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Internationale Revue 51

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20. Kongress der IKS: Bericht über die imperialistischen Spannungen

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Seit Ende der 1980er Jahre weist die IKS auf das Eintreten des Kapitalismus in seine Zerfallsphase hin: „In solch einer Situation, in der die beiden grundlegenden und sich entgegengesetzten Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne gleichzeitig ihre jeweils eigene Antwort durchsetzen zu können, bleibt die Geschichte aber nicht stehen. Viel weniger noch als bei den anderen vorhergehenden Produktionsformen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein 'Einfrieren' des gesellschaftlichen Lebens nicht möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich nur noch zuspitzen, bewirkt die Unfähigkeit der Bourgeoisie, irgendeine Perspektive für die gesamte Gesellschaft  anzubieten und die Unfähigkeit des Proletariats, seine eigene Perspektive durchzusetzen, dass es zur Bildung dieses Phänomens des allgemeinen Zerfalls der Gesellschaft kommt, ihres Verfaulens auf der Stelle." (Internationale Revue Nr. 13, 1991: Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft)

Das Auseinanderfallen des Ostblocks 1989 hatte in dramatischer Weise ein Auseinanderbrechen der verschiedenen gesellschaftlichen Komponenten in ein „Jeder-gegen-Jeden" und eine Verstärkung des Chaos zur Folge. Wenn es ein Gebiet gab, in dem sich diese Entwicklung sofort zeigte, so waren das die imperialistischen Spannungen: "Das Ende des „Kalten Krieges" und das Verschwinden der Blöcke hat die Entfaltung der imperialistischen Widersprüche, die typisch ist für die kapitalistische Dekadenz, nur noch verstärkt und ein qualitativ neues blutiges Chaos hervorgebracht, in das die ganze Gesellschaft versinkt." (9. Kongress der IKS: Resolution über die internationale Lage, Punkt 6, International Review Nr. 67, 1991, engl./franz./span. Ausgabe) Zwei Charakteristiken der imperialistischen Zusammenstöße in der Periode des Zerfalls wurden dort hervorgehoben:

a) Die Irrationalität der Konflikte ist ein typisches Merkmal der Kriege in der Periode des Zerfalls. „Wenn der Golfkrieg ein Beispiel für die Irrationalität des gesamten dekadenten Kapitalismus ist, so stellt er überdies ein zusätzliches und bedeutendes Ereignis der Irrationalität dar, das aufzeigt wie dieses System in seine Zerfallsphase eingetreten ist. Die anderen Kriege in der Dekadenz des Kapitalismus hatten, trotz ihrer grundsätzlichen Irrationalität, noch den Anschein von „nachvollziehbaren" Zielen (wie zum Beispiel die Suche nach „Lebensraum" für die deutsche Wirtschaft oder die Verteidigung der imperialistischen Position der Alliierten im Zweiten Weltkrieg). Doch für den Golfkrieg gilt das alles nicht mehr. Die Ziele, die dabei formuliert wurden, auf welcher Kriegsseite auch immer, drücken nur die totale und verzweifelte Sackgasse des Kapitalismus aus." (International Review Nr. 67 (engl./frz./span. Ausgabe), 1991, 9. Kongress der IKS, Berichte über die internationale Lage)

b) Die Rolle, welche die dominierende imperialistische Macht, die USA, bei der weltweiten Ausbreitung des Chaos spielt: „Der Unterschied zur Vergangenheit ist bedeutend, denn heute ist es nicht mehr eine zu kurz gekommene imperialistische Macht, die den imperialistischen Kuchen neu aufteilen will und eine militärische Offensive startet. (...) Die Tatsache, dass heute die Aufrechterhaltung der „Weltordnung" nicht mehr durch eine „defensive" (...) Haltung der führenden Großmacht geschieht, sondern durch die immer systematischere Anwendung der militärischen Offensive, sowie durch Destabilisierungsaktionen einer ganzen Region, ohne sich mit den anderen Mächten abzusprechen, drückt das zunehmende Abgleiten des dekadenten Kapitalismus in einen entfesselten Militarismus aus. Genau dies ist typisch für die Phase des Zerfalls und unterscheidet sie von den vorangegangenen Phasen des Kapitalismus (...)." (International Review Nr. 67 (engl./frz./span. Ausgabe), 1991, 9. Kongress der IKS, Berichte über die internationale Lage)

Diese Charakteristiken fördern das Chaos, welches sich nach dem Attentat vom 11. September 2001 und den Kriegen im Irak und in Afghanistan, die darauf folgten, zugespitzt hat. Der Bericht für den 19. Kongress der IKS hatte genau diese zehn Jahre des „Krieges gegen den Terror" und ihre Auswirkung auf die generelle Verstärkung der imperialistischen Spannungen, das „Jeder für sich", und die Situation der amerikanischen Vorherrschaft thematisiert. Er hob vier Hauptlinien der Entwicklung der imperialistischen Konfrontationen hervor:

a) Die Verschärfung des „Jeder für sich", welche sich durch eine Vielzahl neuer imperialistischer Ambitionen zeigte, führte vor allem in Asien zu vermehrten Spannungen rund um die wirtschaftliche und militärische Expansion Chinas. Trotz einer beeindruckenden wirtschaftlichen Expansion, eines Ausbaus der militärischen Macht und einer spürbareren Präsenz in imperialistischen Konflikten verfügt China nicht über die industriellen und technologischen Kapazitäten, um sich als Blockführer aufzuschwingen und die USA auf Weltebene herauszufordern.

b) Die zunehmende Sackgasse der Politik der USA und ihre Flucht in eine kriegerische Barbarei. Das Fiasko der Interventionen im Irak und in Afghanistan hat die Position der USA als Weltpolizist geschwächt. Auch wenn die amerikanische Bourgeoisie unter Obama, die eine Politik des kontrollierten Rückzugs aus dem Irak und aus Afghanistan eingeschlagen hat, die Auswirkungen der katastrophalen Politik unter Bush eindämmen konnte, so konnte sie die generelle Dynamik nicht umdrehen. Ihre Flucht nach vorne in die kriegerische Barbarei geht weiter. Die Exekution von Bin Laden war ein Zeichen, dass die USA versucht, auf ihre schwindende Vorherschaft zu reagieren, und sollte ihre militärische und technologische Überlegenheit beweisen. Doch dieser Coup stellt die Tendenz zur Schwächung der Position der USA nicht in Frage. Ganz im Gegenteil beschleunigte die Hinrichtung Bin Ladens die Destabilisierung Pakistans und die Ausbreitung des Krieges. Auch die ideologische Basis für den „Krieg gegen den Terrorismus" ist wackliger denn je geworden.

c) Eine Tendenz der Ausbreitung permanent instabiler und chaotischer Zonen auf der ganzen Welt, wie in Afghanistan und Afrika, welche sogar von bürgerlichen Experten wie dem Franzosen Jaques Attali als „Somalisierung" der Welt bezeichnet wird.

d) Das Fehlen eines autonamischen und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Zuspitzung der Krise und den imperialistischen Spannungen, auch wenn es da und dort Anzeichen eines Zusammenhangs gibt:

- wo gewisse Staaten ihre wirtschaftliche Stärke in die Waagschale werfen, um anderen ihren Willen aufzuzwingen und ihre eigene Wirtschaft zu fördern (USA, Deutschland);

- wo der industrielle und technologische Rückstand (China und Russland) und auch die Finanzprobleme (Großbritannien, Deutschland) eine Bremse für die jeweilige militärische Aufrüstung darstellen.

Diese allgemeinen Charakteristiken, die schon der letzte Kongress hervorgehoben hatte, haben sich in den letzten zwei Jahren nicht nur bestätigt, vielmehr sind sie in dieser Periode auf dramatische Art und Weise unterstrichen worden. Ihre Verstärkung vertieft dramatisch die Destabilisierung des Kräfteverhältnisses zwischen den Staaten und das Risiko von Chaos und Krieg in wichtigen Zonen der Erde. Dies vor allem im Nahen und Fernen Osten, mit allen negativen Konsequenzen auf wirtschaftlicher, ökologischer und menschlicher Ebene, was schlussendlich auf die ganze Welt eine Auswirkung hat, im Besonderen auf die Arbeiterklasse.

Die Geschichte des Nahen Ostens in den letzten 45 Jahren zeigt eindrücklich das Fortschreiten des Zerfalls und des zunehmenden Kontrollverlusts der Weltmacht  USA:

- In den 1970er Jahren hatten die USA ihre Position im Nahen Osten zwar ausgebaut und den Einfluss des russischen Blocks zurückgedrängt, doch die Machtergreifung der Mullahs im Iran 1979 war der Beginn des Zerfalls.

- In den 1980er Jahren zeigte das Drama im Libanon die Schwierigkeiten Israels aber auch der USA auf, die Kontrolle über die Region aufrecht zu erhalten, und sie drängten den Irak zum Krieg gegen den Iran.

- 1991: Erster Golfkrieg, in dem der Weltpolizist USA noch eine ganze Reihe von Staaten um sich scharen konnte, um den Krieg gegen Saddam Hussein zu führen und ihn wieder aus dem Kuwait zurückzudrängen.

- 2003: Das Scheitern der Mobilisierung durch George W. Bush gegen den Irak und der Aufstieg des Irans (seit den 1990er Jahren) als regionale imperialistische Macht, was die USA schwächte.

- 2011: Abzug der USA aus dem Irak und zunehmendes Chaos in Nahen Osten.

Die Politik des schrittweisen Rückzugs aus dem Irak und aus Afghanistan durch die Regierung Obama hat die direkten Schäden und Kosten für den Weltpolizisten USA vermindert, doch das Resultat dieser Kriege ist lediglich ein unüberschaubares Chaos in der gesamten Region.

Die Zuspitzung der „Jeder für sich" in den imperialistischen Konfrontationen und die Ausbreitung des Chaos, das absolut unvorhersehbare Ereignisse mit sich bringt, haben sich in der letzten Zeit durch vier besondere Situationen ausgedrückt:

1. Die Gefahr von kriegerischen Zusammenstößen und eine Instabilität der Staaten des Nahen Ostens.

2. Der Aufstieg Chinas und die Ausbreitung des Chaos auf den Fernen Osten.

3. Das Auseinanderbrechen einzelner Staaten und die Ausbreitung des Chaos in Afrika.

4. Die Auswirkungen der Krise auf die Spannungen der Staaten in Europa

Die Ausbreitung des Chaos im Nahen Osten

Ein kurzer historischer Rückblick

Aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen (Handelsrouten nach Asien, Erdöl, ...) stand diese Region schon immer im Zentrum der Konfrontationen zwischen den mächtigsten Staaten. Seit dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus und besonders seit dem Niedergang des Osmanischen Reichs stand sie im Zentrum der imperialistischen Spannungen:

- Bis 1945: Nach dem Niedergang des Osmanischen Reichs wurde die Region 1916 durch den Sykes-Picot-Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Sie wird Schauplatz des Bürgerkrieges in der Türkei, des türkisch-griechischen Konflikts, des Aufstiegs des arabischen Nationalismus und des Zionismus, und sie ist Schauplatz des Zweiten Weltkrieges (deutsche Offensive gegen Russland und in Nordafrika).

- Nach 1945: Die Region wurde zu einem Hauptaustragungsfeld der West-Ost-Spannungen (1945-1989), durch die Versuche des russischen Blocks, in der Region Fuß zu fassen, was eine starke Präsenz der USA hervorrief. Diese Periode war gekennzeichnet durch die Installierung eines starken israelischen Staates, die arabisch-israelischen Kriege, die Palästinenserfrage, die iranische „Revolution" (ein erster Ausdruck des Zerfalls) und den Iran-Irak-Krieg.

- Nach 1989 und dem Zusammenbruch des Ostblocks: Alle Widersprüche, die seit dem Zerfall des Osmanischen Reichs bestanden, begannen das „Jeder für sich", das Chaos und die Infragestellung der amerikanischen Vorherschaft zu verstärken. Der Irak, der Iran und Syrien wurden von den USA als Banditenstaaten bezeichnet. Die Region musste zwei amerikanische Kriege im Irak, drei israelische im Libanon und den Aufstieg des Iran und seiner Verbündeten, der Hisbollah im Libanon, über sich ergehen lassen.

- Seit 2003 die Explosion der Instabilität: die Zerstückelung der palästinensischen Autoritäten und des Iraks, der „Arabische Frühling", welcher zur Destabilisierung mehrerer Regime in der Region führte (Libyen, Ägypten, Jemen), und der Krieg zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen in Syrien. Permanente Massaker in Syrien, die nukleare Aufrüstung des Irans, erneute Bombardierungen des Gazastreifens durch Israel, die politische Instabilität in Ägypten. All diese Ereignisse  können nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der Region verstanden werden.

Die zunehmende Gefahr kriegerischer imperialistischer Konflikte

Der Krieg bedroht die Region wie nie zuvor. Präventivschläge von Israel (mit oder ohne Zustimmung der USA) gegen den Iran, die Möglichkeit einer Intervention von verschiedenen imperialistischen Staaten in Syrien, der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern (welche momentan von Ägypten unterstützt werden), Spannungen zwischen den Königreichen am Golf und dem Iran. Der Nahe Osten ist eine schreckliche Bestätigung unserer Analysen über die Sackgasse des Systems und die Flucht ins „Jeder für sich":

- Die Region ist ein enormes Pulverfass geworden, und die Waffenkäufe haben sich in den letzten Jahren vervielfacht (Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, Arabische Emirate, Oman).

- Eine Armada von imperialistischen Geiern der ersten, zweiten und dritten Kragenweite stehen sich in der Region gegenüber, wie der Konflikt in Syrien zeigt: USA, Russland, China, Türkei, Iran, Israel, Saudi-Arabien, Katar, Ägypten, zusammen mit bewaffneten Banden vor Ort im Dienste dieser Staaten, oder mit Kriegsherren, die eigene Ziele verfolgen.

- In diesem Zusammenhang gilt es die destabilisierende Rolle Russlands im Nahen Osten hervorzuheben, das versucht seine letzten Stützpunkte in der Region zu verteidigen. Dasselbe gilt für China mit seinem offensiven Vorgehen und seiner Unterstützung für den Iran, der für China eine wichtige Erdölquelle darstellt. Die europäischen Imperialisten sind etwas diskreter, auch wenn ein Staat wie Frankreich seine Karten in Palästina, Syrien und selbst in Afghanistan (mit der Organisierung einer Konferenz im Dezember 2012 in Chantilly bei Paris, welche versuchte, die wichtigsten afghanischen Fraktionen an einen Tisch zu bringen) auszuspielen versucht.

Es handelt sich um eine explosive Situation, welche der Kontrolle der imperialistischen Großmächte entgleitet, und der Rückzug der westlichen Truppen aus dem Irak und aus Afghanistan verstärkte die Destabilisierung noch mehr, auch wenn die USA versuchten, den Schaden zu begrenzen:

- durch die Eindämmung der kriegerischen Haltung Israels gegen den Iran und gegen die Hamas im Gazastreifen;

- durch eine Annäherung an die Muslimbrüder und den ägyptischen Präsidenten Mursi. 

Im Allgemeinen haben sich die USA im Verlauf des „Arabischen Frühlings" als komplett unfähig erwiesen, die ihr nahestehenden Regime zu schützen (was zu einem Vertrauensverlust führte, wie es die Haltung Saudi-Arabiens, das auf Distanz mit den USA zu gehen versucht, klar zeigt), und sie sind unbeliebter geworden.

Diese Zunahme der imperialistischen Konflikte kann jederzeit zu erheblichen Konsequenzen führen. Länder wie Israel oder der Iran können enorme Erschütterungen provozieren und die Region in einen Strudel reißen, ohne dass eine Großmacht sie daran hindern kann, denn sie unterliegen keiner wirklichen Kontrolle. Es ist eine enorm heikle Situation, für die Region des Nahen Ostens extrem unberechenbar, aber auch für die gesamte Welt birgt sie gefährlichste Konsequenzen.

Die zunehmende Instabilität der meisten Staaten in der Region

Seit 1991, mit der Invasion in Kuwait und seit dem ersten Golfkrieg, ist die sunnitische Front, die vom Westen gegen den Iran aufgebaut wurde, zusammengebrochen. Das Gesetz des „Jeder für sich" breitete sich in der Region extrem schnell aus. So wurde der Iran zum großen Nutznießer der beiden Golfkriege, mit der Erstarkung der Hisbollah und der schiitischen Bewegungen; zudem war die praktische Unabhängigkeit der Kurden eine Nebenwirkung der Invasion in den Irak. Die Tendenz der „Jeder für sich" hat sich noch verstärkt, vor allem im Zuge des „Arabischen Frühlings", und dort, wo das Proletariat am schwächsten ist. Es ist eine Destabilisierung verschiedenster Staaten der Region im Gange:

- Vor allem im Libanon, Libyen, Jemen, Irak, Syrien, im „Befreiten Kurdistan" und in den palästinensischen Gebieten, in denen sich Clans bekriegen und sich der Bürgerkrieg ausbreitet.

- Auch in Ägypten, Bahrein, Jordanien (wo sich die Muslimbrüder gegen König Abdallah auflehnen), doch auch im Iran wo sie sozialen Spannungen und die Zusammenstöße von Clans eine unberechenbare Situation erzeugen.

Die Zuspitzung der Spannungen zwischen den verfeindeten Fraktionen vermischte sich auch mit religiösen Tendenzen. So die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, Christen und Muslimen. Aber auch die Spannungen innerhalb der sunnitischen Welt nehmen zu wie bei der Machtübernahme des modernen Islamisten Erdogan in der Türkei oder kürzlich der Muslimbrüder in Ägypten, in Tunesien (Ennahda) und bei der Regierung in Marokko. Die Muslimbrüder werden heute durch Katar unterstützt und stellen sich der Salafisten- und Wahhabitenbewegung entgegen, die durch Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate finanziert werden. Letztere hatten Mubarak in Ägypten und Ben Ali und Tunesien gestützt.

Diese verschiedenen religiösen Tendenzen, eine barbarischer als die andere, verstecken nur die imperialistischen Interessen der verschiedenen Cliquen, die an der Macht sind. Heute wird mit dem Krieg in Syrien und den Spannungen in Ägypten klarer denn je, dass es keinen „muslimischen" oder „arabischen" Block gibt, sondern verschiedene bürgerliche Cliquen, die ihre eigenen imperialistischen Interessen verteidigen und dabei die religiösen Unterschiede (Christen, Juden, Muslime, die verschiedenen Tendenzen bei den Sunniten und Schiiten) ausnutzen. Dies sticht klar hervor bei den Auseinandersetzungen zwischen Staaten wie der Türkei, Marokko, Saudi-Arabien oder Katar um die Kontrolle der Moscheen „im Ausland", vor allem in Europa.

Doch diese Ausbrüche der religiösen Widersprüche und Zerstückelung seit Ende der 1980er Jahre und der Niedergang der „laizistischen" oder „sozialistischen" Regime (Ägypten, Syrien, Irak,...), drücken vor allem das Gewicht des Zerfalls, des Chaos und der Misere aus, des totalen Fehlens einer Perspektive und einer Flucht in komplett rückwärtsgerichtete und barbarische Ideologien.

Die Vorstellung, dass die USA eine Kontrolle über die Region wiederherstellen könnten, z.B. mit der Vertreibung Assads, ist vollkommen unrealistisch. Seit dem ersten Golfkrieg sind alle Versuche der USA, ihre Führungsrolle wiederherzustellen, kläglich gescheitert und haben umgekehrt den regionalen imperialistischen Appetit geweckt, besonders beim stark bewaffneten Iran, der viele Rohstoffe besitzt und von Russland und China unterstützt wird. Doch der Iran befindet sich in einem Konflikt mit Saudi-Arabien, Israel und der Türkei. Die „normalen" imperialistischen Ambitionen jedes Staates, die Verstärkung des „Jeder für sich", die israelisch-palästinensische Frage, die religiösen Konflikte, aber auch die ethnischen Konflikte (Kurden, Türken, Araber) spielen in diesem Theater von Spannungen mit, und machen die Situation immer unübersichtlicher und dramatischer für die Bevölkerung der Region und potentiell für die gesamte Welt. Der Ausbruch erneuter Spannungen rund um den Iran und eine drohende Blockade der Straße von Hormus hätten unkalkulierbare Folgen für die Weltwirtschaft.

Die Zuspitzung der imperialistischen Konflikte im Fernen Osten

Ein kurzer historischer Rückblick

Der Ferne Osten war seit den ersten Anzeichen der Dekadenz des Kapitalismus eine entscheidende Zone bei der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen: der russisch-japanische Krieg 1904-1905, die chinesische „Revolution" 1911 und der entfesselte Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Kriegsherren, die japanische Offensive in der Mandschurei 1931, die japanische Invasion in China 1937, der Konflikt zwischen Japan und der UdSSR von Mai bis September 1939 und dann der Zweite Weltkrieg, in dem der Ferne Osten eines der wichtigsten Kriegsgebiete war, sowie die nachfolgenden Kriege:

- Zwischen 1945 und 1989 stand die Region im Zentrum der Ost-West-Spannungen: 1946-1950 ein Bürgerkrieg in China, die Kriege in Korea, Indochina und Vietnam, und zusätzlich die russisch-chinesischen, chinesisch-vietnamesischen, chinesisch-indischen und indisch-pakistanischen Grenzkonflikte. Die amerikanische Politik der „Neutralisierung" Chinas im Verlauf der 1970er Jahre war ein wichtiger Moment in der Verstärkung des Drucks des amerikanischen gegenüber dem russischen Block.

- Seit dem Zusammenbuch der russischen Blocks hat sich das „Jeder für sich" auch im Fernen Osten ausgeweitet (Schurkenstaat Nordkorea, Zerfall in Pakistan). Die Region zeichnet sich vor allem durch den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Chinas aus, was die regionalen imperialistischen Spannung angeheizt hat (regelmäßige Zwischenfälle im Chinesischen Meer in den letzten Monaten mit Vietnam und den Philippinen, aber vor allem mit Japan, und der wiederholte Schlagabtausch zwischen den beiden koreanischen Staaten), es gibt aber auch die verstärkte Aufrüstung anderer Staaten in der Region (Indien, Japan, Südkorea, Singapur, ...).

Der Aufstieg Chinas und die Verstärkung der Tendenz hin zum Krieg

Die Entwicklung der wirtschaftlichen und militärischen Macht Chinas und seine Bemühungen, sich nicht nur im Fernen Osten als Macht ersten Ranges in Stellung zu bringen, sondern auch in Nahen Osten (Iran), in Afrika (Sudan, Simbabwe, Angola) und in Europa, wo China eine strategische Annäherung an Russland betreibt, hat zur Folge, dass China für die USA eine der Hauptgefahren für ihre Hegemonie darstellt. Die USA richten demzufolge ihre strategischen Manöver vor allem gegen China, wie die Besuche von Obama Ende 2012 in Burma und Kambodscha, zwei Staaten, die mit China verbündet sind, gezeigt haben.

Das wirtschaftliche und militärische Wachstum Chinas drängt dieses Land dazu, seine nationalen wirtschaftlichen und strategischen Interessen mit einer zunehmenden imperialistischen Aggressivität durchzusetzen, und ist daher ein Faktor der Destabilisierung im Fernen Osten.

Der Aufstieg Chinas beunruhigt nicht nur die USA, sondern auch zahlreiche Länder im Fernen Osten selber, wie Japan, Indien, Vietnam, die Philippinen, die sich durch den chinesischen Riesen bedroht fühlen und ihre Aufrüstung deutlich verstärkt haben. Strategisch gesehen haben die USA ein leichtes Spiel, ein Bündnis gegen die chinesischen Ambitionen zu bilden, dessen Pfeiler Japan, Indien und Australien sind, aber auch andere kleinere Länder wie Südkorea, Vietnam, die Philippinen, Indonesien und Singapur einschließt. Indem sich der Weltpolizist USA als Anführer einer solchen Allianz ausgibt, vor allem unter dem Motto „China in die Schranken zu weisen", versucht er, die Glaubwürdigkeit seiner Vorherrschaft, die weltweit am zerbröckeln ist, wiederherzustellen.

Die Ereignisse der letzten Zeit bestätigen, dass heute ein bedeutendes wirtschaftliches Wachstum eines Landes nicht ohne die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen über die Bühne geht. Der ganze Kontext des Auftretens dieses großen Rivalen auf der Weltbühne, während gleichzeitig der große Weltpolizist immer schwächer wird, kündigt neue und gefährliche Konfrontationen an, nicht nur in Asien, sondern weltweit.

Die Gefahr von Konfrontationen ist noch wahrscheinlicher geworden, weil die Tendenz zum „Jeder für sich" auch in anderen Ländern des Fernen Ostens sehr präsent ist. Die Verhärtung Japans bestätigt sich durch die Rückkehr von Shinzo Abe an die Regierung, der eine Kampagne zur Stärkung der nationalen Macht entfaltet. Er will die Selbstverteidigungstruppen durch eine richtige Armee zur nationalen Verteidigung ersetzen und verspricht, China im Konflikt um einige Inseln im Chinesischen Meer die Stirn zu bieten und auch zu den ehemaligen Verbündeten in der Region, den USA und Südkorea, die etwas vergessenen Verbindungen wieder zu verstärken. Auch in Südkorea scheint die Wahl von Park Geun-hye, der Kandidaten der konservativen Partei (und Tochter des ehemaligen Diktators Park Chung-hee), eine Verstärkung des „Jeder für sich" und der eigenen imperialistischen Ambitionen dieses Landes anzukündigen.

Aber auch eine ganze Serie von anderen zweitrangigen Konflikten unter asiatischen Staaten ist Wasser auf die Mühle der Destabilisierung: der indisch-pakistanische Konflikt, die Friktionen zwischen den beiden koreanischen Staaten, die Spannungen zwischen Südkorea und Japan, der Konflikt zwischen Kambodscha und Vietnam oder Thailand, zwischen Burma und Thailand, zwischen Indien und Burma oder Bangladesch, usw. All das trägt zur Verstärkung der kriegerischen Tendenzen bei.

Die Spannungen innerhalb des politischen Apparates der chinesischen herrschenden Klasse

Der kürzlich abgehaltene Kongress der „Kommunistischen" Partei Chinas ließ durchschimmern, dass es angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen, imperialistischen und sozialen Situation starke Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse in China gibt. Sie wirft eine Frage auf, die bisher kaum beachtet wurde: die Charakteristiken des politischen Apparates der herrschenden Klasse in einem Land wie China und die Frage; wie sich die Kräfteverhältnisse in seinem Innern entwickeln. Die Unfähigkeit eines vergleichbaren politischen Apparates war ein wesentlicher Faktor beim Zusammenbruch des Ostblocks - doch wie ist das in China? Auch wenn sie jegliche „Glasnost" oder „Perestroika" ablehnen, so haben die Herrschenden mit Erfolg die Mechanismen der Marktwirtschaft eingeführt, auf politischer Ebene aber eine rigide stalinistische Organisation beibehalten. In früheren Berichten haben wir die strukturellen Schwächen des politischen Apparates der chinesischen Bourgeoisie als Hindernis dafür bezeichnet, dass China ein wirklicher Herausforderer der USA werden könnte. Das Schliddern der Wirtschaft in die allgemeine weltweite Krisendynamik, die Explosion von sozialen Konflikten und das Anwachsen von imperialistischen Spannungen begünstigen zweifelsohne die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der chinesischen Bourgeoisie, wie einige überraschende Ereignisse bewiesen haben. So die Vertreibung des „aufsteigenden Sterns" Bo Xilai und das mysteriöse Verschwinden des zukünftigen Präsidenten Xi Jinping einige Wochen vor dem Kongress.

Es gibt verschiedene Konfliktpunkte, welche Streitigkeiten zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse erahnen lassen:

- Ein erster Konfliktpunkt betrifft den Gegensatz zwischen Regionen, welche stark von der wirtschaftlichen Entwicklung profitieren, und andern, die eher vernachlässigt wurden; es dabei auch um die Wirtschaftspolitik. Weiter stehen sich zwei große Netzwerke gegenüber, die je auf Vetternwirtschaft beruhen. Einerseits die Gelegenheitskoalition der „Partei der Prinzen", der Kinder hoher Parteikader aus der Zeit von Mao und Deng, andererseits die Shanghai Clique, Funktionäre aus den Küstenprovinzen. Letztere bilden die führenden Schichten der am meisten industrialisierten Küstenprovinzen und streben ein Wirtschaftswachstum um jeden Preis an, auch wenn es die sozialen Gräben vertieft. Diese Fraktion wird durch den neuen Präsidenten Xi Jinping und den Makro-Ökonomie-Experten des Politischen Büros Wang Qishan repräsentiert. Ihr gegenüber steht die „Tuanpai"-Fraktion rund um die Liga der „kommunistischen" Jugend, in der die meisten der Führer dieses Netzwerks ihre Karriere begonnen haben. Da es sich vor allem um Funktionäre zu handeln scheint, welche in den ärmeren Zentralprovinzen des Landes ihre Karriere machten, strebt diese Fraktion eine Politik der Industrialisierung der Zentral- und Westprovinzen an, was eine größere „soziale Stabilität" fördern solle. Sie werden durch Gruppen gebildet, welche viel Erfahrung in der Verwaltung und der Propaganda haben. Repräsentiert durch den früheren Präsidenten Hu Jintao, ist diese Fraktion in der neuen Führung durch Li Keqiang vertreten, der Wen Jiabao als Ministerpräsidenten abgelöst hat. Die Konfrontation dieser zwei Fraktionen scheint beim Zwischenfall rund um Bo Xilai eine Rolle gespielt zu haben.

- Die soziale Lage scheint ebenfalls Spannungen unter den verschiedenen Fraktionen des Staates zu erzeugen. Gewisse Teile, vor allem aus dem Industrie- und Exportsektor, aber auch aus dem Konsumgütersektor, sind gegenüber den sozialen Spannungen sensibilisiert und befürworten politische Konzessionen gegenüber der Arbeiterklasse. Sie stellen sich den „harten" Fraktionen", die nur auf die Repression setzen, um die Privilegien der herrschenden Cliquen zu verteidigen, entgegen.

- Die imperialistische Politik spielt ebenfalls eine Rolle in den Konfrontationen unter den herrschenden Cliquen. Es gibt Fraktionen, welche eine aggressive Haltung der Konfrontation vertreten, so die Regierung der Küstenregionen von Hainan, Guanxi und Guangdong, die neue Ressourcen für ihre Unternehmen im Auge haben und dazu die Kontrolle über Kohlenwasserstoffe und Fischfanggebiete erringen wollen. Auf der anderen Seite birgt diese Aggressivität die Gefahr des Einbruchs auf der Ebene der Exporte und der ausländischen Investitionen, wie der Konflikt mit Japan um einige Inseln zeigt. Das immer häufigere Anheizen des nationalistischen Fiebers in China ist zweifellos Produkt dieser internen Spannungen. Wie schwer wiegt das Gewicht des Nationalismus auf die Arbeiterklasse? Wie sehr ist die junge Generation der Arbeiterklasse fähig, sich nicht davon einnehmen zu lassen und für ihre eigenen Interessen zu kämpfen? Auf dieser Ebene ist die Situation anders als 1989-91 in der UdSSR.

Diese drei Spannungslinien bestehen aber nicht völlig getrennt voneinander, sondern überlagern sich, und sie waren Triebfedern der Spannungen, welche den Kongress der KP Chinas und die Wahl der neuen Führung prägten. Laut Beobachtern haben diese Auseinandersetzungen mit einem Sieg der „Konservativen" über die „Fortschrittlichen" geendet (die 4 neuen Mitglieder des permanenten Komitees des Politbüros, das aus 7 Mitgliedern zusammengesetzt ist, sind „Konservative"). Doch die immer häufigeren Enthüllungen darüber, dass diese internen Kämpfe von Korruption und der Anhäufung gigantischer Vermögen in den oberen Rängen der Partei geprägt sind (das Vermögen der Familie des ehemaligen Premierminister Wen Jiabao wird auf 2.7 Milliarden Dollar geschätzt und besteht aus einem Netzwerk von Firmen, die meist auf den Namen seiner Mutter, seiner Frau oder der Kinder eingetragen sind, oder das Vermögen des neuen Premiers Xi Jinping, welches mindestens eine Milliarde Dollar beträgt), weisen nicht nur auf ein Problem mit gigantischen Proportionen hin, sondern auch auf eine zunehmende Instabilität innerhalb der herrschenden Schicht, der die neue konservative und alternde Führung kaum gewachsen zu sein scheint.

Die zunehmende „Somalisierung" in Afrika

Die Ausbreitung des „Jeder für sich" und des Chaos hat eine Zone der Instabilität und der „Rechtlosigkeit" entstehen lassen, welche sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts über den Nahen Osten bis hin nach Pakistan erstreckt. Sie betrifft ebenfalls den gesamten afrikanischen Kontinent, der in eine schreckliche Barbarei abgleitet. Diese „Somalisierung" zeigt sich auf verschiedenste Art und Weise:

Die Tendenz hin zum Auseinanderbrechen der Staaten

Das 1964 in der Charta der Organisation der Afrikanischen Einheit verankerte Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen scheint über den Haufen geworfen zu sein. 1991 hat sich Eritrea von Äthiopien getrennt, und seither erfasst dieser Prozess ganz Afrika. Seit Beginn der 1990er Jahre hat der Fall der Zentralmacht in Somalia eine Zerstückelung des Landes zur Folge gehabt, mit dem Auftauchen von Pseudo-Staaten wie Somaliland und Puntland. Darauf folgten die Abspaltung des Süd-Sudans vom Sudan und die blutige Rebellion von Darfour, die Abtrennung Azawads von Mali, die separatistischen Tendenzen in Libyen (im Gebiet von Bengasi), im Senegal (Casamance) und kürzlich in der Region von Mombasa in Kenia.

Neben den Abspaltungen, die immer zahlreicher werden, gibt es seit den 1990er Jahren eine Vervielfachung von inneren Konflikten mit einem politisch-ethnischen oder ethnisch-religiösen Charakter: Liberia, Sierra Leone und die Elfenbeinküste gleiten in politisch-ethnische Bürgerkriege ab, die den Staat zugunsten von bewaffneten Clans in sich zusammenstürzen ließen. In Nigeria gibt es eine muslimische Rebellion im Norden, in Uganda die "Widerstandsarmee Gottes" und im Osten der Demokratischen Republik Kongo bekämpfen sich die Hutu- und Tutsi-Clans. Die Ausbreitung der Spannungen über die Landesgrenzen hinweg, in einer Situation des Zerfalls und der Unmöglichkeit, eine nationale Ordnung aufrecht zu erhalten, führt dazu, dass religiöse oder ethnische Konflikte bestimmend werden. Die Folge ist die Bildung von Milizen, welche sich auf dieser Grundlage zusammenschließen.

Diese inneren Konflikte werden oft von Interventionen von außen angeheizt und ausgenutzt. So hat zum Beispiel die Intervention des Westens in Libyen die Destabilisierung des Landes verschärft und die Ausbreitung von Waffen und bewaffneten Banden in der gesamten Sahelzone verstärkt. Die zunehmende Präsenz Chinas auf dem afrikanischen Kontinent hat sich auf die kriegerische Politik im Sudan ausgewirkt und fördert die Destabilisierung der gesamten Region. Auch die großen multinationalen Konzerne und ihre Staaten im Hintergrund instrumentalisieren und orchestrieren diese lokalen Konflikte, um sich den Zugang zu den Bodenschätzen zu sichern (so zum Bespiel im Osten der Demokratischen Republik Kongo).

Nur der Süden des afrikanischen Kontinents scheint diesem Szenario entfliehen zu können. Doch auch dort gibt es eine Verwässerung der Grenzen, jedoch mehr im Sinne eines „Aufsaugens" von schwachen Staaten in der Region (Mozambique, Swasiland, Botswana, aber auch Namibia, Sambia und Malawi) durch Südafrika, was diese Staaten in Halb-Kolonien verwandelt.

Die Verwischung der Grenzen

Die Destabilisierung der Staaten wird durch eine grenzüberschreitende Kriminalität des Waffen-, Drogen- und Menschenhandels gefördert. Eine Folge davon ist, dass die territorialen Grenzen zu Zonen werden, in denen eine effektive Kontrolle kaum mehr oder nur noch auf korrupter Grundlage existiert. Bewaffnete Aufstände, die Unfähigkeit der Staatsmacht, die Ordnung aufrecht zu erhalten, transnationaler Handel von Waffen und Munition, lokale Tyrannen, Einmischung aus dem Ausland, Gerangel um die Bodenschätze, usw. Die schwachen Staaten verlieren die Kontrolle über die „Grauzonen", die immer größer und von Kriminellen verwaltet werden (manchmal gibt es auch den perversen Effekt der Interventionen von humanitären Organisationen, welche die „beschützten" Gebiete zu „extra-territorialen" machen). Hier einige Beispiele:

- Die ganze Sahel- und Sahara-Zone, die libysche Wüste Azawad, Mauretanien, Niger, Tschad sind zu einem Aktionsfeld Krimineller und radikaler islamistischer Gruppen geworden.

- Zwischen dem Niger und Nigeria existiert ein Streifen von 30-40 Kilometern, der der Kontrolle Niameys und Abujas entwichen ist. Die Grenze ist hier verschwunden.

- In der Demokratischen Republik Kongo gibt es keine Kontrolle der Grenzen zu Uganda, Ruanda, Tansania durch den Zentralstaat, was den transnationalen Handel mit Bodenschätzen und Waffen fördert.

- Durch Staaten wie Burkina Faso, Ghana, Benin oder Guinea gibt es Menschenhandelsrouten mit Arbeitskräften für die Landwirtschaft und die Fischerei. Guinea-Bissau ist gänzlich zu einer rechtlosen Zone geworden, die als neuralgischer Punkt für den Drogenhandel Südamerikas oder Afghanistans Richtung Europa und den USA dient.

Die Dominanz von Clans und Kriegsherren

Mit dem Zerfall von Nationalstaaten fallen ganze Regionen in die Hände von Clans und Kriegsherren, die ihre eigenen Grenzen aufstellen. Es sind nicht mehr nur Somalia und Puntland, wo Cliquen und lokale Herren ihre Gesetze mit Waffengewalt durchsetzen. In der Sahel-Zone spielen diese Rolle die Al-Qaida des islamischen Maghreb (AQMI), Ançar Dine, die Bewegung für die Einzigkeit und den Jihad in Westafrika (Mujao), Nomadengruppen der Tuareg. Im Osten des Kongo gibt es die Gruppe M23, eine Privatarmee eines Kriegsherren, welche ihre Dienste dem Meistbietenden zur Verfügung stellt.

Solche Banden betreiben in der Regel Menschenhandel und kassieren dafür Geld oder andere Dienste. Auch in Nigeria, im Niger-Delta, agieren solche Gruppen mit Erpressungen und Sabotage der Ölanlagen.

Die Entstehung und Ausbreitung der „rechtlosen Zonen" beschränkt sich aber nicht nur auf Afrika. Die Generalisierung des organisierten Verbrechens und der Bandenkriege in Lateinamerika, wie in Mexiko und Venezuela, wo ganze Stadtquartiere von Banden kontrolliert werden, zeugen vom weltweiten Fortschreiten des Zerfalls. Doch die Heftigkeit des Auseinanderfallens und des Chaos auf dem afrikanischen Kontinent geben ein Bild davon, wohin das kapitalistische System die gesamte Menschheit zu führen droht.             

Die ökonomische Krise und die Spannungen unter den europäischen Staaten

Im Bericht für den 19. Kongress der IKS 2011 hatten wir hervorgehoben, dass es keine mechanische und unmittelbare Verbindung zwischen der ökonomischen Krise und der Entwicklung der imperialistischen Spannungen gibt. Doch dies bedeutet keinesfalls, dass diese beiden Faktoren keine Auswirkung aufeinander hätten. Wir sehen dies vor allem bei der Rolle der europäischen Staaten auf dem imperialistischen Schachbrett.

Die Auswirkungen auf die internationalen imperialistischen Ambitionen

Die Krise des Euro und der EU diktiert den meisten europäischen Staaten einen harten Sparkurs, der sich auch auf die militärischen Ausgaben auswirkt. Anders als die Staaten im Fernen und Nahen Osten, wo die Ausgaben für die Aufrüstung explodiert sind, sind die militärischen Budgets der wichtigsten europäischen Staaten am sinken.

Der Schritt zurück bei der Aufrüstung geht Hand in Hand mit zurückhaltenderen imperialistischen Ambitionen der europäischen Staaten auf internationaler Ebene (eine Ausnahme bildet Frankreich, das in Mali präsent ist und sich in Afghanistan diplomatisch präsentiert mit dem Versuch, durch die Verhandlungen von Chantilly die afghanischen Konfliktparteien zu einigen). Die europäischen Staaten zeigen momentan weniger imperialistische Autonomie und sogar eine gewisse Wiederannäherung an die USA, ein „Zurück in die Reihe", das aber sicher nur zeitweiliger Natur ist.

Die Auswirkungen auf die Spannungen unter den europäischen Staaten

Diese äußern sich innerhalb der EU durch eine zunehmende Spannung zwischen einer  Tendenz, welche die Einheit sucht (aufgrund der Notwendigkeit; gemeinsam die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen) und einer zentrifugalen Tendenz (einer Tendenz des „Jeder für sich").

Die Bedingungen der Entstehung der EU waren ein Projekt, Deutschland nach 1989 zu zügeln. Was die Bourgeoisie heute aber braucht, ist eine viel stärkere Zentralisierung, eine budgetäre und politische Einheit, wenn sie der Krise auf wirksame Art entgegentreten will, was genau den Interesen Deutschlands entspricht. Diese Notwendigkeit einer wirksameren Zentralisierung stärkt die Kontrolle Deutschlands über alle anderen europäischen Staaten in dem Sinne, dass Deutschland die Maßnahmen diktieren und damit direkt ins Funktionieren der anderen Länder eingreifen kann: „Europa spricht Deutsch", sagte 2011 der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.

Auf der anderen Seite führen die Krise und die drastischen Maßnahmen zu einem Auseinanderbrechen der EU und zu einer Ablehnung der Kontrolle durch einen EU-Staat, also zu einem „Jeder für sich". Großbritannien weist die vorgeschlagenen zentralisierenden Maßnahmen radikal zurück, und in den südlichen Ländern Europas ist eine anti-deutsche Tendenz am zunehmen. Die zentrifugalen Kräfte haben in gewissen Staaten auch eine zersetzende Auswirkung in der Form von Autonomiebestrebungen wie in Katalonien, Norditalien, Flandern und Schottland.

Der Druck der Krise und die dadurch entstandene komplexe Spannung zwischen den vereinheitlichenden und den zentrifugalen Tendenzen drücken ein Auseinanderbröckeln der EU aus und verschärfen die Differenzen zwischen den Staaten.

Auf allgemeiner Ebene unterstreicht dieser Bericht des 20. Kongresses die Orientierungen des Berichts für den 19. Kongress der IKS und die dort festgestellten Entwicklungstendenzen. Wie noch nie zuvor war die absolute Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise dermaßen ersichtlich. Die kommende Periode „wird noch deutlicher den Zusammenhang zeigen zwischen:

- der ökonomischen Krise, welche die Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise aufzeigt,

- der kriegerischen Barbarei, welche die grundlegenden Konsequenzen dieser historischen Sackgasse verdeutlicht: die Zerstörung der Menschheit.

Dieser Zusammenhang ist heute für die Arbeiterklasse ein wichtiger Anstoß zum Nachdenken über die Zukunft, welche der Kapitalismus der Menschheit zu bieten hat, und über die Notwendigkeit, eine Alternative zu diesem verfaulten System zu finden."

IKS, Frühling 2013

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [2]

20. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage

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1. Vor einem Jahrhundert trat die kapitalistische Produktionsweise in die Periode ihres historischen Niedergans ein, ihre Dekadenz. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete den Übergang von der „Belle Epoque“, dem Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft, in  die Epoche der „Kriege und Revolutionen“, wie es der erste Kongress der Kommunistischen Internationale 1919 formulierte. Seither ist der Kapitalismus immer mehr in eine Barbarei versunken, wie der Zweite Weltkrieg mit mehr als 50 Millionen Toten zeigte. Wenn die Periode des „Wiederaufschwungs“, welche dieser furchtbaren Schlächterei folgte, die Illusion streute, dass dieses System seine Widersprüche überwunden habe, so bestätigte die offene ökonomische Krise, die Ende der 1960er Jahre ausbrach, was die Revolutionäre schon ein halbes Jahrhundert zuvor ausgesprochen hatten: Die kapitalistische Produktionsweise kann dem Schicksal der vorangegangenen Produktionsweisen nicht entrinnen. Sie wurde, nachdem sie zuerst einen Fortschritt für die menschliche Geschichte dargestellt hatte, zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte und für den Fortschritt der Menschheit. Die Zeit des Abdankens dieser Produktionsweise und der Ersetzung durch eine andere Gesellschaft war gekommen.

2. Diese offene Krise zeigte nicht nur die historische Sackgasse des kapitalistischen Systems auf, wie es Ende der 1930er Jahre schon der Fall gewesen war, sie stellte die Gesellschaft einmal mehr vor die Alternative: generalisierter imperialistischer Krieg oder Entfaltung gewichtiger proletarischer Kämpfe mit der Perspektive der revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Gegenüber der Krise der 1930er Jahre war die Arbeiterklasse, welche nach der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 von der Bourgeoisie ideologisch niedergeworfen worden war, nicht fähig, eine Antwort zu geben, und die Bourgeoisie konnte ihren Weg einschlagen: einen neuen Weltkrieg. Bei den ersten Erscheinungen der Krise gegen Ende der 1960er Jahre hingegen reagierte die Arbeiterklasse mit breiten Kämpfen: Mai 68 in Frankreich, der „Heiße Herbst“ 1969 in Italien, die massiven Streiks der Arbeiter in Polen von 1970, und viele andere Kämpfe, die zwar weniger spektakulär, aber nicht weniger bedeutend für den fundamentalen Kurswechsel in der Gesellschaft waren. Die Konterrevolution war vorbei. In dieser neuen Situation hatte die Bourgeoisie nicht freie Hand, um auf einen Weltkrieg zuzusteuern. Es folgten mehr als 40 Jahre, in denen die Weltwirtschaft immer mehr ins Schlingern geriet und die von harten Angriffen gegen die Lebensbedingungen der Ausgebeuteten gekennzeichnet waren. Während dieser Jahrzehnte führte die Arbeiterklasse zahlreiche Abwehrkämpfe. Auch wenn sie keine definitive Niederlage erlitt, welche den historischen Kurs geändert hätte, war sie anderseits auch nicht fähig, ihren Kampf und ihr Bewusstsein so zu entfalten, dass sie der Menschheit eine revolutionäre Perspektive wenigstens als Entwurf skizziert hätte.

„In solch einer Situation, in der die beiden grundlegenden - und sich entgegengesetzten - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne gleichzeitig ihre jeweils eigene Antwort durchsetzen zu können, bleibt die Geschichte aber nicht stehen. Viel weniger noch als bei den anderen vorhergehenden Produktionsformen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein 'Einfrieren' des gesellschaftlichen Lebens nicht möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich nur noch zuspitzen, bewirkt die Unfähigkeit der Bourgeoisie, irgendeine Perspektive für die gesamte Gesellschaft anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, seine eigene Perspektive durchzusetzen, dass es zur Bildung dieses Phänomens des allgemeinen Zerfalls der Gesellschaft kommt, ihres Verfaulens auf der Stelle.“ (Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13)

Damit begann vor einem Vierteljahrhundert eine Periode, in der das Phänomen des Zerfalls bestimmendes Element im Leben der gesamten Gesellschaft wurde.

3. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft zeigt sich auf dem Gebiet der militärischen Konflikte und internationalen Beziehungen am dramatischsten. Was die IKS dazu führte, die Analyse des Zerfalls in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre weiterzuentwickeln, waren die mörderischen Angriffe, welche die großen Städte Europas heimsuchten, vor allem Paris – Angriffe die nicht von isolierten Gruppen, sondern von etablierten Staaten geführt wurden. Dies war der Beginn einer Form der imperialistischen Konflikte, später als „asymmetrische Kriegsführung“ bezeichnet, die eine tiefgreifende Wende in der Beziehung zwischen den Staaten, aber generell auch in der gesamten Gesellschaft, kennzeichnete. Das erste historische Zeichen dieser neuen und finalen Phase der Dekadenz des Kapitalismus war der Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Europa und des Ostblocks 1989. Die IKS erkannte die Bedeutung dieser Ereignisse für die imperialistischen Konflikte sofort:

„Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen 'Hauptpartnern' von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr dazu in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Weil die vom Block auf erzwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos, Internationale Revue Nr. 12)                 

Seither hat die internationale Situation diese Analyse nur bestätigt:

- Golfkrieg 1991

- Krieg in Ex-Jugoslawien zwischen 1991 und 2001

- Zwei Kriege in Tschetschenien (1994-95 und 1999-2000)

- Der Krieg in Afghanistan 2001, der immer noch anhält.

- Der Krieg im Irak 2003, dessen Konsequenzen das Land noch immer dramatisch belasten, aber auch den Auslöser dieses Krieges, die USA.

- All die Kriege auf dem afrikanischen Kontinent (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan, Elfenbeinküste, Mali, usw.)

- Die zahlreichen militärischen Aktionen Israels gegen Libanon und den Gazastreifen als Vergeltungsschläge gegen die Raketenangriffe der Hisbollah oder Hamas.

4. All diese Konflikte an geografisch verschiedenen Orten zeigen auf, wie der Krieg im dekadenten Kapitalismus einen komplett irrationalen Charakter angenommen hat. Die Kriege des 19. Jahrhunderts, so mörderisch sie auch waren, hatten unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung des Kapitalismus eine Rationalität. Die Kolonialkriege erlaubten es Europa, Imperien aufzubauen, aus denen sie Rohmaterialien erhielten und in die sie ihre Waren absetzen konnten. Der amerikanische Bürgerkrieg, aus dem der Norden als Sieger hervorging, öffnete die Türe zur vollen industriellen Entwicklung des Landes, das die führende Weltmacht werden sollte. Der Französisch-Preußische Krieg von 1870 war ein entscheidender Schritt in der Einigung Deutschlands und zur politischen Herausbildung der zukünftigen zentralen Macht in Europa. In Gegensatz dazu blutete der Erste Weltkrieg die Staaten in Europa aus, alle, die „Verlierer“ und die „Sieger“, vor allem aber jene, die am „kriegerischsten“ waren (Österreich, Russland und Deutschland). Ebenso der Zweite Weltkrieg, welcher den Niedergang des europäischen Kontinents bestätigte, allen voran Deutschlands, das wie die andere „Angriffsmacht“ Japan 1945 nur noch eine Ruine war. Das einzige Land, welches von diesem Krieg profitierte, war dasjenige, das spät in den Krieg einstieg und auf dessen Gebiet aufgrund seiner geografischen Lage keine Schlachten gefochten wurden – die USA. Der wichtigste Krieg, der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde, der Vietnamkrieg, hatte einen unübersehbar irrationalen Charakter, denn er brachte den USA nichts, trotz des gigantischen Einsatzes auf wirtschaftlicher, vor allem aber auch menschlicher und politischer Ebene.

5. Der irrationale Charakter des Krieges erreichte in der Periode des Zerfalls eine neue Stufe. Dies zeigten die Kriegsabenteuer der USA im Irak und in Afghanistan deutlich. Diese beiden Kriege verursachten größte ökonomische Kosten, doch das Erreichte war äußerst gering, wenn nicht negativ. Die USA konnten in diesen Kriegen ihre militärische Übermacht demonstrieren, doch sie erreichten ihre Ziele keinesfalls: weder die Stabilisierung des Iraks und Afghanistans noch die Unterordnung der alten Alliierten des Westblocks unter die Fittiche der USA. Heute hinterlässt der etappenweise Rückzug der US- und der NATO-Truppen aus Afghanistan und dem Irak eine absolut unstabile Situation in diesen Ländern, was die Instabilität in der gesamten Region verstärkt. Gleichzeitig verlassen die anderen Parteien in diesem militärischen Abenteuer das Schiff wie Ratten in jede Richtung.

6. In den vergangenen Monaten hat sich das chaotische Wesen der imperialistischen Spannungen und Konflikte durch die Situation in Syrien und dem Fernen Osten erneut bestätigt. In beiden Fällen handelt es sich um Konflikte, welche die Gefahr einer größeren Ausbreitung und Destabilisierung in sich tragen. Im Fernen Osten gibt es zunehmende Spannungen zwischen einzelnen Staaten der Region. In letzter Zeit sind es Spannungen, bei denen mehrere Staaten beteiligt sind, von den Philippinen bis nach Japan. China und Japan liegen im Streit um die Senkaku-/Diyao-Inseln, Japan und Südkorea um die Inseln Takeshima/Dokdo, während es andere Spannungen gibt, die Taiwan, Vietnam und Burma betreffen. Doch der spektakulärste Konflikt ist zweifellos derjenige zwischen Nord- und Südkorea, Japan und den USA. Trotz der dramatischen wirtschaftlichen Krise hat Nordkorea seine militärischen Ausgaben erhöht mit dem Ziel, auf die anderen Länder Druck auszuüben, besonders auf die USA, um damit wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzwingen. Doch diese abenteuerliche Politik beinhaltet zwei Gefahren. Auf der einen Seite die Gefahr des Hineinziehens des chinesischen Riesen, welcher Nordkoreas einziger Verbündeter darstellt und der immer heftiger seine imperialistischen Interessen vorantreibt, wo immer er kann: im Fernen Osten sowieso, aber auch im Nahen Osten mit der Allianz mit dem Iran (welcher der Hauptlieferant von Kohlenwasserstoffen ist), aber auch in Afrika, wo eine verstärkte wirtschaftliche Präsenz existiert, welche die Basis für eine eventuelle militärische Präsenz ist. Auf der anderen Seite beinhaltet die abenteuerliche Politik des nordkoreanischen Staates, eines Staates, dessen brutales Polizeiregime Ausdruck seiner Zerbrechlichkeit ist, die Gefahr, jeder Kontrolle zu entgleiten und in eine unkontrollierte militärische Dynamik zu rutschen, deren Konsequenzen schwer abzusehen sind. Wir können jetzt schon sagen, dass dies eine Tragödie mehr in der langen Liste der militärischen Barbarei wäre, welche die Erde erfasst hat.

7. Der Bürgerkrieg in Syrien folgte dem “Arabischen Frühling”, der das Regime von Assad geschwächt hatte und eine Büchse der Pandora mit Konflikten und Widersprüchen öffnete, welche das eiserne Regime jahrzehntelang unter Kontrolle gehalten hatte. Die westlichen Staaten sind für eine Absetzung Assads, doch sie sind absolut unfähig, eine Alternative anzubieten, da die Opposition komplett gespalten ist und ein guter Teil aus Islamisten besteht. Gleichzeitig unterstützt Russland das Assad Regime militärisch, welches Russland im Gegenzug die Stationierung seiner Kriegsflotte in Tartus garantiert. Es ist nicht der einzige Staat, der das Regime unterstützt: auch der Iran und China halten Assad die Stange. Syrien ist deshalb zum Schauplatz eines blutigen Konfliktes geworden, in den verschiedene imperialistische Staaten ersten und zweiten Ranges verwickelt sind – Rivalitäten, unter denen die Bevölkerung im Nahen Osten schon seit Jahrzehnten leidet. Die Tatsache, dass die Ausdrücke des „Arabischen Frühlings“ in Syrien nichts zugunsten der unterdrückten und ausgebeuteten Massen brachten, sondern in einen Krieg mündeten, der schon mehr als 100.000 Tote gefordert hat, ist ein Zeichen der Schwäche der Arbeiterklasse in diesem Land – die einzige Kraft, die der militärischen Barbarei etwas entgegensetzen könnte. Dies trifft, wenn auch nicht in derselben tragischen Form, ebenfalls auf die anderen arabischen Länder zu, in denen der Fall der alten Diktatoren zum Aufstieg des rückständigsten Sektors der Bourgeoisie an die Macht geführt hat, der Islamisten in Ägypten und Tunesien, oder im noch größeren Chaos Libyens.

Syrien ist heute ein neues Beispiel der Barbarei, die der Kapitalismus in seiner Phase des Zerfalls auf der Welt verursacht. Einer Barbarei, welche die Form blutiger militärischer Konfrontationen annimmt, aber auch Zonen betrifft, in denen nicht Krieg herrscht, aber in denen die Gesellschaft wie in Lateinamerika im Chaos versinkt, wo Drogenbanden in Komplizenschaft mit Teilen des Staatsapparates in einigen Gebieten ihr eigenes Terrorregime installiert haben.

8. Auf der Ebene der Umweltzerstörung haben die Folgen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft eine apokalyptische Qualität erreicht. Auch wenn der Kapitalismus von Beginn weg auf seiner Suche nach Profit und Akkumulation durch einen extremen Raubbau im Namen der „Eroberung der Natur“ gekennzeichnet war, so haben die Folgen dieser Tendenz in den letzten dreißig Jahren ein Niveau der Zerstörungen angenommen, wie sie weder in vorangegangenen Gesellschaften noch in der „Blut und Schweiß“-Zeit der Geburt des Kapitalismus vorhanden waren. Die Sorge des revolutionären Proletariates gegenüber dem zerstörerischen Charakter des Kapitalismus besteht schon seit langem, wie auch die Gefahr schon seit langem besteht. Schon Marx und Engels warnten vor den negativen Auswirkungen – auf die Natur und auf die Menschen – der Menschenkonzentration in den ersten industriellen Zentren von Großbritannien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im selben Geist haben Revolutionäre in verschiedensten Epochen den ignoranten Charakter der kapitalistischen Entwicklung verstanden und angeprangert und die Gefahren für die Arbeiterklasse und die gesamte Menschheit aufgezeigt. Heute geht es schlicht um das Überleben des Planeten.

Die gegenwärtige Tendenz hin zu einer definitiven und unumkehrbaren Zerstörung der Natur ist alarmierend, wie die Szenarien der globalen Erwärmung, die Ausplünderung des Planeten, Abholzung, Bodenerosion, Artenzerstörung, Wasser-, Meeres- und Luftverschmutzung und Nuklearkatastrophen deutlich zeigen. Letztere sind Beispiele der permanenten Zerstörungsgefahr durch das, was der Kapitalismus in seiner verrückten Logik entwickelt hat, ein Damoklesschwert über den Köpfen der Menschheit. Die Bourgeoisie versucht, die Umweltzerstörung der Schwäche des Individuums, dem individuellen „Fehlen eines ökologischen Bewusstseins“ in die Schuhe zu schieben, sie kreiert so eine Atmosphäre der Schuld und Angst. Diese Versuche, das Problem anzugehen, sind so heuchlerisch, weil es nicht die Schuld des Individuums ist, auch nicht von einzelnen Firmen oder Nationen. Es ist vielmehr die Logik der Verwüstung in einem System der Akkumulation, dessen Hauptziel nur der Profit ist und das keine Skrupel kennt, sich alles zu unterwerfen, solange es einen unmittelbaren Nutzen herauspressen kann, auch wenn es damit vielleicht für immer den Stoffwechsel zwischen Leben und Erde untergräbt.

Dies ist die unausweichliche Folge des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften – den menschlichen und natürlichen –, welche der Kapitalismus entwickelt hat und die heute eingezwängt werden und unkontrolliert zu explodieren drohen, und den dazu antagonistischen Produktionsverhältnissen, die auf der Teilung der Gesellschaft in Klassen und auf der kapitalistischen Konkurrenz beruhen. Die Überwindung dieser dramatischen Weltlage muss die Arbeiterklasse in ihren revolutionären Bemühungen stimulieren, denn nur durch die Zerstörung des Kapitalismus wird das Leben wieder aufblühen können.

9. Die Hilflosigkeit der herrschenden Klasse gegenüber der Umweltzerstörung, auch wenn es den Eindruck macht, dass sie sich der negativen Dimension für die Menschheit bewusster geworden ist, hat ihre Wurzeln in der Unmöglichkeit, die Widersprüche zu überwinden, welche die kapitalistische Produktionsweise auszeichnen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise ist der Hauptgrund für die Barbarei, welche die Gesellschaft immer mehr erfasst. Für die kapitalistische Produktionsweise gibt es keinen Ausweg. Ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben diese Produktionsweise in die Sackgasse geführt, und es gibt keinen Ausweg außer der Abschaffung dieser Gesetzmäßigkeiten, der Abschaffung von sich selbst. Der Motor der kapitalistischen Entwicklung war von Anbeginn weg die Eroberung neuer Märkte außerhalb seiner eigenen Sphäre. Die Handelskrisen, welche der Kapitalismus seit den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts durchlebte, die Ausdruck des Problems waren, dass die vom Kapitalismus erzeugten Waren nicht genügend Käufer fanden, wurden durch eine exzessive Zerstörung von Kapital, aber vor allem auch durch eine Eroberung neuer Märkte überwunden, vor allem in vom Standpunkt des Kapitals noch unterentwickelten Zonen. Deshalb war jenes Jahrhundert das Jahrhundert der Eroberungen: Für jede entwickelte kapitalistische Macht war es lebenswichtig, Zonen zu ergattern, aus denen sie billiges Rohmaterial erhielten, die aber auch als Absatzmärkte für ihre Waren dienten. Der Erste Weltkrieg war im Kern die Folge davon, dass die Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Mächte abgeschlossen war und somit neue Eroberungen nur noch mittels Konfrontationen mit anderen Kolonialmächten gemacht werden konnten. Doch dies heißt nicht, dass es keine außerkapitalistischen Märkte mehr gab, auf welchen der Warenüberschuss abgesetzt werden konnte. Rosa Luxemburg schrieb kurz vor dem Ersten Weltkrieg: „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.“ (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 32)

Der Erste Weltkrieg war der erste schreckliche Ausdruck dieser neuen Epoche der “Katastrophen und Konvulsionen”, in welche die kapitalistische Produktionsweise eintrat, „selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist“. Und 10 Jahre nach dem großen imperialistischen Gemetzel war die Krise der 1930er Jahre der zweite Ausdruck davon, eine Krise, welche geradeaus ins zweite generalisierte imperialistische Massaker führte. Doch die Periode des „Wiederaufschwungs“ nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Aufschwung, der durch noch vor Ende des Krieges lancierte Mechanismen des westlichen Blocks gesteuert wurde (vor allem das Abkommen von Bretton Woods 1944) und der auf einer systematischen Intervention des Staates in die Wirtschaft beruhte, bewies, dass der Kapitalismus noch nicht auf seine „natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist“. Die offene Krise, die Ende der 1960er Jahre ausbrach, zeigte aber, wie das System dieser Schranke näher kam, vor allem durch das Ende des Entkolonialisierungsprozesses, der paradoxerweise zur Schaffung neuer Märkte beitrug. Seither hat das zunehmende Schwinden außerkapitalistischer Märkte den Kapitalismus immer mehr in die generalisierte Überproduktion getrieben, in die Flucht in Kredite, einen Sturzflug, in dem immer mehr Schulden akkumuliert werden, die mit immer geringerer Wahrscheinlichkeit zurückbezahlt werden können.

10. Der wachsende Einfluss des Finanzsektors in der Wirtschaft zulasten des eigentlichen produktiven Sektors, wobei der Finanzsektor heute von Politikern und Journalisten als Sündenbock für die Krise stigmatisiert wird, ist mitnichten das Resultat des Sieges einer Art des ökonomischen Denkens über die andere („Monetaristen“ gegen „Keynesianisten“, oder „Neoliberale“ gegen „Interventionisten“). Er entspringt der Tatsache, dass die Flucht in den Kredit den Institutionen, welche Kredite verleihen, den Banken, mehr Gewicht geben. In diesem Sinne ist die „Finanzkrise“ nicht der Grund der ökonomischen Krise und der Rezession. Ganz im Gegenteil ist es die Überproduktion, welche die Quelle der „Finanzialisierung“ darstellt, und es ist das zunehmende Risiko, in die Produktion zu investieren - weil der Weltmarkt zunehmend gesättigt ist -, welche das Geld immer mehr in die Spekulation treibt. All die „linken“ Wirtschaftstheorien, die zur „Zügelung des internationalen Kapitals“ aufrufen, um die Krise zu überwinden, sind nichts als naive Träume, da sie die wirklichen Gründe des Aufblähens des Finanzsektors außer Acht lassen.

11. Die “Sub-prime-Krise“ 2007, die Finanzpanik 2008 und die Rezession 2009 stellten einen neuen wichtigen Schritt des Kapitalismus in seine unumkehrbare Krise dar. Über Jahrzehnte hatte der Kapitalismus auf den Kredit gebaut und ihn missbraucht, um der drohenden Tendenz der Überproduktion entgegenzuwirken, welche sich vor allem in einer Folge von Rezessionen ausdrückte, die zunehmend tiefer wurden, der jeweilige Aufschwung aber immer schwächer. Das Resultat war, wenn man die Schwankungen von Jahr zu Jahr beiseitelässt, das Sinken der durchschnittlichen Wachstumsraten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, während die Arbeitslosigkeit stetig anstieg. Die Rezession von 2009 war die schlimmste seit derjenigen der 1930er Jahre, und die Arbeitslosenzahlen stiegen in vielen Ländern auf ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erreichtes Niveau. Nur eine massive Intervention des IWF, die am G20-Gipfel vom März 2009 entschieden wurde, rettete die Banken vor einem generellen Bankrott, der durch ihre Anhäufung von „toxischen Schulden“ zustande gekommen war, das heißt durch Kredite an Schuldner, die sie nicht mehr zurückzahlen konnten. Die „Schuldenkrise“, wie sie die bürgerlichen Kommentatoren nannten, erreichte somit ein höheres Niveau: Es waren nicht mehr nur Individuen (wie es in den USA während der Hypothekenkrise der Fall gewesen war), nicht nur Unternehmen oder Banken, die unfähig wurden, ihre Schulden oder auch nur die Zinsen dieser Schulden zurückzuzahlen. Es waren jetzt ganze Staaten, die mit einem enormen Gewicht an Schuldenlasten konfrontiert waren, mit „Staatsschulden“, was ihre Interventionsfähigkeit, die eigenen nationalen Ökonomien mit Budgetdefiziten zu beleben, noch mehr schwächte.

12. In diesem Kontext ereignete sich im Sommer 2011 das, was als „Eurokrise“ bezeichnet wurde. Wie beim japanischen oder amerikanischen Staat steigerten sich die Schulden der europäischen Staaten auf spektakuläre Weise, vor allem in denjenigen Ländern der Eurozone, deren Wirtschaft am zerbrechlichsten oder am meisten abhängig von den illusorischen Präventivmaßnahmen war, die zuvor ergriffen worden waren – den PIIGS (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien). In den Staaten mit eigener Währung wie den USA, Japan oder Großbritannien können Staatsschulden kurzfristig mittels Druckens von Geld kompensiert werden. So hat das amerikanische FED große Mengen von amerikanischen Staatsanleihen (Treasury Bonds) aufgekauft, das heißt es hat die verbrieften Schuldanerkennungen des Staates zurück genommen, um sie in Dollarnoten zu verwandeln. Doch diese Möglichkeit besteht nicht für diejenigen Staaten, welche die nationale Währung zugunsten des Euro abgeschafft haben. Der Möglichkeit der „Monetarisierung“ der Schulden beraubt, haben die Staaten der Eurozone keine andere Wahl, als mehr zu borgen, um die Löcher in den Staatskassen zu stopfen. Wenn die Staaten von Nordeuropa noch fähig sind, geliehenes Geld von privaten Banken zu akzeptablen Zinsen zu erhalten, so gibt es diese Möglichkeit für die PIIGS nicht mehr, deren Schulden mit horrenden Zinsen belastet sind, weil sie immer zahlungsunfähiger werden. Dies zwingt sie zu einer Serie von „Rettungsplänen“ von Seiten der EZB und dem IWF, begleitet von einem großen Druck, die staatlichen Defizite zu vermindern. Die Konsequenzen dieser Maßnahmen sind dramatische Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse; doch sie erlauben es dem Staat immer noch nicht, das Defizit zu reduzieren, denn die Rezession, die mit der Ausgabenbremse ausgelöst wird, führt zu einer Verminderung der Einkommen und damit auch der Steuereinnahmen. Somit bringen die Notfallmedikamente, die zur Genesung des Patienten gedacht waren, denselben immer mehr in Todesgefahr. Dies ist ein Grund für den kürzlich gefällten Entscheid der Europäischen Union, die Forderung nach einer Reduktion der Defizite in gewissen Ländern abzuschwächen, wie in Spanien und Frankreich. Die ganze Sackgasse des Kapitalismus wird hier erneut deutlich: Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.

13. Die so genannten Schwellenländer, vor allem die BRIC-Staaten  (Brasilien, Russland, Indien, China), deren Wachstumsraten im Vergleich zu den USA, Japan oder Westeuropa besser waren, stellen keine Widerlegung der Unüberwindbarkeit der kapitalistischen Widersprüche dar. In Wirklichkeit ist der „Erfolg“ dieser Länder (wobei hier auch die Unterschiede hervorgehoben werden müssen: Russland zum Beispiel lebt vor allem vom Export von Rohstoffen, besonders Erdgasen) eine Konsequenz der generellen Überproduktionskrise der kapitalistischen Wirtschaft, welche durch die verschärfte Konkurrenz zwischen den Unternehmen zur drastischen Verminderung der Lohnkosten drängt, was zu einer Verlagerung von großen Teilen des Produktionsapparats (Automobil-, Textil- und Bekleidungs-, Elektroindustrie, usw.) aus den alten Industriestaaten in Gebiete geführt hat, in denen die Löhne viel tiefer sind. Die enge Bindung der Wirtschaft dieser Schwellenländer an Exporte in die hochentwickelten Staaten wird zweifellos früher oder später zu Erschütterungen führen, wenn die Verkäufe durch die Rezession einbrechen.

14. Wie wir vor vier Jahren schrieben: „Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhaus zusammenstürzen wird, auch wenn der Rückgang der Produktion nicht endlos weitergehen wird, bleibt es bei der Perspektive eines immer tieferen Versinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von noch größeren Erschütterungen als jene, die wir derzeit erleben. Seit mehr als vier Jahrzehnten hat sich die herrschende Klasse als unfähig erwiesen, die Zuspitzung der Krise zu verhindern. Heute ist die Lage viel verheerender als in den 1960er Jahren.“ (Internationale Revue Nr. 44, 18. Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage). Dies bedeutet aber nicht, dass es zu einer vergleichbaren Situation wie 1929 oder in den 1930er Jahren kommt. Vor 70 Jahren war die Bourgeoisie angesichts des Kollapses ihrer Wirtschaft komplett überrumpelt, und die Politik, in die sich jeder Staat im Alleingang stürzte, führte nur zu einer Verschärfung der Krise. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 40 Jahre hat gezeigt, dass, auch wenn es unmöglich ist, die Talfahrt in die Krise zu vermeiden, die herrschende Klasse fähig geworden ist, diese Dynamik zu verlangsamen und ein Szenario der allgemeinen Panik wie am „Schwarzen Donnerstag“  des 24. Oktobers 1929 zu verhindern. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb wir nicht auf eine Situation wie in den 1930er Jahren zusteuern. Damals ging die Schockwelle von der stärksten Macht der Welt aus, den USA, und breitete sich danach auf die zweitgrößte aus, Deutschland. In diesen zwei Ländern manifestierten sich die härtesten Zeichen der Krise wie die Massenarbeitslosigkeit von über 30% der arbeitenden Bevölkerung, die endlosen Schlangen vor den Arbeitsämtern und Suppenküchen, während Länder wie Großbritannien und Frankreich relativ verschont blieben. Heute spielt sich in den Staaten von Südeuropa Vergleichbares ab (vor allem in Griechenland), aber ohne das Ausmaß des Elends der Arbeiterklasse in den 1930er Jahren in den USA und Deutschland zu erreichen. Gleichzeitig sind die am meisten entwickelten Länder von Nordeuropa, die USA und Japan noch weit weg von einem solchen Szenario. Dies weil einerseits ihre nationalen Ökonomien fähiger geworden sind, der Krise zu begegnen, doch auch weil die Arbeiterklasse in diesen Ländern, vor allem in Europa, nicht bereit ist, ein solches Niveau von Angriffen auf ihre Lebensbedingungen zu akzeptieren. Dieser wichtige Faktor bei der Entwicklung der Krise unterliegt keinem strikt ökonomischen Determinismus, sondern spielt sich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse ab - dem Kräfteverhältnis zwischen den zwei wichtigsten sozialen Klassen der Gesellschaft - zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.

15. Auch wenn die herrschende Klasse die eiternden Wunden ihrer Gesellschaft als Schönheitsflecken zu präsentieren versucht, beginnt die Menschheit, aus einem Schlaf aufzuwachen, der ein Albtraum geworden ist, und den totalen Bankrott dieser Gesellschaft zu erkennen. Doch lediglich das vage Bewusstsein und der Drang nach einer anderen Ordnung als einer brutalen Welt, die sich im Zerfall befindet, beutet noch lange nicht, dass die Arbeiterklasse von der Überwindung dieses Systems überzeugt ist, und noch weniger, dass sie daran ist, eine Perspektive hin zu einer neuen Welt zu entwickeln. Die beispiellose Zuspitzung der Krise des Kapitalismus durch den Zerfall ist der Rahmen, in dem sich der Klassenkampf heute abspielt, was mit sich bringt, dass dieser Kampf sich nicht einfach in offenen Konfrontationen zwischen zwei gesellschaftlichen Klassen abspielt. Es gilt hier die besonderen Bedingungen der gegenwärtigen Kämpfe zu sehen, seit sie sich im Kontext einer Krise abspielen, welche seit 40 Jahren anhält, und deren graduelle Auswirkungen – nebst einzelnen Ausbrüchen – die Arbeiterklasse an die langsame Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen gewöhnt hat, was es schwieriger macht, die Bedeutung der Angriffe zu verstehen und darauf konsequent zu reagieren. Darüber hinaus ist es eine Krise, deren Rhythmus schwer verstehen lässt, wer hinter den Angriffen steht, welche sich durch ihre langsame und gestaffelte Natur auszeichnen. Dies unterscheidet sich stark von offensichtlichen und unmittelbaren Erschütterungen im gesamten sozialen Leben in einer Situation des Krieges. So gibt es Unterschiede in der Entwicklung des Klassenkampfes – auf der Ebene der möglichen Reaktionen, der Breite, der Tiefe, der Ausbreitung und des Inhalts – in einer Situation des Krieges einerseits, welche sofort und unaufschiebbar zum Kampf drängt (wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts während dem Ersten Weltkrieg der Fall war, auch wenn es zunächst keine unmittelbare Antwort auf den Krieg gab), und in einer sich langsam entwickelnden Krise andererseits.

Der Ausgangsbedingung für die heutigen Kämpfe ist die Abwesenheit einer Klassenidentität innerhalb des Proletariats, welches seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Phase des Zerfalls große Schwierigkeiten hat, nicht nur seine historische Perspektive zu entwickeln, sondern sich selbst als Klasse wahrzunehmen. Der sogenannte „Tod des Kommunismus“, der angeblich durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 stattgefunden haben soll, löste eine ideologische Kampagne aus, welche das Ziel hatte, die Existenz der Arbeiterklasse überhaupt in Frage zu stellen. Dies hatte eine scherwiegende Wirkung auf das Bewusstsein und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse. Die Auswirkungen dieser Kampagne haben den Verlauf des Klassenkampfes bis zum heutigen Zeitpunkt belastet. Doch trotz alledem zeichnet sich, wie wir es seit 2003 unterstrichen haben, eine Tendenz hin zu Klassenkonfrontationen ab, welche durch verschiedenste Bewegungen bestätigt wurde, in denen die Arbeiterklasse der Bourgeoisie gegenüber „ihre Existenz zeigte“. Die weltweite Arbeiterklasse hat nicht aufgehört zu kämpfen, auch wenn die Kämpfe nicht die erhoffte Breite und Tiefe erreicht haben, die angesichts der dramatischen Situation gefordert sind. Doch über den Klassenkampf in Begriffen wie „was sein sollte“ nachzudenken, als wäre die heutige Situation einfach vom Himmel gefallen, ist keine Methode für Revolutionäre. Die Schwierigkeiten und das Potential des Klassenkampfes zu verstehen, war immer eine Aufgabe, die Geduld und eine historische und materialistische Herangehensweise erforderte, um in das angebliche Chaos Ordnung zu bringen, um zu verstehen, was neu und schwierig ist und auf was wir bauen können.

16. Nur in diesem Kontext von Krise, Zerfall und dem fragilen subjektiven Zustand der Arbeiterklasse kann man die Schwächen, Unzulänglichkeiten, Fehler, aber auch die potentielle Stärke der Kämpfe verstehen, was uns in der Überzeugung bestärkt, dass die kommunistische Perspektive nicht in automatischer oder mechanischer Art von den Umständen bestimmt wird. Während der letzten zwei Jahre haben sich Bewegungen entfaltet, die wir mit der Metapher der fünf Ströme beschrieben:

1. Soziale Bewegungen junger Menschen in prekären Arbeitssituationen, Arbeitslosigkeit oder im Studium, welche mit dem Kampf gegen das CPE-Gesetz in Frankreich 2006 begannen, mit der Revolte in Griechenland 2008 weitergingen, und 2011 in der Bewegung der Empörten und Occupy gipfelten.

2. Bewegungen die massiv waren, doch von der Bourgeoisie gut kontrolliert und im Vorfeld vorbereitet wurden, wie in Frankreich 2007, Frankreich und Großbritannien 2010, Griechenland 2010-2012, usw.

3. Bewegungen, die unter dem Gewicht der klassenübergreifenden Ideologie litten, wie in Tunesien und Ägypten 2011.

4. Ansätze massiver Streiks in Ägypten 2007, Vigo (Spanien) 2006, China 2009.

5. Bewegungen in Fabriken oder in einzelnen Industriesektoren, die vielversprechende Zeichen enthielten, wie bei Lindsey 2009, bei Tekel 2010 oder diejenige der Elektrizitätsangestellten in Großbritannien 2011.

Diese fünf Ströme gehören trotz ihrer Unterschiede der Arbeiterklasse. Jeder drückt auf seine Art eine Bemühung der Arbeiterklasse aus, zu sich selber zurückzufinden trotz all der Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihr von der Bourgeoisie in den Weg gelegt werden. Jeder enthält eine Dynamik der Suche, der Klärung und der Vorbereitung des Klassenterrains. In unterschiedlicher Weise sind sie durch die Vollversammlungen Teil der Suche nach „der Welt, die uns zum Sozialismus führen wird“ (wie es Rosa Luxemburg bezüglich der Arbeiterräte ausdrückte). Der am weitesten fortgeschrittene Ausdruck dieser Tendenz waren die Bewegungen der Empörten und Occupy – vor allem in Spanien – denn sie waren diejenigen, welche am deutlichsten die Spannungen, Widersprüche und das Potential des heutigen Klassenkampfes aufzeigten. Trotz der Präsenz der verarmten Schichten des Kleinbürgertums zeichneten sich diese Bewegungen aus durch ihre Suche nach Solidarität, durch die Vollversammlungen, durch die Bemühungen, eine Debattenkultur zu entwickeln, durch die Fähigkeit, nicht in die Fallen der Repression zu laufen, in Ansätzen durch den Internationalismus und durch eine große Sensibilität für subjektive und kulturelle Aspekte. Es ist diese Dimension der Vorbereitung des subjektiven Terrains, durch welche all diese Bewegungen ihre Bedeutung für die Zukunft bewiesen haben.

17. Die Bourgeoisie hat ihrerseits Zeichen der Unruhe gezeigt angesichts dieser „Wiederauferstehung“ ihres weltweiten Totengräbers, der reagiert auf den Horror, der ihm täglich zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Systems auferlegt wird. Der Kapitalismus hat seine Offensive ausgeweitet mit einer Verstärkung der gewerkschaftlichen Einbindung, der Ausstreuung demokratischer Illusionen und mit dem Feuerwerk des Nationalismus. Es ist kein Zufall, wenn sich seine Gegenoffensive auf das Thema konzentriert: Die Zuspitzung der Krise und ihre Auswirkungen auf die Lebensbedingungen des Proletariats rufen einen Widerstand hervor, den die Gewerkschaften aufzufangen und zu kanalisieren versuchen mit Aktionen, die die Einheit der Kämpfe aufbrechen und den Vertrauensverlust des Proletariats in seine eignen Kräfte möglichst in die Länge ziehen.

Da sich die heute zu beobachtende Entwicklung des Klassenkampfes in einem Rahmen der offenen Krise des Kapitalismus seit fast 40 Jahren abspielt – was gewissermaßen eine neuartige Situation im Vergleich zu den früheren Erfahrungen der Arbeiterbewegung darstellt -, versucht die Bourgeoisie, das Proletariat davon abzuhalten, das weltweite und historische Wesen der Krise zu erkennen, indem sie dieses versteckt. So verhindern die Idee der „nationalen“ Lösungen und das Aufkommen von nationalistischen Diskursen das Verständnis des wirklichen Charakters der Krise, das aber unabdingbar ist, damit der Kampf des Proletariats eine radikale Richtung einschlägt. Denn das Proletariat nimmt sich nicht selber als Klasse wahr, sein Widerstand läuft im Moment tendenziell darauf hinaus, allgemein eine Empörung gegen alles, was in der Gesellschaft stattfindet, zum Ausdruck zu bringen. Dieses Fehlen einer Klassenidentität und somit einer Klassenperspektive erlaubt es der Bourgeoisie, Verschleierungen über die „Bürgerrechte“ und die Kämpfe zugunsten einer „wirklichen Demokratie“ zu produzieren. Und es gibt weitere Ursachen für diesen Verlust an Klassenidentität, die ihre Wurzeln in der Struktur selber der kapitalistischen Gesellschaft und in der Form haben, in der sich die Krise gegenwärtig vertieft. Der Zerfall, der eine brutale Verschlimmerung der minimalsten menschlichen Überlebensbedingungen nach sich zieht, führt auch zu einer schleichenden Verelendung der Menschen auf persönlichem, geistigem und sozialem Gebiet. Dies drückt sich aus in einer „Vertrauenskrise“ der Menschheit. Hinzu kommt, dass die Verschärfung der Krise über die Ausbreitung der Arbeitslosigkeit und der prekären Überlebensbedingungen die Sozialisierung der Jugend erschwert und die Flucht in eine Welt der Abstraktion und der Vereinzelung erleichtert.

18. So sind die Bewegungen dieser beiden letzten Jahre und insbesondere die „sozialen Bewegungen“ durch zahlreiche Widersprüche gekennzeichnet. So widerspricht insbesondere die Seltenheit von spezifischen Forderungen scheinbar dem „klassischen“ Modell eines Weges vom Besonderen zum Allgemeinen, den wir im Klassenkampf erwartet haben. Aber wir müssen auch die positiven Aspekte der allgemeinen Herangehensweise berücksichtigen, die daher rührt, dass wir die Auswirkungen des Zerfalls auf einer allgemeinen Ebene spüren und dass die wirtschaftlichen Angriffe der herrschenden Klasse ihrem Wesen nach universell sind. Heute hat der Weg, den das Proletariat unter die Füße genommen hat, seinen Ausgangspunkt im „Allgemeinen“, so dass sich die Frage der Politisierung tendenziell deutlich direkter stellt. Die ausgebeuteten Massen sind mit dem offensichtlichen Bankrott des Systems und mit den verheerenden Auswirkungen des Zerfalls konfrontiert, so dass ihre Revolte nur vorankommen kann, wenn sie die Probleme als Folgen der Dekadenz des Systems und der Notwendigkeit seiner Überwindung begreifen. Genau in diesem Zusammenhang werden die eigentlich proletarischen Kampfmethoden wichtig, die wir beobachten (Vollversammlungen, offene und brüderliche Debatten, Solidarität, Entfaltung einer mehr und mehr politischen Perspektive), denn es sind Methoden, die eine kritische Reflektion und die Schlussfolgerung erlauben, dass das Proletariat nicht nur in der Lage ist, den Kapitalismus zu zerstören, sondern auch, eine neue Welt aufzubauen. Ein entscheidender Moment in diesem Prozess wird erreicht sein, wenn die Kämpfe, die vom Arbeitsplatz ausgehen, mit den allgemeineren Mobilisierungen zusammen kommen – eine Perspektive, die sich abzuzeichnen beginnt, trotz der Schwierigkeiten, auf die wir in den kommenden Jahren treffen werden. Die ist der Inhalt der Perspektive des Zusammenfließens der „fünf Ströme“, von dem wir oben gesprochen haben, in „ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen“, wie Rosa Luxemburg den Massenstreik beschrieben hat.

19. Um diese Perspektive des Zusammenfließens zu verstehen, ist das Verhältnis zwischen Klassenidentität und Klassenbewusstsein von zentraler Bedeutung, und eine Frage stellt sich: Kann sich das Bewusstsein ohne Klassenidentität entwickeln, oder wird diese entstehen durch die Entwicklung des Bewusstseins? Die Entwicklung des Bewusstseins und einer geschichtlichen Perspektive ist nach richtigem Verständnis verbunden mit der Rückgewinnung der Klassenidentität, aber wir können nicht erwarten, dass dieser Prozess in kleinen Schritten nach einem vorbestimmten Rhythmus ablaufe: zuerst die Identität schmieden, dann kämpfen, dann das Bewusstsein und schließlich die Perspektive entwickeln – oder irgendeine andere Reihenfolge all dieser Bestandteile. Die Arbeiterklasse erscheint heute nicht als je länger je massenhafter auftretender Gegenpol, so ist auch die Entwicklung einer kritischen Haltung durch ein Proletariat, das sich noch nicht als es selber erkennt, das wahrscheinlichste. Die Lage ist vielschichtig, aber es spricht vieles dafür, dass wir eine Antwort in der Form einer allgemeinen Fragestellung erleben werden, die in politischer Hinsicht der Möglichkeit nach positiv ist, aber nicht von einer unterschiedenen, klar abgrenzenden Klassenidentität ausgeht, sondern von Bewegungen, die versuchen, ihre eigene Perspektive im eigenen Kampf zu finden. Wie wir 2009 gesagt haben: „Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit einer kommunistischen Revolution in der Arbeiter_innenklasse bedeutend an Boden gewinnen kann, muss sie Vertrauen in ihre eigenen Kräfte schöpfen, und dies geschieht durch die Entfaltung von massenhaften Kämpfen.“ (Resolution zur internationalen Lage, Punkt 11, 18. Kongress der IKS) Die Formulierung „ihre Kämpfe entfalten, um das Vertrauen in sich selbst und ihre Perspektive wieder zu finden“ wird der Sache gerecht, denn sie beinhaltet die Erkennung „seiner selbst“ und einer Perspektive, aber die Entwicklung dieser Bestandteile kann erst aus den Kämpfen selber herrühren. Das Proletariat „schafft“ nicht sein Bewusstsein, sondern es „begreift“, ergreift das Bewusstsein darüber, was es selber ist.

In diesem Prozess liegt der Schlüssel in der Debatte, damit die Unzulänglichkeiten der beschränkten Gesichtspunkte kritisiert, die Fallen demontiert, die Suche nach Sündenböcken abgelehnt, das Wesen der Krise verstanden werde, etc. In dieser Hinsicht sind die Tendenzen zur offenen und brüderlichen Debatte der letzten Jahre vielversprechend für diesen Politisierungsprozess, der die Klasse voranbringen sollte. Die Welt zu verändern, indem wir uns selber verändern – dies beginnt Gestalt anzunehmen in der Initiativergreifung zu Debatten und in der Diskussion von Sorgen, die sich um die Kritik der Ketten drehen, die das Proletariat lähmen. Der Prozess der Politisierung und Radikalisierung braucht die Debatte, um den herrschenden Zustand zu kritisieren und eine historische Erklärung für die Probleme zu geben. In dieser Hinsicht stimmt nach wie vor, dass „die Verantwortung der revolutionären Organisationen, insbesondere der IKS, darin liegt, aktiver Teil der Reflektion zu sein, die schon heute in der Klasse stattfindet, und zwar nicht nur mittels aktiver Intervention in den Kämpfen, die sie zu entfalten beginnt, sondern auch durch die Stimulierung der Haltung der Gruppen und Einzelpersonen, die vorhaben, sich ihrem Kampf anzuschließen.“ (Resolution zur internationalen Lage des 17. Kongresses der IKS, 2007) Wir müssen fest davon überzeugt sein, dass die Verantwortung der Revolutionäre in der kommenden Phase darin besteht, zur Entwicklung des entstehenden Bewusstseins beizutragen, das zwar erst in leisen, aber doch vernehmbaren Zweifeln und Kritiken im Proletariat zum Ausdruck kommt – als Katalysator zu wirken. Dieser Beitrag besteht im Wesentlichen in der Fortsetzung und Vertiefung der theoretischen Arbeit, nicht nur gegen die Auswirkungen des Zerfalls, sondern auch als Mittel, um das gesellschaftliche Feld geduldig zu befruchten, als Medizin gegen den Immediatismus in unseren Aktivitäten, denn ohne die Radikalisierung und die Vertiefung der Theorie durch die Minderheiten wird die Theorie nie die Massen ergreifen.        

Der 20. Kongress der IKS

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Kürzlich hat die IKS ihren 20. Kongress abgehalten. Der Kongress einer kommunistischen Organisation ist einer der wichtigsten Momente ihrer Aktivitäten und ihres Lebens. Er ist der Ort, wo die ganze Organisation (mittels Delegationen, die von jeder Sektion bestimmt werden) eine Bilanz über ihre Tätigkeit zieht, eine in die Tiefe gehende Analyse der internationalen Lage erstellt, Perspektiven erarbeitet und ein Zentralorgan wählt, das dafür verantwortlich ist, dass die Entscheide der Kongresses umgesetzt werden.

Da wir von der Notwendigkeit einer Debatte und einer Zusammenarbeit zwischen Organisationen überzeugt sind, die für die Überwindung des kapitalistischen Systems kämpfen, haben wir drei Gruppen eingeladen – zwei von Korea und OPOP von Brasilien, die schon früher an internationalen Kongressen teilgenommen haben. Weil die Arbeit eines Kongresses einer kommunistischen Organisation keine „interne“ Angelegenheit ist, sondern die gesamte Arbeiterklasse etwas angeht, informieren wir unsere Leser_innen über die wesentlichen Fragen, die an diesem Kongress diskutiert worden sind.

Dieser Kongress ist vor dem Hintergrund einer Zuspitzung der Spannungen in Asien, einer Fortsetzung des Krieges in Syrien, einer Vertiefung der Wirtschaftskrise und einer komplizierten Lage des Klassenkampfes abgehalten worden, die gekennzeichnet ist durch eine schwache Entwicklung der „klassischen“ Arbeiterkämpfe gegen die wirtschaftlichen Angriffe der Bourgeoisie, aber auch durch das weltweite Auftauchen von sozialen Bewegungen, von denen die bedeutsamsten Beispiele diejenigen der „Indignados“ in Spanien und „Occupy Wall Street“ in den USA sind.

Die Analyse der Weltlage:

Eine Herausforderung, die eine bedeutende theoretische Anstrengung erfordert

Die Resolution zur internationalen Lage, die am 20. Kongress der IKS angenommen wurde und welche die aus der Diskussion herausgekommenen Analysen zusammenfasst, wird in der vorliegenden Ausgabe der Internationalen Revue ebenfalls veröffentlicht. Es ist deshalb nicht nötig, hier im Detail auf sie einzugehen.

Diese Resolution ruft den geschichtlichen Rahmen in Erinnerung, in welchem wir die gegenwärtige Lage der Gesellschaft verstehen, den Rahmen der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, des Niedergangs, der mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat, und der letzten Phase in dieser Dekadenz, den die IKS seit Mitte der 1980er Jahre als Phase des Zerfalls, des Verfaulens am lebendigen Leib, analysiert. Dieser Zerfall zeigt sich insbesondere an der Form, welche die imperialistischen Konflikte heute annehmen, von denen die Lage in Syrien ein tragisches Beispiel ist (wie dies dem Bericht über diese Frage entnommen werden kann, den wir ebenfalls in dieser Nummer veröffentlichen), aber auch in der katastrophalen Umweltzerstörung, welche die Bourgeoisie trotz all ihrer lauten Erklärungen und Kampagnen völlig unfähig ist zu verhindern oder auch nur zu bremsen.

Der Kongress hat keine besondere Diskussion über die imperialistischen Konflikte geführt - einerseits aus Zeitmangel, andererseits aber auch, weil die Vorbereitungsdiskussionen gezeigt haben, dass wir uns in dieser Frage weitgehend einig sind. Doch hat der Kongress eine Einführung der koreanischen Gruppe Sanoshin über die imperialistischen Spannungen im Fernen Osten zur Kenntnis genommen, die wir als Anhang auf unserer englischsprachigen Webseite veröffentlichen.

Über die Wirtschaftskrise

Die Resolution unterstreicht die Sackgasse, in der sich die Bourgeoisie heute befindet; diese ist unfähig, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, was eine schlagende Bestätigung der marxistischen Analyse ist. Einer Analyse, die alle „Experten“, ob sie sich auf den „Neoliberalismus“ berufen oder ihn verwerfen, mit der Verachtung der Unwissenden geringschätzen und vor allem bekämpfen, weil sie eben den historischen Bankrott dieser Produktionsweise und die Notwendigkeit voraussieht, sie durch eine Gesellschaft zu ersetzen, in welcher der Markt, der Profit und die Lohnarbeit ins Museum der Geschichte gestellt werden, wo die Menschheit von den blinden Gesetzen befreit wird, die sie in die Barbarei hinab ziehen, um endlich nach dem Grundsatz zu leben: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Was die gegenwärtige Lage der Krise des Kapitalismus betrifft, hat sich der Kongress klar dahingehend geäußert, dass die „Finanzkrise“ weder der Ursprung der Widersprüche ist, in denen die Weltwirtschaft versinkt, noch dass sie ihre Wurzeln in der „Finanzialisierung der Oekonomie“ und der Jagd nach kurzfristigen und spekulativen Profiten habe: es „ist (…) die Überproduktion, welche die Quelle der „Finanzialisierung“ darstellt, und es ist das zunehmende Risiko, in die Produktion zu investieren - weil der Weltmarkt zunehmend gesättigt ist -, welche das Geld immer mehr in die Spekulation treibt. All die „linken“ Wirtschaftstheorien, die zur „Zügelung des internationalen Kapitals“ aufrufen, um die Krise zu überwinden, sind nichts als naive Träume, da sie die wirklichen Gründe des Aufblähens des Finanzsektors außer Acht lassen“ (Resolution zur internationalen Lage, Punkt 10). Gleichzeitig hat der Kongress festgehalten, dass „die “Sub-prime-Krise“ 2007, die Finanzpanik 2008 und die Rezession 2009 (…) einen neuen wichtigen Schritt des Kapitalismus in seine unumkehrbare Krise“ darstellten (a.a.O. Punkt 11).

Der Kongress hat aber auch festgestellt, dass wir uns in unserer Organisation in verschiedenen Fragen nicht einig sind und dass die Diskussion insbesondere über die folgenden Themen weitergeführt werden soll.

Stellte die Krise von 2007 einen qualitativen Bruch dar, der ein neues Kapitel eröffnete, in welchem die Wirtschaft schnell und unmittelbar zusammenbricht? Worin besteht die Bedeutung der qualitativ neuen Etappe, die durch die Ereignisse von 2007 eingeläutet worden ist? In einem allgemeineren Sinn, müssen wir uns auf welche Krisenentwicklung gefasst machen: eine plötzlichen Zusammenbruch oder einen „langsamen“ Niedergang, der durch die kapitalistischen Staaten begleitet wird? Welche Staaten werden zuerst abtauchen, welche zuletzt? Hat die herrschende Klasse einen Spielraum, und welche Fehler will sie vermeiden? Oder in einem allgemeineren Sinn: Wenn die Bourgeoisie die Perspektiven der Krise analysiert, kann sie dabei die Möglichkeit von Reaktionen der Arbeiterklasse ignorieren? Welche Kriterien zieht die herrschende Klasse in Betracht, wenn sie in den verschiedenen Ländern Sparprogramme beschließt? Sind wir in einer Situation, in der alle herrschenden Klassen die Arbeiterklasse angreifen kann, wie es in Griechenland geschah? Ist in den alten Industrieländern der Zentren eine Kopie der Angriffe gleichen Ausmaßes (Lohnsenkungen von bis zu 40% usw.) zu erwarten? Worin besteht der Unterschied zwischen der Krise von 1929 und der heutigen? Welches ist der Grad der Verarmung in den großen Industrieländern?

Die Organisation hat daran erinnert, dass sie sehr schnell nach 1989 das Bewusstsein über die Bedeutung der Ereignisse erlangt und vorausgesehen hat, welche grundlegenden Veränderungen der Zusammenbruch des Ostblocks und der so genannten „sozialistischen“ Länder auf imperialistischer Ebene und im Klassenkampf bewirkt hat[i]. Doch auf der Ebene der wirtschaftlichen Auswirkungen haben wir die großen Veränderungen, die in der Zwischenzeit eingetreten sind, nicht vorausgesehen. Was bedeutete die Aufgabe einer gewissen Autarkie und Abschottungspolitik gegenüber dem Weltmarkt durch China und Indien für die Weltwirtschaft?

Wie wir dies schon mit der in der Organisation vor einigen Jahren geführten Debatte über die Mechanismen, die den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkt haben, getan haben[ii], werden wir unsere Leser_innen auch über die wesentlichen Teile der aktuellen Debatte in Kenntnis setzen, sobald die Diskussion einen genügenden Klarheitsgrad erreicht hat.

Über den Klassenkampf

Der Bericht an den Kongress über den Klassenkampf hat eine Bilanz über die letzten zwei Jahre (seit dem Arabischen Frühling, den Bewegungen des Indignados, von Occupy, den Kämpfen in Asien, etc.) und die Schwierigkeiten der Klasse gezogen, auf die immer größeren Angriffe der Kapitalisten in Europa und den USA zu antworten. Die Diskussionen am Kongress drehten sich hauptsächlich um die folgenden Fragen: Wie sind die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse zu erklären, „angemessen“ auf die wachsenden Angriffe zu reagieren? Wieso gibt es in den alten industrialisierten Zentren noch keine Entwicklung hin zu einer revolutionären Situation? Welche Politik verfolgt die herrschende Klasse, um Massenkämpfe in den alten industrialisierten Zentren zu verhindern? Welches sind die Voraussetzungen für den Massenstreik?

Welche Rolle spielt die Arbeiterklasse in Asien – insbesondere in China – für das weltweite Kräfteverhältnis zwischen den Klassen? Was können wir von der Klasse erwarten? Hat sich das Zentrum der Weltwirtschaft und des Weltproletariats nach China verlagert? Wie sind die Veränderungen in der Zusammensetzung der Weltarbeiterklasse einzuschätzen? Die Diskussion ist auf unsere Position zum schwachen Glied zurückgekommen, die wir zu Beginn der 1980er Jahre gegen Lenins These erarbeitet haben, wonach die Kette der kapitalistischen Herrschaft am „schwächsten Glied“[iii], das heißt in den schwach entwickelten Ländern reißen werde.

Auch wenn die Diskussionen keine Meinungsverschiedenheiten über den vorgestellten Bericht (der im Abschnitt zum Klassenkampf der Resolution zur internationalen Lage zusammengefasst ist) zu Tage gefördert haben, sind wir zum Schluss gelangt, dass die Organisation die Reflexion über diese Frage fortsetzen muss, insbesondere indem wir das Thema diskutieren: „Mit welcher Methode muss man die Analyse des Klassenkampfes in der gegenwärtigen geschichtlichen Phase angehen?“

Das Leben und die Aktivitäten der Organisation

Die Diskussionen über das Leben der Organisation, über die Bilanz und die Perspektiven der Aktivitäten und des Funktionierens nahmen einen großen Teil des 20. Kongresses ein. Dies ist Ausdruck der Tatsache, dass Organisationsfragen nicht „technische“ Fragen sind, sondern einen politischen Charakter mit eigenem Stellenwert haben und größtmöglicher Aufmerksamkeit bedürfen. Wenn wir die Geschichte der drei Internationalen betrachten, welche von der Arbeiterklasse hervorgebracht wurden, so sehen wir, wie der marxistische Flügel diese Fragen immer wieder resolut ins Zentrum rückte. Folgende Beispiele sind nur einige von vielen:

- Der Kampf von Marx und dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation gegenüber der Allianz von Bakunin, vor allem auf dem Haager Kongress von 1872.

- Der Kampf Lenins und der Bolschewiki gegen die kleinbürgerlichen und opportunistischen Auffassungen der Menschewiki auf dem 2. Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1903.

- Der Kampf der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens gegen die Degeneration der Komintern, und ihre Vorbereitungen zur politischen und programmatischen Bildung einer neuen proletarischen Partei, wenn die Bedingungen es erlauben.

Die geschichtliche Erfahrung der Arbeiterbewegung hat gezeigt, dass spezifische politische Organisationen, welche die revolutionäre Perspektive innerhalb der Arbeiterklasse verteidigen, unabdingbar sind, wenn die Arbeiterklasse den Kapitalismus überwinden und eine kommunistische Gesellschaft aufbauen will. Doch proletarische politische Organisationen können nicht einfach proklamiert werde: Sie müssen aufgebaut werden. Während das Ziel die Überwindung des kapitalistischen Systems ist und die kommunistische Gesellschaft nur realisiert werden kann, wenn die Macht der Bourgeoisie gebrochen und der Kapitalismus überwunden ist, muss eine revolutionäre Organisation innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aufgebaut werden. Deshalb ist der Aufbau der Organisation dem Druck und den Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ideologie ausgesetzt. Der Prozess des Organisationsaufbaus findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Revolutionäre Organisationen sind immer Fremdkörper innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, welche die kapitalistische Gesellschaft ständig zu zerstören versucht. Eine revolutionäre Organisation muss sich deshalb dauernd gegen eine ganze Reihe von Angriffen der bürgerlichen Gesellschaft zur Wehr setzten.

Dass sie der Repression ausgesetzt ist, ist bekannt. Die herrschende Klasse schreckte, wenn immer sie es für notwendig befand, nie davor zurück, die Polizei oder das Militär gegen die Revolutionäre einzusetzen. Die Mehrzahl der Organisationen in der Vergangenheit bestanden für lange Zeit unter den Bedingungen der Repression: Sie wurden „Gesetzlose“, und viele Mitglieder wurden ins Exil getrieben. Doch diese Art der Repression konnte sie nur selten brechen, ganz im Gegenteil, es stärkte sogar oft ihre Entschlossenheit und verstärkte den Kampf gegen demokratische Illusionen. So zum Beispiel im Fall der SPD in Deutschland, die während der Sozialistengesetze von 1878-1890 dem Gift der Demokratie und des Parlamentarismus viel besser widerstehen konnte als während der Periode der Legalität. Dies war auch bei der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands der Fall (und insbesondere bei ihrer bolschewistischen Fraktion), die während praktisch der ganzen Zeit ihrer Existenz illegal war.

Die revolutionäre Organisation muss auch der Zerstörung von innen entgegentreten – dem Eindringen von Spionen, Informanten, Abenteurern, usw., die oft mehr Schaden anrichten als die offene Repression.

Doch sie hat vor allem dem Druck der herrschenden Ideologie zu widerstehen, vor allem dem Demokratismus und dem sogenannten „gesunden Menschenverstand“, der speziell von Marx ins Visier genommen worden war. Sie muss gegen all die „Werte“ und „Prinzipien“ der kapitalistischen Gesellschaft ankämpfen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat uns durch das Geschwür des Opportunismus in der Zweiten und Dritten Internationale gelehrt, dass die Hauptgefahr für revolutionäre Organisationen darin besteht, das Eindringen der „Werte“ und Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaft nicht abwehren zu können.

Aus diesen Gründen kann eine revolutionäre Organisation nicht wie die kapitalistische Gesellschaft funktionieren, sie muss in einer assoziierten Weise arbeiten.

Die kapitalistische Gesellschaft funktioniert mit Konkurrenz, Entfremdung, dem gegenseitigen sich „Messen“, mit dem Aufstellen von Normen, mit einer maximalen Effizienz. Eine kommunistische Organisation erfordert die Zusammenarbeit und die Überwindung des Konkurrenzgedankens. Sie kann nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder sich nicht wie Schafe einer Herde verhalten, keine Nachtrabpolitik praktizieren und nicht blind akzeptieren, was die Zentralorgane oder einzelne Genossen sagen. Die Suche nach der Wahrheit und Klarheit muss die Aktivitäten der Organisation ständig beseelen. Unabhängiges Denken, die Fähigkeit zum Nachdenken und zur Infragestellung sind lebenswichtig. Dies heißt, dass wir uns nicht hinter dem Kollektiv verstecken können, sondern dass wir unsere individuelle Verantwortung wahrnehmen müssen, indem wir unseren Standpunkt formulieren und die Klärung vorantreiben. Der Konformismus ist ein großes Hindernis in unserem Kampf für den Kommunismus.

In der kapitalistischen Gesellschaft ist man schnell ausgeschlossen, wenn man die Normen nicht erfüllt, wird zum schwarzen Schaf, welches für alles die Schuld trägt. Eine revolutionäre Organisation muss eine Funktionsweise entwickeln, durch die alle mit ihren verschiedenen individuellen Persönlichkeiten in ein Ganzes integriert werden können, d.h. die Kunst lernen, die Reichhaltigkeit unserer Verschiedenheit als Beiträge zum Ganzen zusammen zu führen. Dies beinhaltet einen Kampf gegen persönlichen Stolz und andere Sichtweisen, die mit dem Wettbewerb verknüpft sind. Es bedeutet die Anerkennung des Beitrags von allen Militanten. Gleichzeitig muss eine Organisation Regeln und Prinzipien aufstellen, welche im Einklang mit unserer Ethik sind. All das muss entwickelt werden und ist ein Kampf für sich. Während die Ethik der kapitalistischen Gesellschaft keine Skrupel kennt, sollte das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse in Übereinstimmung mit den Mitteln des Kampfes stehen.

Der Aufbau und die Funktionsweise einer Organisation enthalten eine theoretische und eine moralische Dimension, welche beide eine konstante und bewusste Anstrengung erfordern. Jegliche Trägheit und schwankende Haltung, jede Schwächung der Anstrengungen und der Aufmerksamkeit bei einer Dimension eröffnet die Schwächung der anderen. Diese zwei Dimensionen sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Je weniger theoretische Anstrengungen die Organisation betreibt, desto schneller und widerstandsloser kann ein moralischer Rückschritt Einzug halten, und gleichzeitig schwächt der Verlust unseres moralischen Kompasses unweigerlich unsere theoretischen Fähigkeiten. Am Wendepunkt zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zeigte Rosa Luxemburg auf, wie sich das opportunistische Abgleiten der deutschen Sozialdemokratie Hand in Hand mit ihrem moralischen und theoretischen Verfall entwickelte.

Einer der grundlegendsten Aspekte im Leben einer kommunistischen Organisation ist der Internationalismus, nicht nur auf der Ebene ihrer Prinzipien, sondern auch auf der Ebene der Konzeption, die sie bezüglich ihres Lebens und Funktionierens hat.

Das Ziel – eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, welche für die Bedürfnisse der Menschheit produziert – kann nur auf internationaler Ebene erreicht werden und erfordert die Vereinigung des Proletariats über alle Grenzen hinweg. Aus diesem Grunde war der Internationalismus das Leitmotiv der Arbeiterklasse seit ihrer Entstehung. Revolutionäre Organisationen müssen eine Vorhut sein bei der Entwicklung einer internationalistischen Haltung und gegen „lokalistische“ Auffassungen kämpfen.

Schon von Beginn weg hat das Proletariat versucht, sich international zu organisieren (der Bund der Kommunisten 1847-1852 war die erste internationale Organisation), die IKS ist die erste Organisation, die international zentralisiert ist und in der alle Sektionen dieselben Positionen vertreten. Unsere Sektionen sind in internationale Debatten in unserer Organisation integriert, wo alle Mitglieder – über die Kontinente hinweg – an den Erfahrungen der gesamten Organisation teilhaben können. Dies bedeutet, dass wir lernen müssen, Mitglieder mit verschiedenstem Hintergrund zusammenzubringen und Debatten zu führen trotz all der verschiedenen Sprachen – was ein sehr inspirierender Prozess ist –, in denen die Klärung und Vertiefung unserer Positionen bereichert wird durch Genoss_innen aus der ganzen Welt.

Schlussendlich ist es für eine revolutionäre Organisation lebenswichtig, ein klares Verständnis ihrer Rolle im Kampf der Emanzipation der Arbeiterklasse zu haben. Die IKS hat schon oft darauf hingewiesen, dass die Funktion der revolutionären Organisation heute nicht die der „Organsierung der Klasse“ oder deren Kämpfe ist (wie es während der ersten Zeit der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert noch der Fall sein konnte). Die Hauptaufgabe ergibt sich, wie schon im Kommunistischen Manifest 1848 beschrieben, aus der Tatsache, dass die Kommunisten „(…) vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ haben. In diesem Sinne ist die ständige und wesentliche Aufgabe der Organisation die Entwicklung der politischen Positionen, und um dies zu tun, darf sie nicht vollkommen absorbiert sein durch ihre Aufgabe der Intervention innerhalb der Arbeiterklasse. Sie muss fähig sein, einen Schritt zurück zu machen, um den allgemeinen Überblick zu bewahren. Sie sollte ständig Fragen vertiefen, die sich für die Klasse als Ganzes stellen, und diese Fragen aus einer historischen Perspektive angehen. Sie darf sich daher nicht lediglich auf die Analyse der Weltlage beschränken. Die Arbeit muss breiter sein, theoretische Fragen aufgreifen, Oberflächlichkeit und Verzerrungen durch die bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie vermeiden. All dies ist ein dauernder Kampf mit einer langfristigen Sichtweise, die viel mehr Aspekte beinhaltet als diejenigen, die sich für die Klasse in diesem oder jenem Moment des Kampfes stellen.

Da die proletarischen Revolution nicht einfach ein Kampf um „Messer- und Gabelfragen“ ist, wie Rosa Luxemburg hervorhob, sondern die erste Revolution in der Geschichte der Menschheit darstellt, bei der alle Ketten der Ausbeutung und Unterdrückung gesprengt werden, erfordert dieser Kampf eine breite kulturelle Veränderung. Eine revolutionäre Organisation beschäftigt sich nicht nur mit Fragen der politischen Ökonomie oder dem Klassenkampf im engeren Sinne. Sie muss ihre eigene Vision zu den wichtigsten Fragen, vor denen die Menschheit steht, entwickeln, ihre Sichtweise immer neu erweitern und offen und bereit sein, neue Fragen anzugehen. Die theoretische Anstrengung, die Suche nach der Wahrheit, der Wille zur Klärung muss unsere tägliche Passion werden.

Gleichzeitig können wir unsere Rolle nur erfüllen, wenn die alte Generation von Mitgliedern ihre Erfahrungen und Lehren an die neue weitergibt. Wenn die alte Generation keine „Schatztruhe“ an Erfahrungen und Lehren an die neue Generation weitergeben kann, hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. Der Aufbau einer Organisation beinhaltet die Kunst, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen, um so die Zukunft vorzubereiten.

Die Aufgabe des Aufbaus einer revolutionären Organisation ist enorm komplex und erfordert einen ständigen Kampf. In der Vergangenheit führte unsere Organisation schon wichtige Auseinandersetzungen zur Verteidigung unserer Prinzipien. Doch die Erfahrung hat auch gezeigt, dass diese Auseinandersetzungen ungenügend waren und erneut aufgenommen werden müssen. Dies vor allem angesichts von Schwierigkeiten und Schwächen, die seit der Gründung unserer Organisation bestehen und aus den historischen Umständen herrühren, in denen wir leben:

„Es gibt nicht einen alleinigen Grund für die verschiedenen Schwächen der Organisation. Sie sind das Resultat verschiedener Faktoren, welche, auch wenn sie miteinander verknüpft sind, einzeln erkannt werden müssen:

- Das Gewicht unserer Wurzeln im historischen Wiedererwachen des Weltproletariats Ende der 1960er Jahre, und vor allem die Auswirkungen des historischen Bruchs.

- Das Gewicht des Zerfalls des Kapitalismus, das sich ab Mitte der 1980er Jahre auswirkte.

- Der Druck der „unsichtbaren Hand des Marktes“, der Verdinglichung, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft sich mit dem Weiterbestehen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse immer mehr verstärken.

Die verschiedenen Schwächen, die wir feststellen, auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen, rühren in letzter Instanz aus diesen drei genannten Faktoren oder aus deren Kombination her:

- Die Unterschätzung der theoretischen Vertiefung, vor allem der Fragen der Organisation, hat ihre Wurzeln in unseren Ursprüngen: dem Einfluss der Studentenrevolten mit ihren kleinbürgerlichen und akademistischen Komponenten, denen sich eine Tendenz entgegenstellte, die den Anti-Akademismus mit dem Widerstand gegen die Theorie vermischte, einer Stimmung der Ablehnung jeglicher Autorität [der älteren Organisationsmitglieder], die viele junge Mitglieder der Organisation erfasste. Später wurde diese Unterschätzung der Theorie genährt durch die allgemeine Atmosphäre der Zerstörung des Denkens, die charakteristisch ist für die Periode des Zerfalls, und durch die wachsende Übernahme des altbekannten „gesunden Menschenverstandes“, ein Zeichen des schleichenden Eindringens der Verdinglichung in unsere Reihen. (…)

- Der Verlust von Errungenschaften ist eine direkte Konsequenz der Unterschätzung der theoretischen Vertiefung: die Errungenschaften der Organisation, seien es programmatische, analytische oder organisatorische Fragen, können unter dem andauernden Druck der bürgerlichen Ideologie nur erhalten bleiben, wenn sie immer wieder durch eine theoretische Reflexion genährt werden. Ein Denken, das nicht vorwärts schreitet und stattdessen durch die Wiederholung stereotyper Formulierungen geprägt ist, bleibt nicht nur stehen, sondern macht unweigerlich Rückschritte. Die in der Vergangenheit oft festgestellte Oberflächlichkeit im Begreifen unserer Positionen führt unabdingbar zum Verlust unserer Errungenschaften. (…)

- Der Immediatismus ist eine Kinderkrankheit einer Organisation, welche von jungen Genoss_innen gegründet wurde, die sich zu einer Zeit der spektakulären Rückkehr des Klassenkampfes politisiert hatten. Viele dachten, die Revolution warte an der nächsten Ecke. Die Ungeduldigsten blieben nicht lange dabei, waren letztendlich demoralisiert und kehrten dem Kampf den Rücken. Doch diese Schwäche bestand auch bei denen weiter, die blieben: Sie begann die Organisation zu durchdringen und drückte sich bei verschiedensten Gelegenheiten aus. Der Immediatismus ist eine Schwäche, die fatal sein kann, denn, kombiniert mit dem Verlust von Errungenschaften, führt er unweigerlich zum Opportunismus, einer Haltung, welche die Fundamente der Organisation immer wieder angegriffen hat. (…)

- Der Routinismus ist einer der deutlichsten Ausdrücke des Gewichts der Entfremdung, der verdinglichten Beziehungen, welche die kapitalistische Gesellschaft beherrschen und die dazu tendieren, die Organisation in eine Maschine und die Mitglieder in Roboter zu verwandeln. Der Routinismus wird ganz offensichtlich durch den Mangel an theoretischer Reflexion verstärkt, was dazu führt, dass die Gründe der Existenz der Organisation vergessen gehen.

- Die Sklerose resultiert zu großen Teilen aus dem Routinismus, doch sie wird ebenfalls genährt durch den Verlust von Errungenschaften und die theoretische Verarmung. Aus diesem Grund ist sie lediglich die Kehrseite des Opportunismus. Auch wenn die Sklerose nicht wie der Opportunismus zum Verrat führt (beide können allerdings Hand in Hand gehen), so führt die sklerotische Lähmung gegenüber der Verantwortung als Organisation dazu, dass diese aufhört, ein aktiver Faktor bei der Entwicklung des Klassenbewusstsein zu spielen.

Der Zirkelgeist ist, wie die Geschichte der IKS und der gesamten Arbeiterbewegung zeigt, eines der gefährlichsten Gifte für die Organisation. Er beinhaltet nicht nur die Tendenz, ein Instrument des proletarischen Kampfes in einen simplen „Haufen von Freunden“ zu verwandeln, sondern begünstigt auch die Personalisierung politischer Fragen, was die Debattenkultur untergräbt. Der Zirkelgeist bedeutet auch die Zerstörung der kollektiven Arbeit und der Einheit der Organisation, dies vor allem in Form der Clan-Ideologie. Der Zirkelgeist ist ebenfalls verantwortlich für die Jagd nach Sündenböcken, was die moralische Gesundheit der Organisation untergräbt. Er ist einer der schlimmsten Feinde der Kultur der Theorie, indem er vertieftes und rationales Denken zugunsten von Verleumdungen und Klatsch zerstört. Er ist ein gängiges Vehikel des Opportunismus, der Vorstufe des Verrats.” (Aktivitätenresolution des Kongresses, Punkt 4)

Für den Kampf gegen die Schwächen und Gefahren, die auf die revolutionäre Organisation lauern, gibt es keine Zauberformel, und wir müssen auf verschiedenen Ebenen eine Anstrengung leisten. Ein Punkt, der vom Kongress unterstrichen wurde, ist die Notwendigkeit, den Routinismus und Konformismus zu bekämpfen, denn die Organisation ist kein anonymer, uniformer Körper, sondern eine Assoziation verschiedener Mitglieder, die alle ihren spezifischen Beitrag an die gemeinsame Arbeit leisten können.

„Zum Aufbau einer wirklichen internationalen Assoziation kommunistischer Militanter, wo jeder seinen Baustein zum kollektiven Bauwerk beiträgt, muss die Organisation die reaktionäre Utopie des „Modellmilitanten“, des „Standardmilitanten“ oder des unverletzlichen und unfehlbaren Supermilitanten zurückweisen. Militante sind weder Roboter noch Übermenschen, sondern schlicht Menschen mit verschiedenen Persönlichkeiten, Vergangenheiten und sozio-kulturellen Wurzeln. Nur durch ein besseres Verständnis der menschlichen Charaktere und der Unterschiede, die unserer Spezies eigen sind, kann ein Vertrauen und eine Solidarität zwischen den Militanten aufgebaut und gefestigt werden. Alle Mitglieder haben die Fähigkeit, ihren besonderen Beitrag an die Organisation zu leisten. Und es ist auch ihre individuelle Verantwortung, dies zu tun. Es ist vor allem die Verantwortung jedes Mitglieds, seine Position in den Debatten zu äußern, vor allem wenn man nicht einverstanden ist oder Fragen hat. Ohne dies kann die Organisation ihre Debattenkultur und die theoretische Vertiefung nicht weiter entwickeln.“ (Aktivitätenresolution, Punkt 9).

Der Kongress unterstrich im Besonderen die Notwendigkeit, die theoretische Vertiefung mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit an die Hand zu nehmen.

„Die erste Herausforderung für die Organisation ist es, sich der bestehenden Gefahren bewusst zu werden. Wir können diese Gefahren nicht mit „Feuerwehrübungen“ im letzten Moment überwinden. Wir müssen alle unsere Probleme mit einer theoretischen und historischen Haltung angehen und Pragmatismus und Oberflächlichkeit beiseite lassen. Das bedeutet eine langfristige Sichtweise zu entwickeln, und nicht einem empirischen „Funktionieren von heute auf morgen“ zu verfallen. Das theoretische Studium und der politische Kampf müssen ins Zentrum des Organisationslebens zurückkehren, und dies nicht nur im Hinblick auf die unmittelbaren Interventionen in der Klasse, sondern um die tiefgehenden Fragen des Marxismus zu verfolgen, welche in den letzten zehn Jahren in unseren Orientierungen beschrieben, aber von der Organisation nicht umgesetzt wurden. Das bedeutet, sich die notwendige Zeit zu geben für die Vertiefung und den Kampf gegen den Konformismus in unseren Reihen. Die Organisation muss das kritische Infrage-stellen, das Formulieren von Zweifeln und die Anstrengungen zur Vertiefung fördern. Wir sollten nicht vergessen, dass die „Kritik keine Leidenschaft des Kopfs [ist], sie ist der Kopf der Leidenschaft“, und dass, „auch die Theorie zur materiellen Gewalt [wird], sobald sie die Massen ergreift“ (Marx). Der Kampf für den Kommunismus beinhaltet nicht nur eine ökonomische und politische Dimension, sondern auch, und vor allem, eine theoretische Dimension (geistig und moralisch). Durch die Entwicklung der „Kultur der Theorie“, das heißt durch die permanente Fähigkeit, alle Aktivitäten der Organisation in einen theoretischen Rahmen zu stellen, können wir die Debattenkultur in unseren Reihen entwickeln und vertiefen und uns so die dialektische Methode des Marxismus besser aneignen. Ohne die Entwicklung der „Kultur der Theorie“ wird die IKS nicht fähig sein, ihren Kompass auf eine lange Zeit auszurichten, um eine Orientierung zu haben oder sich unvorhergesehenen Situation zu stellen und den Marxismus zu entwickeln und zu bereichern, welcher kein invariantes und unantastbares Dogma, sondern eine lebendige Theorie ist, die in die Zukunft weist.

Diese „Kultur der Theorie“ ist keine Angelegenheit des Bildungsgrades der Mitglieder. Sie beinhaltet die Entwicklung eines rationalen, rigorosen und kohärenten Denkens, das unabdingbar ist für die Fähigkeit, Argumente zu entwickeln, das Bewusstsein der Mitglieder zu erweitern und die marxistische Methode in unseren Reihen zu konsolidieren.

Diese Arbeit der theoretischen Reflexion darf den Beitrag der Wissenschaft (vor allem von Geisteswissenschaften wie der Psychologie und Anthropologie) und die Geschichte der menschlichen Spezies und deren Zivilisationsentwicklung nicht ignorieren. Aus diesem Grund hatte die Diskussion zum Thema „Marxismus und Wissenschaft“ auf dem Kongress höchste Bedeutung. Die Fortschritte, die wird dort machten, müssen im Denken und Leben der Organisation verstärkt präsent sein.

Die Einladung von Wissenschaftlern

Die IKS interessiert sich nicht erst seit kurzem für die Wissenschaften. Wir berichteten in den Artikeln über unseren letzten Kongress von der Einladung an Wissenschaftler, die einen Beitrag zum Nachdenken in der ganzen Organisation leisteten, indem sie ihre Gedanken über ihre Forschungsgebiete präsentierten. An diesen Kongress luden wir die britischen Anthropologen Camilla Power und Chris Knight ein, die schon an früheren Kongressen teilgenommen hatten. Wir möchten uns bei ihnen herzlich für ihre Teilnahme bedanken. Diese zwei Wissenschaftler machten eine gemeinsame Präsentation zur Frage der Gewalt in der Urgeschichte, in Gesellschaften, welche noch nicht in Klassen geteilt waren. Kommunisten haben ein fundamentales Interesse an dieser Frage. Der Marxismus hat viele Untersuchungen zur Frage der Gewalt gemacht. Engels widmete einen wichtigen Teil seines Werkes Anti-Dühring der Rolle der Gewalt in der Geschichte. Heute, fast hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, nach einem ganzen Jahrhundert der wohl schrecklichsten Gewalt in der Geschichte der Menschheit, wo die Gewalt im gesellschaftlichen Leben allgegenwärtig ist, ist es wichtig, dass diejenigen, die für eine Gesellschaft kämpfen, welche den Kapitalismus und seine Kriege und die Unterdrückung hinter sich lässt, sich Fragen zur Rolle der Gewalt in den verschiedenen Gesellschaften stellen. Im Besonderen angesichts der bürgerlichen Ideologie, welche die heutige Gewalt der „Natur des Menschen“ zuschreibt und deren Regeln das „Jeder für sich“ und die Dominanz der Starken über die Schwachen sind, besteht die Notwendigkeit, die Rolle von Gesellschaften zu untersuchen, die nicht in Klassen gespalten waren, wie im Urkommunismus.

Wir können hier nicht auf die reichhaltige Präsentation von Camilla Power und Chris Knight eingehen (wir werden sie auf unserer Website veröffentlichen). Doch wir wollen zumindest hervorheben, dass diese beiden Wissenschaftler gegen die Theorien von Steven Pinker[iv] argumentierten, welcher behauptet, dass dank der „Zivilisation“ und dem Einfluss des Staates die Gewalt eingedämmt wurde. Camilla Power und Chris Knight zeigten auf, dass in Jäger- und Sammlergesellschaften ein viel tieferes Niveau an Gewalt herrschte als in späteren Gesellschaftsformationen.

Die Diskussion, welche auf die Präsentation von Camilla Power und Chris Knight folgte, war - wie am vorherigen Kongress - sehr lebhaft. Sie zeigte einmal mehr, wie der Beitrag der Wissenschaften das revolutionäre Denken bereichern kann, eine Idee, welche schon Marx und Engels vor hundertfünfzig Jahren formuliert haben.

Schlussfolgerung

Der 20. Kongress der IKS zeigte durch die Schwierigkeiten, vor denen die Arbeiterklasse in ihrem Kampf um die Emanzipation steht, aber ebenso durch die Schwierigkeiten, mit denen die revolutionäre Organisation konfrontiert ist, um ihre spezifische Rolle in diesem Kampf wahrzunehmen, auf, wie lange und beschwerlich der Weg vor uns ist. Doch all das soll uns nicht entmutigen. Die vom Kongress angenommene Resolution formulierte es folgendermaßen:

„Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist langwierig und schwierig. Sie erfordert Geduld, die Lenin als eine der größten Qualitäten der Bolschewiki bezeichnete. Wir müssen angesichts unserer Probleme der Resignation entgegentreten. Sie sind unvermeidbar und wir sollten sie nicht als gegeben betrachten, sondern im Gegenteil als eine Ermutigung, unseren Kampf aufrecht zu erhalten und zu verstärken. Revolutionäre, und dies ist einer ihrer wesentlichen Charakterzüge, sind nicht Leute, die den Komfort oder den Weg des geringsten Widerstandes suchen. Sie sind Kämpfer, deren Ziel es ist, einen entscheidenden Beitrag zu leisten zur größten und schwierigsten Aufgabe, welche die Menschheit sich je gestellt hat. Diese Aufgabe ist aber auch die tollste, denn sie bedeutet die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung, der Beginn ihrer „wirklichen Geschichte“.“ (Punkt 16)

November 2013


[i] Vgl. Internationale Revue 12, 1990: „Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos“ und Internationale Revue 13, 1991: „Orientierungstext zu Militarismus und Zerfall“.

[ii] Vgl. Interne Debatte der IKS: Die Gründe für das „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Internationale Revue Nr. 42, 43, 44, 45 und 46.

[iii] Vgl. Das Proletariat in Westeuropa im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes in International Review Nr. 31 (engl./frz./span. Ausgabe).

[iv] https://stevenpinker.com/publications/better-angels-our-nature [3]

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [4]

Die Organisation des Proletariats außerhalb Zeiten des offenen Kampfes (Arbeitergruppen, Kerne, Zirkel, Komitees)

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Für die Mehrheit der revolutionären Gruppierungen von heute sind die Gewerkschaften keine Organisationen mehr, die die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse vertreten können, ganz zu schweigen von ihren revolutionären, historischen Interessen. Es herrscht auch weitestgehende Übereinstimmung darin, dass die effektivste Form für die Organisierung und Ausbreitung des Kampfes heute die Generalversammlung der ArbeiterInnen und die gewählten und jederzeit rückrufbaren Komitees sowie Koordinierungsorgane sind, die aus den Versammlungen hervorgehen. Doch solche Organisationsformen können nicht permanent aufrechterhalten werden, wenn der Kampf abflaut, was militanten ArbeiterInnen, die nicht in die Atomisierung zurückfallen wollen und eine aktive Rolle in künftigen Kämpfen anstreben, ein Problem bereitet. Daher gibt es, auch wenn sie lediglich unter einer kleinen Minderheit zu beobachten ist, eine Neigung unter diesen ArbeiterInnen, außerhalb der offiziellen Gewerkschaften, und manchmal ausdrücklich gegen sie, Gruppen, Zirkel, Komitees und Netzwerke zu bilden. Unter den revolutionären Organisationen gibt es eine Reihe von verschiedenen Annäherungen an solche Gruppierungen: Sind sie die Basis für eine wiederbelebte Form des Anarcho-Syndikalismus? Sollten sie als Grundlage für permanente Vermittlungsorgane zwischen der kommunistischen politischen Organisation und der Klasse in ihrer Gesamtheit betrachtet werden?

Diese Fragen waren einige Jahrzehnte lang Gegenstand von Diskussionen gewesen, und auch heute werden sie auf Internet-Diskussionsforen wie z.B. auf www.red-marx.com/icc-ict-and-the-icp-t695.html [5] gestellt. In einem konkreteren und praktischeren Sinn werden sie auf zahllosen Arbeitsplätzen und anderswo gestellt, da eine kämpferische Minderheit von ArbeiterInnen, StudentInnen und Arbeitslosen danach strebt, zusammenzukommen, um der Austeritätsoffensive des Kapitals etwas entgegenzusetzen.

Wir denken, dass es sinnvoll ist, eine Reihe von Artikeln zu veröffentlichen, die auf verschiedene Elemente in dieser Debatte zurückschauen und versuchen werden, einige Perspektiven für die künftigen Aktivitäten herauszuarbeiten. Wir beginnen mit einem Text, der 1980 vom Dritten Kongress der belgischen Sektion der IKS verabschiedet und in der Internationalen Revue Nr. 21 (engl., franz., span. Ausgabe) veröffentlicht worden war. Der Text ist eine gute Grundlage, um diese Reihe zu beginnen, weil er, nachdem er den allgemeinen Rahmen zum Verständnis der Natur des Klassenkampfes in der Ära des kapitalistischen Niedergangs festgelegt hat, das Ziel verfolgt, die allgemeinen Lehren aus den Erfahrungen mit den Arbeitergruppen in der 1970er Jahren zu erarbeiten. In weiteren Artikeln werden wir auf andere Erfahrungen aus den 1980er Jahren und aus dem vergangenen Jahrzehnt blicken sowie einige der Debatten zwischen den Revolutionären über diese Frage aufarbeiten.

September 2012

 

Was ist außerhalb von Zeiten des offenen Kampfes zu tun? Wie sollen wir uns organisieren, wenn der Streik beendet ist? Wie können wir uns auf die kommenden Kämpfe vorbereiten?

Wir haben keine Rezepte angesichts dieser Fragen, angesichts der Probleme, die sich durch die Existenz von Komitees, Zirkeln, Kernen, etc. stellen, in denen sich kleine Minderheiten der Arbeiterklasse sammeln. Wir können nicht zwischen dem Bestreben, sie in den Rang moralischer Lehren zu versetzen („Organisiert euch so oder so“, „Löst euch auf“, „Tretet uns bei“), und demagogischen Schmeicheleien wählen. Stattdessen muss es unsere Sorge sein, diese Ausdrücke des Proletariats als Bestandteil der Klasse zu begreifen. Wenn wir sie in der allgemeinen Bewegung des Klassenkampfes platzieren, wenn wir erkennen, dass sie eng verknüpft sind mit den Stärken und Schwächen der verschiedenen Perioden dieses Kampfes zwischen den Klassen, dann werden wir in der Lage sein zu verstehen, auf welches grundsätzliche Bedürfnis sie eine Antwort sind. Indem wir es vermeiden, politisch unpräzise ihnen gegenüber zu sein, und uns aber auch nicht in strenge Schemata einsperren, versetzen wir uns zudem in die Lage zu begreifen, worin ihre positiven Aspekte bestehen, und ermöglichen uns, hervorzuheben, welche Gefahren auf sie lauern.

Merkmale des ArbeiterInnenkampfes im dekadenten Kapitalismus

Um dieses Problem zu verstehen, muss es unsere erste Sorge sein, den allgemeinen, historischen Kontext  in Erinnerung zu rufen, in dem wir uns befinden. Wir müssen an den Charakter dieser historischen Periode (die Epoche der sozialen Revolutionen) und an die Merkmale des Klassenkampfes in der Dekadenz erinnern. Diese Analyse ist fundamentaler Art, weil sie es uns ermöglicht, die Art der Klassenorganisation zu begreifen, die in solch einer Epoche existieren kann.

Ohne in die Details zu gehen, sollten wir uns einfach in Erinnerung rufen, dass das Proletariat im neunzehnten Jahrhundert permanent als organisierte Kraft existierte. Das Proletariat vereinigte sich durch einen wirtschaftlichen und politischen Kampf für Reformen zu einer Klasse. Der fortschrittliche Charakter des kapitalistischen Systems erlaubte dem Proletariat, Druck zu erzeugen, um der Bourgeoisie zu Leibe zu rücken und Reformen durchzusetzen; dafür sammelten sich große Massen der Arbeiterklasse in den Gewerkschaften und Parteien.

In der Epoche des senilen Kapitalismus haben sich die Merkmale und die Formen der Klassenorganisation geändert. Eine quasi permanente Mobilisierung des Proletariats um seine unmittelbaren und politischen Interessen ist nicht mehr möglich und auch nicht mehr praktikabel. Von nun an sind die permanenten Einheitsorgane der Klasse nicht mehr in der Lage, weiter zu existieren, ausgenommen im Kampf selbst. Von nun an kann es nicht mehr die Funktion dieser Einheitsorgane sein, sich einfach auf die „Aushandlung“ von Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats zu beschränken (weil eine Verbesserung langfristig nicht mehr möglich ist und weil die einzig realistische Antwort die Revolution ist). Ihre Aufgabe ist es, die Machtergreifung vorzubereiten.

Die Einheitsorgane der Diktatur des Proletariats sind die Arbeiterräte. Diese Organe besitzen eine Reihe von Merkmalen, über die wir uns im Klaren sein müssen, wenn wir den vollständigen Prozess erfassen wollen, der zur Selbstorganisierung des Proletariats führt.

Daher müssen wir deutlich machen, dass die Räte ein direkter Ausdruck des Arbeiterkampfes sind. Sie entstehen auf spontane (nicht mechanische) Weise aus dem Kampf heraus. Deshalb sind sie aufs Engste mit der Entwicklung und Reifung des Kampfes verknüpft. Sie beziehen ihre Substanz und ihre Vitalität aus ihm. Sie bilden schließlich keine simple „Delegierung“ der Macht ab, keine Parodie des Parlaments, sondern sind wirklich der organisierte Ausdruck der gesamten Arbeiterklasse und ihrer Macht. Ihre Aufgabe ist es nicht, eine proportionale Repräsentation von gesellschaftlichen Gruppierungen oder politischen Parteien zu organisieren, sondern dem Proletariat zu gestatten, dies selbst praktisch zu verwirklichen. In ihnen werden alle Entscheidungen getroffen. Dies ist der Grund dafür, warum die ArbeiterInnen mit den Mitteln der Generalversammlung ständig die Kontrolle über sie ausüben müssen (die jederzeitige Absetzbarkeit der Delegierten).

Allein die Arbeiterräte sind imstande, eine lebendige Identifizierung des unmittelbaren Kampfes mit dem Endziel herzustellen. In dieser Liaison zwischen dem Kampf um unmittelbare Interessen und dem Kampf um die politische Macht etablieren die Räte die objektive und subjektive Basis für die Revolution. Sie konstituieren den Schmelztiegel des Klassenbewusstseins par excellence. Das Auftreten der Räte ist nicht die Frucht organisatorischer Rezepte, vorfabrizierter Strukturen oder vermittelnder Organe.

Die immer bewusstere Ausweitung und Zentralisierung der Kämpfe über die Fabriken und nationalen Grenzen hinaus kann keine willkürliche, voluntaristische Tat sein. Um von der Richtigkeit dieser Idee überzeugt zu sein, reicht es nicht aus, die Erfahrungen der AAUD und ihres willkürlichen Versuchs in Erinnerung zu rufen, die „Fabrikorganisationen“ zu einem Zeitpunkt, als der Kampf im Rückfluss begriffen war, zu vereinen und zu zentralisieren.[1]

Die Räte können nur dann weiter existieren, wenn auch der permanente, offene Kampf fortdauert, was die Beteiligung einer stetig wachsenden Zahl von ArbeiterInnen am Kampf bedeutet. Ihr Auftreten ist im Wesentlichen eine Funktion in der Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewusstseins.

Die Versuche, eine Kluft zu überbrücken

Doch wir befinden uns noch nicht in einer Periode des permanenten Kampfes, in einem revolutionären Kontext, der es dem Proletariat erlauben würde, sich selbst in Arbeiterräten zu organisieren.  Die Konstituierung des Proletariats in den Räten ist das Resultat objektiver Bedingungen (das Ausmaß der Krise, der historische Kurs) und subjektiver Umstände (die Reife des Kampfes und des Bewusstseins der Klasse). Es ist das Resultat einer kompletten Ausbildung, eine ganze Reifung, die genauso organisatorisch wie politisch ist.

Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass diese Reifung, diese politische Fermentierung sich nicht auf festgelegte, direkte Weise entfaltet. Sie drückt sich stattdessen als ein hitziger, ungestümer, konfuser Prozess innerhalb einer ruckartigen Bewegung aus. Sie erfordert die aktive Teilnahme revolutionärer Minderheiten.

Da es unfähig ist, mechanisch in Übereinstimmung mit abstrakten Prinzipien, vorgefassten Plänen oder voluntaristischen Schemata, losgelöst von der Realität, zu agieren, muss das Proletariat seine Einheit und sein Bewusstsein auf dem Wege einer schmerzvollen Ausbildung schmieden. Unfähig, all seine Kräfte an einem vorher bestimmten Tag zu bündeln, schließt es seine Reihen im Verlauf der Schlacht. Es bildet seine „Armee“ innerhalb des Konflikts selbst. Doch im Verlauf des Kampfes bildet es in seinen Reihen kämpferischere Elemente, eine entschlossene Avantgarde heran. Diese Elemente sammeln sich nicht notwendigerweise in der revolutionären Organisation (weil diese in bestimmten Zeiten faktisch unbekannt ist). Das Erscheinen dieser revolutionären Minderheiten innerhalb des Proletariats, ob vor und nach dem offenen Kampf, ist kein unbegreifliches oder neues Phänomen. Es drückt den irregulären Charakter des Kampfes, die ungleiche und heterogene Entwicklung des Klassenbewusstseins aus. So erleben wir seit Ende der 1960er Jahre gleichzeitig die Entwicklung von Kämpfen (im Sinne seiner größeren Selbstorganisation), eine Wiederverstärkung revolutionärer Minderheiten und das Auftreten von Komitees, Kernen, Zirkeln, etc., um die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sammeln. Die Entwicklung eines kohärenten politischen Pols der Umgruppierung und die Tendenz im Proletariat, sich außerhalb der Gewerkschaften zu organisieren, sind beide gleichermaßen aus derselben Reifung des Kampfes entstanden.

Das Auftreten dieser Komitees, Zirkel, etc. ist eine Antwort auf ein Bedürfnis im Kampf. Wenn einige kämpferische Elemente das Bedürfnis spüren, zusammenzubleiben, nachdem sie zusammen gekämpft hatten, tun sie dies mit dem Ziel, gleichzeitig damit fortzufahren, „gemeinsam zu handeln“ (die eventuelle Vorbereitung eines neuen Streiks) und (durch politische Diskussionen) die Lehren aus dem Kampf  zu ziehen. Das Problem, das sich diesen ArbeiterInnen stellt, ist genauso  ein Problem der Umgruppierung mit Blick auf die künftigen Aktionen wie ein Problem der Umgruppierung mit Blick auf die Klärung von Fragen, die sich im vergangenen Kampf gestellt hatten und sich in den kommenden Kämpfen stellen. Dieses Verhalten ist insofern verständlich, als die Abwesenheit des permanenten Kampfes, der „Bankrott“ der Gewerkschaften und die sehr große Schwäche revolutionärer Organisationen ein organisatorisches und politisches Vakuum hinterlassen haben. Wenn die Arbeiterklasse auf den Pfad ihres historischen Kampfes zurückkehrt, hat sie einen Horror vor diesem Vakuum. Daher strebt sie danach, auf das Bedürfnis zu reagieren, das von diesem organisatorischen und politischen Vakuum geschaffen wurde.

Diese Komitees, diese Kerne, diese proletarischen Minderheiten, die noch nicht klar ihre eigene Funktion begreifen, sind eine Antwort auf dieses Bedürfnis. Sie sind gleichzeitig Ausdruck der allgemeinen Schwäche des heutigen Klassenkampfes sowie Ausdruck der Reifung der Klassenorganisation. Sie sind die Kristallisierung einer ganzen unterirdischen Entwicklung, die im Proletariat im Gange ist.

Der Rückfluss 1973-77

Daher müssen wir aufpassen, dass wir diese Organe nicht hermetisch in streng nach Rubriken geordnete Schubladen sperren. Wir können ihr Auftreten und ihre Entwicklung nicht präzise voraussagen. Darüber hinaus sollten wir uns davor hüten, willkürlich zwischen den verschiedenen Momenten im Leben dieser Komitees zu trennen, weil uns dies in das falsche Dilemma „Aktion oder Diskussion“ stürzt.

Allerdings darf uns dies nicht davon abhalten, gegenüber diesen Organen zu intervenieren. Wir müssen gleichfalls in der Lage sein, ihre Evolution unter den Bedingungen der Epoche zu würdigen, abhängig davon, ob wir uns in einer Phase der Wiederaufnahme oder des Rückflusses des Kampfes befinden. Weil sie spontane, unmittelbare Produkte des Kampfes sind und weil das Auftreten dieser Kerne hauptsächlich von der konjunkturellen Lage abhängt (anders als eine revolutionäre Organisation, die auf der Basis der historischen Notwendigkeiten des Proletariats auftritt), bedeutet dies, dass sie sehr vom umgebenden Milieu des Klassenkampfes abhängen. Sie sind stärker gehandicapt aufgrund der allgemeinen Schwächen der Bewegung und haben die Tendenz, dem Auf und Ab des Kampfes zu folgen.

Wir müssen in der Entwicklung dieser Kerne zwischen der Periode des Rückflusses der Kämpfe (1973-77) und der heutigen Periode des international erneuerten Klassenkampfes unterscheiden. Auch wenn man auf die Tatsache hinweisen muss, dass die Gefahren, die ihnen drohen, in beiden Perioden identisch sind, sollte man dennoch in der Lage sein zu begreifen, welche Unterschiede die Zeitenwende für ihre Entwicklung beinhaltet.

Am Ende der ersten Welle von Kämpfen Ende der 1960er Jahre erlebten wir das Aufkommen einer ganzen Reihe von Konfusionen in der Arbeiterklasse. Man konnte das Ausmaß dieser Konfusionen am Verhalten einiger der kämpferischen Klassenelemente ermessen, die sich umzugruppieren versuchten.

Wir sahen die Entwicklung:

-      von Illusionen über kämpfende Gewerkschaften und des Misstrauens gegenüber allem Politischen (OHK, AAH, Komiteewerking ).[2] In vielen Fällen wandelten sich die Komitees, die aus den Kämpfen heraus entstanden waren, selbst dezidiert in Semi-Gewerkschaften um. Dies war der Fall bei den Arbeiterkommissionen in Spanien und den „Fabrikräten“ in Italien;

-      eines ausgeprägten Korporatismus (der sich auf der Grundlage der Illusionen über die „kämpfenden Gewerkschaften“ konstituierte);

-      von Konfusionen und eines ausgeprägten politischen Eklektizismus als Ergebnis von Versuchen, über die Grenzen der Fabrik hinauszugehen;

-      einer ausgeprägten politischen Konfusion, die diese Organe gegenüber den Manövern der Linksextremisten sehr verwundbar machte und sie auch dazu veranlasste, Illusionen über den Typus der PIC (bzw. ihres Bluffs über die Arbeitergruppen) zum Opfer zu fallen.[3] Ebenfalls im Verlauf dieser Periode entwickelt sich die Ideologie der „Arbeiterautonomie“, die die Rechtfertigung für den Immediatismus, den Fabrikkult und den Ökonomismus liefert.

All diese Mängel waren im Wesentlichen eine Folge der Schwächen der ersten Welle von Kämpfen Ende der 60er Jahre. Diese Bewegung wurde von einem Ungleichgewicht zwischen der Stärke und der Ausweitung der Streiks auf der einen und der Schwäche im Inhalt der gestellten Forderungen gekennzeichnet. Was dieses Ungleichgewicht besonders deutlich machte, war die Abwesenheit von jeglichen klaren politischen Perspektiven in der Bewegung. Der Rückfall der ArbeiterInnen, der sich zwischen 1973 und 1977 ereignete, war das Produkt dieser Schwäche, die die Bourgeoisie dazu benutzte, um die Kämpfe zu demobilisieren und ideologisch einzudämmen. Jeder der Schwachpunkte dieser ersten Welle von Kämpfen wurde von der Bourgeoisie zu ihren eigenen Gunsten ausgenutzt:

„So wurde die Idee einer ständigen Klassenorganisation, die gleichzeitig ökonomisch und politisch ist, später in die Idee ‚neuer Gewerkschaften‘ umgewandelt, um letztendlich in einer Rückkehr zu den traditionellen Gewerkschaften zu enden. Die Vision einer Generalversammlung als eine Form bar jeden Inhalts endete – via die Mystifikationen der direkten Demokratie und der Volksmacht – in der Wiederherstellung des Vertrauens in die klassische bürgerliche Demokratie. Es wurden Ideen der Selbstverwaltung und der Arbeiterkontrolle über die Produktion (Konfusionen, die zu Beginn verständlich waren) im Mythos der ‚allgemeinen Selbstverwaltung‘, der ‚Inseln des Kommunismus‘ oder der ‚Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle‘ theoretisiert. All dies veranlasste die ArbeiterInnen dazu, ihr Vertrauen in Pläne zur Umstrukturierung der Wirtschaft zu setzen, die angeblich Entlassungen verhindern würde, oder veranlasste sie, nationale Solidaritätspakte zu unterstützen, die als ein ‚Ausweg aus der Krise‘ präsentiert wurden.“ (Bericht über den Klassenkampf für den III. Internationalen Kongress der IKS)

Die Wiederaufnahme der Kämpfe nach 1977

Mit der Wiederaufnahme der Kämpfe nach 1977 hat man andere, sich abgrenzende Tendenzen sehen können. Das Proletariat war gereift aus seiner „Niederlage“ hervorgegangen.  Es zog, wenn auch auf konfuse Weise, die Lehren aus dem Rückfluss, und selbst wenn die Gefahren, die von den „kämpfenden Gewerkschaften“, dem Korporatismus, etc. ausgingen, blieben, so existierten sie in einer unterschiedlichen Allgemeinentwicklung der Kämpfe.

Seit 1977 erlebten wir die zögerliche Entwicklung:

-      eines mehr oder weniger ausgeprägten Willens auf Seiten der Avantgarde der kämpferischen ArbeiterInnen, eine politische Diskussion  zu entwickeln (erinnert sei an die Generalversammlung der Co-ordinamenti in Turin, an die Debatte in Antwerpen mit den Arbeitern von Rotterdam, Antwerpen, etc., die Konferenz der Hafenarbeiter von Barcelona);[4]

-      des Willens, das Kampfgebiet zu erweitern, über das Ghetto des Fabrikkults hinauszugehen, dem Kampf einen breiteren politischen Rahmen zu geben. Dies wird durch das Erscheinen der „co-ordinamenti“ und noch spezifischer im politischen Manifest ausgedrückt, das von einer der „co-ordinamenti“ aus Norditalien (Sesto San Giovanni) verfasst wurde. Dieses Manifest forderte die Vereinigung der kämpferischen Avantgarde in den Fabriken, verdeutlichte die Notwendigkeit eines politisch unabhängigen Kampfes durch die ArbeiterInnen und beharrte auf der Notwendigkeit für den Kampf, aus den Beschränkungen durch die Fabrik auszubrechen;

-      des Interesses, eine Verknüpfung zwischen dem unmittelbaren Aspekt des Kampfes und dem Endziel herzustellen. Dieses Interesse wurde besonders stark in den Arbeitergruppen in Italien (FIAT) und in Spanien (FEYCU, FORD) artikuliert. Die italienischen Gruppen intervenierten mit den Mitteln des Flugblatts, um die Gefahr von Entlassungen anzuprangern, die von der Bourgeoisie im Namen der „Terrorismusbekämpfung“ praktiziert wurden, und die spanischen Gruppen intervenierten, um die Illusion des Parlamentarismus anzuprangern;

-      des Anliegens, die kommenden Kämpfe besser vorzubereiten und zu organisieren (siehe die Aktion der „Sprecher“-Gruppe der Hafenarbeiter in Rotterdam, die zur Bildung einer Generalversammlung aufrief).

Wir müssen wiederholen, dass die Gefahren des Korporatismus, des „kämpfenden Gewerkschaftstums“ und der Fixierung des Kampfes auf ein strikt wirtschaftliches Terrain selbst in dieser Periode weiter existierten. Doch was wir berücksichtigen müssen, ist der wichtige Einfluss der Periode auf die Evolution der Komitees und Kerne, die sowohl vor als auch nach den offenen Kämpfen aufkamen. Wenn die Periode eine Zeit der Kampfbereitschaft und des Wiedererwachens des Klassenkampfes ist, bekommt die Intervention solcher Minderheiten eine andere Bedeutung, so wie auch unser Verhalten ihnen gegenüber. In einer Zeit des allgemeinen Rückflusses der Kämpfe müssen wir mehr auf die Gefahr dieser Organe bestehen, die in Semi-Gewerkschaften transformiert werden oder in die Klauen der Linksextremisten fallen, Illusionen über den Terrorismus haben, etc. In einer Zeit des Wiedererwachens der Klasse beharren wir eher auf die Gefahren, die vom Voluntarismus und Aktivismus repräsentiert werden (siehe die Illusionen, die einige dieser kämpferischen ArbeiterInnen über die Möglichkeit hegen, die Embryos künftiger Streikkomitees zu bilden, etc.). In einer Zeit der Wiederaufnahme der Kämpfe werden wir ebenfalls offener gegenüber kämpferischen Minderheiten sein, die sich mit Blick auf Streiks und die Bildung von Streikkomitees, Generalversammlungen, etc. umgruppieren.

Die Möglichkeiten dieser Organe

Das Anliegen, die Komitees, Kerne, etc. im Hexenkessel des Klassenkampfes zu platzieren, sie im Rahmen der Periode, in der sie auftraten, zu verstehen, beinhaltet jedoch nicht einen abrupten Wechsel in unserer Analyse im Kielwasser der verschiedenen Ebenen des Klassenkampfes. Welches Moment auch immer diesen Komitees zum Leben verhalf, wir wissen, dass sie lediglich eine Stufe in einem dynamischen, allgemeinen Prozess bildeten; sie waren ein Moment in der Reifung der Organisation und des Bewusstseins der Klasse. Sie können lediglich dann eine positive Rolle spielen, wenn sie sich selbst einen breiten, flexiblen Rahmen geben, um in der Klasse zu wirken, und nicht den allgemeinen Prozess aufzuhalten. Daher müssen diese Organe wachsam sein, wenn sie vermeiden wollen, in folgende Fallen zu tappen:

-      sich selbst mit einer Art „Potenzial“ ausgestattet zu wähnen, das künftige Kämpfe bewerkstelligen kann. (Es sind nicht die Minderheiten, die willkürlich einen Streik oder eine Generalversammlung bewirken können, auch wenn sie aktiv zu diesem Prozess beitragen müssen.)

-      sich selbst eine Plattform oder Statuten oder irgendetwas anderes zu verleihen, das ihre Weiterentwicklung zu ersticken riskiert und sie somit zu politischer Konfusion verdammt;

-      sich als Zwischenorgane zu präsentieren, halb Klassen-, halb politische Organisation, als seien sie eine Organisation, die gleichzeitig vereinheitlichend und politisch ist.

Daher bleiben wir in unserer Haltung gegenüber diesen Minderheitsorganen offen, aber versuchen gleichzeitig, die Entwicklung eines politischen Denkprozesses in ihrer Mitte zu beeinflussen, und dies in jeder Epoche. Wir müssen alles versuchen, sicher zu stellen, dass diese Komitees, Kerne, etc. nicht erstarren, weder in der einen Richtung (eine Struktur, die meint, die Arbeiterräte vorwegzunehmen) noch in der anderen (politische Festlegung). Was uns vor allem anderen in unseren Interventionen leiten muss, sind nicht die Interessen und die augenblicksgebundenen Anliegen dieser Organe (können wir ihnen doch kein organisatorisches Rezept noch irgendeine Antwort „von der Stange“ empfehlen), sondern die allgemeinen Interessen der gesamten Klasse. Unsere Sorge gilt stets, das Klassenbewusstsein in solch einer Weise zu homogenisieren und zu entwickeln, dass die Entwicklung des Klassenkampfes mit einer größeren, massiveren Beteiligung aller ArbeiterInnen vonstattengeht und der Kampf von den ArbeiterInnen selbst in die Hand genommen wird und nicht von einer Minderheit, ganz gleich, welcher Art sie ist. Aus diesem Grund bestehen wir auf die Dynamik der Bewegung und darauf, dass sich die kämpferischen Elemente vor jedem Versuch des Substitutionismus oder Ähnlichem hüten, was die spätere Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewusstseins blockieren könnte.

Wenn wir die Entwicklung dieser Organe mehr in die Richtung des Nachdenkens und der politischen Diskussion lenken könnten, können wir eine Antwort geben, die die Dynamik der Bewegung begünstig. Doch damit keine Missverständnisse aufkommen: dies bedeutet nicht, dass wir jegliche Form der „Intervention“ oder „Aktion“ verurteilen, die von diesen Organen unternommen werden. Es ist klar, dass, sobald eine Gruppe kämpferischer ArbeiterInnen verstanden hat, dass die Aufgabe nicht darin besteht, sich selbst als eine Semi-Gewerkschaft zu konstituieren, sondern darin, die politischen Lehren aus den vergangenen Kämpfen zu ziehen, dies nicht beinhaltet, dass ihr politischer Denkprozess in einem flüchtigen Vakuum stattfindet, im Abstrakten, ohne jegliche praktischen Konsequenzen. Die politische Klärung, die von diesen kämpferischen ArbeiterInnen unternommen wird, wird sie auch dazu bringen, in ihren eigenen Fabriken (und in den positivsten Fällen selbst außerhalb ihrer Fabriken) zusammen zu handeln. Sie werden das Bedürfnis verspüren, ihrem politischen Denkprozess einen Ausdruck zu verleihen (Flugblätter, Zeitungen, etc.). Sie werden das Bedürfnis verspüren, Stellung zu konkreten Fragen zu beziehen, denen sich die Arbeiterklasse gegenübersieht. Um ihre Positionen zu verteidigen und zu verbreiten, werden sie konkrete Interventionen unternehmen müssen. Unter gewissen Umständen werden sie konkrete Kampfmethoden (Bildung von Generalversammlungen, Streikkomitees, etc.) vorschlagen, um den Kampf voranzubringen. Im Verlaufe des Kampfes selbst werden sie die Notwendigkeit gemeinsamer Anstrengungen fühlen, um eine bestimmte Orientierung für den Kampf zu entwickeln; sie werden Forderungen unterstützen, die es ihnen erlauben, ihren Kampf auszuweiten, und sie werden auf die Notwendigkeit seiner Vergrößerung, Generalisierung, etc. bestehen.

Auch wenn wir weiterhin auf diese Anstrengungen achtgeben und nicht versuchen werden, sie in rigide Schemata zu pressen, ist es nichtsdestotrotz klar, dass wir auch weiterhin auf die Tatsache bestehen müssen, dass das, worauf es am meisten ankommt, die aktive Beteiligung aller ArbeiterInnen am Kampf ist, und dass die kämpferischsten ArbeiterInnen sich niemals bei der Organisierung und Koordinierung des Streiks an die Stelle ihrer GenossInnen setzen sollten. Darüber hinaus ist klar, dass je mehr die Organisation der Revolutionäre ihren Einfluss in den Kämpfen geltend macht, desto mehr kämpferische Elemente sich ihr zuwenden werden. Nicht weil die Organisation eine Politik der systematischen Rekrutierung dieser Elemente betreibt, sondern ganz einfach deswegen, weil die kämpferischen ArbeiterInnen sich von selbst bewusst werden, dass eine politische Intervention, die wirklich aktiv und wirksam ist, nur im Rahmen solch einer internationalen Organisation unternommen werden kann.

Die Intervention der Revolutionäre

Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Darauf hinzuweisen, dass die Arbeiterklasse in ihrem Kampf mehr kämpferische Elemente auf den Plan rufen kann, heißt nicht zu behaupten, dass der Einfluss dieser Minderheiten für die spätere Entwicklung des Klassenbewusstseins ausschlaggebend ist. Wir dürfen nicht diese absolute Gleichung aufstellen: ein Ausdruck der Reifung des Bewusstseins = ein aktiver Faktor für dessen Weiterentwicklung.

In Wirklichkeit ist der Einfluss, den diese Kerne auf die sich später entfaltenden Kämpfe haben werden, sehr limitiert. Ihr Einfluss hängt voll und ganz von der allgemeinen Kampfkraft des Proletariats und von der Fähigkeit dieser Kerne ab, dieses Werk der politischen Klärung, ohne nachzulassen, zu verfolgen. Langfristig kann diese Arbeit nicht getan werden, außer im Rahmen einer revolutionären Organisation.

Doch auch hier haben wir keinen Mechanismus, der stattdessen greifen könnte. Die revolutionäre Organisation gewinnt diese Elemente nicht auf willkürliche Weise. Im Gegensatz zu den Organisationsauffassungen von Battaglia Comunista oder der PIC trachtet die IKS nicht danach, die „Lücke“ zwischen der Partei und der Klasse auf willkürliche, voluntaristische Weise zu füllen. Unser Verständnis der Arbeiterklasse als historische Kraft und unser Selbstverständnis hindern uns daran, ein Einfrieren dieser Komitees in die Form einer Zwischenstruktur zu wollen. Auch streben wir nicht an, „Fabrikgruppen“ als Transmissionsriemen zwischen der Klasse und der Partei zu erschaffen.

Dies führt uns zur Frage, wie wir uns gegenüber solchen Zirkeln, Komitees, etc. verhalten sollten. Selbst wenn wir ihren limitierten Einfluss und ihre Schwächen sehen, müssen wir offen ihnen gegenüber und aufmerksam gegenüber ihrem Auftreten bleiben. Die wichtigste Sache, die wir anregen können, ist, dass sie sich vorbehaltlos Diskussionen öffnen. Zu keiner Zeit nehmen wir, unter dem Vorwand des Kampfes gegen ihre politische „Unreinheit“, eine misstrauische oder missbilligende Haltung ihnen gegenüber ein. Dies ist die eine Sache, die wir vermeiden sollten; eine andere Sache ist es, zu vermeiden, diese Organe zu umschmeicheln oder gar unsere Energie auf sie zu konzentrieren. Wir dürfen sie nicht ignorieren, dürfen gleichzeitig aber auch nicht versessen auf sie sein.  Wir erkennen an, dass der Kampf und das Klassenbewusstsein in einem Prozess heranreifen.

In diesem Prozess existieren innerhalb der Klasse Tendenzen, die versuchen, den Kampf auf ein politisches Terrain „anzuheben“. Im Verlauf dieses Prozesses wird, so wissen wir, das Proletariat kämpferische Minderheiten in die Welt setzen, die sich nicht notwendigerweise in politische Organisationen sammeln. Wir müssen uns davor hüten, diesen Reifungsprozess der Klasse heute mit dem zu identifizieren, was die Entwicklung des Kampfes im 19. Jahrhundert kennzeichnete. Dieses Verständnis ist sehr wichtig, weil es uns ermöglicht, einzuschätzen, auf welche Weise diese Komitees, Zirkel, etc. ein realer Ausdruck des reifenden Klassenbewusstseins sind, ein Ausdruck jedoch, der vor allem temporär und flüchtig ist, keine fixierte, strukturierte Sprosse in der Entwicklung des Klassenkampfes. Der Klassenkampf in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz schreitet explosiv voran. Es kommt zu Eruptionen, die selbst jene überraschen, die in der vorhergehenden Runde von Kämpfen zu den kämpferischsten gehörten, und diese Eruptionen können in punkto Bewusstsein und der im neuen Kampf erreichten Reife unvermittelt über die früheren Erfahrungen hinausgehen. Das Proletariat kann sich nur auf einem einheitlichen Niveau im Kampf organisieren. Insofern als der Kampf selbst permanent wird, wird er dazu führen, dass die Einheitsorganisationen der Klasse wachsen und stärker werden.

Dieses Verständnis ist es, was uns erlaubt zu begreifen, warum wir keine gesonderte Politik, eine spezielle „Taktik“ im Verhältnis zu Arbeiterkomitees haben, auch wenn unter besonderen Umständen es sehr positiv für uns sein kann, Diskussionen mit ihnen zu beginnen und systematisch fortzusetzen und an ihren Treffen teilzunehmen. Wir wissen, dass es möglich und immer leichter ist, mit diesen kämpferischen Elementen in eine Diskussion zu treten. Wir sind uns ebenfalls darüber bewusst, dass einige dieser Elemente in der allgemeinen Dynamik des Kampfes uns beitreten möchten, doch wir richten nicht all unsere Aufmerksamkeit auf sie. Und dies, weil für uns die allgemeine Dynamik des Kampfes von vorrangiger Bedeutung ist und wir keine strengen Klassifikationen oder Hierarchien in dieser Dynamik errichten. Vor allem Anderen richten wir uns an die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit. Im Gegensatz zu anderen politischen Gruppen, die versuchen, das Problem des mangelnden Einflusses revolutionärer Minderheiten auf die Klasse durch willkürliche Methoden oder dadurch zu überwinden, dass sie sich Illusionen über diese ArbeiterInnengruppen hingeben, erkennt die IKS an, dass sie nur einen sehr geringen Einfluss in der gegenwärtigen Periode besitzt. Wir versuchen nicht unseren Einfluss unter den ArbeiterInnen zu steigern, indem wir ihnen ein willkürliches „Vertrauen“ in uns einimpfen. Wir sind keine Arbeitertümler und auch keine Größenwahnsinnigen. Der Einfluss, den wir in den Kämpfen zunehmend haben werden, rührt im Wesentlichen aus unserer politischen Praxis in diesen Kämpfen her und nicht daraus, dass wir als Kriecher, Schmeichler oder als „Wasserträger“ agieren, die sich selbst darauf beschränken, technische Hilfsdienste zu leisten. Ferner wenden wir uns in unserer politischen Intervention an alle ArbeiterInnen, an das Proletariat in seiner Gesamtheit, als eine Klasse, weil es unsere wesentliche Aufgabe ist, zur maximalen Ausweitung der Kämpfe aufzurufen. Wir existieren nicht, um uns befriedigt zu fühlen, wenn wir das Vertrauen von zwei, drei Malochern mit schwieligen Händen gewinnen, sondern um die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu homogenisieren und zu beschleunigen. Es ist notwendig, sich im Klaren darüber zu sein, dass erst im revolutionären Prozess selbst das Proletariat uns sein politisches „Vertrauen“ in dem Maße schenken wird, in dem es realisiert, dass die revolutionäre Partei wirklich ein Bestandteil in seinem historischen Kampf ist.

[1]AAUD: Allgemeine Arbeiterunion Deutschlands. Die „Unionen“ waren keine Gewerkschaften, sondern Versuche, permanente Organisationsformen zu schaffen, die sämtliche ArbeiterInnen außerhalb und gegen die Gewerkschaften in Deutschland nach der Zerschlagung des Januaraufstandes in Berlin 1919 sammeln sollten. Sie drückten eine Nostalgie für die Arbeiterräte aus, doch gelang es ihnen nie, die Funktion der Räte auszuüben.
 

[2]Diese waren allesamt Arbeitergruppen in Belgien.

[3]Die französische Gruppe PIC (Pour une Intervention Communiste) war einige Monate lang davon überzeugt – und versuchte alle anderen davon zu überzeugen -, dass sie an der Entwicklung eines Netzwerkes von „Arbeitergruppen“ beteiligt war, die eine mächtige Avantgarde der revolutionären Bewegung konstituieren würden. Sie stützte diese Illusion einer skelettierten Realität von zwei oder drei Gruppen, die sich größtenteils aus ehemaligen linksextremistischen Elementen zusammensetzten. Heute ist nicht mehr viel übrig geblieben von diesem Bluff.

[4]Dies sind organisierte Treffen, die Delegierte aus verschiedenen Arbeitergruppen, Kollektiven und Komitees sammelten.

 

Soziale Bewegungen in der Türkei und in Brasilien

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Die Empörung als Triebkraft einer proletarischen Dynamik

Auf der ganzen Welt setzt sich das Gefühl durch, dass es so nicht weitergehen kann. Nach den Revolten des „Arabischen Frühlings“, der Bewegung der „Indignados“ in Spanien, der Occupy-Bewegung in den USA im 2011, strömten im Sommer 2013 in der Türkei und Brasilien große Massen auf die Straßen. Hunderttausende, ja Millionen von Menschen protestierten gegen alle möglichen Missstände. In der Türkei waren die Auslöser die Zerstörung der Umwelt für eine sinnlose „Verbesserung“ der Stadt, die Zunahme des Einflusses der Religion auf das Privatleben, die Korruption der Polizei. In Brasilien waren es die Verteuerung der öffentlichen Verkehrsmittel und die Ausgaben für die Prestigebauten der Fußballweltmeisterschaft, während Gesundheits-, Transport- und Bildungswesen und die Lage auf dem Wohnungsmarkt je länger je schlimmer werden - und auch hier wieder die korrupten Politiker. In beiden Ländern gab es eine brutale Polizeirepression, die nur dazu führte, dass sich die Proteste ausbreiteten. Es war nicht die sogenannte „Mittelklasse“, der „Mittelstand“, der sich auf die Straße begab, wie es von den Medien gern wiedergegeben wird. Die Speerspitze beider Bewegungen war die neue Generation der Arbeiter_innen, die trotz ihrer auch guten Ausbildung schlechte Aussichten darauf hat, hat einen festen Arbeitsplatz zu finden. Für diese neue Generation bedeutet das Leben in einem sogenannten „Schwellenland“ vor allem, einer wachsenden sozialen Ungerechtigkeit zusehen und einen abstoßenden Reichtum einer kleinen Minderheit ertragen zu müssen.

Deswegen ist heute „das Gespenst, das in der Welt umgeht“, das der Empörung. Zwei Jahre nach dem Arabischen Frühling, der überraschend verschiedene Länder Nordafrikas traf und immer noch zu spüren ist, nach der Bewegung der Indignados und der Occupy-Bewegung kamen die Bewegungen in der Türkei und in Brasilien, welche Millionen von Menschen auf die Straßen Hunderter Städte brachte.

Dies geschah in ganz verschiedenen Ländern, die geographisch weit auseinander liegen. Trotzdem haben sie gewisse Gemeinsamkeiten: die Spontaneität, die brutale Repression des Staates und eine starke Teilnahme der Jugend, die sich über die sozialen Netzwerke organisiert. Der gemeinsame Nenner ist jedoch die große Empörung angesichts der Verschlimmerung der Lebensbedingungen auf der ganzen Welt, in einer Krise, welche die Fundamente der kapitalistischen Gesellschaft angreift und 2007 eine Beschleunigung erfuhr.

Die Beschleunigung zeigt sich in immer prekäreren Verhältnissen von immer größeren Teilen der Arbeiterklasse und einer großen Unsicherheit der Zukunft für die proletarische Jugend. Es ist kein Zufall, dass sich die Bewegung in Spanien den Namen „Indignados“ gegeben hat; in der ganzen massiven Welle sozialer Bewegungen ist diese Bewegung in Spanien am weitesten gegangen, indem sie das kapitalistische System in Frage gestellt und die Organisationsform der Vollversammlungen angewandt hat.[1]

Die Revolten in Brasilien und der Türkei von 2013 beweisen, dass die Dynamik der vorhergehenden Bewegungen nicht gebrochen ist. Auch wenn die bürgerlichen Medien verschwiegen, dass diesmal die Bewegungen in Ländern auftraten, die sich im Wachstum befinden, konnten sie nicht unterschlagen, dass es die gleiche Empörung war, die sich gegen die Funktionsweise dieses Systems und alle Missstände, die daraus folgen, entlud. Es sind die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, die Gier und die Korruption der herrschenden Klasse, die Brutalität der staatlichen Repression, der Zerfall der Infrastruktur, die Zerstörung der Umwelt und vor allem die Unfähigkeit des Systems, der Jugend eine Perspektive zu bieten.

Vor 100 Jahren erinnerte Rosa Luxemburg das Proletariat angesichts des 1. Weltkrieges daran, dass es im niedergehenden Kapitalismus nur zwei Möglichkeiten gibt: Sozialismus oder Barbarei. Die Unfähigkeit der Arbeiterklasse, ihre eigene Perspektive durchzusetzen, hatte ein Jahrhundert der kapitalistischen Barbarei zur Folge. Heute ist die Gefahr noch grösser, denn heute hat der Kapitalismus die Mittel, die ganze Menschheit in den Abgrund zu reißen. Die Revolten der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der massive Kampf um die menschliche Würde und eine Zukunft, das ist das Versprechen der sozialen Revolten in der Türkei und in Brasilien.

Ein besonderer Aspekt der Revolte in der Türkei ist die Nähe zum blutigen Krieg in Syrien. Der Krieg in Syrien begann auch mit massenhaften Revolten gegen das herrschende Regime. Aber die Schwäche des Proletariats in diesem Land und die tiefen Spaltungen in religiöse und ethnische Gruppen ermöglichte es dem Regime, mit einer außergewöhnlichen Brutalität zu antworten. Die Spaltungen haben sich vergrößert, und wie in Libyen begann in Syrien ein „Bürgerkrieg“, der sich in einen Stellvertreterkrieg der verschiedenen imperialistischen Fraktionen verwandelte. Syrien ist heute zum Musterbeispiel der Barbarei geworden, die der Kapitalismus der Menschheit bereithält. In Ländern wie Tunesien und insbesondere Ägypten, wo die sozialen Bewegungen zwar eine Prägung durch das Gewicht der Arbeiterklasse hatten, konnten sie trotzdem nicht der herrschenden Ideologie standhalten, und nun werden die Arbeiter_innen zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen wie den religiösen Fundamentalisten und Anhängern der alten Regierung und anderer Fraktionen der Bourgeoisie aufgerieben. Auf der anderen Seite sehen wir die Türkei, Brasilien wie auch andere soziale Revolten, welche den eröffneten Weg aufzeigen, den Weg zu einer Ablehnung des Kapitalismus, zur proletarischen Revolution und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, die auf den menschlichen Bedürfnissen und der Solidarität fußt.

Das proletarische Wesen der Bewegungen

Türkei

Die Bewegung der Monate Mai und Juni begann damit, dass man dagegen war, dass Bäume im Gezi-Park beim Taksimplatz in Istanbul gefällt werden sollten. Dieser Widerstand in der Türkei sah eine noch nie dagewesene Größe und Ausbreitung. Viele Teile der Gesellschaft, die unzufrieden mit der Politik der Regierung waren, nahmen teil. Was aber die Massen der Menschen auf die Straße trieb, war die Repression des Staates. Genau diese Repression rief eine große Wut in der Arbeiterklasse hervor. Die Bewegung in der Türkei war nicht nur Teil der Dynamik des „Arabischen Frühlings“, sondern war in direkter Verbindung zu der Bewegung der „Indignados“ und der Occupy-Bewegung zu sehen. In diesen Ländern ist das Proletariat nicht nur zahlenmäßig die Mehrheit, sondern war auch der tragende Teil der Bewegung. Dies galt auch für die Bewegung in Brasilien, dort setzte sich die Bewegung zum größten Teil aus der Arbeiterklasse zusammen, besonders aus der jungen Arbeiterklasse.

Der am stärksten vertretene Teil der Bevölkerung war die sogenannte „Generation 1990“. Die apolitische Haltung war bisher das Etikett dieser Generation, von der viele sich nicht an die Zeit vor der AKP-Regierung erinnern.[2] Die Mitglieder dieser Generation, von der man sagte, sie interessiere sich nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern nur für ihr eigenes Wohl, verstanden, dass es keine Chance gibt, wenn sie nur die eigene Rettung suchen. Sie hatten genug von der Regierung, die ihnen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Die Student_innen und ganz besonders die Gymnasiast_innen nahmen massenhaft an den Protesten teil. Die jungen Arbeiter_innen und die arbeitslose Jugend waren auch breit vertreten. Auch die Arbeiter_innen und Arbeitslosen mit höherer Schulbildung waren vor Ort.

Auch ein Teil der Arbeiterklasse nahm an der Bewegung teil, er bildete die Hauptmasse der proletarischen Tendenz darin. Die Streikenden der türkischen Fluggesellschaft versuchten sich dem Kampf um Gezi anzuschließen. Besonders im Textilsektor wurden Stimmen laut, die das auch wollten. Einer dieser Proteste ging von Bagcilar-Günesli in Istanbul aus, wo die Textilarbeiter_innen harter Ausbeutung ausgesetzt sind. Sie brachten ihre Klassenforderungen vor und drückten gleichzeitig ihre Solidarität mit dem Kampf um den Gezi-Park aus. Auf ihren Spruchbändern stand: „Grüsse aus Bagcilar an Gezi!“ und „Samstag sollte ein arbeitsfreier Tag sein!“ In Istanbul sah man Arbeiter_innen mit Transparenten mit der Aufschrift: „Generalstreik, allgemeiner Widerstand“, die andere dazu aufmunterten, sich einem Protestmarsches in Alibeykov anzuschließen,  der schon Tausende umfasste; oder: „Geht nicht zur Arbeit, kämpft!“, riefen die Lohnabhängigen der Einkaufszentren und Büroangestellte, die sich am Taksim-Platz versammelten. Zusätzlich entwickelte die Bewegung den Willen, innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft zu kämpfen. KESK, DISK und andere Gewerkschaften, die zum Streik aufriefen, mussten dies zweifellos nicht allein wegen den sozialen Netzwerken tun, sondern auch weil sie unter Druck der eigenen Mitglieder standen. Schließlich rief die Plattform der verschiedenen Branchen von Türk-Is[3] in Istanbul, einem Zusammenschluss aller lokalen Gewerkschaften, die anderen Gewerkschaften dazu auf, einen Generalstreik gegen den Staatsterror zu organisieren. Dies eine Woche nach dem Angriff auf den Gezi-Park. Die Aufrufe kamen zustande, weil die Mitglieder über das Geschehene empört waren.

Brasilien

Die sozialen Bewegungen vom letzten Juni haben eine besondere Bedeutung für das Proletariat in Brasilien, Lateinamerika und dem Rest der Welt, und sie überwinden auch den traditionellen Regionalismus dieses Landes. Diese Massenbewegungen unterscheiden sich auch radikal von Bewegungen, die vom Staat kontrolliert werden oder vom PT (Arbeiterpartei) und anderen politischen Parteien wie derjenigen der Landlosen Arbeiter (MST). Sie waren auch anders als die Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, wie die in Argentinien zu Beginn des Jahrhunderts, die „indigene“ Bewegung in Bolivien und Ecuador, die Zapatistas in Mexiko oder der Chavismus von Venezuela, die eine Konsequenz der Konfrontation zwischen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Fraktionen waren, welche sich um die Verteidigung der nationalen Interessen stritten. In diesem Sinne ist für Brasilien und Lateinamerika diese spontane Massenmobilisierung im Juni die breiteste in den letzten 30 Jahren. Das ist der wesentliche Grund, warum man von einem Klassenstandpunkt aus die Lehren aus diesen Ereignissen ziehen muss.

Es ist unbestreitbar, dass diese Bewegung die Bourgeoisie in Brasilien und weltweit überraschte. Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Verkehr (die alljährlich zwischen den Transportchefs und dem Staat ausgehandelt werden) war lediglich ein Auslöser für die Bewegung. Er kristallisierte die ganze Empörung, die sich seit einiger Zeit in der brasilianischen Gesellschaft zusammengebraut hatte, die sich 2012 in verschiedenen Kämpfen – am stärksten in São Paolo, der öffentlichen Verwaltung und an den Universitäten – ausdrückte. In den letzten Jahren gab es auch eine Anzahl von Streiks gegen Lohnkürzungen, unsichere Arbeitsbedingungen und gegen die Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich.

Im Unterschied zu anderen sozialen Massenbewegungen in verschiedenen Ländern seit 2011 waren die in Brasilien ausgelöst und vereint durch konkrete Forderungen, was es ermöglichte, dass sich weite Teile des Proletariats spontan gegen die Fahrpreiserhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel mobilisierten. Die Bewegung erreichte am 13. Juni einen Massencharakter auf nationaler Ebene, als die Demonstrationen in São Paolo gegen die Fahrpreiserhöhung, zu denen die MPL (Movimento Passe Livre – Bewegung für die kostenlose Benutzung der Verkehrsmittel)[4] und auch andere soziale Bewegungen aufgerufen hatten, gewalttätig von der Polizei unterdrückt wurden.[5] Während fünf Wochen wurde zusätzlich zu den breiten Protesten in São Paolo in verschiedenen Städten für die gleichen Forderungen protestiert, und zwar so stark, dass z.B. in Porto Alegre, Goiânia und anderen Städten der Druck so groß wurde, dass Politiker, gleich welcher Richtung, gezwungen wurden, die höheren Fahrpreise nach heftigen Kämpfen, die von der harten staatlichen Repression gezeichnet waren, wieder zurückzunehmen.

Die Bewegung stellte sich sofort auf einen proletarischen Boden. Zuerst sollten wir unterstreichen, dass die Mehrheit der Teilnehmer_innen aus der Arbeiterklasse sind, meistens junge Arbeiter_innen und Student_innen, vielfach aus proletarischen Familien oder solchen, die einem Proletarisierungsprozess unterworfen sind. Die bürgerliche Presse stellte die Bewegung als eine „Mittelklasse“-Erscheinung dar mit dem klaren Ziel, die Bewegung zu spalten. Tatsächlich sind es aber Arbeiter_innen, die weniger verdienen als die Facharbeiter aus den industrialisierten Zonen des Landes. Dies erklärt den Erfolg und die breite  Sympathie, welche die Bewegung gegen die Preiserhöhungen im Transportbereich genoss, weil sie sich gegen einen direkten Angriff auf die Einkommen der Familien der Arbeiterklasse richtete. Dies erklärt auch, wieso sich die Anfangsforderung schnell in eine Infragestellung des Staates verwandelte, weil es eine Verwahrlosung beispielsweise des Gesundheitssektors, des Bildungs- und Sozialwesens gibt. Vermehrte Proteste gibt es auch gegen die immensen Summen öffentlicher Gelder, die in die Fußballweltmeisterschaft und die Olympiade von 2016 gesteckt werden.[6] Für diese Veranstaltungen hat die brasilianische Bourgeoisie nicht gezögert, die Leute umzusiedeln, die nahe an den Stadien wohnten: zu Beginn des Jahres beim Stadion Aldeia Maracanã in Rio; in den auserwählten Zonen der Baufirmen in São Paulo, wo die Favelas, die ihren Planungen im Weg standen, niedergebrannt wurden.

Es ist sehr bedeutsam, dass die Demonstrationen rund um die Stadien, wo die Spiele um den Konföderations-Pokal stattfanden, organisiert wurden; damit zogen sie eine große mediale Aufmerksamkeit auf sich, und es brachte zum Ausdruck, dass das von der brasilianischen Bourgeoisie inszenierte Spektakel verworfen wurde. Gleichzeitig antwortete die Bewegung damit auch auf die brutale Repression rund um die Stadien gegen die Demonstrationen, die mehrere Todesopfer forderte. In einem Land, wo der Fußball Nationalsport ist, der von der herrschenden Klasse als Sicherheitsventil gebraucht wird, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, sind die Demonstrationen des brasilianischen Proletariats ein Beispiel für die ganze Weltarbeiterklasse. Die brasilianische Bevölkerung ist für ihre Liebe zum Fußball bekannt, das hat sie aber nicht daran gehindert, gegen die Sparprogramme anzutreten, welche die Regierung wegen den gewaltigen Ausgaben für diese sportlichen Anlässe umsetzen wollte. Die herrschende Klasse in Brasilien benutzt diese Spiele, um zu zeigen, dass sie in der obersten Liga der Weltökonomie mitspielen kann. Die Demonstrant_innen verlangten öffentliche Dienstleistungen mit „FIFA-Qualitätssiegel“.[7]

Eine außerordentlich bedeutsame Tatsache war, dass es eine breite Ablehnung gegenüber den politischen Parteien gab (insbesondere der Arbeiterpartei, dem PT, die den Präsidenten Lula hervorgebracht hatte), und gegenüber den Gewerkschaften. In São Paulo wurden einige Demonstrant_innen ausgeschlossen, weil sie Spruchbänder von Studentenorganisationen trugen, welche die Regierung unterstützten.

Auch wenn nur durch Minderheiten hat sich der Klassencharakter der Bewegung bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt. Es gab eine Anzahl von Versammlungen, die in der heißen Phase der Bewegung abgehalten wurden, auch wenn diese nicht die Ausdehnung oder den Organisationsgrad der Indignados in Spanien erreichten. Z.B. die von Rio de Janeiro und Belo Horizonte, die zu Volks- und egalitären Versammlungen aufgerufen hatten, die vorschlugen, Raum für „neue, spontane, offene und egalitäre Debatten“ zu schaffen. Bei diesen Versammlungen nahmen mehr als 1000 Leute teil.

Diese Versammlungen, obwohl sie die Vitalität und das Bedürfnis nach Selbstorganisierung der Massen zum Ausdruck brachten, damit sie ihre Forderungen durchsetzen können, zeigten einige Schwächen auf:

- Auch wenn verschiedene Gruppen und Kollektive an der Organisierung teilnahmen, waren diese Versammlungen von der kapitalistischen Linken animiert, die überwiegend an der Peripherie der Stadt ihre Aktivitäten ausübte.

- Die vorherrschende Meinung war, dass die Versammlungen Organe sind, die mit partikulären Forderungen zur Verbesserung der Situation in diesen oder jenen Gemeinden und Städten Druck auf den Staat ausüben sollen. Sie tendierten auch dazu, sich als dauerhafte Organe zu sehen.

- Sie beanspruchten, unabhängig vom Staat und den Parteien zu sein, doch sie waren infiltriert von Regierungsanhängern und linken oder linksextremen Organisationen, die jeglichen spontanen Ausdruck sabotierten.

- Es wurden lokalistische oder nationalistische Sichtweisen vorgebracht, man kämpfte gegen die Auswirkungen der Probleme anstatt zu verstehen, was diese verursacht, auch wurde der Kapitalismus nicht infrage gestellt.

In der Bewegung gab es ausdrückliche Bezugnahmen zu anderen Bewegungen in anderen Ländern, insbesondere zur Türkei, welche Bewegung sich umgekehrt auf Brasilien bezog. Trotz dem minoritären Charakter dieser Bekundungen drückte sich darin doch aus, was beiden Bewegungen gemeinsam war. An verschiedenen Demonstrationen konnte man Spruchbänder mit der Aufschrift sehen: „Wir sind Griechen, Türken, Mexikaner, wir sind obdachlos, wir sind Revolutionäre“, oder Schilder, auf denen stand: „Dies ist nicht die Türkei, nicht Griechenland, es ist Brasilien, das seine Massenträgheit ablegt.“

In Goiânia unterstrich der Frente de Luta Contra o Aumento (Front für den Kampf gegen die Preiserhöhung), der sich aus verschiedenen Basisorganisationen zusammensetzte, das Bedürfnis nach Solidarität und Debatte zwischen den verschiedenen Teilen der Bewegung: „WIR MÜSSEN ZUSAMMENBLEIBEN UND UNS VEREINIGEN! Trotz Meinungsverschiedenheiten müssen wir unsere Solidarität, unseren Widerstand, unseren Kampfgeist pflegen und unsere Organisation und unsere Diskussionen vertiefen. Auf gleiche Weise wie in der Türkei stehen friedliche und militante Teile nebeneinander und kämpfen zusammen, diesem Beispiel müssen wir folgen.“

Die große Empörung, die das brasilianische Proletariat beseelte, wurde in den folgenden Überlegungen von Rede Extremo Sul, einem Netzwerk von sozialen Bewegungen am Stadtrand von São Paulo konkretisiert: „Damit diese Möglichkeiten Wirklichkeit werden, können wir es nicht zulassen, dass die Empörung auf der Straße auf nationalistische, konservative und moralisierende Ziele abgelenkt wird; wir können es nicht zulassen, dass diese Kämpfe vom Staat und von Eliten erfasst und ihres politischen Inhalts entleert werden. Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhung und den schlechten Zustand der Dienstleistungen ist direkt mit den Kämpfen gegen den Staat und die großen Wirtschaftsunternehmen verbunden, gegen die Ausbeutung und Erniedrigung der Arbeiter_innen und gegen diese Lebensweise, wo Geld alles und Menschen nichts sind.“

Die von der herrschenden Klasse gelegte Fallen

Türkei

Verschiedene bürgerliche politische Tendenzen sind aktiv gewesen, um die Bewegung innerhalb der Grenzen der bestehenden Ordnung zu halten, um die Radikalisierung zu vermeiden und die proletarischen Massen, die gegen den Staatsterror auf die Straße gingen, daran zu hindern, ihre Klassenforderungen bei den Lebensbedingungen zu entwickeln. Wir behaupten zwar nicht, dass die demokratischen Forderungen einstimmig von der Bewegung aufgenommen worden wären, aber sie herrschten im Allgemeinen vor. Die Forderungen nach „mehr Demokratie“, die sich um die Anti-AKP- oder vielmehr um Anti-Erdogan-Position bildeten, drückte nichts anderes aus als eine Neuorganisierung des türkischen Staatsapparates auf einer demokratischen Grundlage. Der Einfluss der demokratischen Forderungen in der Bewegung war ihre größte ideologische Schwäche. Denn Erdogan selber baute alle seine ideologischen Angriffe gegen die Bewegung um die Achse von Demokratie und Wahlen auf; die staatlichen Behörden verbanden Lügen und Manipulationen, um bis zum Erbrechen das Argument zu wiederholen, dass die Polizei auch in Ländern, die als demokratischer gelten als die Türkei, mit Gewalt gegen illegale Demonstrationen vorgeht – was natürlich zutrifft. Darüber hinaus fesselte die Orientierung, die auf den Erhalt der demokratischen Rechte abgezielte, die Hände der Massen, die mit Polizeiangriffen und Staatsterror konfrontiert waren, und befriedete ihren Widerstand.

Die aktivsten Elemente dieser demokratischen Tendenzen, die die Taksim-Solidaritätsplattform kontrollierten, waren in die linken Gewerkschaftsbünde wie KESK und DISK eingebunden. Die Taksim-Solidaritätsplattform und damit die demokratische Tendenz, die aus Vertretern aller Arten von Verbänden und Organisationen bestand, zog ihre Stärke nicht aus einer organischen Verbindung mit den Demonstrierenden, sondern aus ihrer bürgerlichen Legitimation und den entsprechenden finanziellen Ressourcen, auf die sie zurückgreifen konnte. Die Basis der linken Parteien, die ebenfalls als bürgerliche Linke angesehen werden kann, war zum großen Teil von der Masse getrennt. In der Regel war sie das hintere Ende der demokratischen Tendenz. Die stalinistischen und trotzkistischen Zirkel und die bürgerlich-radikalen Linken waren ebenfalls weitgehend von den Massen getrennt. Sie hatten nur in den Vierteln einen wirklichen Einfluss, in denen sie traditionell eine gewisse Stärke haben. Sie setzten sich der demokratischen Tendenz dann entgegen, wenn diese die Bewegung zu zerstreuen suchte, unterstützte sie aber in der Regel. Ihr bei den Massen am weitesten verbreitete Slogan war „Schulter an Schulter gegen den Faschismus.“

Brasilien

Die nationale Bourgeoisie hat jahrzehntelang daran gearbeitet, Brasilien zu einer kontinentalen oder sogar Weltmacht zu machen. Um dies zu erreichen, ist es nicht genug, über ein riesiges Gebiet, das fast die Hälfte des südamerikanischen Kontinents bedeckt, zu verfügen oder auf die großen Naturressourcen zurückzugreifen. Es ist auch notwendig, die soziale Ordnung, vor allem die Kontrolle über die Arbeiter_innen zu erhalten. So wechselten sich in den 1980er Jahren Rechts- und Mitte-Links-Regierungen ab, die jeweils auf „freien und demokratischen“ Wahlen basierten. All dies war unverzichtbar für die Stärkung des brasilianischen Kapitals auf der Weltbühne.

Die brasilianische Bourgeoisie war so besser in der Lage, ihren Produktionsapparat zu stärken und auch in den schlimmsten Zeiten der Wirtschaftskrise in den 90er Jahren zu regieren, während es ihr auf der politischen Ebene gelang, eine politische Kraft zu schaffen, die die verarmten Massen kontrollieren, insbesondere den sozialen Frieden wahren konnte. Diese Situation wurde durch die Machtübernahme durch den PT 2002 gefestigt, wobei das Charisma und das „Arbeiterklassebild“ von Lula eingesetzt wurden.

Auf diese Weise stieg im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die brasilianische Wirtschaft auf den siebten Platz der Weltrangliste (nach Angaben der Weltbank). Die Weltbourgeoisie hat das „brasilianische Wunder“ unter der Präsidentschaft von Lula gefeiert, der angeblich Millionen von Brasilianer_innen aus der Armut herausgezogen und ihnen ermöglichte, in die berühmte Mittelschicht aufzusteigen. In der Tat ist „dieser Erfolg“ durch die Verteilung eines Teils des Mehrwerts als Krümel an die Ärmsten erreicht worden, während zur gleichen Zeit die Lage der meisten Arbeiter_innen noch unsicherer geworden ist.

Die Krise bleibt aber das Grundproblem in Brasilien. Beim Versuch, ihre Auswirkungen zu dämpfen, hat die brasilianische Bourgeoisie eine Politik der großen Bauvorhaben ins Leben gerufen, die zu einem Bauboom im öffentlichen und privaten Sektor führte; gleichzeitig hat sie Kreditaufnahmen und die Verschuldung der Familien erleichtert, um den Binnenkonsum anzuregen. Die Grenzen dieser Politik sind in den Konjunkturindikatoren bereits spürbar (Verlangsamung des Wachstums), vor allem aber in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse: steigende Inflationsraten (eine Jahresprognose von 6,7% im Jahr 2013), erhöhte Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen (einschließlich Verkehr), eine deutliche Zunahme der Arbeitslosigkeit, Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben. Also kommen die Proteste der Bewegung in Brasilien nicht aus heiterem Himmel.

Das einzige konkrete Ergebnis, das unter dem Druck der Massen herausschaute, war die Aussetzung der Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Verkehr, das der Staat aber auf andere Weise wieder rückgängig machen wird. Zu Beginn der Protestwelle erklärte die Präsidentin Dilma Rousseff über ihre Sprachrohre zur Beschwichtigung der hochgehenden Empörung, dass die Proteste der Bevölkerung „legitim und mit der Demokratie vereinbar“ seien, während ihre Regierung gleichzeitig an einer Strategie arbeitete, um die Bewegung zu kontrollieren. Lula kritisierte seinerseits die „Exzesse“ der Polizei. Aber die Repression des Staates hörte nicht auf – und die Straßendemonstrationen auch nicht.

Eine der aufwendigsten Fallen gegen die Bewegung war die Verbreitung des Mythos eines Staatsstreichs durch die Rechte. Dieses Gerücht verbreiteten nicht nur der PT und die stalinistische Partei, sondern auch die Trotzkisten des PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) und des PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificados): Das war ein Versuch, die Bewegung abzulenken und in eine Kraft zur Unterstützung der Rousseff-Regierung zu verwandeln, die ihrerseits stark geschwächt und diskreditiert war. Tatsache war, dass die grausame Repression gegen die Proteste im Juni von der Links-Regierung des PT durchgeführt wurde, und sie war ebenso brutal wie diejenige der Militärregime, wenn nicht noch brutaler. Die Linke und die extreme Linke des brasilianischen Kapitals versuchten diese Realität zu verschleiern, indem sie die Repression mit dem Faschismus oder rechten Regimen identifizierten. Es gibt weiter den Vernebelungsversuch durch die von Rousseff umgesetzten „politischen Reformen“ mit dem Ziel der Bekämpfung der Korruption in den politischen Parteien und der Fesselung der Bevölkerung ans demokratische Terrain mit der Aufforderung, über die vorgeschlagenen Reformen abzustimmen. In der Tat zeigte die brasilianische Bourgeoisie mehr Intelligenz und Know-how als die türkische, die sich meist auf die Wiederholung des Spiels mit Provokation und Repression gegenüber den sozialen Bewegungen beschränkte.

Um einen Einfluss innerhalb der Bewegung auf der Straße wiederzugewinnen, haben politischen Parteien der Linken des Kapitals und die Gewerkschaften mehrere Wochen im Voraus einen „Nationalen Tag des Kampfes“ für den 11. Juli angekündigt, der als Möglichkeit des Protests gegen das Scheitern der Tarifverträge dargestellt wurde. Im gleichen Stil rief Lula, der seine bedeutende Erfahrung mit Manövern gegen die Arbeiterklasse unter Beweis stellte, für den 25. Juni zu einem Treffen der Führer der Bewegungen auf, die vom PT und der stalinistischen Partei kontrolliert werden (einschließlich der mit der Regierung verbündeten Jugend- und Studentenorganisationen), mit dem ausdrücklichen Ziel der Neutralisierung der Straßenproteste.

Die Stärken und Schwächen der beiden Bewegungen

In der Türkei

Wie schon die Bewegung der Empörten und von Occupy versuchte die Bewegung in der Türkei mit der Isolierung, die in gewissen wirtschaftlichen Sektoren herrscht, zu brechen. Es handelt sich dabei um Sektoren, in denen sich vor allem junge Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen befinden (Auslieferer von Kebab-Buden, Barangestellte, Call-Centers und Büros, …) und in denen es den Betroffenen traditionell schwer fällt, sich zu wehren. Ein Motor der Mobilisierung und der Entschlossenheit lag in der Empörung und im Solidaritätsgefühl gegenüber den polizeilichen Gewaltakten und dem Terror des Staates.

Doch gleichzeitig nahmen wenige Arbeiter_innen – und wenn überhaupt, dann individuell – aus den großen Arbeiterkonzentrationen an den Demonstrationen teil, was eine der bedeutendsten Schwächen dieser Bewegung war. Die Lebensbedingungen des Proletariats, das unter dem ideologischen Druck der herrschenden Klasse steht, haben es der Arbeiterklasse nur spärlich erlaubt, sich als Klasse wahrzunehmen und haben das Empfinden bei den Demonstrant_innen hervorgerufen, eine Masse von individuellen Bürger_innen zu sein, legitime Mitglieder der „nationalen Gemeinschaft“. Die Bewegung hat keine eigenen Klasseninteressen formuliert, die Möglichkeiten, diese zu entwickeln, waren blockiert, die proletarische Tendenz war sehr im Hintergrund. Diese Situation hatte stark zur Ausrichtung auf die Frage der Demokratie beigetragen, die eine zentrale Achse der Bewegung gegenüber der Politik der Regierung war. Eine Schwäche der Demonstrationen in der gesamten Türkei hat sich in der Schwierigkeit ausgedrückt, Massenversammlungen mit Diskussionen abzuhalten und die Kontrolle über die Bewegung mittels einer Selbstorganisierung zu erlangen. Diese Schwäche wurde durch eine nur beschränkt existierende Erfahrung mit Massendiskussionen, Versammlungen, Vollversammlungen, usw. gefördert. Gleichzeitig hatte die Bewegung aber ein Bedürfnis nach Diskussionen, und es tauchten Ansätze zu solchen auf, wie vereinzelte Beispiele zeigten: Die Errichtung einer offenen Tribüne im Gezi-Park fand keinen großen Anklang und dauerte auch nicht lange, sie hatte dennoch eine gewisse Wirkung; während des Streiks vom 5. Juni schlugen die Beschäftigten der Universität, welche Mitglieder der Eğitim-Sen-Gewerkschaft[8] waren, vor, eine offene Tribüne zu errichten. Doch die Führung der KESK verwarf diesen Vorschlag nicht nur, sondern isolierte auch denjenigen Teil von Eğitim-Sen, zu dem die Universitätsangestellten gehörten. Die eindrücklichste Erfahrung wurde durch die Demonstranten in Eskişehir gemacht, welche in einer Generalversammlung Komitees gründeten, um die Demonstrationen zu organisieren und zu koordinieren. Aber auch während dem 17. Juni hielten in den Parks verschiedener Quartiere Istanbuls die Massen, inspiriert durch die Foren im Gezi-Park, Massenversammlungen ab, die sich den Namen „Forum“ gaben. In den folgenden Tagen fanden auch in Ankara und anderen Städten solche Foren statt. Die am meisten debattierten Fragen drehten sich um das Problem der Konfrontation mit der Polizei. Dennoch gab es unter den Demonstranten die Tendenz, die Wichtigkeit des Einbezugs desjenigen Teils der Arbeiterklasse in die Bewegung zu sehen, der noch Arbeit hat.

Auch wenn es die Bewegung in der Türkei nicht geschafft hat, eine standhafte Verbindung mit der Gesamtheit der Arbeiterklasse herzustellen, so haben die Streikaufrufe über die sozialen Medien ein Echo gezeigt, und es kam zu Arbeitsniederlegungen. Darüber hinaus zeigten sich aber auch klare proletarische Tendenzen innerhalb der Bewegung durch Leute, die überzeugt waren von der Kraft der Arbeiterklasse und die sich gegen den Nationalismus wandten. Allgemein gesehen verteidigte ein großer Teil der Demonstranten die Idee, dass die Bewegung eine Selbstorganisation anstreben müsse, um weiterzukommen. Sogar die Zahl der Leute, die der Auffassung waren, die Gewerkschaften wie die KESK und die DISK, die sich „kämpferisch“ präsentierten, würden sich nicht wirklich von derjenigen der Regierung unterscheiden, wuchs deutlich an.

Schlussendlich gilt es einen anderen Wesenszug der Bewegung nicht zu vergessen: Die Demonstranten in der Türkei haben die Grußnachrichten vom anderen Ende der Welt mit Parolen in Türkisch wie „Wir gehören zusammen, Brasilien und die Türkei!“ und „Brasilien wehrt sich!“ willkommen geheißen.

In Brasilien

Die große Stärke der Bewegung resultierte daraus, dass sie sich von Beginn weg als eine Bewegung gegen den Staat bezeichnete. Dies nicht nur durch die zentrale Forderung gegen die Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr, sondern auch durch die Mobilisierung gegen den Abbau der öffentlichen Dienste und gegen das Verschieben eines großen Teils der dazu vorgesehenen Ausgaben auf Sportanlässe. Gleichzeitig jagten die Ausbreitung und die Entschlossenheit der Bewegung der Bourgeoisie Angst ein und zwangen sie dazu, die Preisehöhungen in einigen großen Städten zurück zu nehmen.

Die Kristallisierung der Bewegung rund um eine konkrete Forderung bedeutete, auch wenn diese eine Stärke der Bewegung darstellte, gleichzeitig eine Begrenzung, über die nicht hinausgegangen werden konnte. Dies spürte man, als die Tariferhöhungen des öffentlichen Verkehrs zurückgenommen wurden. Darüber hinaus verstand sie sich nicht als eine Bewegung, welche die kapitalistische Weltordnung in Frage stellte – ein Aspekt, der bei der Bewegung der Empörten in Spanien stark präsent war.

Das Misstrauen gegenüber den Mitteln der Bourgeoisie zur sozialen Kontrolle drückte sich im Zurückweisen der politischen Parteien und der Gewerkschaften aus. Dies stellte auf der ideologischen Ebenen einen Rückschlag für die Bourgeoisie dar, die gekennzeichnet ist von der Ermattung ihrer politischen Strategien, welche sie seit dem Ende der Militärdiktatur 1965-85 entwickelte, und Zeichen der schleichenden Diskreditierung des Staates ist, der von einer zunehmenden Korruption erfasst wird. Doch hinter dieser Zurückweisung der Parteien und Gewerkschaften lauert auch die Gefahr der Ablehnung der gesamten Politik, eine apolitischen Haltung, die eine der deutlichsten Schwächen der Bewegung war. Denn ohne politische Debatte gibt es keine Möglichkeit im Kampf weiterzukommen, denn der Nährboden ist die Diskussion, um die Wurzeln der Probleme zu verstehen, gegen die man ankämpft. Und dies kann nur über eine Kritik an den Grundlagen des Kapitalismus geschehen. Es war also kein Zufall, dass eine der Hauptschwächen der Bewegung das Fehlen von offenen Versammlungen auf der Straße war, in denen alle Anwesenden über die sozialen Probleme der Gesellschaft, die Kampfmittel, die Organisierung der Bewegung und über das von ihr Erreichte und ihre Perspektive diskutieren können. Die sozialen Medien spielten eine wichtige Rolle in der Mobilisierung, damit die Isolierung durchbrochen werden konnte. Doch sie können niemals die lebendige und offene Debatte der Vollversammlungen ersetzen.

Das Gift des Nationalismus verschonte die Bewegung nicht, wie man an den zahlreichen brasilianischen Nationalflaggen und den nationalistischen Parolen feststellen konnte – während den Demonstrationen wurde nicht selten die Nationalhymne gesungen. Dies war bei der Bewegung der Empörten in Spanien nicht der Fall. In diesem Sinne beinhaltete die Bewegung in Brasilien dieselben Schwächen wie die Mobilisierungen in Griechenland oder in der arabischen Staaten, in denen die herrschende Klasse sehr erfolgreich war bei der Umwandlung der Vitalität der Bewegungen in ein nationales Projekt für Reformen oder zur Rettung des Staates. In diesem Kontext waren die Proteste gegen die Korruption auch Wasser auf die Mühlen der Bourgeoisie und ihrer politischen Parteien, vor allem derjenigen der Opposition, welche im Hinblick auf die nächsten Wahlen versucht, über diese Schiene einen politischen Kredit zu ergattern. Der Nationalismus ist eine Sackgasse für die Kämpfe der Arbeiterklasse, da er die internationale Solidarität der Klassenbewegungen angreift.

Auch wenn die Mehrzahl der Beteiligten in der Bewegung Arbeiter_innen waren, so hatten sie sich dennoch in isolierter Weise daran beteiligt. Die Bewegung ist nicht dazu gekommen, die Arbeiter_innen der Industriezentren zu mobilisieren, welche vor allem in der Region von São Paulo ein großes Gewicht haben, es wurden auch keine Vorschläge in diese Richtung gemacht. Die Arbeiterklasse, welche der Bewegung zweifelsohne Sympathie entgegen brachte und sich mit ihr identifizierte, da sie für eine Forderung kämpfte, die auch ihren Interessen entsprach, mobilisierte sich aber nicht als solche. Diese Haltung ist sehr charakteristisch für eine Zeit, in der die Arbeiterklasse Mühe hat, eine Klassenidentität zu erlangen, was gerade in Brasilien erschwert ist durch die jahrzehntelange Blockierung aufgrund des Einflusses der politischen Parteien und der Gewerkschaften, vor allem des PT und der CUT.

Ihre Bedeutung für die Zukunft

Der Ausbruch von neuen sozialen Bewegungen mit einer Breite und einer historischen Bedeutung (ohnegleichen seit 1908 in der Türkei und seit 30 Jahren in Brasilien) war auch ein Signal an die weltweite Arbeiterklasse und stellte eine Antwort einer neue Generation von Arbeiter_innen gegenüber der sich verschärfenden weltweiten Krise des Kapitalismus dar. Trotz ihrer jeweiligen Eigenheiten sind sie ein Glied in der Kette der internationalen sozialen Bewegungen als Antwort auf die historische Krise des Kapitalismus, wobei die Mobilisierung der Empörten in Spanien ein Bezugspunkt darstellte. Trotz ihrer Schwächen waren sie einen Quelle der Inspiration und der Erfahrung für das internationale Proletariat. Ihre Schwächen müssen von der Arbeiterklasse selbst und schonungslos kritisch betrachtet werden, um heute Lehren zu ziehen, die morgen in andere Bewegungen einfließen und schon im Voraus ideologische Vereinnahmungen und Fallen der Bourgeoisie erkennen lassen.

Diese Bewegungen waren nichts anderes als Ausdruck dessen, was Marx den „alten Maulwurf“ nannte, der das Fundament des Kapitalismus untergräbt.

Wim, 11.8.2013 

[1] Siehe unsere Artikelserie über die Indignados-Bewegung in Spanien, insbesondere in der Internationalen Revue Nr. 48

[2] Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Diese „gemäßigt“ islamistische Partei ist in der Türkei seit 2002 an der Regierung.

[3] Konföderation türkischer Gewerkschaften

[4] Angesichts der steigenden Fahrkosten schürte  die MPL Illusionen in den Staat, indem sie so tat, als ob dieser aufgrund von entsprechendem Druck von der Straße im Gegensatz zu den privaten Verkehrsmittel-Betreibern eine kostenlose Benützung des öffentlichen Verkehrs garantieren könne.

[5] Siehe unseren Artikel: Die Repression durch die Polizei fachte die Wut der Jugend an, vom 4. Juli 2013, auf unserer Website und in der gedruckten Presse.

[6] Gemäß den Prognosen werden diese beiden Veranstaltungen die brasilianische Regierung 31,3 Milliarden Dollar oder 1,6% des Bruttosozialprodukts kosten. Hingegen macht die Familienunterstützung, die von der Lula-Regierung als die wichtigste soziale Maßnahme gepriesen wurde, weniger als 0,5% des BSP aus.

[7] FIFA: Internationale Föderation des Verbandsfußballs (frz. Fédération Internationale de Football Association)

[8] Angestelltengewerkschaft und Teil der KESK

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Editorial

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Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/internationale_revue_51.pdf [2] https://de.internationalism.org/tag/3/43/imperialismus [3] https://stevenpinker.com/publications/better-angels-our-nature [4] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische [5] http://www.red-marx.com/icc-ict-and-the-icp-t695.html