Gegenüber all den Lügen, die heute zum Mai 68 verbreitet werden, müssen die Revolutionäre die Wahrheit wiederherstellen. Sie müssen auch die Mittel anbieten, um die Bedeutung und die Lehren dieser Ereignisse zu begreifen. Sie müssen insbesondere verhindern, dass ihre Lehren unter einem Haufen Blumen und Kränzen begraben werden.
Wir haben schon damit angefangen, indem wir bislang einen Artikel in unserer Internationalen Revue veröffentlicht haben, der auf die ersten Bestandteile der Ereignisse des Mai 68 zurückkommt – die Studentenproteste in Frankreich und auf der Welt. In diesem Artikel wollen wir auf den wesentlichsten Bestandteil der Ereignisse eingehen – die Bewegung der Arbeiterklasse. In dem ersten Artikel dieser Reihe schrieben wir am Schluss zu den Ereignissen in Frankreich: „Am 14. Mai gingen die Diskussionen in vielen Betrieben weiter. Nach den gewaltigen Demonstrationen am Vorabend, die den ganzen Enthusiasmus und ein Gefühl der Stärke zum Vorschein gebracht hatten, war es schwierig die Arbeit wieder aufzunehmen, so als ob nichts passiert wäre. In Nantes traten die Beschäftigen von Sud-Aviation in einen spontanen Streik und beschlossen die Besetzung des Werkes. Vor allem die jüngeren Beschäftigten trieben die Bewegung voran. Die Arbeiterklasse war auf den Plan getreten.“ Diese Schilderung werden wir hier fortsetzen.
In Nantes stießen die jungen Arbeiter, die im gleichen Alter waren wie die Studenten, die Bewegung an. Ihre Argumentation war einfach aber einleuchtend: „Wenn die Studenten, die ja mit einem Streik keinen Druck ausüben können, die Kraft besaßen, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen, können die Arbeiter die Regierung auch zum Nachgeben zwingen.“ Die Studenten der Stadt wiederum erklärten sich mit den Arbeitern solidarisch; sie reihten sich in deren Streikposten ein: Verbrüderung. Die Kampagnen der KPF (1) und der CGT (2) warnten vor den „linken Provokateuren, die im Dienste der Arbeitgeber und des Innenministers stehen“ und die Studenten unterwandert hätten; aber diese Kampagnen zeigten keine große Wirkung. Insgesamt standen am Abend des 14. Mai 3100 Arbeiter im Streik. Am 15. Mai breitete sich die Bewegung auf die Renault-Werke in Cléon in der Normandie, und auf zwei weitere Fabriken in der Region aus: totaler Streik, unbegrenzte Werksbesetzungen, rote Fahnen an den Fabriktoren. Am Ende des Tages streikten 11.000 Beschäftigte.
Am 16. Mai schlossen sich die Beschäftigten der anderen Renault-Werke an: rote Fahnen über Flins, Sandouville, Le Mans und Billancourt. An jenem Abend befanden sich 75.000 Arbeiter im Streik; aber als die Arbeiter von Renault-Billancourt in den Kampf traten, wurde ein deutliches Signal gesetzt. Es handelte sich um die größte Fabrik in Frankreich (35.000 Beschäftigte) und seit langem galt ein Sprichwort: „Wenn Renault niest, hat Frankreich Schnupfen.“
Am 17. Mai gab es 215.000 Streikende. Die Streiks erreichten nunmehr ganz Frankreich, vor allem die Provinz. Es handelte sich um eine vollkommen spontane Bewegung; die Gewerkschaften liefen ihr nur nach. Überall standen die jungen Arbeiter an ihrer Spitze. Häufig verbrüderten sich Studenten und junge Arbeiter. Junge Arbeiter zogen in die besetzten Universitäten und forderten die Studenten auf, zu ihnen in die Kantinen zum Essen zu kommen. Es gab keine genauen Forderungen. Stattdessen äußerte sich eher Unmut. Auf einer Fabrikmauer in der Normandie stand: „Wir brauchen Zeit zum Leben und mehr Würde!“ An jenem Tag rief die CGT zur „Ausdehnung des Streiks“ auf. Sie hatte Angst, von der „Basis überrollt“ und von der CFDT (3) , welche von den ersten Tagen an viel präsenter war, verdrängt zu werden. Wie man damals sagte, war sie auf den „fahrenden Zug aufgesprungen“. Ihr Aufruf wurde erst am nächsten Tag bekannt. Am 18. Mai standen mittags eine Million Arbeiter im Streik, noch bevor der Streikaufruf der CGT bekannt wurde. Am Abend streikten zwei Millionen Beschäftigte.
Am 20. Mai streikten sechs Millionen, und am 21. Mai hatten schon 6.5 Millionen die Arbeit niedergelegt.
Am 22. Mai befanden sich acht Millionen im unbefristeten Streik. Es handelte sich um den größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Er war sehr viel massiver als die vorher berühmt gewordenen Streiks – der ‚Generalstreik’ des Mai 1926 in Großbritannien (der eine Woche dauerte) und die Streiks im Mai-Juni 1936 in Frankreich. Alle Bereiche waren betroffen: Industrie, Transport und Verkehr, Energie, Post und Telekommunikation, Erziehungswesen, Verwaltungen (mehrere Ministerien waren vollkommen lahm gelegt), Medien (das staatliche Fernsehen streikte, die Beschäftigten prangerten vor allem die aufgezwungene Zensur an), Forschungslabore usw. Selbst die Bestattungsunternehmer streikten (Mai 68 war ein schlechter Zeitpunkt zum Sterben). Gar Berufssportler schlossen sich der Bewegung an. Die rote Fahne wehte über den Gebäuden des französischen Fußballverbandes. Die Künstler standen nicht abseits, das Filmfestival in Cannes wurde auf Veranlassung der Regisseure unterbrochen. In dieser Zeit wurden die besetzten Universitäten (wie auch andere öffentliche Gebäude wie das Odéon-Theater in Paris) zu Orten ständiger politischer Debatte. Viele Arbeiter, insbesondere die Jungen, aber nicht nur diese, beteiligten sich an diesen Diskussionen. Arbeiter baten diejenigen, die die Notwendigkeit einer Revolution vertraten, zu den Versammlungen in den besetzten Betrieben zu kommen und dort ihren Standpunkt zu vertreten. So wurde der kleine Kern von Leuten, die später die Sektion der IKS in Frankreich gründen sollte, dazu aufgefordert, in der besetzten Fabrik JOB ihre Auffassungen von den Arbeiterräten zu erklären. Und am bedeutendsten war, dass diese Einladung von Mitgliedern der …CGT und der KPF ausgesprochen wurde. Diese mussten eine Stunde lang mit den Hauptamtlichen der CGT des großen Werkes Sud-Aviation verhandeln, die gekommen waren, um die Streikposten der JOB zu ‚verstärken’, bevor sie die Zustimmung erhielten, ‚Linksradikale’ in das Werk zu lassen. Mehr als sechs Stunden lang diskutierten Arbeiter und Revolutionäre, auf Papierrollen sitzend, über die Revolution, die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Sowjets und gar über den Verrat ... der KPF und der CGT. Viele Diskussionen fanden ebenfalls auf den Straßen und Bürgersteigen statt (im Mai 68 herrschte überall schönes Wetter). Sie entstanden spontan, jeder hatte etwas zu sagen („Man hört dem anderen zu und redet miteinander“ war einer der Slogans). Überall herrschte so etwas wie Feststimmung, außer in den ‚Reichenvierteln’, wo sich Angst und Hass ansammelten. Überall in Frankreich, in den Stadtvierteln, in einigen großen Betrieben oder in den benachbarten Bezirken tauchten „Aktionskomitees“ auf. Dort wurde darüber diskutiert, wie man kämpfen sollte, wie eine revolutionäre Perspektive aussehen könnte. Im Allgemeinen wurden diese Diskussionen von linken oder anarchistischen Gruppen angestoßen, aber dort versammelten sich viel mehr Leute als Mitglieder dieser Organisationen. Selbst bei der ORTF, den staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, entstand ein Aktionskomitee, das insbesondere von Michel Drucker (4) mit angetrieben wurde, und an dem sich der unbeschreibliche Thierry Rolland (5) beteiligte.
In Anbetracht dieser Lage befand sich die herrschende Klasse in einer Phase des Umherirrens, was sich durch verwirrte und unwirksame Initiativen äußerte. So diskutierte und verwarf das Parlament, welches von der Rechten beherrscht wurde, einen Zensurantrag, der von der Linken zwei Wochen zuvor eingebracht worden war: Die offiziellen Institutionen der Republik Frankreichs schienen in einer anderen Welt zu leben. Das Gleiche traf auf die Regierung zu, die an jenem Tag beschloss, Daniel Cohn-Bendit, der nach Deutschland gereist war, die Wiedereinreise zu verbieten. Diese Entscheidung ließ die Unzufriedenheit nur noch weiter hochkochen. Am 24. Mai kam es zu mehreren Demonstrationen, insbesondere um gegen das Aufenthaltsverbot Cohn-Bendits zu protestieren: „Nieder mit den Landesgrenzen!“ „Wir sind alle deutsche Juden!“ Trotz des von der CGT gelegten Sperrrings gegen die „Abenteurer“ und „Provokateure“ (d.h. die „radikalen“ Studenten) schlossen sich viele junge Arbeiter diesen Demonstrationen an. Am Abend hielt der Präsident der Republik, General de Gaulle, eine Rede. Er schlug ein Referendum vor, damit die Franzosen sich zur „Beteiligung“ äußern (eine Art Assoziation Kapital-Arbeit). Weltfremder konnte man nicht sein. Diese Rede stieß auf taube Ohren. Sie zeigte die totale Verwirrung der Regierung und der Bourgeoisie im Allgemeinen (6). Auf den Straßen hatten die Demonstrationen die Rede in Transistorradios verfolgt. Die Wut stieg sofort weiter an: „Wir pfeifen auf seine Rede.“ In ganz Paris und in mehreren Provinzstädten kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen; Barrikaden wurden errichtet. Zahlreiche Schaufenster wurden zerschlagen, Autos in Brand gesetzt. Dadurch richtete sich ein Teil der öffentlichen Meinung gegen die Studenten, die nunmehr als „Krawallmacher“ angesehen wurden. Es ist übrigens wahrscheinlich, dass sich unter die Demonstranten Mitglieder der gaullistischen Milizen oder Zivilpolizisten gemischt hatten, um Öl aufs Feuer zu gießen und der Bevölkerung Angst einzujagen. Es war aber auch klar, dass viele Studenten glaubten, sie würden die ‚Revolution machen’, indem sie Barrikaden errichteten oder Autos anzündeten, die als Symbol der ‚Konsumgesellschaft’ galten. Aber diese Handlungen brachten vor allem die Wut der Demonstranten, Studenten und jungen Arbeiter über die lächerlichen und provozierenden Reaktionen der Behörden gegenüber der größten Streikwelle der Geschichte zum Vorschein. Ein Ausdruck dieser Wut gegen das System: das Symbol des Kapitalismus, die Pariser Börse, wurde in Brand gesetzt. Schließlich konnte die Bourgeoisie erst am darauf folgenden Tag wirksamere Maßnahmen ergreifen. Am Samstag, den 25. Mai, wurden Verhandlungen im Arbeitsministerium (rue de Grenelle) zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Regierung aufgenommen. Von Anfang an waren die Arbeitgeber bereit, mehr zuzugestehen, als was die Gewerkschaften erwartet hatten. Es war offensichtlich, dass die Bourgeoisie Angst hatte. Der Premierminister Pompidou leitete die Verhandlungen. Am Sonntagmorgen traf er den Chef der CGT, Séguy (7) , eine Stunde lang unter vier Augen. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frankreich brauchten Zeit, um ohne Zeugen die Bedingungen für die Wiederherstellung der Ordnung zu besprechen (8). In der Nacht vom 26. zum 27. Mai wurde das „Abkommen von Grenelle“ unterzeichnet:
- Lohnerhöhung von 7% für alle ab dem 1. Juni, plus 3% zusätzlich ab dem 1. Oktober;
- Erhöhung der Mindestlöhne um 25%;
- Kürzung der „Eigenleistungen“ im Gesundheitswesen von 30% auf 25% (insbesondere die Gesundheitsausgaben, die die Sozialversicherung nicht übernahm);
- Anerkennung der Gewerkschaften in den Betrieben;
- Sowie eine Reihe von sehr vagen Versprechungen des Beginns von Verhandlungen, insbesondere über die Frage der Arbeitszeit (die damals durchschnittlich 47 Stunden pro Woche betrug). In Anbetracht der Stärke der Bewegung handelte es sich um eine wahre Provokation:
- Die 10% Lohnerhöhung sollte schnell durch die Inflation aufgefressen werden (damals gab es eine hohe Inflationsrate);
- nichts zur Frage des Lohnausgleichs für die Inflation;
- nichts Konkretes zur Verkürzung der Arbeitszeit. Man gab sich damit zufrieden, als Ziel die „schrittweise“ Rückkehr zur 40 Stundenwoche (welche schon 1936 offiziell erreicht worden war) zu proklamieren. Wäre man dem von der Regierung vorgeschlagenen Rhythmus gefolgt, hätte man das Ziel 2008 erreicht!
- Die einzigen, die etwas Wesentliches erreichten, waren die am geringsten bezahlten Arbeiter (man wollte die Arbeiterklasse spalten und sie zur Wiederaufnahme der Arbeit drängen) sowie die Gewerkschaften (welche für ihre Saboteursrolle belohnt wurden).
- Am 27. Mai verwarfen die Vollversammlungen das „Abkommen von Grenelle“ einstimmig. Bei Renault Billancourt haben die Gewerkschaften eine ‚Showveranstaltung’ organisiert, über die von den Medien groß berichtet wird. Als er von den Verhandlungen zurückkam, sagte Séguy zu den Journalisten, „die Wiederaufnahme der Arbeit steht unmittelbar bevor“, und er hoffte sehr wohl, dass die Arbeiter von Billancourt ein Beispiel dafür liefern würden. Aber 10.000 Beschäftigte, die sich seit dem Morgen versammelt hatten, hatten die Fortsetzung der Streiks beschlossen, noch bevor die Gewerkschaftsführer angekommen waren. Benoît Frachon, ‘historischer’ Führer der CGT (der sich schon an den Verhandlungen von 1936 beteiligt hatte) erklärte: „Das Abkommen von Grenelle wird Millionen von Arbeitern einen Wohlstand bieten, den sie nicht erhofft hatten.“ Todesstille im Saal. André Jeanson von der CFDT freute sich über das anfängliche Votum zur Fortsetzung des Streiks und sprach von der Solidarität zwischen Arbeitern, Studenten und kämpfenden Oberschülern: stürmischer Beifall. Schließlich trug Séguy einen „objektiven Bericht“ der „Errungenschaften von Grenelle“ vor: minutenlanges Pfeifkonzert. Danach machte Séguy eine Kehrtwendung: „Wenn man nach dem hier gehörten urteilen muss, werdet ihr euch nicht über den Tisch ziehen lassen!“ Applaus, aber aus der Menge rief eine Stimme: „Er führt uns hinters Licht.“ Der beste Beweis der Verwerfung des „Abkommens von Grenelle“: die Zahl der Streikenden stieg noch am 27. Mai auf neun Millionen. Am 9. Mai fand im Sportstadion Charléty in Paris eine große Versammlung statt. Sie wurde von der Studentengewerkschaft UNEF, der CFDT (welche sich radikaler als die CGT gab) und linken Gruppen einberufen. In den Reden wurden revolutionäre Töne geschwungen. Man wollte für die wachsende Unzufriedenheit mit der CGT und der KPF ein Ventil finden. Neben den Vertretern der Extremen Linken waren auch Politiker der Sozialdemokratie wie Mendès-France anwesend (ehemaliger Regierungschef in den 1950er Jahren). Cohn-Bendit, der mit schwarz gefärbten Haaren aus Deutschland zurückgekehrt war, trat auch auf (am Vorabend war er in der Sorbonne erschienen). Der 28. Mai war der Tag der Manöver und Schachzüge der linken Parteien. Am Morgen hielt François Mitterrand, Vorsitzender der « Fédération de la gauche démocrate et socialiste“ (in der die Sozialistische Partei, die Radikale Partei und verschiedene kleine linke Gruppe vertreten waren) eine Pressekonferenz ab. Er meinte, es gebe ein Machtvakuum – deshalb kündigte er seine Kandidatur als Präsident der Republik an. Am Nachmittag schlug Waldeck-Rochet, der Führer der KPF, eine Regierung mit „kommunistischer Beteiligung“ vor. Es ging darum zu vermeiden, dass die Sozialdemokraten die Lage allein zu ihren Gunsten ausnutzten. Am 29. Mai folgte eine große Demonstration, zu welcher die CGT aufrief und in der sie eine „Volksregierung“ forderte. Die Rechten warnten sofort vor einem „kommunistischen Komplott“. An diesem Tag „tauchte“ General de Gaulle ab. Einige brachten das Gerücht in Umlauf, er trete ab; tatsächlich flog er nach Deutschland, um dort die Unterstützung des General Massus, welcher in Deutschland die französischen Besatzungstruppen befehligte, und die Loyalität der Armee sicher zu stellen. Der 30. Mai stellte eine Art entscheidenden Tag dar bei dem Versuch der Bourgeoisie, die Lage wieder in den Griff zu kriegen. De Gaulle hielt erneut eine Rede. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen trete ich nicht zurück (…). Ich löse heute die Nationalversammlung auf ...“ Gleichzeitig fand in Paris auf den Champs-Élysées eine gewaltige Demonstration zur Unterstützung de Gaulles statt. Aus den Reichenvierteln, den wohlhabenden Vororten und auch vom Land wurde mit Armeelastern das „Volk“ herangekarrt. Es kamen zusammen die Verängstigten und Besitzenden, die Bürgerlichen, die Vertreter der Religionsschulen für die Kinder der Reichen, die Führungsschichten, die sich ihrer ‚Überlegenheit’ bewusst waren, die kleinen Geschäftsinhaber, die um ihre Schaufenster fürchteten; Kriegsveteranen, die wegen der Angriffe auf die Nationalfahne erbost waren, die Geheimpolizei, die mit der Unterwelt unter einer Decke steckte, aber auch alte Algeriensiedler und die OAS (9), junge Mitglieder der faschistoiden Gruppe Occident, die alten Nostalgiker Vichys (obwohl diese alle de Gaulle verachteten). All diese feinen Leute strömten zusammen, um ihren Hass auf die Arbeiterklasse und ihre ‚Ordnungsliebe’ zu bekunden. Aus der Menge, zu der auch alte Kämpfer des „freien Frankreich“ gehörten, drangen Rufe wie „Cohn-Bendit nach Dachau!“. Aber die „Partei der Ordnung“ beschränkte sich nicht auf die Demonstranten auf den Champs-Elysées. Am gleichen Tag rief die CGT zu branchenmäßigen Verhandlungen zur „Verbesserung der Errungenschaften von Grenelle“ auf. Es handelte sich um ein Mittel zur Spaltung der Bewegung, um sie so vernichten zu können.
on jenem Donnerstag an wurde die Arbeit wieder aufgenommen, allerdings nur langsam, denn am 6. Juni streikten immer noch ca. 6 Millionen Beschäftigte. Die Arbeit wurde in großer Zerstreuung wieder aufgenommen.
31. Mai: Stahlindustrie Lothringens, Textilindustrie Nordfrankreichs,
4. Juni: Arsenale, Versicherungen
5. Juni : Elektrizitätswerke (10), Kohlebergwerke6. Juni : Post, Telekommunikation, Transportwesen (In Paris setzte die CGT Druckmittel zur Wiederaufnahme der Arbeit ein. In jedem Betriebswerk kündigten die Gewerkschaftsführer an, dass in den anderen Depots die Arbeit schon wieder aufgenommen worden sei, was eine Täuschung war.);
7. Juni: Grundschulen
10. Juni: das Renault-Werk in Flins wurde von der Polizei besetzt. Ein von den Polizisten verprügelter Gymnasiast fiel in die Seine und ertrank;
11. Juni: Intervention der CRS (Bürgerkriegspolizei) (11) in den Peugeot-Werken in Sochaux (zweitgrößtes Werk in Frankreich). Zwei Arbeiter wurden getötet. In ganz Frankreich kam es erneut zu gewalttätigen Demonstrationen. „Sie haben unsere Genossen getötet.“ Trotz des entschlossenen Widerstands der Arbeiter räumten die CRS das Sochaux-Werk. Aber die Arbeit wurde erst 10 Tage später wieder aufgenommen. Aus Furcht, dass die Empörung erneut zu einem Wiederaufleben der Streiks führte (immerhin standen noch drei Millionen Beschäftigte im Streik), riefen die Gewerkschaften (mit der CGT an der Spitze) und die Linksparteien (mit der KPF an der Spitze) nachdrücklich zur Wiederaufnahme der Arbeit auf, „damit die Wahlen stattfinden können und der Sieg der Arbeiterklasse vervollständigt werden kann.“ Die Tageszeitung der KPF, l’Humanité, trug die Schlagzeile: „Gestärkt durch ihren Sieg nehmen Millionen Beschäftigte die Arbeit wieder auf.“ Der systematische Streikaufruf durch die Gewerkschaften vom 20. Mai an konnte nun erklärt werden: Sie wollten die Bewegung kontrollieren, damit sie so leichter zur Wiederaufnahme der Arbeit in den weniger kämpferischen Teilen und zur Demoralisierung der anderen Bereiche drängen konnten. Waldeck-Rochet erklärte in seinen Reden während des Wahlkampfes, dass die « Kommunistische Partei eine Partei der Ordnung ist ». In der Tat konnte die bürgerliche „Ordnung“ schrittweise wiederhergestellt werden.
12. Juni: Wiederaufnahme der Arbeit in den Schulen der Sekundarstufe
14. Juni: Air France und Seeschiffahrt16. Juni : Besetzung der Sorbonne durch die Polizei
17. Juni: chaotische Wiederaufnahme der Arbeit bei Renault Billancourt
18. Juni: De Gaulle ließ die Führer der OAS freisetzen, die noch im Gefängnis saßen;
23. Juni: Erster Wahltag der Parlamentswahlen mit großen Stimmengewinnen für die Rechten;
24. Juni: Wiederaufnahme der Arbeit bei Citroën Javel, mitten in Paris (Krasucki, Nummer 2 der CGT, trat vor der Vollversammlung auf und rief zum Streikabbruch auf.)
26. Juni: Usinor Dünkirchen
30. Juni : Stichwahl mit einem historischen Sieg der Rechten. Einer der Betriebe, die als letzte die Arbeit wieder aufnahmen, waren die Radio- und Fernsehanstalten am 12. Juli. Viele Journalisten wollten nicht wieder bevormundet und zensiert werden, wie das vorher so sehr durch die Regierung geschehen ist. Nach der Wiederaufnahme der Arbeit wurden viele von ihnen entlassen. Überall wurde die Ordnung wiederhergestellt, gerade auch bei den Medien, die wichtig waren für die gezielte „Bearbeitung“ der Bevölkerung. So endete der größte Streik der Geschichte im Gegensatz zu den Behauptungen der CGT und der KPF in einer Niederlage. Eine schwere Schlappe, die durch die Rückkehr der Parteien und „Autoritäten“ bekräftigt wurde, welche während der Bewegung die ganze Wut und Verachtung auf sich gezogen hatten. Aber die Arbeiterbewegung weiß schon seit langem: „Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“ (Kommunistisches Manifest). Aber ungeachtet ihrer unmittelbaren Niederlage haben die Arbeiter in Frankreich 1968 einen großen Sieg nicht nur für sich selbst, sondern für das ganze Weltproletariat errungen. Dies werden wir in unserem nächsten Artikel aufzeigen, in dem wir versuchen werden, die tiefer liegenden Ursachen wie auch die historische und internationale Dimension dieses „schönen Mai“ in Frankreich herauszustellen.
In den meisten Büchern und Fernsehsendungen, die sich in der letzten Zeit mit dem Thema Mai 1968 befassten, wird der internationale Charakter der Studentenbewegung, welche in Frankreich zu jener Zeit im Gange war, unterstrichen. Es herrscht, wie wir auch in früheren Artikeln festgestellt haben, Einverständnis darüber, dass die Studenten in Frankreich nicht die ersten waren, die massiv auf den Plan traten. Sie waren sozusagen auf den fahrenden Zug aufgesprungen, welcher in den US-amerikanischen Universitäten im Herbst 1964 in Gang gesetzt wurde. Von den USA ausgehend, hatte diese Bewegung die meisten westlichen Ländern erfasst und dabei in Deutschland 1967 seinen spektakulärsten Höhepunkt erlebt, was die Studenten in Deutschland zu einem "Bezugspunkt" für die Studenten Europas machte. Aber die gleichen Journalisten oder „Historiker“, die vorbehaltlos das internationale Ausmaß der Studentenproteste Ende der 1960er Jahre unterstreichen, hüllen sich in allgemeines Schweigen über die Arbeiterkämpfe, die damals weltweit stattfanden. Natürlich können sie den gewaltigen Streik, der den wichtigsten Moment der Ereignisse des Jahres 1968 in Frankreich darstellt, nicht einfach ausblenden und schweigend darüber hinweggehen. Aber wenn sie sich dazu äußern, dann nur, um zu sagen, die Bewegung der Arbeiter sei eine auf Frankreich beschränkte Ausnahmeerscheinung, gewesen.
In Wirklichkeit war die Bewegung der Arbeiterklasse in Frankreich ebenso wie die der Studenten, Teil einer internationalen Bewegung, und sie kann auch nur im internationalen Kontext verstanden werden. Dies wollen wir unter anderem im folgenden Artikel aufzeigen.
Es stimmt, dass die Lage in Frankreich im Mai 1968 eine besondere war, die in keinem anderen Land in dem Ausmaß vorzufinden war, allenfalls marginal: eine massive Bewegung der Arbeiterklasse, die sich von der Studentenbewegung ausgehend entwickelt hatte. Es ist offensichtlich, dass die Mobilisierung der Studenten, die danach einsetzende Repression – welche Erstere wiederum anfachte – sowie das Zurückweichen der Regierung nach der "Nacht der Barrikaden" vom 10. auf den 11. Mai eine Rolle nicht nur bei der Auslösung der Arbeiterstreiks, sondern auch beim Ausmaß derselben gespielt haben. Aber wenn die Arbeiterklasse in Frankreich solch eine Bewegung ausgelöst hat, dann geschah dies nicht, weil sie "dem Beispiel der Studenten folgen" wollte, sondern weil in ihren eigenen Reihen eine tiefe und weit verbreitete Unzufriedenheit, aber auch die politische Kraft herrschte, um solch einen Kampf aufzunehmen.
Dieser Tatbestand wird in der Regel durch die Bücher und Fernsehprogramme, welche sich mit Mai 68 befassten, nicht verheimlicht. Es wird oft in Erinnerung gerufen, dass die Arbeiter von 1967 an wichtige Kämpfe geführt haben, die sich in vielem von der Zeit davor unterschieden. Während die kleinen, harmlosen Streiks und die gewerkschaftlichen Aktionstage keine große Begeisterung hervorriefen, flammten nunmehr sehr heftige Konflikte auf, mit einer großen Entschlossenheit der Beschäftigten, die mit einer gewaltsamen Repression durch die Arbeitgeber und die Polizei konfrontiert wurden und unter denen die Gewerkschaften mehrfach die Kontrolle verloren hatten. So kam es schon Anfang 1967 zu größeren Zusammenstößen in Bordeaux (im Flugzeugwerk Dassault), in Besançon und in der Gegend von Lyon (Streik und Besetzung in Rhodia, Streik bei Berliet mit anschließender Aussperrung der Arbeiter durch die Arbeitgeber und Besetzung des Werkes durch die Bürgerkriegspolizei CRS), in den Bergwerken Lothringens, in den Schiffswerften von Saint-Nazaire (die am 11. April durch einen Generalstreik lahmgelegt wurden).
In Caen in der Normandie fanden die wichtigsten Kämpfe der Arbeiterklasse vor dem Mai 1968 statt. Am 20. Januar 1968 hatten die Gewerkschaften von Saviem (LKW-Hersteller) zu einem anderthalbstündigen Streik aufgerufen, aber die Gewerkschaftsbasis, die diese Maßnahme als unzureichend betrachtete, trat am 23. Januar spontan in den Streik. Am übernächsten Tag, um 4.00h morgens, griff die CRS die Streikposten an und vertrieb sie, um den Managern und den Streikbrechern den Zugang zur Fabrik zu ermöglichen. Die Streikenden beschlossen, in das Stadtzentrum zu ziehen, wo sich ihnen Arbeiter anderer Betriebe anschlossen, die ebenfalls in den Streik getreten waren. Um acht Uhr morgens bewegten sich ca. 5.000 Menschen friedlich auf das Stadtzentrum zu, bis sie von der Bürgerkriegspolizei (12) brutal angegriffen wurden. So schlugen diese mit ihren Gewehrkolben auf die Demonstranten ein. Am 26. Januar bekundeten Beschäftigte aus allen Bereichen (unter ihnen Lehrer) wie auch viele Studenten ihre Solidarität. An einer Solidaritätsveranstaltung um 18 Uhr auf dem Marktplatz beteiligten sich ca. 7.000 Menschen. Am Ende der Veranstaltung griff die CRS erneut an, um den Platz zu räumen – aber sie wurde vom heftigen Widerstand der Arbeiter überrascht. Die Zusammenstöße dauerten die ganze Nacht. Über 200 Menschen wurden verletzt, Dutzende verhaftet. Sechs junge Demonstranten, alles junge Arbeiter, wurden zu Haftstrafen von 15 Tagen bis zu drei Monaten verurteilt. Aber anstatt die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu schwächen und diese zurückzudrängen, bewirkte diese Repression nur die weitere Ausdehnung der Bewegung. Am 30. Januar zählte man ca. 15.000 Streikende in Caen. Am 2. Februar wurden die staatlichen Behörden und die Arbeitgeber zum Rückzug gezwungen. Die Strafverfolgungen gegen die Demonstranten wurden fallengelassen; die Löhne wurden um drei bis vier Prozent angehoben. Am nächsten Tag nahmen die Beschäftigten die Arbeit wieder auf, aber unter dem Druck der jungen Beschäftigten kam es mindestens noch einen Monat lang zu weiteren Arbeitsniederlegungen bei Saviem.
Doch Saint-Nazaire im April 67 und Caen im Januar 68 waren nicht die einzigen von Generalstreiks betroffenen Städte. Auch in anderen, weniger großen Städten wie Redon im März, Honfleur im April kam es zu größeren Streiks. Diese massiven Streiks aller Beschäftigten einer Stadt sollten einen Vorgeschmack von dem liefern, was im Mai im ganzen Land passieren sollte.
Deshalb kann man nicht behaupten, dass das Gewitter des Mai 68 wie ein Blitz aus heiterem Himmel erfolgt war. Die Studentenbewegung hatte etwas angezündet, das längst bereit war zu brennen.
Natürlich haben die "Spezialisten", insbesondere die Soziologen, versucht, die Ursachen dieser "Ausnahme" Frankreich aufzuzeigen. Sie haben vor allem auf die hohen Wachstumszahlen der Industrie in Frankreich während der 1960er Jahre verwiesen, wodurch das alte, landwirtschaftlich geprägte Land zu einem modernen und mächtigen Industriestaat wurde. Diese Tatsache erkläre das Auftreten und die Rolle einer großen Zahl von jungen Arbeitern, die in Fabriken angestellt waren, die oft erst kurz zuvor errichtet worden waren. Diese jungen Arbeiter, die häufig vom Land kamen, seien meistens nicht gewerkschaftlich organisiert gewesen; auch seien sie schlecht mit der Kasernendisziplin in den Betrieben zurechtgekommen, zudem sie trotz ihrer Berufsausbildung meist lächerlich geringe Löhne erhielten.
So lässt sich erklären, warum die jüngsten Mitglieder der Arbeiterklasse als erste den Kampf aufgenommen haben, und auch, warum die meisten wichtigen Bewegungen, die dem Mai 1968 vorhergingen, in Westfrankreich ausgelöst wurden: Diese Region wurde erst relativ spät industrialisiert. Aber die Erklärungen der Soziologen vermögen nicht zu erklären, warum nicht nur die jungen Arbeiter 1968 in Streik getreten sind, sondern die große Mehrheit der ganzen Arbeiterklasse, d.h. quer durch alle Generationen, gestreikt hat.
Hinter einer solch tiefgreifenden und weitreichenden Bewegung wie die des Mai 68 steckten notwendigerweise tiefergehende Ursachen, die weit über Frankreich hinausreichten. Die gesamte Arbeiterklasse Frankreichs ist damals faktisch in einen Generalstreik getreten, da alle Teile der Arbeiterklasse mittlerweile von der Wirtschaftskrise erfasst worden waren, die 1968 erst in ihrer Anfangsphase steckte. Diese Krise war aber keineswegs auf Frankreich beschränkt, sondern erfasste den Weltkapitalismus insgesamt. Die Auswirkungen dieser weltweiten Wirtschaftkrise in Frankreich (Anstieg der Arbeitslosigkeit, Lohnstopps, Produktivitätserhöhungen, Angriffe auf die Sozialleistungen) liefern die Haupterklärung für den Anstieg der Kampfbereitschaft in Frankreich 1967: „In allen Industriestaaten Europas und in den USA stieg die Arbeitslosigkeit an und die wirtschaftlichen Aussichten verschlechterten sich. England, das trotz einer Vielzahl von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts Ende 1967 dazu gezwungen war, das Pfund abzuwerten, löste eine Reihe von Abwertungen vieler anderer Währungen aus. Die Regierung Wilson kündigte ein außergewöhnliches Sparprogramm an: massive Kürzung der Staatsausgaben (...), Lohnstopps, Einschränkung der Binnennachfrage und der Importe, besondere Anstrengungen zur Ankurbelung der Exporte. Am 1. Januar 1968 schrie Johnson [der damalige US-Präsident] Alarm und kündigte unumgängliche harte Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Gleichgewichts an. Im März brach die Dollarkrise aus. Die Tag für Tag pessimistischere Wirtschaftspresse erwähnte immer öfter das Gespenst der Wirtschaftskrise von 1929 […] Die ganze Bedeutung des Mai 1968 lag darin, eine der ersten und größten Reaktionen der Arbeiter gegen eine sich weltweit verschlechternde wirtschaftliche Lage gewesen zu sein“ (Révolution Internationale - alte Reihe, Nr. 2, Frühjahr 1969).
Tatsächlich haben besondere Umstände dazu geführt, dass der erste große Kampf der Arbeiterklasse gegen die Angriffe der Kapitalisten, die später an Schärfe noch zunehmen sollten, in Frankreich ausgefochten wurde. Doch sehr schnell traten auch Arbeiter anderer Länder in den Kampf. Den gleichen Ursachen folgten die gleichen Wirkungen.
Am anderen Ende der Welt, in Cordoba (Argentinien), kam es im Mai 1969 zu dem, was später als „Cordobazo“ in die Geschichte eingehen sollte. Nach einer ganzen Reihe von Arbeitermobilisierungen in vielen Städten gegen die brutalen wirtschaftlichen Sparmaßnahmen und die Repression durch das Militärregime hatten Polizei und Armee am 29. Mai die Kontrolle verloren, obwohl Letztere sogar Panzer aufgeboten hatte. Die Arbeiter hatten die zweitgrößte Stadt des Landes übernommen. Die Regierung konnte die „Ordnung“ am folgenden Tag nur dank des massiven Einsatzes des Militärs wiederherstellen.
In Italien begannen zum gleichen Zeitpunkt die größten Arbeiterkämpfe seit dem II. Weltkrieg. Bei Fiat in Turin legten mehr und mehr Arbeiter die Arbeit nieder, zunächst im größten Werk der Stadt, bei Fiat-Mirafiori, ehe die Bewegung dann die anderen Werke in Turin und Umgebung erreichte. Während eines gewerkschaftlichen Aktionstages am 3. Juli 1969 gegen die Mietpreiserhöhungen zogen demonstrierende Arbeiter, denen sich Studenten anschlossen, zum Mirafiori-Werk. Die Polizei griff daraufhin die Demonstrierenden gewalttätig an. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen hielten die ganze Nacht an und dehnten sich auf andere Stadtviertel aus.
Ab Ende August, als die Arbeiter aus ihrem Sommerurlaub zurückkehrten, kam es erneut zu Arbeitsniederlegungen – dieses Mal jedoch auch bei Pirelli (Reifenhersteller) in Mailand und in vielen anderen Betrieben.
Doch die italienische Bourgeoisie, die aus der Erfahrung des Mai 68 gelernt hatte, ließ sich im Gegensatz zu der französischen Bourgeoisie nicht überraschen. Sie versuchte mit aller Macht zu verhindern, dass die spürbare, starke gesellschaftliche Unzufriedenheit zu einem gesellschaftlichen Flächenbrand ausuferte. Deshalb versuchte der zu ihren Diensten stehende Gewerkschaftsapparat, die anstehenden Tarifverhandlungen, insbesondere in der Metallindustrie, in der Chemiebranche und im Baugewerbe, auszunutzen, um Spaltungsmanöver durchzuführen, mit denen die Arbeiter dazu veranlasst werden sollten, für „gute Abschlüsse“ in ihrer jeweiligen Branche zu kämpfen. Die Gewerkschaften verfeinerten die Taktik der „Schwerpunktstreiks“: An einem Tag streikten die Metaller, an einem anderen die Beschäftigten der chemischen Industrie, an einem dritten die des Baugewerbes. Man rief auch zu „Generalstreiks“ auf, aber diese sollten jeweils auf eine Provinz oder eine Stadt beschränkt bleiben. Sie richteten sich gegen die Preiserhöhungen oder Mietpreissteigerungen. In den Betrieben selbst plädierten die Gewerkschaften für rotierende Streiks; eine Abteilung nach der anderen sollte die Arbeit niederlegen. Dies geschah unter dem Vorwand, so dem Arbeitgeber den größtmöglichen Schaden zuzufügen und für die Streikenden den Schaden so gering wie möglich zu halten. Gleichzeitig unternahmen die Gewerkschaften alles, um die Kontrolle über eine Basis wiederherzustellen, die ihnen immer mehr entglitt. Nachdem die Arbeiter in vielen Betrieben aus Unzufriedenheit mit den traditionellen Gewerkschaftsstrukturen Vertrauensleute wählten, wurden diese postwendend als „Fabrikräte“ institutionalisiert, die die „Basisorgane“ der Einheitsgewerkschaft sein sollten, welche die drei Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL gemeinsam gründen wollten.
Nach mehreren Monaten, während derer die Kampfbereitschaft durch eine Reihe von „Aktionstagen“ erschöpft wurde, die jeweils voneinander abgeschottet in verschiedenen Branchen und Städten stattfanden, wurden zwischen Anfang November und Ende Dezember die Tarifverträge Zug um Zug unterzeichnet. Und schließlich explodierte am 12. Dezember - wenige Tage vor dem Abschluss des Tarifvertrages in der bedeutendsten Branche, der privaten Metallindustrie, wo die Arbeiter am radikalsten gekämpft hatten - eine Bombe in einer Mailänder Bank. Dabei kamen 16 Menschen ums Leben. Das Attentat wurde Anarchisten in die Schuhe geschoben (einer von ihnen, Giuseppe Pinelli, starb in den Händen der Mailänder Polizei), aber viel später stellte sich heraus, dass das Attentat von gewissen Kreisen des Staatsapparates angezettelt worden war. Die geheimen Strukturen des bürgerlichen Staates leisteten so den Gewerkschaften Hilfestellung, um für Verwirrung in den Reihen der Arbeiter zu sorgen, während gleichzeitig ein Vorwand für die Verstärkung des Repressionsapparates gefunden worden war.
Das Proletariat Italiens war jedoch nicht das einzige, das sich im Herbst 1969 regte. In geringerem Maße traten auch die Arbeiter in Deutschland auf den Plan; im September 1969 kam es zu wilden Streiks gegen die von den Gewerkschaften unterzeichneten Tarifabschlüsse der Lohndämpfung. Diese Tarifabschlüsse wurden von den Gewerkschaften in Anbetracht der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland als „realistisch“ gelobt. Die Wirtschaft in Deutschland war trotz des Wirtschaftswunders von den zunehmenden Schwierigkeiten der Weltwirtschaft seit 1967 nicht verschont geblieben – 1967 rutschte Deutschland zum ersten Mal seit dem II. Weltkrieg in die Rezession ab.
Auch wenn dieses Wiedererwachen der Arbeiterklasse in Deutschland noch sehr verhalten war, kam diesem eine besondere Bedeutung zu. Auf der einen Seite handelt es sich um den zahlenmäßig größten und konzentriertesten Teil der Arbeiterklasse in Europa. Aber vor allem hat die Arbeiterklasse in Deutschland in der Geschichte eine herausragende Stellung innerhalb der Weltarbeiterklasse eingenommen – und diesen Platz wird sie auch in Zukunft einnehmen. In Deutschland war der Ausgang der internationalen revolutionären Welle von Kämpfen, die von Oktober 1917 in Russland an die kapitalistische Herrschaft auf der ganzen Welt bedroht hatte, infragestellt worden. Die von den Arbeitern in Deutschland erlittene Niederlage nach ihrem revolutionären Ansturm zwischen 1918-1923 hatte der schrecklichsten Konterrevolution, die die Weltarbeiterklasse jemals erlebt hatte, den Weg bereitet. Dort, wo die Revolution am weitesten gediehen war, in Deutschland und Russland, hatte die Konterrevolution die schlimmsten und barbarischsten Formen angenommen: Stalinismus und Naziherrschaft. Diese Konterrevolution hatte fast ein halbes Jahrhundert gedauert und erlebte ihren Gipfelpunkt im II. Weltkrieg, der es im Gegensatz zum I. Weltkrieg dem Proletariat nicht ermöglicht hatte, sein Haupt zu erheben, sondern seine Niederlage nur verschärft hatte, insbesondere durch die durch den Sieg der „Demokratie“ und des „Sozialismus“ entstandenen Illusionen.
Die gewaltigen Streiks des Mai 1968 in Frankreich, schließlich der „Heiße Herbst“ in Italien hatten den Beweis erbracht, dass die Weltarbeiterklasse die Zeit der Konterrevolution überwunden hatte, und dass im Gegensatz zur Krise von 1929 die nun mehr neu einsetzende Krise nicht zu einem neuen Weltkrieg führen sollte, sondern zu einer Intensivierung der Klassenkämpfe, welche die herrschende Klasse daran hinderten, ihre barbarische Lösung für die Erschütterungen ihrer Wirtschaft durchzusetzen. Die Kämpfe der Arbeiter in Deutschland im September 1969 bestätigten dies später, und in einem noch größeren Maße taten dies auch die Kämpfe der polnischen Arbeiter aus den Ostseestädten im Winter 1970-71.
Im Dezember 1970 reagierte die Arbeiterklasse in Polen spontan und massiv auf eine Erhöhung der Preise von mehr als 30%. Die Arbeiter zerstörten den Sitz der stalinistischen Partei in Gdansk, Gdynia und Elblag. Die Streikbewegung dehnte sich von der Ostseeküste auf Poznan, Katowice, Wroclaw und Krakov aus. Am 17. Dezember schickte Gomulka, der Generalsekretär der an der Macht befindlichen stalinistischen Partei, seine Panzer an die Ostküste. Mehrere Hundert Arbeiter wurden getötet. Straßenkämpfe fanden in Szczecin und Gdansk statt. Die Bewegung konnte aber nicht durch Repression unterdrückt werden. Am 21. Dezember brach eine Streikwelle in Warschau aus. Gomulka musste abtreten. Sein Nachfolger, Gierek, verhandelte sofort persönlich mit den Werftarbeitern von Szczecin. Gierek machte einige Konzessionen, aber weigerte sich die Preiserhöhungen zurückzunehmen. Am 11. Februar brach ein Massenstreik in Lodz aus. Gierek musste schließlich nachgeben: die Preiserhöhungen wurden gestrichen. Die stalinistischen Regimes waren die schlimmste Verkörperung der Konterrevolution gewesen. Im Namen des „Sozialismus“ und im „Interesses der Arbeiterklasse“ wurde die schrecklichste Terrorherrschaft gegen die Arbeiter ausgeübt. Der „heiße“ Winter der polnischen Arbeiter 1970-71 sowie auch die Streiks, die nach Bekanntwerden der Kämpfe in Polen auf der anderen Seite der Grenze ausbrachen, insbesondere in Lwow (Ukraine) und Kaliningrad bewiesen , dass selbst dort, wo die Konterrevolution in Gestalt der „sozialistischen“ Regimes immer noch das Zepter in der Hand hielt, ein Durchbruch erzielt worden war.
Wir können an dieser Stelle nicht alle Arbeiterkämpfe aufzählen, die nach 1968 stattgefunden haben und diese grundlegende Umwälzung des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat auf Weltebene bewirkt haben. Wir wollen stellvertretend nur zwei Beispiele erwähnen: Spanien und England.
Trotz einer wütenden Repression, die vom Franco-Regime ausgeübt wurde, hielt die Kampfbereitschaft der Arbeiter noch bis 1974 massiv an. In Pamplona, Navarra, überstieg die Zahl der Streiktage pro Arbeiter noch die der französischen Arbeiter 1968. Alle Industriegebiete (Madrid, Asturien, Baskenland) wurden erfasst. In den großen Arbeiterzusammenballungen der Vororte von Barcelona dehnten sich die Streiks am weitesten aus. Fast alle Betriebe der Region wurden bestreikt. Es kam zu exemplarischen Solidaritätsstreiks (oft begannen Streiks in einem Werk ausschließlich aus Solidarität mit den Beschäftigten anderer Betriebe).
Das Beispiel des englischen Proletariats ist ebenfalls sehr aufschlussreich, denn hier handelte es sich um das älteste Proletariat der Welt. Während der 1970er Jahre fanden dort massive Kämpfe gegen die Ausbeutung statt (1979 wurden mehr als 29 Millionen Streiktage registriert, die englischen Arbeiter standen in der Streikstatistik an zweiter Stelle hinter den französischen Arbeitern mit ihren Streiks 1968). Diese Kampfbereitschaft zwang die englische Bourgeoisie zweimal dazu, sogar ihren Premierminister auszutauschen: Im April 1976 wurde Callaghan durch Wilson ersetzt, und Anfang 1979 wurde Callaghan durch das Parlament abgesetzt.
So liegt die grundlegende historische Bedeutung des Mai 68 weder in den „französischen Besonderheiten“ noch in der Studentenrevolte, ebensowenig in der heute so viel gepriesenen ‚Revolution der Sitten?’, sondern darin, dass die Weltarbeiterklasse die Konterrevolution überwunden hatte und in einen neuen historischen Zeitraum von Zusammenstößen mit der kapitalistischen Ordnung eingetreten war. Diese neue Periode zeichnet sich ebenso dadurch aus, dass sich politisch-proletarische Strömungen, welche von der Konterrevolution praktisch eliminiert oder zum Schweigen gebracht worden waren, neu entwickelt haben, darunter die IKS. Darauf werden wir in einem weiteren Artikel eingehen.
Anfang des 20. Jahrhunderts führte das Proletariat während und nach dem 1. Weltkrieg gigantische Kämpfe, in denen der Kapitalismus beinahe überwunden worden wäre. 1917 wurde die bürgerliche Macht in Russland gestürzt. Zwischen 1918-1923 gab es in dem wichtigsten Land Europas, in Deutschland, mehrere Anläufe zur Überwindung des Kapitalismus. Diese revolutionäre Welle fand in allen Winkeln der Erde ihren Widerhall, d.h. überall wo es eine entwickelte Arbeiterklasse gab, von Italien bis Kanada, von Ungarn bis China.
Aber der Weltbourgeoisie gelang es, diese gigantische Bewegung der Arbeiterklasse einzudämmen, und sie blieb nicht dabei stehen. Sie brach die schrecklichste Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterbewegung vom Zaun. Diese Konterrevolution entwickelte sich in Gestalt einer unvorstellbaren Barbarei, deren bedeutendsten Ausdrücke der Stalinismus und Nationalsozialismus waren. Diese wüteten besonders stark dort, wo die Revolution am weitesten gegangen war, nämlich in Russland und in Deutschland.
In diesem Zusammenhang verwandelten sich die kommunistischen Parteien, welche in der revolutionären Welle von Kämpfen an der Spitze gestanden hatten, zu Parteien der Konterrevolution.
Der Verrat der kommunistischen Parteien löste in ihren Reihen die Entstehung von linkskommunistischen Fraktionen aus, welche wirklich revolutionäre Positionen weiter verteidigen wollten Ein ähnlicher Prozesses hatte schon innerhalb der sozialistischen Parteien stattgefunden, als diese 1914 aufgrund ihrer Unterstützung des imperialistischen Krieges ins bürgerliche Lager übergewechselt waren. Aber während diejenigen, welche innerhalb der sozialistischen Parteien gegen deren opportunistisches Abgleiten und deren Verrat ankämpften, an Stärke und Einfluss in der Arbeiterklasse gewannen, so dass sie nach der Russischen Revolution sogar eine neue Internationale gründen konnten, verlief die Entwicklung der linken Strömungen, die aus den kommunistischen Parteien hervorgingen, aufgrund des zunehmenden Gewichtes der Konterrevolution anders. Während sie anfänglich eine Mehrheit der Mitglieder in den Parteien in Deutschland und Italien umfassten, verloren diese Strömungen schrittweise ihren Einfluss in der Arbeiterklasse und den größten Teil ihrer Mitglieder. Oder sie gingen unter durch eine Zersplitterung in eine Reihe von kleinen Gruppen, wie in Deutschland, noch bevor das Hitler-Regime die letzten Militanten auslöschte oder sie ins Exil zwang.
Während der 1930er Jahre zählten neben der Strömung um Trotzki, welche immer mehr vom Opportunismus zerfressen wurde, die Gruppen, welche die revolutionären Positionen weiterhin entschlossen verteidigten wie die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) in Holland (die sich auf den "Rätekommunismus" berief und die Notwendigkeit einer proletarischen Partei verwarf) und die Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens (welche die Zeitschrift Bilan veröffentlichte) nur einige wenige Dutzend Mitglieder. Diese konnten keinen Einfluss auf die Arbeiterkämpfe ausüben.
Im Gegensatz zum 1. Weltkrieg hat der 2. Weltkrieg keine Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie ermöglicht. Ganz im Gegenteil. Durch die historische Erfahrung klüger geworden und dank der wertvollen Unterstützung der stalinistischen Parteien setzte die Bourgeoisie alles daran, jegliche neue Regungen der Arbeiterklasse im Keim zu ersticken. In der demokratischen Euphorie der "Befreiung" standen die Gruppen der Kommunistischen Linken noch isolierter da als in den 1930er Jahren. In Holland löste der Communistenbond Spartacus den GIC bei der Verteidigung rätistischer Positionen ab. Diese wurden ebenfalls ab 1965 von der Gruppe Daad en Gedachte, einer Abspaltung vom Bond, vertreten. Diese beiden Gruppen veröffentlichten viele Texte, obwohl sie durch ihre rätekommunistische Position behindert waren, welche die Rolle einer Avantgardeorganisation für die Arbeiterklasse verwarf. Aber das größte Hindernis war das ideologische Gewicht der Konterrevolution. Dies traf auch auf Italien zu, wo die Bildung der Partito Comunista Internazionalista (die Battaglia Comunista und Prometeo veröffentlichte) im Jahre 1945 um Damen und Bordiga die Versprechen nicht hielt, welche ihre Mitglieder sich erhofft hatten. Während diese Organisation bei ihrer Gründung über ca. 3.000 Mitglieder verfügte, wurde sie infolge von Demoralisierung und Spaltungen – insbesondere nach der von Bordiga betriebenen Spaltung 1952, die zur Bildung der Parti Communiste International führte (sie veröffentlichte Programma Comunista), immer mehr geschwächt. Einer der Gründe für die Spaltungen und Schwächung liegt in der Aufgabe einer ganzen Reihe von Errungenschaften, die von Bilan in den 1930er Jahren erzielt worden waren.
In Frankreich verschwand 1952 die Gruppe Gauche Communiste de France (GCF), die 1945 gebildet worden war, und welche die Kontinuität mit den Positionen Bilan's (bei gleichzeitiger Integration programmatischer Positionen der Deutsch-Holländischen Linken) darstellte und 42 Ausgaben ihrer Zeitschrift Internationalisme herausbrachte. Abgesehen von den Leuten, die der Parti Communiste International verbunden waren und Le Prolétaire veröffentlichten, vertrat eine andere Gruppe bis Anfang der 1960er Jahre Klassenpositionen in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (SouB). Aber diese aus dem Trotzkismus hervorgegangene Abspaltung nach dem 2. Weltkrieg gab schrittweise und ausdrücklich den Marxismus auf. Infolgedessen verschwand die Gruppe 1966.
Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre hatten mehrere Spaltungen von Socialisme ou Barbarie insbesondere gegenüber der Frage des Marxismus zur Bildung von kleinen Gruppen geführt, welche sich der rätistischen Bewegung anschlossen, insbesondere gehörte dazu ICO (Informations et Correspondances Ouvrières).
Man könnte nach andere Gruppen in anderen Ländern erwähnen, aber kennzeichnend für die Lage der damaligen Strömungen, die in den 1950er und Anfang der 1960er Jahren kommunistische Positionen vertreten haben, war ihre große zahlenmäßige Schwäche. Ihre Publikationen zirkulierten eher in eingeweihten Kreisen, sie waren international isoliert. Darüber hinaus gab es theoretisch-programmatische Rückschritte, die entweder einfach zu ihrem Verschwinden oder zu einer sektenhaften Entwicklung geführt haben, wie das insbesondere bei der Parti Communiste International der Fall war, die sich als die einzige kommunistische Organisation auf der Welt betrachtete.
Der Generalstreik 1968 in Frankreich, schließlich die verschiedenen massiven Bewegungen der Arbeiterklasse, über die wir im vorherigen Artikel berichtet haben, haben erneut die Idee der kommunistischen Revolution in zahlreichen Ländern auf die Tagesordnung gestellt. Die Lügen des Stalinismus, der sich als "kommunistisch" und "revolutionär" darstellte, zerbrachen überall. Daraus schlugen natürlich die Strömungen Kapital, die die UdSSR als "Mutterland des Sozialismus" bezeichneten, wie die maoistischen oder trotzkistischen Organisationen. 1968 erlebte die trotzkistische Bewegung, die sich auf ihren Kampf gegen Stalinismus berief, eine Art Neugeburt. Sie konnte damals aus dem Schatten der stalinistischen Parteien treten, der lange auf ihnen gelegen hatte. Ihr Wachstum war teilweise spektakulär, insbesondere in Frankreich, Belgien oder Großbritannien. Aber seit dem 2. Weltkrieg gehörte diese Strömung dem proletarischen Lager nicht mehr an, insbesondere weil sie "die Arbeitererrungenschaften der UdSSR" verteidigt hatte, d.h. sie hatte das von der UdSSR beherrschte imperialistische Lager verteidigt. Nachdem die Arbeiterstreiks, die sich seit Ende der 1960er Jahre entfalteten, die arbeiterfeindliche Rolle der stalinistischen Parteien und Gewerkschaften, der wahren Rolle der Wahlen und der Demokratie als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie offenbart hatten, wurden viele Leute dazu bewogen, sich mit politischen Strömungen zu befassen, die in der Vergangenheit die Rolle der Gewerkschaften und des Parlamentarismus am deutlichsten entblößt hatten und den Kampf gegen den Stalinismus am klarsten verkörperten – die Kommunistische Linke.
Nach Mai 1968 wurden die Schriften Trotzkis sehr weit verbreitet, aber auch die Pannekoek's, Gorter's (13) , Rosa Luxemburgs, die als eine der Ersten kurz vor ihrer Ermordung im Januar 1919 die bolschewistischen Genossen vor gewissen Gefahren gewarnt hatten, die die Revolution in Russland bedrohten.
Neue Gruppen sind in Erscheinung getreten, die sich mit der Erfahrung der Kommunistischen Linken befassten. Diejenigen, die verstanden, dass der Trotzkismus eine Art linker Flügel des Stalinismus geworden war, wandten sich eher dem Rätismus zu als der Italienischen Linken. Dafür gab es mehrere Gründe. Die Verwerfung der stalinistischen Parteien ist oft mit der Verwerfung des Begriffs der kommunistischen Partei selbst verbunden. Dies war gewissermaßen der Preis, den die Neuen, welche sich der proletarischen Revolution zuwandten, der stalinistischen Lüge von der Kontinuität zwischen Bolschewismus und Stalinismus, zwischen Lenin und Stalin, zu zahlen hatten Diese falsche Idee wurde im Übrigen zum Teil durch die Positionen der bordigistischen Strömung mit verbreitet. Sie war die einzige Strömung, die aus der Italienischen Linken hervorgegangen war, welche sich international ein wenig ausbreiten konnte, und sich auf den "Monolithismus" in ihren Reihen berief. Andererseits war dies eine Folge der Tatsache, dass die Strömungen, welche sich weiterhin auf diese Gruppierung beriefen, im Wesentlichen die Ereignisse des Mai 1968 nicht verstanden und sie verpasst haben, weil sie hinter ihnen nur einen Studentenprotest sahen und nicht die tiefer dahinter liegende historische Bedeutung.
Während gleichzeitig neue, vom Rätismus inspirierte Gruppen auftauchten, verbuchten die schon früher bestehenden Gruppen große Erfolge. Ihre Mitgliederzahlen nahmen spektakulär zu, während sie gleichzeitig zu einem politischen Bezugspunkt wurden. Dies traf insbesondere auf die Gruppe Informations et Correspondance Ouvrières (ICO= Arbeiterkorrespondenz und –informationen) zu, die aus einer Abspaltung von SouB 1958 hervorgegangen war, und die 1969 ein internationales Treffen in Brüssel organisierte, an der sich insbesondere Cohn-Bendit, Mattick (ein ehemaliges Mitglied der Deutschen Linken beteiligte, welcher in die USA ausgewandert war und dort verschiedene rätistische Zeitschriften veröffentlichte) und Cajo Brendel, Haupttriebkraft von Daad en Gedachte. Aber die Erfolge des "organisierten" Rätismus waren nur von kurzer Dauer. Die Gruppe ICO löste sich 1974 auf. Die holländischen Gruppen fielen zusammen, nachdem ihre Haupttriebkräfte ihre Aktivitäten einstellten
In Großbritannien fiel die Gruppe Solidarity, die von den Positionen von Socialisme ou Barbarie inspiriert wurde, und einen ähnlichen Erfolg wie ICO hatte, nach einer Reihe von Spaltungen 1981 auseinander (obwohl ihre Londoner Sektion die Zeitschrift noch bis 1992 veröffentlichte). In Skandinavien haben die rätistischen Gruppen, die sich nach 1968 entwickelt haben, eine Konferenz im September 1977 in Oslo organisiert – aber dieser folgten keine weiteren Schritte.
Letztendlich hat sich die Strömung in den 1970er Jahren am weitesten entwickelt, die mit den Positionen von Bordiga (der im Juli 1970 starb) verbunden ist. Ihre Mitgliedschaft stieg damals insbesondere nach dem Ausbruch von Krisen bei linksextremen Gruppen (insbesondere bei maoistischen Gruppen). 1980 war die Internationale Kommunistische Partei die Organisation, welche sich auf die Kommunistische Linke berief, mit dem größten Einfluss auf internationaler Ebene. Aber diese "Öffnung" der bordigistischen Strömung für Leute, die sehr stark von der extremen Linken geprägt waren, führte 1982 zu ihrem Zusammenbruch. Seitdem besteht sie weiter als eine Reihe von kleinen, auf sich beschränkten Sekten.
Der bedeutendste langfristige Ausdruck dieses wieder erwachten Interesses an den Positionen der Kommunistischen Linken war unsere eigene Organisation (14). Diese wurde im Wesentlichen vor gerade 40 Jahren gegründet, im Juli 1968 in Toulouse, als ein kleiner Kern von Leuten, der ein Jahr zuvor einen Diskussionskreis um einen Genossen R.V. gegründet hatte, eine erste Prinzipienerklärung verabschiedete. Dieser Genosse R.V. hatte seine ersten politischen Erfahrungen in der Gruppe Internacionalismo in Venezuela gesammelt. Diese Gruppe war 1964 von dem Genossen MC gegründet worden, der die Haupttriebkraft bei der Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs – GCF – 1944 52) gewesen war, nachdem er zuvor von 1938 an der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken angehört hatte, und der schon seit 1919 Militant gewesen war (im Alter von 12 Jahren). Zunächst war er in der Kommunistischen Partei Palästinas, dann in der Französischen Kommunistischen Partei aktiv gewesen. Während des Generalstreiks im Mai 1968 hatten Mitglieder des Diskussionszirkels mehrere Flugblätter mit dem Namen "Bewegung für den Aufbau von Arbeiterräten" (MICO) verteilt. Sie hatten mit anderen Leuten diskutiert, bevor sie dann im Dezember 1968 die Gruppe Révolution Internationale gründeten. Diese Gruppe hatte Kontakt aufgenommen mit zwei anderen Gruppen, die der rätekommunistischen Bewegung angehörten – Rätekommunistische Organisation Clermont-Ferrand und "Rätekommunistische Hefte", die in Marseille ansässig war. Mit diesen beiden Gruppen wurden dann weitere Diskussionen geführt.
Schließlich schlossen sich diese drei Gruppen 1972 zusammen, um die spätere Sektion der IKS in Frankreich, Révolution Internationale, zu gründen, welche dann mit der Veröffentlichung der Zeitschrift mit dem gleichen Namen (neue Serie) begann. In Fortsetzung der Politik von Internacionalismo, der GCF und Bilan's, nahm Révolution Internationale Diskussionen mit verschiedenen Gruppen auf, die ebenfalls nach 1968 aufgetaucht waren, insbesondere in den USA (Internationalism). 1972 schickte Internationalism ein Schreiben an ca. 20 Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen, und rief zur Schaffung eines Netzes zum Austausch und der internationalen Debatte auf. Révolution Internationale reagierte darauf sehr positiv, und schlug dabei als Arbeitsperspektive die Organisierung einer internationalen Konferenz vor. Die anderen Gruppen, welche positiv reagierten, gehörten alle der rätekommunistischen Bewegung an. Die Gruppen, welche sich an die Italienische Linke anlehnten, stellten sich entweder taub oder hielten diese Initiative für verfrüht. Auf der Grundlage dieser Initiative fanden zwischen 1973 und 1974 mehrere Treffen in England und Frankreich statt, an denen sich insbesondere aus Großbritannien (World Revolution, Revolutionary Perspectives und Workers' Voice) beteiligten, die ersten beiden Gruppen waren aus einer Abspaltung von Solidarity hervorgegangen und die letzte aus einer Abspaltung von den Trotzkisten).
Schließlich führte dieser Zyklus von Treffen im Januar 1975 zu einer Konferenz, bei der die Gruppen, welche die gleiche politische Orientierung teilten - Internacionalismo, Révolution Internationale, Internationalism, World Revolution, Rivoluzione Internazionale (Italien) und Accion Proletaria (Spanien) beschlossen, sich zur Internationalen Kommunistischen Strömung zusammenzuschließen.
Die IKS beschloss dann die Fortsetzung der Politik der Kontaktaufnahme und Diskussionen mit anderen Gruppen der Kommunistischen Linken. So nahm die IKS an den Konferenzen in Oslo 1977 (mit Revolutionary Perspectives) teil und antwortete positiv auf die 1976 von Battaglia Comunista vorgeschlagene Initiative zur Abhaltung einer internationalen Konferenz von Gruppen der Kommunistischen Linken.
Die drei danach stattgefundenen Konferenzen – 1977 in Mailand, 1978 in Paris, 1980 in Paris – stießen auf ein wachsendes Interesse unter den Leuten, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen, aber die Entscheidung Battaglia Comunista's und der Communist Workers' Organisation (die aus einem Zusammenschluss von Revolutionary Perspectives und Workers' Voice in Großbritannien hervorgegangen war), die IKS aus dem Diskussionsprozess auszuschließen, bedeutete dann auch das Ende der Konferenzen (15) . Der sektiererische Rückzug (zumindest die Abgrenzung gegenüber der IKS) von Battaglia Comunista und der Communist Workers’ Organisation (die sich 1984 im Internationalen Büro für die Revolutionäre Partei – IBRP zusammenschlossen) zeigte, dass die Initialzündung durch das historische Wiederauftauchen der Arbeiterklasse im Mai 1968, die zur Bildung der Kommunistischen Linken geführt hatte, nun zu Ende gekommen war.
Aber trotz der Schwierigkeiten, auf die die Arbeiterklasse während der letzten Jahrzehnte gestoßen ist, insbesondere aufgrund der ideologischen Kampagnen über den "Tod des Kommunismus" nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, hat es die Weltbourgeoisie nicht geschafft, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen. Dies kommt durch die Tatsache zum Ausdruck, dass die Kommunistische Linke (die hauptsächlich durch das IBRP (16) und vor allem die IKS verkörpert wird) ihre Positionen aufrechterhalten hat und heute auf ein wachsendes Interesse bei den Leuten stößt, die infolge des langsamen Wiedererstarkens des Klassenkampfes seit 2003 nach einer revolutionären Perspektive suchen.
Fabienne, 6. Juli 2008
(1) Kommunistische Partei Frankreichs
(2) CGT=Confédération générale du Travail: Sie ist die stärkste Gewerkschaftszentrale, insbesondere im Industriebereich, im Transportwesen und unter den Beamten. Sie wird von der KPF kontrolliert.
(3) Confédération francaise démocratique du Travail. Dieser Gewerkschaftsverband ist christlichen Ursprungs aber Anfang der 1960er Jahre verwarf sie ihren Bezug auf das Christentum und sie wurde seitdem stark von der Sozialistischen Partei beeinflusst sowie von einer kleinen sozialistischen Partei (PSU) , die seitdem eingegangen ist.
(4) Fernsehberichterstatter, der sehr auf „Ausgleich“ bedacht war
(5) Sportkommentator mit zügellosem Chauvinismus
(6) Am Morgen nach der Rede weigerten sich die Beschäftigten der Kommunalbetriebe an vielen Orten, das Referendum zu organisieren. Auch wussten die Behörden nicht, wo sie die Stimmzettel drucken sollten. Die staatliche Druckerei wurde bestreikt und die nicht streikenden privaten Druckereien verweigerten die Annahme des Auftrags. Ihre Arbeitgeber wollte keine zusätzlichen Scherereien mit ihren Arbeitern haben
(7) Georges Séguy war ebenso Mitglied des Politbüros der KPF.
(8) Man erfuhr später, dass Chirac, Staatssekretär im Sozialministerium ebenso Krasucki (auf einem Speicher) getroffen hat. Dieser war damals die Nummer 2 der CGT.
(9) Eine geheime bewaffnete Organisation: eine geheime Militär- und Partisanenorganisation, die für den Verbleib Frankreichs in Algerien kämpfen wollte. Anfang der 1960er Jahre verübte sie terroristische Attentate und sie versuchte gar de Gaulle umzubringen.
(10) Electricité de France
(11) CRS=Compagnies républicaines de Sécurité: nationale Polizeikräfte, spezialisiert auf die Niederschlagung von Straßendemonstrationen.
(12) Kräfte der Nationalgendarmerie (d.h. der Armee), die die gleiche Rolle wie die CRS haben
(13) Die beiden Haupttheoretiker der Holländischen Linken
(14) Eine umfassendere Darstellung der Geschichte der IKS findet man in "Aufbau der revolutionären Organisation: 20 Jahre IKS – Internationale Revue Nr. 16 – und "30 Jahre IKS: Von Vergangenheit für die Zukunft lernen" -Internationale Revue Nr. 37
(15) Zu den Konferenzen siehe unseren Artikel: „Die internationalen Konferenzen der Kommunistischen Linken (1976-1980) – Lehren einer Erfahrung für das proletarische Milieu“ – Internationale Revue Nr.38
(16) Jegliche Entwicklung des IBRPs im Vergleich zur IKS ist hauptsächlich auf ihr Sektierertum sowie seine opportunistische Umgruppierungspolitik zurückzuführen (wodurch sie oft schon auf Sand gebaut hat). Siehe dazu unseren Artikel „Eine opportunistische Politik der Umgruppierung führt lediglich zu „Fehlgeburtern“, Internationale Revue Nr. 36))
Unser letzter Artikel zu Mai 68 endete mit den folgenden Sätzen…
«So liegt die grundlegende historische Bedeutung des Mai 68 weder in den „französischen Besonderheiten“ noch in der Studentenrevolte, ebenso wenig in der heute so viel gepriesenen ‚Revolution der Sitten’, sondern darin, dass die Weltarbeiterklasse die Konterrevolution überwunden hatte und in einen neuen historischen Zeitraum von Zusammenstößen mit der kapitalistischen Ordnung eingetreten war. Diese neue Periode zeichnet sich ebenso dadurch aus, dass sich politisch-proletarische Strömungen, welche von der Konterrevolution praktisch eliminiert oder zum Schweigen gebracht worden waren, neu entwickelt haben, darunter die IKS.»
Darauf werden wir in einem weiteren Artikel eingehen.
Anfang des 20. Jahrhunderts führte das Proletariat während und nach dem 1. Weltkrieg gigantische Kämpfe, in denen der Kapitalismus beinahe überwunden worden wäre. 1917 wurde die bürgerliche Macht in Russland gestürzt. Zwischen 1918-1923 gab es in dem wichtigsten Land Europas, in Deutschland, mehrere Anläufe zur Überwindung des Kapitalismus. Diese revolutionäre Welle fand in allen Winkeln der Erde ihren Widerhall, d.h. überall wo es eine entwickelte Arbeiterklasse gab, von Italien bis Kanada, von Ungarn bis China.
Aber der Weltbourgeoisie gelang es, diese gigantische Bewegung der Arbeiterklasse einzudämmen, und sie blieb nicht dabei stehen. Sie brach die schrecklichste Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterbewegung vom Zaun. Diese Konterrevolution entwickelte sich in Gestalt einer unvorstellbaren Barbarei, deren bedeutendsten Ausdrücke der Stalinismus und Nationalsozialismus waren. Diese wüteten besonders stark dort, wo die Revolution am weitesten gegangen war, nämlich in Russland und in Deutschland.
In diesem Zusammenhang verwandelten sich die kommunistischen Parteien, welche in der revolutionären Welle von Kämpfen an der Spitze gestanden hatten, zu Parteien der Konterrevolution.
Genau so wie der Verrat der sozialistischen Parteien 1914 in Anbetracht des imperialistischen Kriegs die Bildung von Strömungen hervorgerufen hatte, die in den Reihen der sozialistischen Parteien die proletarischen Prinzipien weiter verteidigen wollten, und welche dann auch bei der Gründung der kommunistischen Parteien mitwirkten, hatte der Verrat derselben zur Entstehung von linkskommunistischen Fraktionen geführt, welche wirklich kommunistische Positionen weiter verteidigen wollten. Aber während diejenigen, welche innerhalb der sozialistischen Parteien gegen deren opportunistisches Abgleiten und deren Verrat ankämpften, an Stärke und Einfluss in der Arbeiterklasse gewannen, so dass sie nach der Russischen Revolution sogar eine neue Internationale gründen konnten, verlief die Entwicklung der linken Strömungen, die aus den kommunistischen Parteien hervorgingen, aufgrund des zunehmenden Gewichtes der Konterrevolution anders. Während anfänglich eine Mehrheit der Mitglieder in den Parteien in Deutschland und Italien tätig war, verloren diese Strömungen schrittweise ihren Einfluss in der Arbeiterklasse und den größten Teil ihrer Mitglieder. Oder sie gingen unter durch eine Zersplitterung in eine Reihe von kleinen Gruppen, wie in Deutschland, noch bevor das Hitler-Regime die letzten Militanten auslöschte oder sie ins Exil zwang.
Während der 1930er Jahre zählten neben der Strömung um Trotzki, welche immer mehr vom Opportunismus zerfressen wurde, die Gruppen, welche die revolutionären Positionen weiterhin entschlossen verteidigten wie die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) in Holland (die sich auf den "Rätekommunismus" berief und die Notwendigkeit einer proletarischen Partei verwarf) und die Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens (welche die Zeitschrift Bilan veröffentlichte) nur einige wenige Dutzend Mitglieder. Diese konnten keinen Einfluss auf die Arbeiterkämpfe ausüben.
Im Gegensatz zum 1. Weltkrieg hat der 2. Weltkrieg keine Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie ermöglicht. Ganz im Gegenteil. Durch die historische Erfahrung klüger geworden und dank der wertvollen Unterstützung der stalinistischen Parteien setzte die Bourgeoisie alles daran, jegliche neue Regungen der Arbeiterklasse im Keim zu ersticken. In der demokratischen Euphorie der "Befreiung" standen die Gruppen der Kommunistischen Linken noch isolierter da als in den 1930er Jahren. In Holland löste der Communistenbond Spartacus den GIC bei der Verteidigung kommunistischer Positionen ab. Diese wurden ebenfalls ab 1965 von der Gruppe Daad en Gedachte, einer Abspaltung vom Bond, vertreten. Diese beiden Gruppen veröffentlichten viele Texte, obwohl sie durch ihre rätekommunistische Position behindert waren, welche die Rolle einer Avantgardeorganisation für die Arbeiterklasse verwarf. Aber das größte Hindernis war das ideologische Gewicht der Konterrevolution. Dies traf auch auf Italien zu, wo die Bildung der Partito Comunista Internazionalista (die Battaglia Comunista und Prometeo veröffentlichte) im Jahre 1945 um Damen und Bordiga die Versprechen nicht hielt, welche ihre Mitglieder sich erhofft hatten. Während diese Organisation bei ihrer Gründung über ca. 3.000 Mitglieder verfügte, wurde sie infolge von Demoralisierung und Spaltungen – insbesondere nach der von Bordiga betriebenen Spaltung 1952, die zur Bildung der Parti Communiste International führte (sie veröffentlichte Programma Comunista), immer mehr geschwächt. Einer der Gründe für die Spaltungen und Schwächung liegt in der Aufgabe einer ganzen Reihe von Errungenschaften, die von Bilan in den 1930er Jahren erzielt worden waren.
In Frankreich verschwand 1952 die Gruppe Gauche Communiste de France (GCF), die 1945 gebildet worden war, und welche die Kontinuität mit den Positionen Bilan's (bei gleichzeitiger Integration programmatischer Positionen der Deutsch-Holländischen Linken) darstellte und 42 Ausgaben ihrer Zeitschrift Internationalisme herausbrachte. Abgesehen von den Leuten, die der Parti Communiste International verbunden waren und Le Prolétaire veröffentlichten, vertrat eine andere Gruppe bis Anfang der 1960er Jahre Klassenpositionen in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (SouB). Aber diese aus dem Trotzkismus hervorgegangene Abspaltung nach dem 2. Weltkrieg gab schrittweise und ausdrücklich den Marxismus auf. Infolgedessen verschwand die Gruppe 1966.
Man könnte nach andere Gruppen in anderen Ländern erwähnen, aber kennzeichnend für die Lage der damaligen Strömungen, die in den 1950er und Anfang der 1960er Jahren kommunistische Positionen vertreten haben, war ihre große zahlenmäßige Schwäche. Ihre Publikationen zirkulierten eher in eingeweihten Kreisen, sie waren international isoliert. Darüber hinaus gab es theoretisch-programmatische Rückschritte, die entweder einfach zu ihrem Verschwinden oder zu einer sektenhaften Entwicklung geführt haben, wie das insbesondere bei der Parti Communiste International der Fall war, die sich als die einzige kommunistische Organisation auf der Welt betrachtete.
Der Generalstreik 1968 in Frankreich, schließlich die verschiedenen massiven Bewegungen der Arbeiterklasse, über die wir im vorherigen Artikel berichtet haben, haben erneut die Idee der kommunistischen Revolution in zahlreichen Ländern auf die Tagesordnung gestellt. Die Lügen des Stalinismus, der sich als "kommunistisch" und "revolutionär" darstellte, zerbrachen überall. Daraus schlugen natürlich die Strömungen Kapital, die die UdSSR als "Mutterland des Sozialismus" bezeichneten, wie die maoistischen oder trotzkistischen Organisationen. 1968 erlebte die trotzkistische Bewegung, die sich auf ihren Kampf gegen Stalinismus berief, eine Art Neugeburt. Sie konnte damals aus dem Schatten der stalinistischen Parteien treten, der lange auf ihnen gelegen hatte. Ihr Wachstum war teilweise spektakulär, insbesondere in Frankreich, Belgien oder Großbritannien. Aber seit dem 2. Weltkrieg gehörte diese Strömung dem proletarischen Lager nicht mehr an, insbesondere weil sie "die Arbeitererrungenschaften der UdSSR" verteidigt hatte, d.h. sie hatte das von der UdSSR beherrschte imperialistische Lager verteidigt. Nachdem die Arbeiterstreiks, die sich seit Ende der 1960er Jahre entfalteten, die arbeiterfeindliche Rolle der stalinistischen Parteien und Gewerkschaften, der wahren Rolle der Wahlen und der Demokratie als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie offenbart hatten, wurden viele Leute dazu bewogen, sich mit politischen Strömungen zu befassen, die in der Vergangenheit die Rolle der Gewerkschaften und des Parlamentarismus am deutlichsten entblößt hatten und den Kampf gegen den Stalinismus am klarsten verkörperten – die Kommunistische Linke.
Nach Mai 1968 wurden die Schriften Trotzkis sehr weit verbreitet, aber auch die Pannekoek's, Gorter's, Rosa Luxemburgs, die als eine der Ersten kurz vor ihrer Ermordung im Januar 1919 die bolschewistischen Genossen vor gewissen Gefahren gewarnt hatten, die die Revolution in Russland bedrohten.
Neue Gruppen sind in Erscheinung getreten, die sich mit der Erfahrung der Kommunistischen Linken befassten. Diejenigen, die verstanden, dass der Trotzkismus eine Art linker Flügel des Stalinismus geworden war, wandten sich eher dem Rätismus zu als der Italienischen Linken. Dafür gab es mehrere Gründe. Die Verwerfung der stalinistischen Parteien ist oft mit der Verwerfung des Begriffs der kommunistischen Partei selbst verbunden. Auch trug die Tatsache, dass die bordigistische Strömung (sie war die einzige Strömung, die aus der Italienischen Linken hervorgegangen war, welche sich international ein wenig ausbreiten konnte) die Idee der Machtergreifung durch die kommunistische Partei vertrat und sich auf den "Monolithismus" in ihren Reihen berief, dazu bei, dass das Misstrauen gegenüber der historischen Strömung der Italienischen Linken zunahm. Andererseits war dies eine Folge der Tatsache, dass die Strömungen, welche sich weiterhin auf diese Gruppierung beriefen, im Wesentlichen die Ereignisse des Mai 1968 nicht verstanden und sie verpasst haben, weil sie hinter ihnen nur einen Studentenprotest sahen und nicht die tiefer dahinter liegende historische Bedeutung.
Während gleichzeitig neue, vom Rätismus inspirierte Gruppen auftauchten, verbuchten die schon früher bestehenden Gruppen große Erfolge. Ihre Mitgliederzahlen nahmen spektakulär zu, während sie gleichzeitig zu einem politischen Bezugspunkt wurden. Dies traf insbesondere auf die Gruppe Informations et Correspondance Ouvrières (ICO= Arbeiterkorrespondenz und –informationen) zu, die aus einer Abspaltung von SouB 1958 hervorgegangen war, und die 1969 ein internationales Treffen in Brüssel organisierte, an der sich insbesondere Cohn-Bendit, Mattick (ein ehemaliges Mitglied der Deutschen Linken beteiligte, welcher in die USA ausgewandert war und dort verschiedene rätistische Zeitschriften veröffentlichte) und Cajo Brendel, Haupttriebkraft von Daad en Gedachte. Aber die Erfolge des "organisierten" Rätismus waren nur von kurzer Dauer. Die Gruppe ICO löste sich 1974 auf. Die holländischen Gruppen fielen zusammen, nachdem ihre Haupttriebkräfte ihre Aktivitäten einstellten
In Großbritannien fiel die Gruppe Solidarity, die von den Positionen von Socialisme ou Barbarie inspiriert wurde, und einen ähnlichen Erfolg wie ICO hatte, nach einer Reihe von Spaltungen 1981 auseinander (obwohl ihre Londoner Sektion die Zeitschrift noch bis 1992 veröffentlichte). In Skandinavien haben die rätistischen Gruppen, die sich nach 1968 entwickelt haben, eine Konferenz im September 1977 in Oslo organisiert – aber dieser folgten keine weiteren Schritte.
Letztendlich hat sich die Strömung in den 1970er Jahren am weitesten entwickelt, die mit den Positionen von Bordiga (der im Juli 1970 starb) verbunden ist. Ihre Mitgliedschaft stieg damals insbesondere nach dem Ausbruch von Krisen bei linksextremen Gruppen (insbesondere bei maoistischen Gruppen). 1980 war die Internationale Kommunistische Partei die Organisation, welche sich auf die Kommunistische Linke berief, mit dem größten Einfluss auf internationaler Ebene. Aber diese "Öffnung" der bordigistischen Strömung für Leute, die sehr stark von der extremen Linken geprägt waren, führte 1982 zu ihrem Zusammenbruch. Seitdem besteht sie weiter als eine Reihe von kleinen, auf sich beschränkten Sekten.
Der bedeutendste langfristige Ausdruck dieses wieder erwachten Interesses an den Positionen der Kommunistischen Linken war unsere eigene Organisation (3). Diese wurde im Wesentlichen vor gerade 40 Jahren gegründet, im Juli 1968 in Toulouse, als ein kleiner Kern von Leuten, der ein Jahr zuvor einen Diskussionskreis um einen Genossen R.V. gegründet hatte, eine erste Prinzipienerklärung verabschiedete. Dieser Genosse R.V. hatte seine ersten politischen Erfahrungen in der Gruppe Internacionalismo in Venezuela gesammelt. Diese Gruppe war 1964 von dem Genossen MC gegründet worden, der die Haupttriebkraft bei der Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs – GCF – 1944 52) gewesen war, nachdem er zuvor von 1938 an der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken angehört hatte, und der schon seit 1919 Militant gewesen war (im Alter von 12 Jahren). Zunächst war er in der Kommunistischen Partei Palästinas, dann in der Französischen Kommunistischen Partei aktiv gewesen. Während des Generalstreiks im Mai 1968 hatten Mitglieder des Diskussionszirkels mehrere Flugblätter mit dem Namen "Bewegung für den Aufbau von Arbeiterräten" (MICO) verteilt. Sie hatten mit anderen Leuten diskutiert, bevor sie dann im Dezember 1968 die Gruppe Révolution Internationale gründeten. Diese Gruppe hatte Kontakt aufgenommen mit zwei anderen Gruppen, die der rätekommunistischen Bewegung angehörten – Rätekommunistische Organisation Clermont-Ferrand und "Rätekommunistische Hefte", die in Marseille ansässig war. Mit diesen beiden Gruppen wurden dann weitere Diskussionen geführt.
Schließlich schlossen sich diese drei Gruppen 1972 zusammen, um die spätere Sektion der IKS in Frankreich, Révolution Internationale, zu gründen, welche dann mit der Veröffentlichung der Zeitschrift mit dem gleichen Namen (neue Serie) begann. In Fortsetzung der Politik von Internacionalismo, der GCF und Bilan's, nahm Révolution Internationale Diskussionen mit verschiedenen Gruppen auf, die ebenfalls nach 1968 aufgetaucht waren, insbesondere in den USA (Internationalism). 1972 schickte Internationalism ein Schreiben an ca. 20 Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen, und rief zur Schaffung eines Netzes zum Austausch und der internationalen Debatte auf. Révolution Internationale reagierte darauf sehr positiv, und schlug dabei als Arbeitsperspektive die Organisierung einer internationalen Konferenz vor. Die anderen Gruppen, welche positiv reagierten, gehörten alle der rätekommunistischen Bewegung an. Die Gruppen, welche sich an die Italienische Linke anlehnten, stellten sich entweder taub oder hielten diese Initiative für verfrüht. Auf der Grundlage dieser Initiative fanden zwischen 1973 und 1974 mehrere Treffen in England und Frankreich statt, an denen sich insbesondere aus Großbritannien (World Revolution, Revolutionary Perspectives und Workers' Voice) beteiligten, die ersten beiden Gruppen waren aus einer Abspaltung von Solidarity hervorgegangen und die letzte aus einer Abspaltung von den Trotzkisten).
Schließlich führte dieser Zyklus von Treffen im Januar 1975 zu einer Konferenz, bei der die Gruppen, welche die gleiche politische Orientierung teilten - Internacionalismo, Révolution Internationale, Internationalism, World Revolution, Rivoluzione Internazionale (Italien) und Accion Proletaria (Spanien) beschlossen, sich zur Internationalen Kommunistischen Strömung zusammenzuschließen.
Die IKS beschloss dann die Fortsetzung der Politik der Kontaktaufnahme und Diskussionen mit anderen Gruppen der Kommunistischen Linken. So nahm die IKS an den Konferenzen in Oslo 1977 (mit Revolutionary Perspectives) teil und antwortete positiv auf die 1976 von Battaglia Comunista vorgeschlagene Initiative zur Abhaltung einer internationalen Konferenz von Gruppen der Kommunistischen Linken.
Die drei danach stattgefundenen Konferenzen – 1977 in Mailand, 1978 in Paris, 1980 in Paris – stießen auf ein wachsendes Interesse unter den Leuten, die sich auf die Kommunistische Linke beriefen, aber die Entscheidung Battaglia Comunista's und der Communist Workers' Organisation (die aus einem Zusammenschluss von Revolutionary Perspectives und Workers' Voice in Großbritannien hervorgegangen war), die IKS aus dem Diskussionsprozess auszuschließen, bedeutete dann auch das Ende der Konferenzen. Der sektiererische Rückzug (zumindest die Abgrenzung gegenüber der IKS) von Battaglia Comunista und der Communist Workers’ Organisation (die sich 1984 im Internationalen Büro für die Revolutionäre Partei – IBRP zusammenschlossen) zeigte, dass die Initialzündung durch das historische Wiederauftauchen der Arbeiterklasse im Mai 1968, die zur Bildung der Kommunistischen Linken geführt hatte, nun zu Ende gekommen war.
Aber trotz der Schwierigkeiten, auf die die Arbeiterklasse während der letzten Jahrzehnte gestoßen ist, insbesondere aufgrund der ideologischen Kampagnen über den "Tod des Kommunismus" nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime, hat es die Weltbourgeoisie nicht geschafft, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen. Dies kommt durch die Tatsache zum Ausdruck, dass die Kommunistische Linke (die hauptsächlich durch das IBRP und vor allem die IKS verkörpert wird) ihre Positionen aufrechterhalten hat und heute auf ein wachsendes Interesse bei den Leuten stößt, die infolge des langsamen Wiedererstarkens des Klassenkampfes seit 2003 nach einer revolutionären Perspektive suchen.
Fabienne, 6. Juli 2008
(1) Mai 68 – 4. Teil. « Die internationale Bedeutung des Generalstreiks in Frankreich“. Weltrevolution Nr. 149
(2) Die beiden Haupttheoretiker der Holländischen Linken
(3) Eine umfassendere Darstellung der Geschichte der IKS findet man in "Aufbau der revolutionären Organisation: 20 Jahre IKS – Internationale Revue Nr. 16 – und "30 Jahre IKS: Von Vergangenheit für die Zukunft lernen" -Internationale Revue Nr. 37
In der Nr. 132 der International Review (engl. Ausgabe, Nr. 41 deutsche Ausgabe) haben wir ausführlich über die Entwicklung der Arbeiterkämpfe berichtet, die gleichzeitig auf der Welt ausgebrochen sind als Reaktion auf die Zuspitzung der Krise und der Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiter. Die neuen Erschütterungen der Weltwirtschaft, die Geißel der Inflation und der Nahrungskrise werden das Elend der verarmtesten Teile der Bevölkerung in den peripheren Ländern nur noch verschärfen. Diese Entwicklung, welche die Sackgasse offenbart, in welcher das kapitalistische System steckt, hat in zahlreichen Ländern Hungerrevolten ausgelöst, während sich gleichzeitig Arbeiterkämpfe entfalteten, in denen für Lohnerhöhungen als Reaktion auf die Preisschübe bei Grundnahrungsmitteln gekämpft wurde. Aufgrund der Zuspitzung der Krise werden die Hungerrevolten und die Arbeiterkämpfe immer mehr zunehmen und gleichzeitig stattfinden. Diese Revolten gegen die Misere sind auf die gleiche Ursache zurückzuführen: Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft, ihre Unfähigkeit, der Menschheit eine Zukunft anzubieten oder sogar nur ein einfaches Überleben eines Teils der Gesellschaft zu ermöglichen. Aber sie verfügen nicht über das gleiche Potenzial. Nur der Kampf der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Boden kann dem Elend, dem sich ausbreitenden Hunger ein Ende setzen – dazu ist aber die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer neuen Gesellschaft erforderlich, in der es keine Not, keinen Hunger und keine Kriege geben wird.
Der gemeinsame Nenner der Hungerrevolten, die seit Anfang des Jahres an mehreren Orten auf der Welt ausgebrochen sind, sind die Preisschübe der Nahrungsmittel oder ihr Mangel. Darunter haben vor allem die armen Bevölkerungsteile und die Arbeiter in zahlreichen Ländern brutal zu leiden. Einige Zahlen belegen dies aufschlussreich: Der Maispreis hat sich seit 2007 vervierfacht, der Weizenpreis hat sich seit Anfang 2008 verdoppelt und die Nahrungsmittelpreise sind allgemein um 6o% während der letzten beiden Jahre in den ärmeren Ländern gestiegen. Ein Zeichen der Zeit - die zerstörerischen Wirkungen der weltweiten Preissteigerungen von 30-50% der Lebensmittel haben nicht nur die ärmsten Bevölkerungsteile sondern auch die 'reichsten' Länder getroffen. So können zum Beispiel in den USA, der weltgrößten Wirtschaftsmacht der Erde, 28 Millionen Amerikaner nicht mehr ohne die Lebensmittelverteilung durch die Kommunen und Bundesstaaten auskommen.
Jetzt schon sterben jeden Tag auf der Welt 100.000 Menschen an Hunger, ein Kind unter 10 Jahren stirbt alle 5 Sekunden, 842 Millionen Menschen leiden unter schwerer chronischer Unterernährung; viele von ihnen sind dadurch erwerbsunfähig. Und jetzt schon kämpfen zwei von sechs Milliarden Menschen (d.h. ein Drittel der Bevölkerung) um ihr tägliches Überleben aufgrund der ansteigenden Nahrungsmittelpreise.
Die Experten der herrschenden Klasse selbst – IWF, FAO, UNO, G 8 usw. – haben angekündigt, dass dies kein vorübergehender Misstand sei, und dass er nicht nur chronisch wird, sondern sich weiter zuspitzen wird infolge der schwindelerregenden Preissteigerungen der Grundnahrungsmittel und deren Verknappung im Verhältnis zu den Bedürfnissen der Menschen auf der Erde. Während die Erde eigentlich 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, sterben in Wirklichkeit Millionen von Menschen an Hunger aufgrund der Gesetze des Kapitalismus, der überall auf der Welt das herrschende System geworden ist. Die Produktion in diesem System dient nicht der Bedürfnisbefriedigung der Menschen, sondern der Profitmaximierung. Dieses System ist völlig unfähig, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Übrigens bewegen sich alle Erklärungsansätze der gegenwärtigen Nahrungskrise in die gleiche Richtung - es handelt sich um eine Produktion, die den blinden und irrationalen Gesetzen des Systems unterworfen ist:
1. Der schwindelerregende Anstieg der Ölpreise, der zu erhöhten Transportkosten führt, sowie die erhöhte Nahrungsmittelproduktion usw. Dieses Phänomen ist eine für das System typische Absurdität. Sie wohnt dem System inne und kommt nicht irgendwie von Außen.
2. Der große Anstieg der Lebensmittelnachfrage, die auf eine gewisse Erhöhung der Kaufkraft der Mittelklasse und neuer Nahrungsgewohnheiten in den so genannten 'Schwellenländern' wie Indien oder China zurückzuführen sei. Selbst wenn es ein Fünkchen Wahrheit in dieser Erklärung gibt, offenbart sie dennoch den wahren "wirtschaftlichen Fortschritt", der durch die Erhöhung der Kaufkraft einiger Menschen dazu führt, dass Millionen andere Menschen zum Hunger verdammt sind aufgrund des daraus entstehenden gegenwärtigen Nahrungsmittelmangels auf dem Weltmarkt.
3. Die frenetische Spekulation mit Agrarprodukten. Auch dies ist eine reine kapitalistische Ausgeburt; ihr ökonomisches Gewicht ist um so schwerwiegender, da die reale Wirtschaft in immer größeren Schwierigkeiten steckt. Einige Beispiele: Die Weizenvorräte haben ihren niedrigsten Stand seit 30 Jahren erreicht. Der Spekulationswahnsinn der Anleger hat nunmehr Agrarprodukte im Visier mit der Hoffnung, dass man in diesem Bereich mehr abzocken kann, da dies seit der Immobilienkrise in jener Branche nicht mehr möglich ist. An der Chicagoer Börse "ist der Handel mit Soja, Weizen, Mais, Schweinefleisch und gar mit Lebendvieh" um 20% im ersten Quartal dieses Jahres gestiegen (Le Figaro, 15.4.08).
4. Der aufblühende Markt der Biotreibstoffe, der zudem noch angetrieben wird von den explodierenden Ölpreisen, ist ebenso zur Zielscheibe frenetischer Spekulation geworden. Diese neue Gewinnquelle ist für das Wachstum des Biotreibstoffs auf Kosten der Pflanzen, die der Ernährung dienen, verantwortlich. Viele Länder, in denen bislang Grundnahrungsmittel angebaut wurden, haben ihre Anbauflächen umgestellt, um nunmehr Pflanzen für Biotreibstoff zu züchten. Unter dem Vorwand gegen die Klimaerwärmung anzukämpfen, schrumpft so die Menge konsumierbarer Grundnahrungsmittel und ihre Preise ziehen dramatisch an. Dies trifft zum Beispiel auf Congo-Brazzaville zu, wo ganz extensiv Zuckerrohr mit diesem Ziel angebaut wird, während gleichzeitig die Bevölkerung hungert. Während in Brasilien 30% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt und kaum überleben kann, wird die Wahl der anzubauenden Agrarprodukte immer mehr durch den run auf die Biotreibstoffe bestimmt.
5. Der Handelskrieg und der Protektionismus, die ebenfalls typische Merkmale des Kapitalismus sind und im Agrarbereich wüten, haben dazu geführt, dass die produktivsten Bauern der Industriestaaten exportieren (oft mit Hilfe von Regierungssubventionen) und damit einen Teil ihrer Produktion in den Dritte-Welt-Ländern verkaufen, wodurch die Bauern vor Ort ruiniert werden. Diese sind seit langem unfähig, die örtliche Bevölkerung ausreichend zu ernähren oder auch nur Hilfsgüter anbieten zu können. In Afrika zum Beispiel sind viele örtliche Bauern durch die europäischen Exporte von Hühnern und Rindfleisch ruiniert worden. Mexiko kann nicht mehr genügend Grundnahrungsmittel herstellen, um seine Bevölkerung zu ernähren. Als Folge muss das Land jetzt Lebensmittel im Wert von 10 Milliarden Dollar einführen.
6. Der unverantwortliche Einsatz von Ressourcen dieses Planeten, der durch die Jagd nach unmittelbaren Profiten bestimmt wird, führt letzten Endes zur Erschöpfung derselben. Die Überdüngung zerstört das Gleichgewicht des Bodens. Das International Rice Research-Institut warnt, dass der Erhalt des Reisanbaus durch den übermäßigen Gebrauch von Dünger und die Beeinträchtigung der Bodenqualität mittelfristig gefährdet sei. Die Überfischung der Meere hat ebenso schon zu einer Verknappung zahlreicher Fischsorten geführt.
7. Die Folgen der Erwärmung des Planeten, insbesondere Überschwemmungen und Dürren werden zu Recht als Grund für die gesunkenen nutzbaren landwirtschaftlichen Anbauflächen angeführt. Aber letzten Endes sind diese Umweltschäden die Folgen einer frenetischen Industrialisierung durch den Kapitalismus auf Kosten der unmittelbaren und langfristigen Bedürfnisse der Menschen. So haben die jüngsten Hitzewellen in Australien zu schwerwiegenden Schäden und einem großen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion geführt. Und das Schlimmste steht erst noch vor uns, denn Berechnungen zufolge wird ein Anstieg der Temperatur um ein Grad Celsius einen Rückgang der Reis, Weizen- und Maisernte um 10% bewirken. Forschungsergebnisse zeigen, dass der Temperaturanstieg die Überlebenschancen vieler Tiere und Pflanzen bedroht und den Nährwert vieler Pflanzen reduziert.
Aber Hunger ist nicht die einzige Folge der Absurditäten der Ausbeutung der Reichtümer der Erde. So kommt es infolge der Biotreibstoffproduktion zu einer Erschöpfung der anbaufähigen Flächen. Darüber hinaus führt dieser "saftige" Markt zu einem wahnsinnigen und gegen die Natur gerichteten Verhalten: In den USA, wo schon mehr als 30% des Maisanbaus für die Herstellung von Ethanol verwendet wird, werden gigantische Anbauflächen für den Anbau von "energiereichem" Mais benutzt. Dazu werden aber Anbauflächen verwendet, die dafür überhaupt nicht geeignet sind. Dadurch wird eine enorme Verschwendung von Dünger und Wasser verursacht, und das Endergebnis ist zudem noch sehr magert. Jean Ziegler erklärte dazu: "Um 50 Liter Bioethanol zu tanken, muss man 232 Kilo Mais verwenden" – aber um ein Kilo Mais zu züchten, muss man 1000 Liter Wasser verwenden! Jüngste Untersuchungen zeigen, dass nicht nur die "Umweltbilanz" der Biotreibstoffe negativ ist (jüngste Erhebungen deuten darauf hin, dass sie die Luft mehr verschmutzen als normale Treibstoffe), aber ihre globalen Konsequenzen auf ökologischer und ökonomischer Ebene sind für die gesamte Menschheit verheerend. Zudem ist in vielen Teilen der Erde der Boden immer stärker verseucht oder gar völlig vergiftet. Der Boden in China ist zum Beispiel zu 10% vergiftet, 120.000 Bauern sterben jedes Jahr an Krebs, der durch Bodenverseuchung hervorgerufen wurde.
All die Erklärungen, welche uns zur Ernährungskrise gegeben werden, enthalten ein Körnchen Wahrheit. Aber keine von ihnen kann als solche eine wirkliche Erklärung liefern. Da es sich um die Grenzen des Systems handelt, insbesondere wenn diese in Form der Krise in Erscheinung treten, hat die herrschende Klasse keine andere Wahl als die Ausgebeuteten anzulügen. Sie leiden unter den Folgen dieser Entwicklung. Ihnen gegenüber versuchen die Herrschenden zu verbergen, dass diese Gesellschaft nicht von ewigem Bestand ist, genauso wenig wie frühere Ausbeutungsgesellschaften ewig existierten. Aber auf einer gewissen Art muss die herrschende Klasse auch sich selbst als gesellschaftliche Klasse belügen, um zu vertuschen, dass ihre Herrschaft historisch zum Verschwinden verurteilt ist. Aber was heute ins Auge sticht, ist der Gegensatz zwischen den von der herrschenden Klasse gemachten Versicherungen und ihrer Unfähigkeit, gegenüber der Nahrungskrise mit einem Mindestmaß an Glaubwürdigkeit und Effizienz zu reagieren.
Die verschiedenen angebotenen Erklärung und Lösungen entsprechen – abgesehen von ihrer zynischen und heuchlerischen Art – alle den eigenen und unmittelbaren Interessen der einen oder anderen Fraktion der herrschenden Klasse. Einige Beispiele zur Verdeutlichung. Auf dem letzten G 8 Gipfel haben die Führer dieser Staaten die Repräsentanten der armen Länder aufgefordert, gegenüber den Hungerrevolten zu reagieren. Sie schlugen die sofortige Senkung der Handelszölle auf Agrarprodukte vor. Mit anderen Worten: der erste Gedanke dieser feinen Repräsentanten der kapitalistischen Demokratie war, von der Krise zu profitieren, um ihre eigenen Exportchancen zu erhöhen! Die europäische Industrielobby erhob gegenüber dem Agrarprotektionismus der Europäischen Union ein Zetergeschrei, die unter anderem beschuldigt wird, für den Ruin der Subsistenzwirtschaft in der Dritten-Welt verantwortlich zu sein (1). Und warum? Aus Angst vor der industriellen Konkurrenz aus Asien wollen diese die Agrarsubventionen, die von der EU bezahlt werden, reduzieren, weil diese nicht mehr finanzierbar seien. Die Agrarlobby wiederum sieht in den Hungerrevolten den Beweis der Notwendigkeit der Erhöhung derselben Agrarsubventionen. Die Europäische Union hat die Gelegenheit benutzt, um den Einsatz der Agrarproduktion zugunsten "erneuerbarer Energien" in Brasilien zu verurteilen, das eines der EU-Hauptrivalen in dieser Branche ist. Der Kapitalismus hat wie kein anderes System vor ihm die Produktivkräfte bis zu solch einem Punkt entwickelt, dass sie die Errichtung einer Gesellschaft ermöglichen würden, in der die menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden könnten. Aber die so in Bewegung gesetzten Kräfte können nicht in den Dienst der großen Mehrheit der Menschen gestellt werden, solange sie durch die Gesetze des Kapitalismus gefesselt werden. Stattdessen wenden sie sich gegen die Menschen. „Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepresst; wir haben damit die Produktion ins unendliche vervielfacht, dass ein Kind jetzt mehr erzeugt als früher hundert Erwachsene. Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen (…) Erst eine bewusste Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat“ (Friedrich Engels, Einleitung zur Dialektik der Natur, MEW 20, S. 323).
Seitdem der Kapitalismus in seine Niedergangsphase eingetreten ist, tragen die von den Menschen produzierten Reichtümer nicht dazu bei, die Menschen aus der Herrschaft der Notwendigkeit zu befreien, sondern sie bedrohen die Menschheit in ihrer Existenz selbst. Somit wird die Menschheit heute durch eine neue Gefahr bedroht: weit verbreiteter Hunger – während man noch vor einiger Zeit behauptete, die Gefahr des Verhungerns höre der Vergangenheit an. Aber wie die Klimaerwärmung zeigt, die ganze Produktion – auch die der Agrarprodukte – ist den blinden Gesetzen des Kapitalismus unterworfen. Die Grundlagen des Lebens auf der Erde werden durch die Plünderung der Ressourcen des Planeten bedroht.
Heute sind die ärmsten Menschen der Dritten Welt vom Hunger betroffen. Die Plünderungen von Geschäften sind eine vollkommen legitime Reaktion gegen eine untragbare Lage in ihrem Überlebenskampf. Auch wenn diese Hungerrevolten zu Zerstörungen und Gewalt führen, dürfen sie nicht auf die gleiche Ebene gestellt werden wie die Revolten in den Städten (wie in Brixton, Großbritannien 1981 oder in den französischen Vororten 2005) oder wie die Rassenunruhen (wie die von Los Angeles 1992), weil sie eine andere Bedeutung haben als diese (2).
Obwohl sie die „öffentliche Ordnung“ stören und materielle Schäden anrichten, dienen letztere letzten Endes nur den Interessen der herrschenden Klasse, welche sehr wohl dazu in der Lage ist, diese Aufstände nicht nur gegen die Aufständischen selbst auszuschlachten, sondern sie gegen die gesamte Arbeiterklasse auszunutzen. Insbesondere bieten diese Ausdrücke verzweifelter Gewalt (an denen sich meist Lumpenproletarier beteiligten) der herrschenden Klasse oft einen Vorwand zur Verstärkung ihres Repressionsapparates mit einer verstärkten polizeilichen Überwachung der Elends- und Arbeiterviertel..
Diese Art Aufstände sind ein reines Zerfallsprodukt des Kapitalismus. Sie spiegeln die Verzweiflung und das Gefühl des „no future“ wider, das sich durch ihren völlig absurden Charakter äußert. Dies traf zum Beispiel auf die Unruhen in den französischen Vorstädten im November 2005 zu, als die Jugendlichen ihre gewalttätigen Aktionen keinesfalls gegen die Stadtviertel der Reichen, wo die Ausbeuter wohnen, richteten, sondern gegen ihre eigenen Wohnviertel, die seitdem noch mehr heruntergekommen und noch unerträglicher geworden sind. Und die Tatsache, dass ihre eigene Familien, ihre eigenen Nachbarn und die ihnen Nahestehenden die Hauptopfer der Verwüstungen wurden, belegt den völlig blinden, verzweifelten und selbstmörderischen Charakter dieser Aufstände. Angesteckt wurden nämlich die Autos der Arbeiter, die in diesen Wohnvierteln leben, und zerstört wurden die Schulen und Turnhallen, die von ihren Brüdern und Schwestern oder den Nachbarkindern benutzt werden. Und gerade weil diese Aufstände völlig absurd waren, konnte die herrschende Klasse sie gegen die Arbeiterklasse selbst einsetzen. In den Medien wurden sie von der herrschenden Klasse dazu ausgeschlachtet, um viele Arbeiter aus den ärmeren Vierteln glauben zu lassen, dass die jungen Aufständischen keine Opfer des krisengeschüttelten Kapitalismus sind, sondern kleine "Diebe“. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Aufstände nur zu einer verstärkten „Ausländerjagd“ geführt haben, konnten sie nur dazu dienen, jegliche Solidarität der Arbeiterklasse mit diesen aus der Produktion ausgeschlossenen Jugendlichen zu untergraben. Diese Jugendlichen sehen keine Perspektive und werden ständig durch die Polizei belästigt.
Im Gegensatz zu den Aufständen in den Städten und den Rassenunruhen, welche die Bourgeoisie völlig kontrollieren und gegen die Arbeiterklasse wenden kann, um die Arbeiterklasse zu spalten und ihre Solidarität zu vereiteln, sind die Hungersrevolten vor allem und hauptsächlich ein Ausdruck des Bankrotts der Weltwirtschaft und der Irrationalität seiner Produktionsweise. Diese äußert sich heute durch eine Ernährungskrise, von der nicht nur die Ärmsten der „armen“ Länder betroffen sind, sondern immer mehr Lohnabhängige in den „entwickelten“ Ländern. Es ist kein Zufall, dass die meisten Arbeiterkämpfe, die sich heute überall auf der Welt entfalten, oft um Lohnerhöhungen drehen. Die galoppierende Inflation, der Preisanstieg der Waren, die zur Deckung der Grundbedürfnisse benötigt werden, zusammen mit den Reallohnsenkungen und der Renten, die durch die Inflation angenagt werden, über die prekären Arbeitsbedingungen und den Entlassungswellen sind Ausdrücke der Krise, die alle Bestandteile enthält, damit die Frage des Hungers, des Überlebenskampfes in der Arbeiterklasse nunmehr aufkommen.
Jetzt schon haben Untersuchungen aufgezeigt, dass in Frankreich die Supermärkte und die großen Einkaufszentren, in denen die Arbeiter kaufen gehen, große Absatzschwierigkeiten haben und ihr Warensortiment und Liefermengen reduzieren. Wenn die Ernährungskrise schon die Arbeiter der ‚armen’ Länder (und zunehmend auch die Arbeiter der Zentren des Kapitalismus) erfasst, wird es der herrschenden Klasse viel schwerer fallen, die Hungerrevolten gegen den Klassenkampf des Proletariats auszunutzen. Hunger und Not – das sind die Perspektiven des Kapitalismus für die Menschheit. Das wird jetzt schon durch die Hungerrevolten, die jüngst in mehreren Ländern ausgebrochen sind, deutlich.
Natürlich sind diese Aufstände auch Verzweiflungstaten der ärmsten Massen in den 'armen' Ländern. Sie bieten keine Perspektive für die Überwindung des Kapitalismus. Aber im Gegensatz zu den Aufständen in den Städten oder den Rassenunruhen stellen die Hungerrevolten eine Bündelung der absoluten Misere dar, in welche der Kapitalismus immer größere Teile der Bevölkerung treibt. Sie zeigen das auf, was auf die Arbeiterklasse zukommt, wenn diese Produktionsform nicht überwunden wird. Deshalb tragen sie zur Bewusstwerdung des Proletariats über den unvermeidbaren Bankrott der kapitalistischen Wirtschaft bei. Und sie zeigen auch, mit welchem Zynismus und welcher Brutalität die herrschende Klasse auf die Wutausbrüche derjenigen reagiert, die Geschäfte plündern, um nicht zu verhungern: Repression, Tränengas, Schlagstöcke und Maschinengewehre. Aber im Gegensatz zu den Revolten in den Vorstädten, sind diese Hungerrevolten kein die Arbeiterklasse spaltender Faktor. Im Gegenteil, trotz der Gewalt und der Zerstörungen, die sie vielleicht hervorrufen, neigen die Hungerrevolten eher dazu, ein spontanes Gefühl der Solidarität unter den Arbeitern zu bewirken, da diese auch die Hauptleidtragenden der Nahrungskrise sind und immer mehr Schwierigkeiten haben, ihre Familien durchzubringen. Deshalb können die Hungerrevolten nur schwerer von der herrschenden Klasse ausgeschlachtet und zur Spaltung der Arbeiter eingesetzt werden.
Obwohl sich heute in den 'armen' Ländern gleichzeitig Arbeiterkämpfe gegen die kapitalistische Misere und Hungerrevolten entfalten, handelt es sich um zwei parallele Bewegungen aber mit jeweils unterschiedlichem Wesen.
Selbst wenn sich Arbeiter an Hungerrevolten und an Plünderungen beteiligen, ist dies kein Boden für den Klassenkampf. Denn es handelt sich dabei um einen Boden, auf dem das Proletariat in all den anderen verarmten und marginalisierten "Volksschichten" aufgelöst wird. Bei dieser Art Bewegung kann die Arbeiterklasse nur ihre Klassenautonomie verlieren und ihre eigenen Kampfmethoden aufgeben: Streiks, Demonstrationen, Vollversammlungen.
Die Hungerrevolten sind nur ein Strohfeuer, Revolten ohne Fortsetzung, die keinesfalls das Problem des Hungers lösen können. Sie sind lediglich eine unmittelbare und verzweifelte Reaktion gegenüber der absoluten Misere. Sobald die Geschäfte geplündert sind, bleibt nichts mehr übrig, während Lohnerhöhungen, die Arbeiter erkämpft haben, länger Bestand haben (auch wenn sie später wieder verloren gehen). Selbstverständlich darf die Arbeiterklasse gegenüber der Hungersnot, vor der heute die Bevölkerung in den Ländern der Peripherie des Kapitalismus steht, nicht gleichgültig bleiben. Dies trifft um so mehr zu, da die Arbeiter in diesen Ländern ebenso von der Nahrungskrise betroffen sind und immer mehr Schwierigkeiten haben, ihre Familien mit ihren miserablen Löhnen zu ernähren.
Die gegenwärtigen Ausdrucksformen der kapitalistischen Krise, insbesondere die Preisschübe und die Zuspitzung der Ernährungskrise werden dazu neigen, die Lebensbedingungen der Arbeiter und der verarmten Massen immer mehr zu verschlechtern. Deshalb werden die Arbeiterkämpfe in den ‚armen’ Ländern und die Hungerrevolten immer mehr zunehmen. Aber während die Hungerrevolten keine Perspektiven aufzeigen können, stellen die Arbeiterkämpfe die Grundlage dar, auf der die Arbeiter ihre eigene Stärke und eigene Perspektiven entfalten können. Das einzige Mittel des Proletariats, um den immer gewalttätiger werdenden Angriffen des Kapitalismus entgegenzutreten, ist seine Fähigkeit, seine Klassenautonomie zu bewahren, indem es seine Kämpfe und seine Perspektiven auf seinem eigenen Boden entfaltet. Insbesondere müssen die Arbeiter in den Vollversammlungen und Massendemonstrationen gemeinsame Forderungen erheben, welche die Solidarität mit den hungernden Massen zum Ausdruck bringen. Bei diesen Forderungen müssen die kämpfenden Arbeiter nicht nur Lohnerhöhungen und Senkungen der Grundnahrungsmittel verlangen, sondern sie müssen in ihre Forderungen auch die kostenlose Verteilung der lebensnotwendigsten Nahrungsmittel für die Ärmsten, die Arbeitslosen und die Bedürftigen aufnehmen. Nur indem sie ihre eigene Kampfmittel und ihre Klassensolidarität mit den Hungernden und Unterdrückten entfaltet, kann die Arbeiterklasse die anderen nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft auf ihre Seite ziehen.
Der Kapitalismus kann der Menschheit keine Perspektive mehr anbieten außer immer barbarischere Kriege, tragischere Katastrophen, eine zunehmende Misere für den Großteil der Weltbevölkerung. Die einzige Möglichkeit, damit die Gesellschaft diese Barbarei überwindet, besteht in der Abschaffung des kapitalistischen Systems. Und die einzige Kraft, die den Kapitalismus überwinden kann, ist die Weltarbeiterklasse. Weil diese aber bislang noch nicht die Kraft entfaltet hat, diese Perspektive durch die Entwicklung und massive Ausdehnung ihrer Kämpfe umzusetzen, sind immer größere Bevölkerungsmassen in den Ländern der "3.Welt" dazu getrieben, sich an verzweifelten Hungerrevolten zu beteiligen, um zu überleben. Die einzig wirkliche Lösung für die Nahrungskrise ist die Entfaltung der Arbeiterkämpfe mit dem Ziel der kommunistischen Weltrevolution, wodurch die Hungerrevolten eine Perspektive und eine Stoßrichtung erhalten. Das Proletariat kann die anderen nicht-ausbeutenden Schichten aber nur für sich gewinnen und um sich scharen, wenn es sich als eine revolutionäre Klasse behauptet. Nur durch die Entfaltung und Vereinigung ihrer Kämpfe kann die Arbeiterklasse zeigen, dass sie die einzige gesellschaftliche Kraft ist, die diese Welt umwälzen und eine radikale Lösung für die Geißel des Hungers anbieten kann, aber auch eine Lösung für all die Kriege und alle anderen Ausdrucksformen der Verzweiflung, die zum Fäulnisprozess dieser Gesellschaft beitragen.
Der Kapitalismus hat die Bedingungen des Überflusses geschaffen, aber solange diese Gesellschaft nicht überwunden ist, können diese nur zu einer absurden Situation führen, wo die Überproduktion von Waren gleichzeitig besteht mit dem Mangel an den grundlegendsten Waren.
Die Tatsache, dass der Kapitalismus nicht mehr dazu in der Lage ist, die Bevölkerung zu ernähren und ganze Bevölkerungsteile dem Hunger aussetzen muss, ist eine dringende Aufforderung an die Arbeiterklasse, ihre historische Aufgabe zu erfüllen. Nur mit Hilfe der kommunistischen Weltrevolution können die Grundlagen für eine wahre Überflussgesellschaft gelegt werden, in der das Problem des Hungers ein für allemal aus dieser Welt geschafft sein wird. – Juli 2008
(1) Der Begriff "3.Welt" war 1952 mitten im Kalten Krieg durch den französischen Ökonomen und Demographen Alfred Sauvy erfunden worden, um anfänglich jene Länder zu beschreiben, die weder dem westlichen noch dem russischen Block direkt zugeordnet werden konnten. Aber diese Bedeutung ist schließlich praktisch fallen gelassen worden, insbesondere seit dem Fall der Berliner Mauer. Aber er wurde ebenso verwendet, um die Länder zu kennzeichnen, in denen es ein nur sehr schwaches Wirtschaftswachstum gibt, mit anderen Worten die ärmsten Länder des Planeten, insbesondere in Afrika, Asien oder Südamerika. In diesem Sinne haben wir diesen Begriff weiter benutzt, der an Aktualität nichts verloren hat.
(2) Hinsichtlich der Rassenunruhen von Los Angeles siehe unseren Artikel "Gegenüber dem Chaos und den Massakern – nur die Arbeiterklasse kann eine Antwort bieten" – in International Review Nr. 70. Zu den Aufständen in den französischen Vororten im Herbst 2005 siehe "Soziale Unruhen – Argentinien 2001, Frankreich 2005 …. Nur der Kampf der Arbeiterklasse bietet eine Zukunft" (International Review 124) und "Thesen zur Studentenbewegung des Frühjahrs 2006" – Sonderausgabe von Weltrevolution.
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[9] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/deutsche-und-hollandische-linke
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[11] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/mai-1968
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