewege durch den Persischen Golf zu einer der Landwege für den Transport von Kohlenwasserstoff geworden. Sich durch einen Korridor an der Levante zum Mittelmeer (der auch für den Waffentransfer aus Russland genutzt wird) und im Osten gegenüber den ölproduzierenden Ländern öffnend, wird Syrien ein immer wichtigerer Faktor in der Politik dieser Region.

Die sich heute entwickelnden Spannungen sind zu einem großen Teil mit der historischen Bedeutung Syriens in der Region verknüpft. Sie werden auch angefeuert durch die Rolle, die Israel spielt, dessen Drohungen gegen Syrien und den Iran (3) eine weitere Quelle des Ungemachs für die großen imperialistischen Mächte sind. Regionalmächte wie Saudi-Arabien und Katar, die Hauptlieferanten für die Bewaffnung der „Rebellen“, sind tief verwickelt, während die Türkei danach strebt, ihre Interessen zu verteidigen, indem sie mit der Präsenz einer kurdischen Minderheit in Nordsyrien spielt.

Und es gibt auch eine Polarisierung rund um das schiitische Regime im Iran, das die strategische Erdölroute durch die Straße von Hormus kontrolliert. Dies ist aufs Engste verknüpft mit der Marinekonzentrierung in dem Gebiet, insbesondere der US-Flotte. Es erklärt auch das Festhalten des Iran an sein Atomprogramm, das Putin provokanterweise unterstützt, indem er zur „Hilfe beim Aufbau eines Kernkraftwerkes“ aufruft.

Weiter in Richtung eines beispiellosen Chaos‘

Bis jetzt ist das blutbesudelte Assad-Regime von allen imperialistischen Mächten als jemand angesehen worden, der eine gewisse Stabilität und Kalkulierbarkeit sicherstellte, als das geringere Übel. Heute gibt es, falls die syrische Opposition an die Spitze gelangt, keinen Zweifel daran, dass es eine Kettenreaktion geben würde, die zu einem beispiellosen Chaos und aller Arten von unkalkulierbaren Szenarien führen würde. Die Freie Syrische Armee ist ein wahres Flickwerk; es gibt keine wirklich vereinte Opposition. Dieses schwache politische Konglomerat ist trotz der diskreten Unterstützung der pro-amerikanischen und pro-europäischen Kräfte, denen eine Versorgung mit Waffen zugesichert wurde - ohne jegliche Gewähr, ihre Zirkulation zu kontrollieren -, von terroristischen Dschihadgruppen infiltriert oder flankiert worden, von denen viele von außerhalb Syriens kommen und die im eigenen Interesse handeln, wie die Warlords, die heute in Afrika wie Pilze aus dem Boden schießen. Es gibt so gut wie keine Möglichkeit für die Westmächte, sich auf eine reale Opposition zu verlassen, die eine Alternative zum Regime anbieten kann.

Dies ist ein breiteres Phänomen, das wir auch in all den anderen arabischen Ländern sehen können, die sich im Arabischen Frühling ähnlicher Ereignisse gegensahen: keine wirkliche bürgerliche Opposition, die in der Lage wäre, eine „demokratische Alternative“ und ein Minimum an Stabilität anzubieten. All diese Regimes waren nur dank der Macht der Armee in der Lage gewesen zu überleben, die versucht hatte, die zahllosen Clans der herrschenden Klasse zusammenzuhalten und das Auseinanderfallen der Gesellschaft zu verhindern. Wir sahen dies in Libyen und erst kürzlich in Ägypten, wo die Armee einen Staatsstreich gegen Mursi und die Muslimbruderschaft anzettelte. All dies ist der Ausdruck einer ganz realen Sackgasse, typisch für die kapitalistische Dekadenz und insbesondere ihrer finalen Phase des Zerfalls, wo alles, was in der Wirtschaftskrise angeboten werden kann, Armut, die rohe Gewalt der Armee, Repression und Blutvergießen ist.

Und diese Situation ist umso beunruhigender, nährt sie doch die religiösen Spaltungen, die in diesem Teil der Welt zu den schärfsten zählen: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, Schiiten und Sunniten, zwischen Muslimen und Juden, zwischen Muslimen und Drusen, etc. Ohne direkt an der Wurzel der Konflikte in der Region zu sitzen, vertiefen diese Risse den Hass und die Feindseligkeiten in einer Gesellschaft ohne Zukunft. Dies ist auch eine Region, die in der Vergangenheit von zahllosen Genoziden, wie den Völkermord an den Armeniern, von Kolonialmassakern geprägt wurde, welche ein Vermächtnis des Hasses hinterlassen haben, was seinerseits als Quelle neuer Massaker dient. Insbesondere Syrien befindet sich im Fokus dieser Spaltungen (Alawiten/Sunniten, Muslime/Christen, etc.); unter der Oberfläche des Krieges hat es mit dem Einströmen fanatischer Dschihadisten, einige von ihnen gestützt von Saudi-Arabien, zahllose Fälle von Pogromen gegen diese oder jene Gemeinschaft gegeben, was die Lage noch weiter verschlechterte.

Die Katastrophe ist umso ernster, als die USA, eine militärische Supermacht im Niedergang, die Speerspitze beim Abstieg ins Chaos sind. Sie haben sich vom Weltgendarmen zum pyromanischen Feuerwehrmann gewandelt. 2008, als Obama über Bush jun. triumphierte, geschah dies zu einem Gutteil aufgrund seines Images als Alternative zum unpopulären Kriegstreiber Bush. Doch nun hat sich der Friedensnobelpreisträger Obama selbst als nicht weniger kriegstreiberisch gezeigt, trotz seiner Talente als ein Politiker, etwas, was seinem Vorgänger abging. Obama verliert immer mehr seine Glaubwürdigkeit. Er hat es mit einer öffentlichen Meinung zu tun, die sich in wachsendem Maße gegen den Krieg sträubt, die immer mehr vom Vietnam-Syndrom erfasst wird, während er sich gleichzeitig einer unerträglichen Wirtschaftskrise gegenübersieht, die es immer schwieriger macht , Geld für militärische Kreuzzüge zu verschwenden. Für den Moment kann der Rückzieher der USA von einer Bestrafung des Assad-Regimes mit Militärschlägen unter Berufung auf die realen geostrategischen Schwierigkeiten erklärt werden, doch dies hat Washington dazu geführt, Zuflucht in neuen Verdrehungen zu suchen, wie die heuchlerische und lächerliche Unterscheidung zwischen „Chemiewaffen“ und „Waffen, die lediglich chemische Komponenten beinhalten“. Was für ein Unterschied!

Mit der wachsenden Anzahl von derlei Zwangslagen haben die Mystifikationen, die dazu dienten, die militärischen Kreuzzüge in den 1990er Jahren zu rechtfertigen – „sauberer Krieg“, „humanitäre Intervention“, etc. – ihre Wirkung verloren. Die USA sehen sich einem wirklichen Dilemma gegenüber, das ihre Glaubwürdigkeit bei den Verbündeten untergräbt, besonders bei Israel, das immer kritischer gegenüber den Amerikanern geworden ist. Das Dilemma ist: Entweder tun die USA nichts, was lediglich ihre Rivalen zu neuen Konfrontationen ermutigen kann; oder sie schlagen los, was nur die Feindschaft und die Ressentiments gegen sie steigern kann. Was sicher ist, ist, dass sie wie all die anderen imperialistischen Mächte nicht der Logik des Militarismus entkommen können. Letztendlich können sie sich nicht aus neuen militärischen Kampagnen heraushalten.

Die einzige Alternative: Sozialismus oder Barbarei

Die teuflische Spirale dieser militärischen Konflikte wirft einmal mehr ein Licht auf die Verantwortung des internationalen Proletariats. Selbst wenn es sich nicht einer Position befindet, in der es Einfluss auf die militärische Barbarei ausüben könnte, ist es dennoch die einzige historische Kraft, die dieser Barbarei durch seinen revolutionären Kampf ein Ende bereiten kann. Das Proletariat in Syrien ist angesichts der Ereignisse und der Tatsache, dass es vom offenen bewaffneten Konflikt überwältigt wurde, zu schwach, als dass es in der Lage sein könnte, auf den Krieg auf seinem eigenen Klassenterrain zu antworten. Wie wir bereits betont haben, „ist die Tatsache, dass die Manifestation des ‚Arabischen Frühlings‘ in Syrien nicht den geringsten Fortschritt für die unterdrückten und ausgebeuteten Massen gebracht hat, sondern in einen Krieg gemündet ist, der über 100.000 Tote hinterlassen hat, eine düstere Veranschaulichung für die Schwäche der Arbeiterklasse in diesem Land – der einzigen Kraft, die eine Barriere gegen die militärische Barbarei bilden kann. Und die Situation trifft auch - wenn auch in weniger tragischen Formen – auf die anderen arabischen Länder zu, wo der Sturz der alten Diktatoren in der Machtergreifung durch die rückständigsten Sektoren der Bourgeoisie, repräsentiert durch die Islamisten in Ägypten oder in der Türkei, oder in äußerstes Chaos, wie in Libyen, mündete.“  (4)

Heute bestätigt der der Ereignisse völlig die Perspektive, die Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre vorgestellt hatte:

„Friedrich Engels sagte einmal: Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein ‚Rückfall in die Barbarei‘ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in  diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d.h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluß in die Waagschale wirft.“

 

WH, September 2013

 

 

(1)    Rohrbach, Der Krieg und die deutsche Politik, zitiert von Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre, Kapitel  4.

(2)    Israel hat faktisch dem Iran wegen dessen Nuklearpolitik mehrere Ultimaten gestellt, während es sich noch im Streit mit den Syrern wegen der Golan-Höhen befindet.

Resolution über die internationale Lage, 20. Kongress der IKS

Aktuelles und Laufendes: 

  • Syrien [32]
  • Giftgas [33]
  • Golfkriege [34]

Leute: 

  • Obama [35]
  • Assad [36]
  • Cameron [37]
  • Putin [38]

Historische Ereignisse: 

  • Sykes-Picot-Abkommen [39]

Wahlen in Deutschland - Die Bourgeoisie bereitet sich auf die kommenden Stürme vor

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Die Bourgeoisie bereitet sich auf die kommenden Stürme vor


Im Anschluss an die Bundestagswahlen vom 22. September 2013 in Deutschland verhandelt nun die Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihres Zeichens Vorsitzende der Christdemokraten, mit den Sozialdemokraten über die Bildung einer „Großen Koalition“. Die neue Regierung wird die dritte hintereinander sein, in der Merkel Bundeskanzlerin ist. Die erste war ebenfalls eine „Große Koalition“ mit der zweitgrößten Partei im Bundestag, die SPD. Die zweite war eine Koalition mit dem kleinen liberalen Partner, der FDP. Eines der Ergebnisse der jüngsten Wahlen war, dass Merkel ihren Koalitionspartner verloren hat. Zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterten die Liberalen an der Fünfprozenthürde und zogen nicht in den Bundestag ein. Als diese Zeilen verfasst wurden, schien die Bildung einer Koalition der CDU/CSU mit der SPD der weitaus wahrscheinlichste Ausgang zu sein. Der Verlauf der Verhandlungen zwischen diesen beiden Parteien deutet bereits an, dass, obwohl die Christdemokraten einen viel größeren Anteil an den Parlamentssitzen besitzt, die neue Koalition mit der SPD, so sie denn zu Stande kommt, die „Handschrift der Sozialdemokraten“ tragen wird, wie die Medien bereits erklärt haben. Mit anderen Worten: das Programm der neuen Regierung wird nicht darin bestehen, die Arbeiterklasse unmittelbar und frontal zu attackieren, obgleich massive Angriffe auf die Dauer nicht ausbleiben werden.

Das bemerkenswerteste Resultat der jüngsten Wahlen war jedoch die Tatsache, dass die Kanzlerin und ihre Partei, die das Land bereits zwei Legislaturperioden lang regiert haben, solch einen Wahltriumph feiern konnten. In einem Land, das seit Kriegsende (bis auf eine Ausnahme) stets von Koalitionsregierungen regiert wurde, kam Merkel einer absoluten Mehrheit sehr nahe – für Deutschland eine Sensation. Dies ist umso bemerkenswerter, als in den meisten anderen Ländern Europas die wirtschaftliche Lage so ernst und die Notwendigkeit, die Bevölkerung zu attackieren, so akut ist, dass jede Regierung, ob links oder rechts, es riskiert, ihre Popularität oder gar ihre Glaubwürdigkeit rapide einzubüßen und somit bei den nächsten Wahlen prompt in die Opposition zurückgeschickt zu werden. Dies ist zumindest die Form, die das soziale Sicherheitsventil der kapitalistischen Demokratie gegenwärtig in Europa annimmt: Die Wut der Bevölkerung wird in einer „Protestwahl“ kanalisiert und neutralisiert, was für die „politische Klasse“ die Konsequenz hat, dass eine längere Kontinuität der jeweiligen Regierungsmannschaft immer unwahrscheinlicher wird. Ein dramatisches Beispiel dieser Entwicklung ist Frankreich, wo die linke Regierung von Francois Hollande, vor nicht allzu langer Zeit von den Medien als die neue Hoffnung für die arbeitende Bevölkerung gefeiert, nach nur einem Jahr im Amt ein Allzeit-Tief in der öffentlichen Gunst erreicht hat. Doch was wir in Deutschland sehen, ist eine entgegengesetzte Entwicklung, zumindest für den Moment. Die Frage ist: Wie kann man dies erklären?


Merkel profitiert von den Hinterlassenschaften der Schröder-Regierung

Das vielleicht wichtigste „Erfolgsgeheimnis“ für die anhaltende Stärke Angela Merkels an der Wahlurne liegt in der Tatsache begründet, dass es in ihrer Kanzlerschaft noch nicht notwendig war, die Bevölkerung massiv anzugreifen. Und einer der Gründe dafür ist, dass ihr Vorgänger, Kanzler Gerhard Schröder, und seine linke Koalition von SPD und Grünen dies bereits so erfolgreich taten, dass Merkel immer noch von ihren Früchten zehrt. Schröders so genannte „Agenda 2010“, die Anfang der Nuller Jahre in Gang gesetzt worden war, war ein riesiger Erfolg aus der Sicht des Kapitals. Mithilfe dieser Agenda gelang es, die allgemeinen Lohnkosten des Landes so radikal zu reduzieren, dass seine Hauptrivalen in Europa, wie Frankreich, in aller Öffentlichkeit gegen dieses „Lohndumping“ der führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents protestierten. Es gelang ebenfalls, eine ohnehin beispiellose „Flexibilisierung“ der Arbeitskraft noch weiter zu intensivieren, insbesondere durch einen atemberaubenden Ausbau der „prekären Beschäftigungsverhältnisse“ nicht nur in den traditionellen Niedriglohnsektoren, sondern auch im Herzen der Industrie. Zum dritten (und dies war nicht die geringste Leistung Schröders) wurde all dies durch einen Angriff erreicht, der äußerst massiv, aber nicht allumfassend war. Mit anderen Worten, statt das Proletariat in seiner Gesamtheit anzugreifen, waren die Maßnahmen der Agenda dazu bestimmt, eine tiefe Spaltung innerhalb der Klasse zu bewirken, eine Spaltung zwischen den beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter/-Innen, zwischen Arbeiter/-Innen mit regulären Arbeitsverträgen und jenen ohne solche Verträge. In den Großbetrieben wurde ein wahrhaftiges Apartheidsystem zwischen den festangestellten und den auf Zeit angestellten Arbeiter/-Innen errichtet, die für denselben Job den halben oder gar nur ein Drittel des Lohnes der Festangestellten erhalten und denen es in einigen Fällen nicht einmal gestattet wird, die Firmenkantine aufzusuchen. Infolgedessen befand sich Merkel, während in vielen anderen europäischen Ländern solche massiven Angriffe ohne größere Vorausplanung unter den Hammerschlägen der so genannten Weltfinanzkrise ab 2008 durchgeführt werden mussten, in der komfortablen Situation, dass in Deutschland diese Maßnahmen bereits installiert sind und nun für das Kapital Früchte tragen.

Eine andere Besonderheit auf dieser Ebene besteht darin, dass die Angriffe in Deutschland nicht zum Beispiel von einer der berüchtigten neo-liberalen „Denkfabriken“ ausgeheckt wurden, sondern zuvorderst von den Gewerkschaften. Die „Agenda 2010“ wurde von einer Kommission ausgearbeitet, die von Peter Hartz, einem Freund Schröders im Volkswagen-Konzern, unter direkter Beteiligung des Betriebsrates von Volkswagen und der IG Metall, der mächtigsten Gewerkschaft in Europa, geleitet wurde, die (wie viele Arbeitgeber öffentlich zugegeben haben) mehr über erfolgreiches Management als die Manager verstehen. Kein Wunder, dass heute die Mehrheit der deutschen Bourgeoisie, einschließlich der Unternehmerverbände, darauf erpicht ist, dass die Sozialdemokraten (und mit ihnen die Gewerkschaften) mit Merkel zusammen eine Koalitionsregierung bilden. Und kein Wunder, dass sich Merkel nach dem Verlust ihres liberalen Koalitionspartners derzeit immer mehr von der Ideologie des Neo-Liberalismus distanziert und das Loblied auf das „gute alte“ deutsche Modell der angeblichen „sozialen Marktwirtschaft“ (wo die Gewerkschaften direkt daran beteiligt sind, das Land zu leiten) anstimmt und selbst die Ausweitung dieses „Modells“ auf den Rest Europas befürwortet.


Die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals

Ein weiterer Grund für diese „Erfolgsgeschichte“ Angela Merkels liegt in der ausgesprochenen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wenn dieser Wettbewerbsvorsprung allein auf dem oben erwähnten Lohndumping beruhte, würde er nun angesichts der drastischen Angriffe anderswo in Europa in jüngster Zeit dahinschmelzen. Doch in Wahrheit besitzt er eine viel breitere Grundlage in der ökonomischen Struktur des Landes selbst. Es besteht die Gefahr, dass Marxisten, konfrontiert mit der abstrakten Funktionsweise des Kapitals, sich von diesem abstrakten Charakter fesseln lassen und so dem Eindruck erliegen, dass die relative Stärke oder Schwäche eines nationalen Kapitals allein von abstrakten Kriterien wie die Entwicklung der organischen Zusammensetzung des Kapitals oder die Verschuldungsrate im Verhältnis zum BSP etc. abhängt. Dies führt zu einer rein schematischen Sichtweise der kapitalistischen Ökonomie, in der politische, historische, kulturelle, geographische, militärische und andere Faktoren aus dem Blickfeld verschwinden. Zum Beispiel, wenn man auf die Wachstumsraten oder auf das Schuldenniveau der USA schaut und es mit China vergleicht, kommt man unweigerlich zur Schlussfolgerung, dass Amerika das Rennen gegen seinen asiatischen Herausforderer bereits verloren hat und in einer Art Drittwelt-Status enden wird. Doch wird dabei übersehen, dass die USA noch immer das kapitalistische Paradies für innovative „Startups“ ist, dass es kein Zufall ist, dass das Zentrum der neuen Medien die Vereinigten Staaten sind und dass die politische Kultur eines Landes unter stalinistischer Leitung, wie China, es daran hindert, seinem Rivalen nachzueifern.

In ihrer Polemik gegen den Revisionisten Bernstein erklärte Rosa Luxemburg (in ihrem Buch „Reform oder Revolution“), dass die von Karl Marx entdeckten „Gesetze“, die eine wachsende organische Zusammensetzung und Zentralisierung des Kapitals betreffen, nicht das notwendige Verschwinden der mittelständischen Unternehmen bedeuten. Im Gegenteil, erklärt sie, bleiben solche kleineren Betriebe notwendigerweise das Zentrum der technischen Erneuerung, die sich im Mittelpunkt eines Wirtschaftssystems befinden, welches auf Konkurrenz und der Verpflichtung zur Akkumulation basiert. Deutschland ist kein Paradies für kapitalistische Startups wie die Vereinigten Staaten (allein das Schwergewicht seiner bürokratischen Traditionen verbietet dies). Doch es bleibt bis heute das Mekka des weltweiten Ingenieurswesens und der Maschinenbauindustrie. Diese Stärke beruht auf hoch spezialisierte, oftmals in Familienbesitz befindliche Firmen, die ihre Fertigkeiten von Generation zu Generation weiterreichen und – dank eines in der Welt einmaligen Ausbildungssystems – auf ein Reservoir hochqualifizierter Arbeitskräfte sowie auf Traditionen, die bis ins Mittelalter zurückreichen. In den vergangenen 20 Jahren sind diese kleinen und mittleren Maschinenbauunternehmen in einer koordinierten Operation zwischen den Unternehmerverbänden, der Regierung, den Banken und den Gewerkschaften in weltweit operierende Unternehmen umgewandelt worden, ohne zwangsläufig ihre Größe zu steigern. Doch ihre Operationsbasis bleibt Deutschland. Auch hier ist die Signatur der Gewerkschaften unverkennbar. Während einem Arbeitgeber es gleichgültig ist, ob die Profite aus einer Fabrik in Deutschland oder im Ausland kommen, solange es Profite gibt, ist das Denken der Gewerkschaften fast instinktiv nationalistisch, da es ihre vorrangige Aufgabe ist, die Arbeitskraft in Deutschland selbst im Interesse des Kapitals zu kontrollieren, und dies kann am besten getan werden, indem die Industrie und die Jobs „zuhause“ gehalten werden. Die IG Metall ist ein fanatischer Vertreter Deutschlands als Industriestandort („Standort Deutschland“).


Staatskapitalismus und der Unterschied zu 1929

All dies hilft bei der Erklärung, warum Deutschland zumindest derzeit besser als die meisten seiner Rivalen in der Lage ist, der fürchterlichen Vertiefung der Wirtschaftskrise des Kapitalismus seit 2008 zu widerstehen. Jedoch würde keiner dieser Vorteile viel helfen, wenn sich die Struktur der kapitalistischen Ökonomie seit den Tagen der fürchterlichen Depression, die 1929 begann und im Zweiten Weltkrieg endete, nicht radikal verändert hätte. Damals waren die Herzländer des Kapitalismus, die damals am höchsten entwickelten Länder Deutschland und die Vereinigten Staaten, als erste getroffen und am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen worden. Dies war kein Zufall. Die Krisen des dekadenten Kapitalismus sind nicht mehr Expansionskrisen, sie sind Krisen des Systems als solches, die sich in seiner Mitte entwickeln und natürlich die Zentren direkt heimsuchen. Doch im Gegensatz zu 1929 ist die Bourgeoisie heute nicht nur viel erfahrener, sie hat vor allen Dingen einen gigantischen staatskapitalistischen Apparat zur Verfügung, der Wirtschaftskrisen zwar nicht verhindern kann, der jedoch vermeiden kann, dass die Krise ihren natürlichen Verlauf nimmt. Hauptsächlich deshalb sind seit der Wiederkehr der offenen Krise der kapitalistischen Dekadenz Ende der 1960er Jahre die wirtschaftlich und politisch stärksten Staaten am besten in der Lage gewesen, der Krise zu widerstehen. Nichts von dem hindert die Krise sowohl daran, sich den historischen Zentren des Kapitalismus immer weiter anzunähern, als auch daran, diese Zentren viel ernster zu erfassen. Doch dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass es dort in naher Zukunft einen einseitigen ökonomischen Zusammenbruch wie in Deutschland oder den USA 1929 geben wird. Jedenfalls demonstriert das internationale und europäische Krisenmanagement der „Euro-Krise“ in den letzten Jahren deutlich, dass die staatskapitalistischen Mechanismen, die schlimmsten Auswirkungen auf die schwächeren Rivalen abzuwälzen, immer noch funktionieren. Sowohl die Immobilien- und Finanzkrise, die 2007/08 begann, als auch die Krise des Vertrauens in die gemeinsame europäische Währung, die ihr folgte, bedrohten direkt die Stabilität des deutschen und französischen Banken- und Finanzsektors. Das Hauptergebnis der verschiedenen europäischen Rettungsoperationen, all der Gelder, die so „generös“ Griechenland, Irland, Portugal, etc. geliehen wurden, war die Stützung der deutschen und französischen Interessen auf Kosten der schwächeren Rivalen, mit dem Nebeneffekt, dass die Arbeiter/-Innen jener Länder die Hauptlast dieser Angriffe tragen mussten. Und während die Gründe, die wir zu Beginn dieses Artikels angaben, um den Wahlerfolg von Merkel zu erklären, nicht ihr zuzuschreiben sind, waren es in dieser Frage sicherlich Merkel und ihr Finanzminister Schäuble, die die deutschen Interessen mit Zähnen und Klauen verteidigten, so dass die europäischen Partner häufig an den Rand der Verzweiflung getrieben wurden. Und hier wird klar, dass es hinter dem hohen Stimmenanteil für Merkel einen nationalistischen Impuls gibt, der sehr gefährlich für die Arbeiterklasse ist.


Die deutsche Bourgeoisie übernimmt Verantwortung

Es gibt objektive Gründe, die den Wahltriumph von Angela Merkel zu erklären helfen: der zumindest derzeit relativ erfolgreiche Widerstand Deutschlands gegen die Vertiefung der historischen Krise und der relative Erfolg Merkels jüngst bei der Verteidigung deutscher Interessen in Europa. Doch der wichtigste Einzelgrund für ihren Erfolg war, dass die gesamte deutsche Bourgeoisie ihren Erfolg wünschte und alles tat, ihn zu fördern. Die Gründe hierfür liegen nicht in Deutschland selbst, sondern in der Weltlage insgesamt, die immer bedrohlicher wird. Auf der ökonomischen Ebene sind die Krise der europäischen Ökonomie und das schwankende Vertrauen in den Euro alles andere als vorbei – das Schlimmste steht erst bevor. Daher ist das Phänomen von „Mutti Merkel“, der „weisen und fürsorglichen Mutter“ derzeit so wichtig. Laut einer beliebten Denkschule innerhalb der modernen bürgerlichen Wirtschafts-„Theorie“ ist die Ökonomie in hohem Grad eine Frage der „Psychologie“. Sie sagen „Ökonomie“ und meinen Kapitalismus. Sie sagen „Psychologie“ und meinen Religion, oder sollten wir sagen: Aberglauben? Im ersten Band des Kapital erklärt Marx, dass der Kapitalismus „bis zu einem wichtigen Ausmaß“ auf den Glauben in die magische Kraft von Personen und Objekten (Waren, Geld) basiert, denen rein eingebildete Fähigkeiten zugesprochen werden. Heute beruht das Vertrauen der internationalen Märkte in den Euro hauptsächlich auf den Glauben, dass die Einbeziehung „der Deutschen“ irgendwie eine Garantie dafür ist, dass alles gut werden wird. Mutti Merkel ist zu einem weltweiten Fetisch geworden. Das Problem der gemeinsamen europäischen Währung ist kein Randproblem, sondern absolut zentral, sowohl ökonomisch als auch politisch. Im Kapitalismus beruht das Vertrauen zwischen den Akteuren, ohne das eine Gesellschaft mit einem Minimum an Stabilität unmöglich wird, nicht mehr auf das gegenseitige Vertrauen zwischen den menschlichen Individuen, sondern nimmt die abstrakte Form des Geldvertrauens, des Vertrauens in die herrschende Währung an. Die deutsche Bourgeoisie weiß aus eigener Erfahrung mit der Hyperinflation 1923, dass der Kollaps einer Währung die Basis für Ausbrüche unkontrollierbarer Instabilität und des Irrsinns legt. Aber es gibt auch eine politische Dimension. Hier ist Berlin äußerst besorgt über die langfristige Entwicklung sozialer Unzufriedenheit in Europa und über die unmittelbare Lage in Frankreich. Sie ist alarmiert wegen der Unfähigkeit der Bourgeoisie auf der anderen Seite des Rheins, mit ihren wirtschaftlichen und politischen Problemen zu Rande zu kommen. Und sie macht sich Sorgen wegen der Aussichten auf gesellschaftlicher Unruhe in jenem Land, da die Arbeiterklasse in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten einen besonderen Respekt gegenüber dem französischen Proletariat entwickelt hat und dazu neigt, ihm die Führung des Kampfes in den Schoß zu legen.

In vollem Bewusstsein für ihre internationale Verantwortung hat die deutsche Bourgeoisie heute, mit den Resultaten der jüngsten Wahlen im Rücken, eine Regierung gewählt, die Stärke, Stabilität und Kontinuität verkörpert und symbolisiert und mit der sie hofft, sich den kommenden Stürmen erfolgreich zu stellen.

Weltrevolution 4. November 2013

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