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Weltrevolution - 2016

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Weltrevolution Nr. 181

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Bericht und Präsentation über die nationale Lage Deutschlands

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Die gemeinsame Konferenz der Sektionen der IKS in Deutschland und der Schweiz, die im März 2016 stattfand, verabschiedete neben anderen Dokumenten einen Bericht über die nationale Lage in Deutschland, den wir hier veröffentlichen. Dieser Bericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Stattdessen konzentriert er sich auf Punkte, die wir für besonders wichtig halten, um einen Denk- und Diskussionsprozess anzustoßen. Da diese Aspekte im Allgemeinen die dramatischen Ereignisse der gegenwärtigen Lage als Ausgangspunkt haben, fügen wir diesem Bericht die Präsentation hinzu, die auf der Konferenz vorgestellt wurde und die teilweise dazu diente, den Bericht zu aktualisieren. Kritische Kommentare zum Bericht und zur Präsentation, die im Verlauf der sich anschließenden Debatte gemacht wurden, sind als Fußnoten der Präsentation beigefügt. Angesichts der Bedeutung der Entwicklungen im zentralsten Land des europäischen Kapitalismus heute hoffen wir, dass diese Texte ein vom Standpunkt des Proletariats positiver Beitrag zum notwendigen Denkprozess über die gegenwärtige Weltlage sind.

Bericht über die nationale Lage in Deutschland (Februar 2016)

Die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitals von heute

Da der deutsche Nationalstaat erst 1870 konstituiert wurde und spät an der imperialistischen Aufteilung der Welt teilnahm, hatte er sich nie als eine führende Finanz- und Kolonialmacht etablieren können. Die Hauptgrundlage seiner Wirtschaftsmacht war und blieb seine hocheffiziente Industrie und Arbeitskraft. Während die östlichen Teile (DDR) als Teil des Ostblocks ökonomisch zurückfielen, war Westdeutschland (BRD) in der Lage, diese Grundlage zu konsolidieren und sogar noch weiter auszubauen. Bis 1989 wurde die BRD zur weltweit führenden Exportnation, mit dem niedrigsten Staatsdefizit unter sämtlichen Führungsmächten. Trotz vergleichsweise hoher Löhne war ihre Wirtschaft äußerst wettbewerbsfähig. Sie profitierte wirtschaftlich auch von den neuen weltweiten Handelsmöglichkeiten, die durch den westlichen Block eröffnet wurden, und vom eingeschränkten Rüstungsetat, den sie als Hauptverlierer der beiden Weltkriege hatte.

Auf politischer und territorialer Ebenen nutznießte die BRD 1989 am meisten vom Zusammenbruch des Ostblocks, indem sie die frühere DDR schluckte. Doch wirtschaftlich stellte die plötzliche Einnahme dieser Zone, die hoffnungslos hinter den internationalen Standards zurückgefallen war, auch eine beträchtliche Last dar, vor allem finanziell. Eine Bürde, die die Wettbewerbsfähigkeit des neuen, größeren Deutschland beeinträchtigte. In den 1990er Jahren verlor Deutschland auf dem Weltmarkt an Boden, während das Niveau des Staatsdefizits sich jenen der anderen führenden Mächte anzunähern begann.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, hat Deutschland mehr als nur verlorenen Boden gutgemacht. Knapp hinter China ist Deutschland der zweitgrößte Exporteur der Welt. Letztes Jahr wies der Staatshaushalt ein Plus von 26 Milliarden Euro auf. Das Wachstum war mit 1,7 Prozent bescheiden, doch für ein hochentwickeltes Land dennoch eine Leistung. Die offizielle Arbeitslosenquote ist auf ihren niedrigsten Stand seit der „Wiedervereinigung“ gedrückt worden. Die Politik, eine hochentwickelte Industrieproduktion in Deutschland zu erhalten, war bisher eine Erfolgsgeschichte gewesen.

Natürlich ist die Voraussetzung dieses Erfolges eine hohe organische Zusammensetzung des Kapitals, das Produkt eines alten Industrielandes mit mindestens zwei Jahrhunderten der Akkumulation auf dem Rücken. Doch in diesem Zusammenhang sind die hohen Fertigkeiten und Qualifikationen seiner Bevölkerung entscheidend für seinen Wettbewerbsvorteil. Vor dem I. Weltkrieg war Deutschland zum Hauptzentrum der wissenschaftlichen Entwicklung und Anwendung in der Produktion geworden. Mit der Katastrophe des Nationalsozialismus und des II. Weltkrieges verlor es diesen Vorteil, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass es sich davon erholt hat. Was jedoch geblieben ist, ist sein Know-how im eigentlichen Produktionsprozess. Seit dem Niedergang der Hanse war Deutschland nie mehr eine führende, langlebige maritime Macht gewesen. Obwohl sein Boden im Durchschnitt weniger fruchtbar ist als die französische Erde, war Deutschland lange Zeit eine im Kern bäuerliche Ökonomie. Seine natürlichen Vorteile lagen in seiner geographischen Lage im Herzen Europas und in den wertvollen Metallen, die bereits im Mittelalter abgebaut wurden. Heraus kam ein großes Geschick für handwerkliche und industrielle Arbeit sowie Kooperation und ein Know-how, das weiterentwickelt wurde und von einer Generation zur nächsten überging. Zwar hatte seine industrielle Revolution enorm von den großen Kohlevorkommen profitiert, doch machte der Niedergang der Schwerindustrien ab den 1970er Jahren deutlich, dass das Herz des wirtschaftlichen Aufstiegs Deutschlands nicht die Schwerindustrie war, sondern seine Effizienz in der Produktion von Produktionsmitteln und, etwas allgemeiner, in der Umwandlung von lebendiger in tote Arbeit. Heute ist Deutschland weltweit der Hauptproduzent von komplexen Maschinen. Weit über die Autoindustrie hinausgehend, ist dieser Sektor das Rückgrat seiner Wirtschaft. Hinter dieser Stärke steckt auch das Know-how der deutschen Bourgeoisie, die sich bereits während des kapitalistischen Aufstiegs im Wesentlichen auf ihre ökonomischen und geschäftlichen Aktivitäten konzentrierte, da sie durch die preußischen Junker mehr oder weniger von den politischen und militärischen Machtstellen ausgeschlossen wurde. Die Ingenieurs-Leidenschaft, die diese Bourgeoisie entwickelte, drückt sich zudem nicht nur im Maschinenbausektor aus, der sich häufig auf mittelgroße Familienunternehmen stützt,  sondern auch in der besonderen Fähigkeit der herrschenden Klasse in ihrer Gänze, die gesamte deutsche Industrie zu betreiben, als sei sie eine einzige Maschine. Die komplexe und hocheffektive Verknüpfung all der unterschiedlichen Produktions- und Verteilungseinheiten ist einer der Hauptvorteile des deutschen Nationalkapitals.

Während das deutsche Kapital in den 1990er Jahren noch unter dem toten Gewichts der kollabierenden DDR-Wirtschaft litt, schaffte es in den Nuller Jahren die Wende zu einer Erholung seiner Wettbewerbsfähigkeit. Zwei Faktoren waren dabei entscheidend. Auf der organisatorischen Ebene begannen alle großen Konzerne, einschließlich der mittelgroßen Maschinenbauer, auf Weltebene zu produzieren und zu operieren, indem sie Produktionsnetzwerke schufen, die alle um Deutschland herum zentriert sind. Auf der politischen Ebene waren die Angriffe gegen die Löhne und Sozialleistungen unter der Führung der SPD (Agenda 2010) so radikal, dass die französische Regierung Deutschland des Lohndumpings bezichtigte.

Diese Wende wurde von drei wichtigen Entwicklungen im Kontext der globalen Wirtschaft begünstigt, die sich als sehr vorteilhaft für Deutschland erwiesen.

Erstens der Übergang vom Keynesianismus zum so genannten neoliberalen Modell des Staatskapitalismus, der mehr exportorientierte Ökonomien begünstigt. Auch wenn das westdeutsche „Modell“ sich nach 1945 stark an der keynesianischen Wirtschaftsordnung orientierte, die den westlichen Block dominierte, war es von Anbeginn von den „ordo-liberalen“ Ideen von Ludwig Erhard, der Freiburger Schule, beeinflusst, die nie die Art von „Etatismus“ pflegte, der noch heute die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs beeinträchtigt. Zweitens die Konsolidierung der europäischen Wirtschaftskooperation nach dem Fall der Berliner Mauer (Europäische Union, Euro). Obwohl teilweise von politischen, im Kern imperialistischen Motiven (die „Kontrolle“ Deutschlands durch seine Nachbarn) angetrieben, war auf der ökonomischen Ebene Deutschland als stärkster Wettbewerber der Hauptnutznießer der EU und der gemeinsamen Währung. Die Finanzkrise und die Euro-Krise nach 2008 bestätigten, dass die führenden kapitalistischen Länder immer noch die Fähigkeit besitzen, die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf ihre schwächeren Rivalen abzuwälzen. Die verschiedenen internationalen und europäischen Rettungspakete, wie jene für Griechenland, dienten im Wesentlichen dazu, deutsche (und französische) Banken auf Kosten der „geretteten“ Ökonomien finanziell zu stützen.

Drittens half die geographische und historische Nähe zu Osteuropa dabei, Deutschland zum Profiteur der dortigen Umwandlung zu machen und Märkte zu erobern, die früher außer Reichweite waren, einschließlich der außerkapitalistischen Überbleibsel[1].

Das Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen und militärischen Macht des deutschen Imperialismus

Um die Bedeutung der Konsequenzen aus dieser Wettbewerbsstärke auf andere Ebenen zu veranschaulichen, möchten wir nun die Verknüpfung zur imperialistischen Position untersuchen. Nach 1989 konnte Deutschland seine imperialistischen Interessen mit größerer Entschlossenheit und Unabhängigkeit geltend machen. Beispiele hierfür waren die deutsche Initiative unter Helmut Kohl, den Anstoß zur Zerschlagung Jugoslawiens (angefangen mit der diplomatischen Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens) zu geben und die Weigerung unter Gerhard Schröder, den zweiten Irakkrieg zu unterstützen. In den vergangenen 25 Jahren hat Deutschland sicherlich Fortschritte auf der imperialistischen Ebene erzielt. Vor allem hat sich sowohl die „internationale Gemeinschaft“ als auch die Bevölkerung „zuhause“ an deutsche Militärinterventionen im Ausland gewöhnen können. Der Übergang von einer wehrpflichtigen Armee zu einer Berufsarmee ist gemacht worden. Die deutsche Rüstungsindustrie hat ihren Anteil auf dem Weltmarkt gesteigert. Dennoch ist Deutschland auf der imperialistischen Ebene nicht in der Lage gewesen, ähnlich wie in der Wirtschaft an Boden dazuzugewinnen. Das Problem, ausreichend Freiwillige für die Bundeswehr zu gewinnen, bleibt ungelöst. Vor allem ist das Ziel, die Streitkräfte technisch auf den neuesten Stand zu bringen und ihre Mobilität sowie Feuerkraft zu erhöhen, in keinster Weise erreicht worden.

Im Grunde war es im gesamten Zeitraum nach 1989 nie das Ziel der deutschen Bourgeoisie gewesen, kurz- oder mittelfristig zu versuchen, als potenzieller Blockführer gegen die USA „ihren Hut in den Ring zu werfen“. Auf der militärischen Ebene wäre dies auch unmöglich, angesichts der überwältigenden Militärmacht der Vereinigten Staaten und des gegenwärtigen Status Deutschlands als „ökonomischer Riese, aber militärischer Zwerg“. Jeglicher Versuch in diese Richtung würde auch dazu führen, dass seine europäischen Hauptrivalen sich gegen Deutschland zusammentun würden. Auf ökonomischer Ebene würde die Last des notwendigen, enormen Wiederaufrüstungsprogramms die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft ruinieren, die bereits mit der finanziellen Bürde der „Wiedervereinigung“ zu kämpfen hat – und auch Konfrontationen mit der Arbeiterklasse riskieren.

Doch all dies bedeutet nicht, dass Berlin seine Ambitionen, seinen Status als führende europäische Militärmacht wiederzuerlangen, aufgegeben hätte. Im Gegenteil, spätestens seit den 1990ern verfolgt es eine langfristige Strategie, die darauf abzielt, seine Wirtschaftskraft als Basis für eine künftige militärische Renaissance zu steigern. Während die frühere UdSSR eine Mahnung ist, dass eine Militärmacht langfristig nicht ohne eine äquivalente ökonomische Grundlage bestehen kann, bestätigt in jüngerer Zeit China die andere Seite dieser Medaille: wie wirtschaftlicher Aufstieg einen späteren militärischen Aufstieg vorbereiten kann.

Einer der Schlüssel solch einer langfristigen Strategie ist Russland, aber auch die Ukraine. Auf militärischer Ebene sind es die USA und nicht Deutschland, die am meisten von einer Ausweitung der NATO nach Osten profitieren (in der Tat versuchte Deutschland einige der Schritte zu verhindern, die darauf abzielten, Russland zurückzudrängen). Im Gegenteil, vor allem auf ökonomischer Ebene hofft Deutschland gegenwärtig von dieser ganzen Zone zu profitieren. Anders als China ist Russland aus historischen Gründen nicht in der Lage, seine eigene ökonomische Modernisierung zu organisieren. Bevor der Ukraine-Konflikt begann, hatte der Kreml bereits entschieden, diese Modernisierung in Zusammenarbeit mit der deutschen Industrie anzugehen. Im Grunde besteht einer der Hauptvorteile dieses Konflikts für die USA darin, dass er (mittels des Embargos gegen Russland) diese wirtschaftliche Zusammenarbeit blockiert. Hier liegt also eines der Hauptmotive für die deutsche Bundeskanzlerin (und für den französischen Staatspräsidenten Hollande als ihr Juniorpartner in dieser Angelegenheit), zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Trotz des derzeit desolaten Zustandes der russischen Wirtschaft ist die deutsche Bourgeoisie immer noch davon überzeugt, dass Russland in der Lage wäre, solch eine Modernisierung selbst zu finanzieren. Der Ölpreis wird nicht für immer so niedrig sein wie gegenwärtig, und Russland hat eine Menge kostbarer Metalle zu bieten. Hinzu kommt, dass die russische Landwirtschaft erst noch auf eine moderne kapitalistische Basis gestellt werden muss (dies trifft umso mehr auf die Ukraine zu, die – trotz der Tschernobyl-Katastrophe – immer noch mit die fruchtbarsten Böden auf der Welt besitzt). In der mittelfristigen Perspektive von Nahrungsmittelkürzungen und steigender Preise für landwirtschaftliche Produkte können solche landwirtschaftlichen Gebiete eine beträchtliche ökonomische und gar imperialistische Bedeutung erlangen. Die Befürchtung der USA, dass Deutschland von Osteuropa profitieren könnte, um sein relativ großes ökonomisches und politisches Gewicht in der Welt zu steigern und das Gewicht Amerikas in Europa ein Stück weit zu reduzieren, ist also nicht unbegründet.

Ein Beispiel, wie Deutschland erfolgreich seine Wirtschaftsmacht für imperialistische Zwecke einsetzt, sind die syrischen Flüchtlinge. Selbst wenn es wollte, wäre es Deutschland auf Grund seiner militärischen Schwäche sehr schwierig, sich direkt an den gegenwärtigen Luftschlägen in Syrien zu beteiligen. Doch da es auf Grund seiner verhältnismäßig geringen Arbeitslosigkeit Teile der syrischen Bevölkerung in Gestalt der gegenwärtigen Flüchtlingswelle aufnehmen kann, erlangt Deutschland ein alternatives Mittel, um die Nachkriegsperiode dort eines Tages zu beeinflussen.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass insbesondere die USA gegenwärtig versuchen, juristische Mittel zu benutzen, um die Wirtschaftsmacht ihres deutschen Konkurrenten einzudämmen, z.B. indem sie Volkswagen oder die Deutsche Bank vor Gericht laden und ihnen mit Strafzahlungen in Milliardenhöhe drohen.

Die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse

Das Jahr 2015 erlebte eine Reihe von Streiks vor allem im Transportwesen (Deutsche Bahn, Lufthansa) und unter den Kita-Angestellten. Es gab zudem eher lokale, aber bedeutsame Bewegungen wie die in der Charité in Berlin, wo es eine Solidarisierung zwischen Patienten und Pflegepersonal gab. All diese Bewegungen waren allzu sehr auf einzelne Bereiche beschränkt und isoliert, manchmal sich auf die falsche Alternative zwischen großen und kleinen korporatistischen Gewerkschaften fokussierend, die die Notwendigkeit einer autonomen Selbstorganisation durch die ArbeiterInnen verschleierte. Obwohl alle Gewerkschaften die Streiks so organisierten, dass sie ein Maximum an Beeinträchtigungen verursachten, gelang der Versuch, die Solidarität, zumindest in Form von öffentlicher Sympathie mit den Streikenden, auszuhöhlen, nur teilweise. Das Argument z.B., das die Forderungen im Kita-Bereich begleitete, wonach das System der besonders niedrigen Löhne in traditionell weiblichen Berufen endlich beendet werden müsse, stieß innerhalb der Klasse in ihrer Gesamtheit auf offene Ohren, schien diese doch zu erkennen, dass diese „Diskriminierung“ vor allem ein Mittel zur Spaltung der ArbeiterInnen ist.

Es ist durchaus unüblich, dass Streiks in Deutschland solch eine prominente Rolle in den Medien spielen wie jene im Verlauf von 2015. Diese Streiks sind, auch wenn sie den Nachweis einer immer noch existierenden Kampflust und Solidarität liefern, kein Beleg für eine immer noch existente Welle oder Phase eines proletarischen Kampfes. Sie sollten zumindest als Manifestation der besonderen ökonomischen, oben geschilderten Lage in Deutschland verstanden werden. Vor dem Hintergrund einer relativ niedrigen Arbeitslosigkeit und eines Mangels an qualifizierter Arbeit stellt die Bourgeoisie die Idee in den Vordergrund, dass nach Jahren sinkender Reallöhne, eingeleitet unter Schröder (sie sanken radikaler als fast überall in Westeuropa), die Beschäftigten endlich für ihren „Realitätssinn“ „belohnt“ werden sollen. Die neue Große Koalition aus Christdemokraten und Sozialdemokraten setzte selbst den Trend, als sie endlich (als einer der letzten Staaten Europas) den gesetzlichen Mindestlohn beschloss und die Sozialleistungen anhob. In der Automobilindustrie zahlten die großen Konzerne 2016 beispielsweise Boni (die sie „Gewinnbeteiligung“ nannten) von bis zu 9.000 Euro pro Beschäftigten. Dies war umso mehr möglich, als die Modernisierung des Produktionsapparates so erfolgreich war, dass – zumindest im Moment – die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands viel weniger von niedrigen Löhnen abhängt als eine Dekade zuvor.

2003 analysierte die IKS den internationalen Klassenkampf, der mit den Protesten gegen die Angriffe auf die Renten in Frankreich und Österreich begann, als eine (unspektakuläre, fast unmerkliche) Wende  zum Besseren, im Wesentlichen weil in ihnen die heutige ArbeiterInnengeneration (zum ersten Mal seit dem letzten Weltkrieg) zu erkennen begann, dass ihre Kinder nicht bessere, sondern schlechtere Bedingungen haben werden als sie selbst. Dies führte zu ersten bedeutsamen Ausdrücken der Solidarität zwischen den Generationen in den Arbeiterkämpfen. Aufgrund der Einschüchterung von Streikbewegungen durch wachsende Arbeitslosigkeit und immer prekärere Arbeitsbedingungen drückte sich diese Entwicklung „am Arbeitsplatz“ mehr auf der Ebene des Bewusstseins denn des Kampfgeistes aus – es wurde zunehmend schwieriger und entmutigender, zu streiken. In Deutschland verlor die anfängliche Antwort der Arbeitslosen auf die Agenda 2010 (die Montagsdemonstrationen) ebenfalls an Schwung. Doch dafür begann eine neue Generation auf die Straßen zu gehen; sie profitierte dabei von dem Umstand, dass sie noch nicht direkt unter dem Joch der Lohnarbeit stand, und brachte ihre Wut und Sorge nicht nur über die eigene Zukunft, sondern auch (mehr oder weniger bewusst) über die der gesamten Klasse zum Ausdruck. Ihr schlossen sich häufig prekär Beschäftigte an. Diese Proteste, die sich auf Länder wie die Türkei, Israel und Brasilien ausweiteten, aber ihren Höhepunkt mit der „Anti-CPE“-Bewegung in Frankreich und den Indignados in Spanien erreichten, stießen auch auf kleines, aber bedeutsames Echo in der Schüler- und Studentenbewegung in Deutschland. Und sie wurden begleitet von der Herauskristallisierung wenn nicht einer neuen Generation von Revolutionären, so doch ihrer potenziellen Vorläufer.

In Deutschland drückte sich dies in einer kleinen, aber kämpferischen „Occupy“-Bewegung aus, die gegenüber internationalistischen Ideen offener denn je war. Der Schlachtruf der ersten Occupy-Demonstrationen hieß: „Nieder mit Kapital, Staat und Nation!“ Zum ersten Mal seit Jahrzehnten setzte in Deutschland eine Politisierung ein, die nicht von der antifaschistischen Ideologie und der Ideologie der nationalen Befreiungsbewegungen überschattet zu sein schien. Dies fand als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 statt, auf die die Euro-Krise folgte. Einige dieser kleinen Minderheiten begannen darüber nachzudenken, ob der Kapitalismus sich am Rande des Zusammenbruchs befindet. Es begann sich die Vorstellung zu verbreiten, dass, wenn sich Marx mit seinen Aussagen zur Krise des Kapitalismus als richtig erwiesen hat, er auch in der Frage des revolutionären Wesens des Proletariats bestätigt werden könnte. Die Erwartung wuchs, dass die massiven, internationalen Angriffe bald auf ähnlich massive, internationale Kämpfe der Klasse stoßen würden. „Heute Athen – morgen Berlin – internationale Solidarität gegen das Kapital“ wurde zum neuen Schlachtruf.

Was folgte, war zwar keine historische Niederlage, aber eine momentane Ruhigstellung der 2003 begonnenen politischen Öffnung durch die Bourgeoisie; sie brachte diese Phase des Klassenkampfes zu einem Ende. Denn was als US-Hypothekenkrise begann, stellte sich bald als sehr reale Bedrohung der Stabilität der internationalen Finanzarchitektur dar. Die Gefahr war akut. Es gab keine Zeit für langatmige Verhandlungen zwischen den Regierungen darüber, wie damit zu verfahren ist. Der Bankrott von Lehman Brothers hatte den Vorteil, dass er die Regierungen aller Industrieländer zwang, sofortige und radikale Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu beruhigen (wie die HERALD TRIBUNE später schrieb: „Wenn es ihn nicht gegeben hätte, dann hätte der Lehman-Zusammenbruch erfunden werden müssen.“). Doch er hatte noch andere Vorteile: gegen die Arbeiterklasse. Vielleicht zum ersten Mal antwortete die Weltbourgeoisie auf eine große, akute Krise ihres Systems nicht, indem sie sie herunterspielte, sondern indem sie ihre Bedeutung übertrieb. Den ArbeiterInnen der Welt wurde erzählt, dass, wenn sie nicht sofort die massiven Angriffe akzeptierten, ganze Staaten und mit ihnen die Renten und Krankenkassen Bankrott gehen, ihre Ersparnisse sich in Luft auflösen würden. Diese ideologische Terroroffensive erinnerte an die militärische Schockstrategie (shock and awe), die von den USA im zweiten Irakkrieg angewendet wurde und die die Lähmung, Traumatisierung sowie Entwaffnung ihres Gegners bezweckte. Und sie funktionierte. Gleichzeitig gab es eine objektive Grundlage dafür, nicht alle zentralen Bereiche des Weltproletariats gleichzeitig anzugreifen, da große Sektoren der Klasse in den USA, in Großbritannien, in Irland und in Südeuropa viel stärker litten als in Deutschland, Frankreich und im restlichen Nordwesteuropa.

Das zweite Kapitel dieser Offensive des Terrors und der Spaltung war schließlich die Euro-Krise, in der das europäische Proletariat erfolgreich zwischen dem Norden und dem Süden gespalten wurde, zwischen den „faulen Griechen“ und den „arroganten Nazideutschen“. In diesem Kontext hatte die Bourgeoisie noch einen weiteren Trumpf im Ärmel: den ökonomischen Erfolg der Deutschen. Selbst die Streiks von 2015 und, allgemeiner, die jüngsten Erhöhungen der Löhne und der Sozialleistungen wurden allesamt genutzt, dem europäischen Proletariat die Botschaft einzubläuen, dass es sich letztlich lohne, Opfer angesichts der Krise zu bringen.

Diese Botschaft, dass Kämpfe sich nicht auszahlen, wurde zusätzlich durch die Tatsache unterstrichen, dass in den Ländern, in denen die politische und wirtschaftliche Stabilität besonders fragil und die Arbeiterklasse schwächer ist, die Protestbewegungen der jungen Generationen („Arabischer Frühling“) nur zur Auslösung von mörderischen Bürger- und imperialistische Kriegen und/oder neuen Repressionswellen führten. All dies verstärkte das Gefühl der Machtlosigkeit und den Mangel an Perspektive in der gesamten Klasse.

Der ausbleibende Zusammenbruch des Kapitalismus und das Versagen des europäischen Proletariats, sich den massiven Angriffen zu widersetzen, schränkte auch das Aufkommen von Vorläufern einer neuen revolutionären Generation ein. Die Zunahme von öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen, die diese Phase in Deutschland kennzeichnete, wich einer Phase wirklicher Demoralisierung. Seither haben weitere Demonstrationen stattgefunden – gegen „Pegida“, TTIP, Gentechnologie oder die Überwachung des Internet -, die jedoch bar jeglicher grundsätzlicheren Kritik am Kapitalismus an sich sind.

Und jetzt, seit dem Sommer 2015, folgte den Schlägen der Finanz- und Eurokrise ein weiterer: die gegenwärtige Flüchtlingskrise. Auch sie wird von der herrschenden Klasse bis zum Äußersten gegen das Nachdenken des Proletariats benutzt. Doch mehr noch als die bürgerliche Propaganda stellt die Flüchtlingswelle selbst einen Schlag gegen die ersten Keime eines Klassenbewusstseins dar, das sich gerade vom Schlag 1989 („Tod des Kommunismus“) erholt hatte. Die Tatsache, dass Millionen aus der „Peripherie“ des Kapitalismus ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa, Nordamerika und in andere „Festungen“ zu gelangen, kann für den Moment nur den Eindruck verstärken, dass es ein Privileg sei, in den entwickelteren Teilen der Welt zu leben, und dass die Arbeiterklasse im Herzen des Systems mangels Alternative also doch etwas im Kapitalismus zu verteidigen habe. Darüber hinaus neigt die Klasse, zurzeit ihres eigenen politischen, theoretischen und kulturellen Vermächtnisses entkleidet, insgesamt dazu, die Ursachen dieser verzweifelten Migration nicht innerhalb des Kapitalismus, nicht verknüpft mit den in den demokratischen Ländern angesiedelten Widersprüchen zu sehen, sondern in einer Abwesenheit von Kapitalismus und Demokratie in den Konfliktzonen.

All dies hat zu einem neuerlichen Rückgang sowohl des Kampfgeistes als auch des Bewusstseins in der Klasse geführt.

Das Problem des politischen Populismus

Obwohl das Phänomen des rechten Terrors gegen Fremde und Flüchtlinge nicht neu ist in Deutschland, besonders seit der „Wiedervereinigung“ und namentlich (obgleich nicht nur) in seinen neuen, östlichen Provinzen, war bis jetzt der Aufstieg einer stabilen populistischen Bewegung in Deutschland erfolgreich von der herrschenden Klasse verhindert worden. Doch im Kontext der Euro-Krise, der akuten Phase, die bis zum Sommer 2015 andauerte, und der „Flüchtlingskrise“, die ihr folgte, erlebte der politische Populismus einen Aufschwung. Dieser hat sich hauptsächlich auf drei Ebenen manifestiert: mit dem Aufstieg der AfD (Alternative für Deutschland) in der Wählergunst, die sich ursprünglich in Opposition zum griechischen Hilfspaket und auf der Grundlage einer vagen Opposition gegen eine gemeinsame europäische Währung konstituiert hatte; einer rechtspopulistischen Bewegung, die sich um die „Montagsspaziergänge“ in Dresden konzentriert (Pegida); einem neuerlichen Wiederaufleben des Rechtsterrorismus gegen Flüchtlinge und Fremde, wie der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU).

Solche Phänomene sind nicht neu auf der politischen Bühne Deutschlands. Doch bis jetzt ist es der Bourgeoisie noch stets gelungen, diese Erscheinungen daran zu hindern, zu irgendeiner Art von stabiler und parlamentarischer Präsenz zu gelangen. Bis zum Sommer 2015 schien es, als gelänge es den herrschenden Sektoren auch diesmal. Die AfD war um ihr Thema (die „griechische“ Krise) und um einige ihrer finanziellen Quellen gebracht worden und erlitt ihre erste Spaltung. Doch dann gelang diesem Populismus ein Comeback; dank der neuen Immigrantenwelle wurde er stärker denn je. Und da die Immigrantenfrage auf absehbare Zeit eine mehr oder weniger dominante Rolle zu spielen droht, sind die Chancen für die AfD gewachsen, sich selbst als eine neue, dauerhaftere Komponente des parteipolitischen Apparates zu etablieren.

Die herrschende Klasse ist imstande, all dies zu nutzen, um ihren Wahlzirkus interessanter zu gestalten, der Ideologie der Demokratie und des Antifaschismus neuen Schub zu verleihen und auch Spaltung sowie Fremdenfeindlichkeit zu verbreiten. Doch weder entspricht der ganze Prozess direkt ihren Interessen, noch ist sie in der Lage, ihn vollständig zu kontrollieren.

Dass es eine enge Verbindung zwischen der Verschärfung der globalen Krise des Kapitalismus und dem Vormarsch des Populismus gibt, wird von der Euro-Krise und ihren Auswirkungen auf die politische Szenerie in Deutschland illustriert. Die Wirtschaftskrise verstärkt nicht nur Unsicherheit und Furcht, indem sie den Überlebenskampf intensiviert. Sie speist auch die Flamme der Irrationalität. Deutschland hätte ökonomisch am meisten zu verlieren, wenn der Zusammenhalt der EU und der Euro weiter geschwächt werden würden. Millionen von Arbeitsplätzen hängen direkt oder indirekt vom Export und von der Rolle der EU ab, die sie für Deutschland in diesem Zusammenhang spielt. In solch einem Land ist es umso irrationaler, die EU, den Euro, die ganze Ausrichtung auf den Weltmarkt in Frage zu stellen. In dieser Hinsicht ist es kein Zufall, dass das jüngste Aufkommen solch fremdenfeindlicher Bewegungen von den Sorgen über die Stabilität der neuen europäischen Währung ausgelöst worden ist.

Rationalität ist ein unerlässliches, aber nicht das einzige Moment in der menschlichen Vernunft. Rationalität konzentriert sich rund um das Element des berechnenden Denkens. Da dies die Fähigkeit beinhaltet, seine eigenen objektiven Interessen zu kalkulieren, ist dies ein unerlässliches Element nicht nur der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch des proletarischen Befreiungskampfes. Historisch erschien und entwickelte es sich überwiegend unter dem Impuls des Äquivalententausches. Da unter dem Kapitalismus das Geld seine Rolle als universelles Äquivalent voll entwickelt, spielen die Währung und das Vertrauen, das sie bewirkt, eine Hauptrolle bei der „Formatierung“ der Rationalität in der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Verlust von Vertrauen in das universelle Äquivalent ist daher eine der Hauptquellen der Irrationalität in der bürgerlichen Gesellschaft. Daher sind Währungskrisen und Zeiten der Hyperinflation besonders gefährlich für die Stabilität dieser Gesellschaft. So war die Inflation in Deutschland 1923 einer der wichtigsten Faktoren bei der Wegbereitung des nationalsozialistischen Triumphes zehn Jahre später.

Andererseits betont und illustriert die aktuelle Flüchtlings- und Immigrationswelle einen weiteren Aspekt des Populismus: die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Opfern des Kapitalismus und die Tendenz zum Ausschluss, zur Xenophobie und zur Suche nach einem Sündenbock. Das Elend unter der kapitalistischen Herrschaft erweckt eine Triade der Zerstörung zum Leben: erstens die Anhäufung von Aggressionen, Hass, Heimtücke und das Verlangen nach Zerstörung und Selbstzerstörung; zweitens die Projektion dieser anti-sozialen Impulse auf Andere (moralische Heuchelei); drittens das Richten dieser Impulse nicht gegen die herrschende Klasse, die als zu mächtig erscheint, sondern gegen offensichtlich Schwächere. Dieser dreigleisige „Komplex“ blüht daher vor allem in Abwesenheit des kollektiven Kampfes des Proletariats, wenn sich die individuellen Subjekte gegenüber dem Kapital machtlos fühlen. Der Kulminationspunkt dieser Triade an der Wurzel des Populismus ist das Pogrom. Obgleich sich die populistische Aggression auch gegen die herrschende Klasse ausdrückt, fordert sie lautstark von ihr, beschützt und begünstigt zu werden. Was der Populismus begehrt, ist, dass die Bourgeoisie alles eliminiert, was nach bedrohlichen Rivalen aussieht, oder zulässt, dass er die Dinge selbst in die Hand nimmt. Diese „konformistische Revolte“, eine permanente Erscheinung im Kapitalismus, wird akut im Angesicht der Krise, des Krieges, des Chaos, der Instabilität. In den 1930er Jahren war der Rahmen seiner Ausbreitung die weltgeschichtliche Niederlage des Proletariats gewesen. Heute ist dieser Rahmen die Abwesenheit jeglicher Perspektive: die Epoche des Zerfalls.

Wie bereits in den Thesen der IKS zum Zerfall entwickelt, ist eine der sozialen und materiellen Grundlagen des Populismus der Prozess der Deklassierung. Trotz der wirtschaftlichen Robustheit und des Mangels an qualifizierter Arbeitskraft gibt es einen wichtigen Teil der Bevölkerung des deutschen Nationalkapitals heute, der, obgleich arbeitslos, nicht wirklich ein aktiver Faktor der industriellen Reservearmee ist (bereit, den Job Anderer zu übernehmen, und daher einen Druck auf die Löhne ausübend), sondern eher zu dem zählt, was Marx die Lazarusschicht der Arbeiterklasse nannte. Aufgrund gesundheitlicher Probleme, der Unfähigkeit, den Stress der modernen kapitalistischen Arbeitskraft und des Existenzkampfes auszuhalten, oder zu niedriger Qualifikation ist dieser Sektor, vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet, „nicht beschäftigungsfähig“. Statt Druck auf das Lohnniveau auszuüben, steigern diese Schichten die Gesamtlohnkosten durch die Leistungen, die sie beziehen. Es ist dieser Sektor, der die Flüchtlinge heute am meisten als potenzielle Rivalen betrachtet.

Innerhalb dieses Sektors gibt es zwei wichtige Gruppen der proletarischen Jugend, von denen Teile anfällig für die Mobilisierung als Kanonenfutter für bürgerliche Cliquen, aber auch als aktive Protagonisten von Pogromen sein können. Die erste Gruppe setzt sich aus Kindern der ersten oder zweiten Generation der „Gastarbeiter“ zusammen. Die ursprüngliche Vorstellung war, dass diese „Gastarbeiter“ nicht bleiben werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, und vor allem dass sie nicht ihre Familien mitbringen oder Familien in Deutschland gründen. Das Gegenteil trat ein, und die Bourgeoisie unternahm keine besonderen Anstrengungen, um die Kinder solcher Familien auszubilden. Das Resultat heute ist, dass, weil die ungelernten Jobs zu einem großen Teil in die so genannten „Drittweltländer“ exportiert wurden, ein Teil dieses Segments der proletarischen Jugend zu einer von staatlichen Leistungen finanzierten Existenz verdammt und niemals in assoziierte Arbeit integriert worden ist. Die andere Gruppe sind die Kinder der traumatischen Massenentlassungen in Ostdeutschland nach der „Wiedervereinigung“. Teile dieses Segments, eher Deutsche als Immigranten, die nicht aufgezogen wurden, um mit der hoch kompetitiven „westlichen“ Form des Kapitalismus mithalten zu können, und die es sich nicht zutrauten, nach 1989 nach „Westdeutschland“ zu ziehen, wie es die Unerschrockeneren taten, haben sich der Armee der von Sozialleistungen lebenden Menschen angeschlossen. Diese Sektoren sind besonders anfällig gegenüber der Verlumpung, Kriminalisierung und den dekadenten, fremdenfeindlichen Formen der Politisierung. Obschon der Populismus das Produkt ihres Systems ist, kann die Bourgeoisie dieses Phänomen weder beliebig produzieren noch verschwinden lassen kann. Doch sie kann ihn nicht nur für ihre Zwecke manipulieren, sondern auch seine Entwicklung mehr oder weniger er- oder entmutigen. Im Allgemeinen tut sie beides. Aber auch dies ist nicht leicht zu beherrschen. Selbst im Kontext des totalitären Staatskapitalismus ist es für die herrschende Klasse schwierig, ihm gegenüber eine Kohärenz zu erreichen und zu erhalten. Der Populismus selbst ist tief in den Widersprüchen des Kapitalismus verwurzelt. Die Aufnahme von Flüchtlingen heute zum Beispiel liegt im objektiven Interesse der wichtigen Sektoren des deutschen Kapitalismus. Die ökonomischen Vorteile sind noch offenkundiger als die imperialistischen. Aus diesem Grund sind die Industrieführer und die Geschäftswelt zurzeit die enthusiastischsten Anhänger der „Willkommenskultur“. Sie rechnen damit, dass Deutschland einen Zustrom von einer Million pro Jahr in der kommenden Periode angesichts des prognostizierten Mangels an qualifizierten Arbeitskräften und vor allem der demographischen Krise (die beständig niedrige Geburtsrate) benötigen wird. Darüber hinaus erweisen sich Flüchtlinge aus Kriegs- und Katastrophengebieten häufig als besonders emsige und disziplinierte ArbeiterInnen, bereit, für einen niedrigen Lohn zu arbeiten, aber auch die Initiative zu ergreifen und Risiken in Kauf zu nehmen. Auch ist die Integration von Newcomern von „Außen“ und die kulturelle Offenheit, die dies erfordert, an sich schon eine Produktivkraft (potenziell natürlich auch für das Proletariat). Ein Erfolg Deutschlands auf dieser Ebene könnte ihm einen zusätzlichen Vorteil gegenüber seinen europäischen Konkurrenten geben. Jedoch ist die Exklusion die Kehrseite der Merkelschen Inklusionspolitik. Die Immigration bedarf heute nicht mehr der unqualifizierten Arbeitskraft der „Gastarbeiter“-Generationen, jetzt, wo die ungelernten Jobs sich in der Peripherie des Kapitalismus konzentriert haben. Die neuen Migranten sollten hohe Qualifikationen mitbringen oder zumindest den Willen haben, sie zu erlangen. Die jetzige Lage erfordert eine viel organisiertere und schonungslosere Selektion als in der Vergangenheit. Wegen diesen widersprüchlichen Bedürfnissen von Inklusion und Exklusion ermutigt die Bourgeoisie zu Offenheit und Fremdenfeindlichkeit in einem Atemzug. Sie antwortet heute auf dieses Bedürfnis mit einer Arbeitsteilung zwischen der Linken und der Rechten, einschließlich der Arbeitsteilung in der Koalition zwischen Merkels Christdemokraten sowie den Christsozialen auf der einen und der SPD auf der anderen Seite. Doch hinter den jüngsten Dissonanzen zwischen den unterschiedlichen politischen Gruppierungen über die Flüchtlingsfrage stecken nicht nur eine Arbeitsteilung, sondern auch unterschiedliche Anliegen und Interessen. Die Bourgeoisie ist kein homogener Block. Während jene Teile der herrschenden Klasse des Staatsapparats, die der Wirtschaft nahestehen, auf Integration drängen, ist der gesamte Sicherheitsapparat über Merkels Öffnung der Grenzen im Sommer 2015 und über die Massen, die seither kamen, entsetzt, führte dies doch zeitweilig zu einem Verlust der Kontrolle darüber, wer das Staatsterritorium betritt. Ferner gibt es innerhalb des Repressions- und Rechtsapparates natürlich auch jene, die, weil sie deren Besessenheit von Law & Order, Nationalismus, etc. teilen, mit den Rechtsextremisten sympathisieren und sie schützen.

Was die politische Kaste angeht, gibt es nicht nur jene, die (abhängig von der Stimmung in ihrem Wahlkreis) aus Opportunismus mit dem Populismus flirten. Es gibt auch viele, die ihre Mentalität teilen. Zu alledem können wir noch die Widersprüche des Nationalismus selbst hinzufügen. Wie alle modernen, bürgerlichen Staaten wurde Deutschland auf der Grundlage von Mythen über gemeinsame Geschichte, Kultur, ja, über gemeinsames Blut gegründet. Vor diesem Hintergrund kann selbst die mächtigste Bourgeoisie nicht beliebig unterschiedliche Definitionen der Nation erfinden und wiederauflegen, um sie ihren wechselnden Interessen anzupassen. Sie hat zwangsläufig auch kein Interesse daran, da die alten nationalistischen Mythen immer noch ein wichtiges und mächtiges Druckmittel des „Teile und herrsche“ nach innen und für die Mobilisierung der Unterstützung imperialistischer Aggressionen nach außen sind. Somit ist es heute immer noch keineswegs selbstverständlich, ein schwarzer oder muslimischer „Deutscher“ zu sein.

Die deutsche Bourgeoisie im Angesicht der „Flüchtlingskrise“

Im Kontext des Zerfalls und der Wirtschaftskrise war der hauptsächliche Motor des Populismus in Europa in den letzten Jahrzehnten das Problem der Immigration gewesen. Heute hat sich dieses Problem durch den größten Exodus seit dem II. Weltkrieg verschärft. Warum ist dieser Zustrom in Europa ein weitaus größeres politisches Problem als in Ländern wie der Türkei, Jordanien oder gar Libanon, die weitaus größere Kontingente erhalten? In den älteren kapitalistischen Ländern sind die vorkapitalistischen Gebräuche der Gastfreundschaft sowie die mit ihr einhergehende Subsistenzwirtschaft und Gesellschaftsstruktur viel radikaler verkümmert. Da ist auch die Tatsache, dass diese Migranten aus einer anderen Kultur kommen. Dies ist selbstverständlich kein Problem an sich, im Gegenteil. Doch insbesondere der moderne Kapitalismus macht ein Problem daraus. Namentlich in Westeuropa ist der Wohlfahrtsstaat der Hauptorganisator von Sozialunterstützung und Zusammenhalt. Es ist dieser Staat, der die Flüchtlinge unterbringen soll. Schon dies setzt Letztere in Konkurrenz zu den „einheimischen“ Armen um Jobs, Wohnungen und Sozialleistungen.

Bis jetzt haben die Immigration und – mit ihr – der Populismus aufgrund der verhältnismäßigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Stabilität weniger Probleme in Deutschland verursacht als anderswo in Westeuropa. Doch angesichts der gegenwärtigen Lage wird die deutsche Bourgeoisie zunehmend nicht nur zuhause, sondern auch im Zusammenhang mit der Europäischen Union mit diesem Problem konfrontiert.

In Deutschland selbst stört der Aufstieg des rechten Populismus ihr Projekt, Teile der Immigranten zu integrieren. Ein wirkliches Problem, da bis jetzt alle Versuche, die Geburtenrate „zuhause“ zu steigern, gescheitert sind. Der rechte Terror beschädigt auch ihre Reputation im Ausland – ein sehr empfindlicher Punkt angesichts der Verbrechen der deutschen Bourgeoisie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Etablierung der AfD als stabile parlamentarische Kraft könnte die Bildung künftiger Regierung verkomplizieren. Auf der Ebene der Wahlen ist es vor allem ein Problem für die gegenwärtige CDU/CSU, der führenden Regierungspartei, die bis jetzt unter Merkel in der Lage gewesen ist, sowohl sozialdemokratische als auch „konservative“ Wähler anzuziehen und so ihre führende Position gegenüber der SPD zu zementieren.

Doch vor allem auf europäischer Ebene bedroht der Populismus deutsche Interessen. Der Status Deutschlands als ökonomischer und, in einem geringeren Umfang, politischer global player hängt zu einem bedeutenden Teil von der Existenz und dem Zusammenhalt der EU ab. Wenn populistische, mehr oder weniger anti-europäische Parteien im Osten (in Ungarn und Polen bereits der Fall) und vor allem im Westen Europas an die Regierung kommen, würde dies den Zusammenhalt beeinträchtigen. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass Merkel die Flüchtlingsfrage zu einem Thema erklärt hat, das „über das Schicksal entscheiden wird“. Die Strategie der deutschen Bourgeoisie gegenüber dieser Frage ist es, die mehr oder weniger chaotische Einwanderung der Nachkriegs-Gastarbeiter und der Periode der De-Kolonisierung in eine leistungsorientierte, höchst selektive Immigration mehr nach kanadischem oder australischem Modell umzuwandeln. Die effektivere Abschottung der Außengrenzen der EU ist eine der Voraussetzungen für die vorgeschlagene Umwandlung der illegalen in legale Einwanderung. Dies würde auch die Etablierung von jährlichen Einwanderungsquoten zur Folge haben. Statt horrende Summen zu zahlen, um sich in die EU einzuschmuggeln zu lassen, würden Migranten ermutigt werden, in die Verbesserung ihrer eigenen Qualifikationen zu „investieren“, um die Chancen zum legalen Zutritt zu erhöhen. Statt auf eigene Faust sich auf den Weg nach Europa zu machen, würden jene Flüchtlinge, die akzeptiert werden, herein transportiert werden, in eigene Wohnungen und bereits mit für sie ausersehenen Jobs. Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass die unerwünschten Einwanderer an den Grenzen gestoppt werden oder schnell und brutal hinausgeworfen werden, falls sie es bereits geschafft haben, nach Europa zu gelangen. Diese Umwandlung der europäischen Grenzen in Selektionsrampen (bereits im Gange) wird als humanistisches Projekt dargestellt, das darauf abziele, die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer, die trotz aller Medienmanipulationen zu einer Quelle der moralischen Schande für die europäischen Bourgeoisien geworden ist, zu reduzieren. Indem Deutschland auf eine europäische statt nationale Lösung beharrt, nimmt es seine Verantwortung gegenüber dem kapitalistischen Europa wahr und untermauert gleichzeitig seinen Anspruch auf die politische Führung des alten Kontinents. Sein Ziel ist nichts Geringeres als der Versuch, die Zeitbombe der Immigration zu entschärfen und mit ihr den politischen Populismus in der EU.

In diesem Kontext öffnete die Merkel-Regierung im Sommer 2015 die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge. Zu jenem Zeitpunkt hatten die syrischen Flüchtlinge, die bis dahin bereit gewesen waren, in der Osttürkei zu bleiben, begonnen, die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat zu verlieren, und machten sich in Massen auf den Weg nach Europa. Zur gleichen Zeit beschloss die türkische Regierung, um die EU zu erpressen, die Ankaras Kandidatur für einen „Eintritt in Europa“ blockiert, die Flüchtlinge nicht daran zu hindern, die Türkei zu verlassen. In dieser Situation hätte ein Schließen der deutschen Grenzen ein Stau von Hunderttausenden von Flüchtlingen auf dem Balkan bewirkt, eine chaotische, nahezu unkontrollierbare Situation. Doch durch die zeitweilige Aufhebung jeglicher Grenzkontrollen löste Berlin eine neue Flut von verzweifelten Flüchtlingen aus, die nun (miss)verstanden, dass sie von Deutschland eingeladen worden seien. All dies zeigt die Realität eines drohenden Verlustes der Kontrolle über die Situation. So radikal, wie Merkel sich selbst mit „ihrem“ Projekt identifiziert, würden sich die Erfolgsaussichten ihrer vorgeschlagenen „europäischen Lösung“ beträchtlich verschlechtern, falls der/die neue KanzlerIn nach den Wahlen von 2017 nicht die alte ist. Einer der Bausteine der Wiederwahlkampagne Merkels scheint wirtschaftlicher Natur zu sein. Angesichts der gegenwärtigen Verlangsamung der Wachstumsraten in China, aber auch in den USA stünde der exportorientierten deutschen Wirtschaft normalerweise eine Rezession bevor. Eine Steigerung der Staatsausgaben und des Wohnungsbaus „für die Flüchtlinge“ könnte solch ein Szenario im Vorfeld der Wahlen verhindern.

Anders als in den 1970er Jahren (als in vielen führenden westlichen Ländern linksbürgerliche Parteien an die Regierung kamen: „die Linke an der Macht“) oder in 1980er Jahren („die Linke in der Opposition“) wird die aktuelle Regierungsstrategie und der „Wahlzirkus“ in Deutschland viel weniger von einer unmittelbaren Bedrohung durch den Klassenkampf und weitaus mehr als in der Vergangenheit von den Problemen der Immigration und des Populismus bestimmt.

Die Flüchtlinge und die Arbeiterklasse

Die Solidarität mit den Flüchtlingen, die von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung in Deutschland zum Ausdruck gebracht worden war, war, obgleich vom Staat bis zum Geht-nicht-mehr ausgebeutet, um das Bild eines humanen, weltoffenen deutschen Nationalismus zu promoten, spontan und zu Beginn „selbstorganisiert“. Und noch heute, mehr als ein halbes Jahr nach dem Beginn der aktuellen Krise, würde das staatliche Management des Zustroms ohne die Initiativen der Bevölkerung kollabieren. Es gibt nichts Proletarisches an diesen Aktivitäten. Im Gegenteil, diese Menschen verrichten teilweise die Arbeit, die der Staat nicht gewillt oder unfähig ist zu tun, oftmals ohne jegliche Bezahlung. Für die Arbeiterklasse besteht das zentrale Problem darin, dass diese Solidarität gegenwärtig nicht auf dem Klassenterrain stattfinden kann. Für den Augenblick nimmt sie einen sehr unpolitischen Charakter an, losgelöst von jeglicher ausdrücklichen Opposition gegen den imperialistischen Krieg in Syrien zum Beispiel. Wie die „NGOs“ und all die verschiedenen „kritischen“ Organisationen der (in Wahrheit nicht existenten) „Bürgergesellschaft“ sind diese Strukturen mehr oder weniger direkt in Anhängsel des totalitären Staates umgewandelt worden.

Doch gleichzeitig wäre es falsch, diese Solidarität nur als karitativ abzuqualifizieren. Dies umso mehr, als sich diese Solidarität gegenüber einem Zustrom potenzieller Rivalen auf dem Arbeits- und anderen Märkten äußert. In Abwesenheit vorkapitalistischer Traditionen der Gastfreundschaft in den alten kapitalistischen Ländern ist die assoziierte Arbeit und Solidarität des Proletariats die hauptsächliche soziale, materielle Basis solcher allgemein gefühlten Solidarität. Ihr ganzer Geist entspricht nicht der „Hilfe für die Armen“, sondern der Kooperation und kollektiven Kreativität. Wenn die Klasse langfristig ihre Identität, ihr Bewusstsein und ihr Erbe zu entdecken beginnt, kann diese gegenwärtige Erfahrung der Solidarität in die Erfahrung der Klasse und in ihre Suche nach einer revolutionären Perspektive integriert werden. Unter den ArbeiterInnen in Deutschland heute drückt der Impuls der Solidarität zumindest potenziell gewissermaßen den Zündwürfel eines Klassengedächtnisses und -bewusstseins aus, daran erinnernd, dass auch in Europa Krieg und Vertreibung keine sehr weit zurückliegende Erfahrung sind und dass die De-Solidarisierung in der Zeit der Konterrevolution (vor, während und nach dem II. Weltkrieg) sich heute nicht wiederholen darf. Das Gegenteil zum Populismus im Kapitalismus ist nicht die Demokratie und der Humanismus, sondern die assoziierte Arbeit – das Hauptgegengewicht zur Fremdenfeindlichkeit und zum Pogromismus. Der Widerstand gegen Ausschluss und Sündenbocksuche war stets ein permanentes und wichtiges Moment im täglichen Klassenkampf des Proletariats. Es kann heute der Beginn einer sehr unklaren und tastenden Erkenntnis sein, dass die Kriege und andere Katastrophen, die Menschen zur Flucht zwingen, Teil eines gewaltsamen Trennungsprozesses sind, durch den das Proletariat sich permanent konstituiert. Und dass die Weigerung jener, die alles verloren haben, gehorsam dort zu bleiben, wo die herrschende Klasse sie hin wünscht, ihre Weigerung, das Streben nach einem besseren Leben aufzugeben, konstituierende Momente des proletarischen Kampfgeistes sind. Der Kampf für ihre Mobilität, gegen das Regime der kapitalistischen Disziplinierung ist einer der ältesten Momente im Leben der „freien“ Lohnarbeit.

„Globalisierung“ und das Erfordernis eines internationalen Kampfes

Im Kapitel über die Bilanz des Klassenkampfes argumentierten wir, dass die Streiks in Deutschland 2015 eher ein Ausdruck der momentanen nationalen Wirtschaftslage waren denn ein Anzeichen eines breiteren europäischen oder internationalen Kampfgeistes. Es bleibt daher richtig, dass es zunehmend schwieriger wird für die Arbeiterklasse, ihre unmittelbaren Interessen durch Streikaktionen und andere Kampfmittel zu vertreten. Dies bedeutet nicht, dass ökonomische Kämpfe nicht mehr möglich sind oder ihre Relevanz verloren haben (wie die sog. Essener Tendenz der KAPD irrtümlicherweise in den 1920er Jahren meinte). Im Gegenteil, es bedeutet, dass die ökonomische Dimension des Klassenkampfes heute eine weitaus direktere politische Dimension als in der Vergangenheit enthält – eine Dimension, die äußerst schwierig einzuschätzen ist. In den letzten Jahren haben Kongressresolutionen der IKS richtigerweise einen der objektiven Faktoren ausgemacht, die die Entwicklung der Kämpfe für die Verteidigung der unmittelbaren, ökonomischen Interessen hemmen: das einschüchternde Gewicht der Massenarbeitslosigkeit. Doch dies ist nicht die einzige, nicht einmal die wichtigste ökonomische Ursache dieser Blockierung. Eine grundlegendere Ursache liegt in dem, was „Globalisierung“ genannt wird – die gegenwärtige Phase des totalitären Staatskapitalismus -, und im Rahmen begründet, den sie für die Weltwirtschaft vorgibt.

Die „Globalisierung“ des Weltkapitalismus ist an sich kein neues Phänomen. Wir finden sie an der Schwelle des ersten hoch mechanisierten Sektors der kapitalistischen Produktion: der Textilindustrie in Großbritannien, des Zentrums in einem Dreieckshandel, der mit dem Raub von Sklaven in Afrika und ihrer Arbeit in den Baumwollplantagen in den Vereinigten Staaten verknüpft war. Was den Welthandel angeht, wurde das Ausmaß der vor dem I. Weltkrieg erreichten „Globalisierung“ erst Ende des 20. Jahrhunderts wieder erreicht. Jedoch hatte diese „Globalisierung“ in den letzten drei Jahrzehnten vor allem auf zwei Ebenen eine neue Qualität erreicht: in der Produktion und in der Finanzwelt. Die Peripherie des Weltkapitalismus als Lieferant billiger Arbeitskraft, landwirtschaftlicher Plantagenfrüchte und von Rohstoffen – diese Muster ist zwar nicht ersetzt worden, aber sicherlich durch das globale Produktionsnetz erweitert worden, dessen Zentrum immer noch in den dominanten Ländern liegt, während die industriellen und Dienstleistungsaktivitäten jedoch überall auf der Welt stattfinden. In diesem „ordo-liberalen“ Korsett kann sich, zumindest tendenziell, kein nationales Kapital, keine Industrie, kein Bereich und Geschäft aus dieser internationalen Konkurrenz befreien. Es wird nahezu nichts irgendwo auf der Welt produziert, das nicht auch anderswo produziert werden könnte. Jeder Nationalstaat, jede Region, jede Stadt, jeder Stadtteil, jeder Wirtschaftssektor ist dazu verurteilt, mit all den anderen um die globalen Investitionsfonds zu konkurrieren. Die ganze Welt ist in den Bann gezogen, so als sei sie dazu verdammt, auf die Erlösung durch die Ankunft des Kapitals in der Form von Investitionen zu warten. Diese Phase des Kapitalismus ist keinesfalls ein spontanes Produkt, sondern eine Staatsordnung, die vor allem von den führenden, alten bürgerlichen Nationalstaaten eingeführt und durchgesetzt worden ist. Eines der Ziele dieser Wirtschaftspolitik ist es, die Arbeiterklasse der gesamten Welt in ein monströses disziplinarisches System einzusperren.

Auf dieser Ebene können wir vielleicht die Geschichte der objektiven Bedingungen des Klassenkampfes sehr schematisch in drei Phasen unterteilen. Im Aufstieg des Kapitalismus sahen sich die ArbeiterInnen an erster Stelle einzelnen Kapitalisten gegenüber und konnten sich somit mehr oder weniger wirksam in Gewerkschaften organisieren. Mit der Konzentration von Kapital in den Händen großer Unternehmen und des Staates verloren die etablierten Kampfmittel ihre Wirksamkeit. Jeder Streik sah sich direkt mit der gesamten Bourgeoisie, zentralisiert im Staat, konfrontiert. Es dauerte eine Zeitlang, bis das Proletariat eine wirksame Antwort auf diese neue Situation fand: den Massenstreik des gesamten Proletariats auf der Ebene eines ganzen Landes (Russland 1905), der in sich bereits das Potenzial der Machtübernahme und der Verbreitung auf andere Länder enthielt (die erste revolutionäre Welle, die im Roten Oktober ihren Ausgang nahm). Mit der heutigen „Globalisierung“ erreicht eine objektive, historische Tendenz des dekadenten Kapitalismus ihre volle Entwicklung: Jeder Streik, jeder Akt des „wirtschaftlichen“ Widerstandes durch ArbeiterInnen irgendwo auf der Welt sieht sich sofort mit dem gesamten Weltkapital konfrontiert, das jederzeit bereit ist, Produktion und Investitionen zurückzuziehen und irgendwo anders zu produzieren. Zurzeit erweist sich das internationale Proletariat als ziemlich außerstande, eine adäquate Antwort oder auch nur eine Ahnung davon zu finden. Wir wissen nicht, ob es ihm letztendlich gelingen wird. Doch es scheint klar zu sein, dass die Entwicklung in diese Richtung viel länger dauern wird als der Übergang vom Gewerkschaftswesen zum Massenstreik. Denn einerseits muss die Lage des Proletariats in den alten, zentralen Ländern des Kapitalismus – in jenen, die wie Deutschland an der Spitze der ökonomischen Hierarchie stehen – weitaus dramatischer sein, als dies heute der Fall ist. Andererseits ist der Schritt, den die objektive Realität erfordert - ein bewusster internationaler Klassenkampf, der „internationale Massenstreik“ – weitaus anspruchsvoller, als der Massenstreik in einem Land. Denn er erfordert die Infragestellung nicht nur des Korporatismus und Partikularismus, sondern auch der wichtigsten, oftmals Jahrhunderte oder Jahrtausende alten Spaltungen der Klassengesellschaft wie die nach Nationalität, ethnischer Kultur, Rasse, Religion, Geschlecht, etc. Ein weitaus profunderer und politischerer Schritt. Wenn wir über diese Frage nachdenken, sollten wir berücksichtigen, dass die Faktoren, die die Entwicklung einer revolutionären Perspektive durch das Proletariat, nicht nur in der Vergangenheit liegen, sondern auch in der Gegenwart, dass sie nicht nur politische Ursachen haben, sondern auch „ökonomische“ (korrekter: wirtschaftspolitische).

Präsentation über die nationale Lage in Deutschland (März 2016)

Zurzeit der „Finanzkrise“ 2008 gab es eine Tendenz in der IKS zu einer Art von „Katastrophismus“, eine der Manifestationen der von einigen Genossen vorgestellten Idee, dass der Zusammenbruch der zentralen Ländern des Kapitalismus wie Deutschland nun auf der Tagesordnung stünde. Einer der Gründe, die relative wirtschaftliche Stärke und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands zu einer Achse dieses Berichts zu machen, ist die Hoffnung, dazu beizutragen, solche Schwächen zu überwinden. Doch wir wollen auch den Geist der Nuancierung gegen das schematische Denken stärken. Weil der Kapitalismus selbst eine abstrakte Funktionsweise (gestützt auf dem Austausch von Äquivalenten) hat, gibt es die verständliche, aber ungesunde Tendenz, die ökonomischen Fragen zu abstrakt zu betrachten, indem man zum Beispiel die relative wirtschaftliche Stärke der nationalen Kapitale nur in sehr allgemeinen Begriffen beurteilt (wie dem Grad der organischen Zusammensetzung des Kapitals, der arbeitsintensiven Produktion, der Mechanisierung, wie im Bericht erwähnt) und vergisst, dass der Kapitalismus ein soziales Verhältnis zwischen menschlichen Wesen, vor allem zwischen sozialen Klassen ist.

Zur Klarstellung: Als im Bericht darauf hingewiesen wurde, dass die US-Bourgeoisie juristische Mittel (Geldstrafen gegen Volkswagen und andere) als ein Mittel einsetzt, um der deutschen Konkurrenzfähigkeit zu begegnen, sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Vereinigten Staaten keine eigene Wirtschaftskraft besitzen, die sie in die Waagschale werfen könnten. Zum Beispiel liegen die USA zurzeit vor Deutschland in der Entwicklung von elektrisch angetriebenen und selbstfahrenden Autos, und eine der Vermutungen, die in den „sozialen Medien“ über den sog. Volkswagenskandal die Runde machen (dass es Kreise der deutschen Bourgeoisie waren, die die Information über die Manipulation der Messverfahren durch den Konzern an die US-amerikanischen Behörden durchsickern ließen, um so die deutsche Autoindustrie zu zwingen, auf dieser Ebene aufzuschließen) ist nicht bar jeglicher Plausibilität.

Über die Weise, wie die Flüchtlingskrise für imperialistische Zwecke benutzt wird, ist es notwendig, den Bericht auf den neuesten Stand zu bringen. Gegenwärtig machen sowohl die Türkei als auch Russland massiven Gebrauch von der Notlage der Flüchtlinge, um das deutsche Kapital zu erpressen und das, was von Europas Zusammenhalt übriggeblieben ist, zu schwächen. Wie Ankara die Flüchtlinge westwärts hat ziehen lassen, ist im Bericht bereits erwähnt. Der Preis für die türkische Kooperation in dieser Frage wird sich nicht auf einige Milliarden Euro beschränken. Was Russland anbelangt, so ist es kürzlich von einer Reihe von NGOs und Flüchtlingshilfeorganisationen beschuldigt worden, absichtlich Krankenhäuser und Wohnviertel in syrischen Städten zu bombardieren, um neue Flüchtlingsströme auszulösen. Allgemeiner gesagt, hat die russische Propaganda die Flüchtlingsfrage systematisch benutzt, um die Flammen des politischen Populismus in Europa weiter anzufachen.

Was die Türkei anbetrifft, so fordert sie nicht nur Geld, sondern auch die Beschleunigung des visafreien Zugangs ihrer Bürger nach Europa und der Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur EU. Von Deutschland fordert sie auch die Einstellung der militärischen Hilfe für die kurdischen Einheiten im Irak und in Syrien.

Für Bundeskanzlerin Merkel, die prominenteste Exponentin einer engeren Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingsfrage und eine mehr oder weniger entschiedenen „Atlantikerin“ (für sie ist die Nähe zu den USA das kleinere Übel, verglichen mit der Nähe zu Moskau), ist dies weniger ein Problem als für andere Mitglieder ihrer eigenen Partei. Wie der Bericht bereits erwähnte, hatte Putin die Modernisierung der russischen Wirtschaft in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Industrie geplant, insbesondere mit ihrem Maschinenbausektor, der seit Ende des II. Weltkrieges hauptsächlich im Süden Deutschlands angesiedelt ist (einschließlich Siemens, einst in Berlin gegründet und nun in München, das anscheinend dazu bestimmt ist, eine zentrale Rolle in dieser „russischen Operation“ zu spielen). In diesem Kontext können wir die Verbindung zwischen der anhaltenden Kritik der bayrischen CSU an Merkels „europäischer“ (und „türkischer“) „Lösung“ der Flüchtlingskrise und dem spektakulären Besuch des bayrischen Parteiführers in Moskau zum Höhepunkt dieser Kontroverse nachvollziehen.[2] Diese Fraktion zieht es vor, mit Moskau statt mit Ankara zu kollaborieren. Paradoxerweise kommt die größte Unterstützung der Kanzlerin in dieser Frage nicht aus den Reihen ihrer Partei, sondern von ihrem Koalitionspartner, der SPD, und der parlamentarischen Opposition. Dies lässt sich zum Teil mit einer Arbeitsteilung innerhalb der regierenden Union erklären, bei der ihr rechter Flügel (im Augenblick nicht sehr erfolgreich) versucht, ihre „konservativen“ WählerInnen davon abzuhalten, abtrünnig zu werden und zur AfD überzulaufen. Doch es gibt auch regionale Spannungen (nach dem II. Weltkrieg war das „kulturelle“ Leben der deutschen Bourgeoisie, obwohl die Regierung in Bonn saß und das Finanzkapital in Frankfurt am Main, hauptsächlich in München konzentriert; erst in jüngster Zeit beginnt es sich wieder in Berlin anzusiedeln). In Bezug auf die jüngsten Flüchtlingswellen gibt es nicht nur Gegensätze, sondern auch Zusammenarbeit und Arbeitsteilung, beispielsweise zwischen der deutschen und österreichischen Bourgeoisie. Indem Österreich den Anfang bei der „Schließung der Balkan-Route“ machte, macht es Berlin weniger abhängig von der Türkei, um die Flüchtlinge auszuhalten, und stärkt damit teilweise Berlins Verhandlungsposition gegenüber Ankara.[3]

Wenn ein wichtiger Teil der Geschäftswelt Merkels „Willkommenspolitik“ gegenüber den Flüchtlingen im letzten Sommer unterstützte, so war dies bei den staatlichen Sicherheitsorganen alles andere als der Fall; sie waren angesichts des mehr oder weniger unkontrollierten und unregistrierten Zustroms ins Land absolut entsetzt. Sie haben das ihr noch immer nicht verziehen. Die französische und andere europäische Regierungen waren nicht weniger skeptisch. Sie sind alle davon überzeugt, dass imperialistische Opponenten aus der islamischen Welt die Flüchtlingskrise benutzen, um Dschihadisten nach Deutschland hineinzuschmuggeln, von wo aus sie nach Frankreich, Belgien, etc. ziehen können. Im Grunde bestätigten die kriminellen Übergriffe in Köln in der Silvesternacht bereits, dass selbst kriminelle Banden das Asylverfahren nutzen, um ihre Mitglieder in den großen europäischen Städten zu positionieren. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass eines der hauptsächlichen Resultate der jüngsten Entwicklungen eine weitere Ausdehnung in Umfang und Bedeutung von Polizei und Geheimdiensten in Europa sein wird.[4]

Der Bericht zog eine Verbindung zwischen Wirtschaftskrise, Immigration und politischem Populismus. Wenn wir die wachsende Rolle des Antisemitismus hinzufügen, dann fallen die Parallelen zu den 1930er Jahren besonders ins Auge. Doch es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, auch einen Blick auf die historischen Unterschiede zu werfen. Die Tatsache, dass es zurzeit keinen überzeugenden Nachweis gibt, dass die zentralen Sektionen des Proletariats geschlagen, desorientiert und demoralisiert sind wie 80 Jahre zuvor, ist der wichtigste, aber nicht der einzige Unterschied. Die Wirtschaftspolitik, die von der Weltbourgeoisie heute bevorzugt wird, ist die „Globalisierung“, nicht die Autarkie und auch nicht der von den „moderaten“ Populisten befürwortete Protektionismus. Dies berührt einen anderen Aspekt des zeitgenössischen Populismus, der im Bericht noch nicht richtig entwickelt war: seine Opposition gegen die Europäische Union. Letztere ist auf ökonomischer Ebene eines der Instrumente der heutigen „Globalisierung“. In Europa ist sie zu ihrem Hauptsymbol geworden. Teil des Hintergrundes der Bildung von populistischen Regierungen in Mitteleuropa in jüngster Zeit sind zum Beispiel die Verhandlungen über das TTIP-Abkommen zwischen Nordamerika und Europa, das der Großindustrie und dem Agrar-Business Vorteile verschafft, auf Kosten von Kleinbauern und -produzenten in Gebieten, wie den so genannten Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei). Was die Situation des Proletariats anbetrifft, so wird am Ende des Berichts die Mahnung ausgedrückt, dass wir nicht nur auf die Ursachen schauen dürfen, die aus der Vergangenheit herrühren (wie die Konterrevolution, die der Niederlage der Russischen und Weltrevolution Ende des I. Weltkrieges folgte), um die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse zu erklären, nach 1968 ihren Kampf politisch in eine revolutionäre Richtung zu lenken. All diese Faktoren aus der Vergangenheit, die zutiefst richtige Erklärungen sind, verhinderten dennoch weder Mai ’68 noch den Heißen Herbst 1969 in Italien. Auch sollten wir nicht davon ausgehen, dass das revolutionäre Potenzial, das sich damals auf embryonale Weise artikulierte, von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Erklärungen, die sich einseitig auf die Vergangenheit berufen, führen zu einer Art von deterministischen Fatalismus. Auf der ökonomischen Ebene war die sog. Globalisierung ein wirtschaftliches und politisches Instrument des Staatskapitalismus, das die Bourgeoisie entdeckte, um ihr System zu stabilisieren und der proletarischen Bedrohung zu begegnen, ein Instrument, auf das das Proletariat umgekehrt eine Antwort finden muss. Daher sind die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse in den vergangenen 30 Jahren bei der Entwicklung einer revolutionären Alternative aufs Engste mit der polit-ökonomischen Strategie der Bourgeoisie verknüpft, einschließlich ihrer Fähigkeit, einen ökonomischen Kladderadatsch für die Arbeiterklasse – und somit die Gefahr eines Klassenkrieges – in den alten Zentren des Weltkapitalismus hinauszuschieben.

[1] Laut Rosa Luxemburg zentrieren sich außerkapitalistische Zonen um die noch nicht auf der Ausbeutung von Lohnarbeit basierenden Produktion, ob als Subsistenzwirtschaft oder als Produktion für den Markt durch individuelle Produzenten. Die Kaufkraft solcher Produzenten hilft die Kapitalakkumulation in Gang zu setzen. Der Kapitalismus mobilisiert und beutet die Arbeitskraft und die „Rohstoffe“ (d.h. den natürlichen Reichtum) aus, die aus diesen Zonen kommen.

[2] Die Diskussion auf der Konferenz hob richtigerweise hervor, dass die Formulierung im Bericht, wonach die Geschäftswelt in Deutschland die Flüchtlingspolitik von Merkel unterstützt, als sei sie ein einziger Block, sehr schematisch und als solche nicht richtig ist. Selbst der Bedarf an frischer Arbeitskraft für die Arbeitgeber variiert stark von einem Sektor zum anderen.

[3] Obwohl diese Annäherung der Interessen zwischen Wien und Berlin, wie in der Diskussion hervorgehoben wurde, nur vorübergehend und zerbrechlich ist.

[4] Diese dschihadistische Infiltration und die zunehmende Wahrscheinlichkeit terroristischer Attacken ist eine Realität. Aber es ist auch eine Realität, dass die herrschende Klasse diese und andere Mittel benutzt, um eine Atmosphäre von permanenter Angst, Panik und von Misstrauen zu schaffen, ein Gegengift gegen kritische Reflexion und Solidarität innerhalb der arbeitenden Bevölkerung.

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Nationale Lage in Deutschland

Die "Neue Türkei": neue Probleme für das Land, den Nahen Osten und darüber hinaus

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Der Putschversuch vom 15./16. Juli war Präsident Erdogans Worten zufolge "ein Geschenk Gottes". Er betonte, dass die "Säuberungen" weitergehen werden und der "Virus ausgemerzt" werden solle, zusammen mit den Terroristen, wo immer sie sich aufhielten. Tatsächlich wurde anhand von Listen bereits zuvor erstellter Namen eine quasi-stalinistische Säuberungsaktion brachial abgearbeitet; der Krieg gegen die Kurden im Südosten der Türkei nahm umgehend an Heftigkeit zu.

Putsch und Gegenputsch

Ohne über die Rolle und Kenntnisse ausländischer Geheimdienste im bzw. über den Putsch zu spekulieren, scheint es offenkundig zu sein, dass einige ranghohe Militärs der türkischen Armee, die, als der Putsch seinen Lauf nahm, vom BBC als "Gewährsmänner des türkischen Säkularismus" bezeichnet wurden, im Putschversuch verwickelt waren.

Dieser Putsch gegen Erdogan und die AKP war aller Wahrscheinlichkeit nach breiter und tiefer reichend, um allein als das Produkt der "gülenistischen" Bewegung [1]durchzugehen, wenngleich die Allianzen und Verknüpfungen zwischen den mannigfaltigen undurchsichtigen Fraktionen und Strömungen im türkischen Staat in ihrer Kompexität oftmals wahrhaft byzantinisch sind. So sind beispielsweise die Gülenisten lange beschuldigt worden, in der Verschwörung des "tiefen Staates" - Ergenekon - verwickelt gewesen zu sein, der angeblich in den 1990ern als Garant der säkularen Traditionen erichtet wurde; traditionell sind die Hauptgegner von Erdogans "moderater" islamistischen Partei, die AKP, jedoch nicht die gülenistischen, sondern die kemalistischen Fraktionen[2] im Militär und in der Gesellschaft insgesamt. Doch dieser Putschversuch war nicht einfach eine neue Konfrontation zwischen der islamistischen AKP und den säkularen Kemalisten - tatsächlich scharte sich nach dem Putsch die größte kemalistische Partei, die CHP, in einer rührseligen Demonstration der nationalen Einheit um die Regierung. Auch komplexe religiöse Rivalitäten spielten mit: zwischen den Sunniten und den andersgläubigen Alewiten, zwischen Erdogans Version des sunnitischen Islams und der Version, die von den Gülenisten verkündet wird. Doch einstweilen haben Erdogan und die AKP mit dem dreimonatigen Ausnahmezustand, der es ihnen gestattet, per Dekret und in einer Atmosphäre der Furcht und erhöhter staatlicher Beobachtung zu herrschen, ihren totalitären Zugriff auf den türkischen Staat verstärkt.

Bislang sind laut CNN (9.8.16) 22.000 Menschen festgenommen und weitere 16.000 unter spezifischen Vorwürfen arrestiert worden, einschließlich Tausender Militärs, darunter rund ein Drittel der türkischen Generäle und Admiräle. Hunderte von Journalisten sind verhaftet, interniert oder gekündigt worden, ebenso viele Tausende von Beamten; vielen sind Auslandsreisen untersagt worden. Insgesamt sind 68.000 Menschen gefeuert oder suspendiert, 2000 Institutionen geschlossen worden.

Auch einige Leute aus Erdogans innerem Kreis sind inhaftiert worden; die Präsidentengarde ist aufgelöst worden. Auf Regierungsseite sind rund 250 Soldaten und Zivilisten getötet worden; auf Seiten der Putschisten ist, ob wissentlich oder unwissentlich, eine unbekannte Zahl von Menschen umgekommen. Dutzende von Kampfflugzeugen und Helikoptern, Tausende gepanzerte Fahrzeuge und drei Schiffe wurden für den Putschversuch eingesetzt. Laut einigen Berichten entkam Erdogan, nach Warnungen der russischen Aufklärung, nur knapp seinen Häschern.

Die innere Destabilisierung der Türkei

Einige Jahre lang war die Türkei eine stabile, wirtschaftlich aufwärtsstrebende Oase inmitten einer Wüste von Problemen im Nahen Osten  und Vorbild eines moderaten, demokratischen Islams. Und in der Tat hat die Türkei solidere historische Wurzeln als viele ihrer kriegsgeschundenen Nachbarn, wie Syrien oder der Irak. Doch es bleibt eine Tatsache, dass die Türkei in Bezug auf ethnische und religiöse Spaltungen auch vieles gemeinsam hat mit Syrien und dem Irak.

Die Stärke von Erdogans AKP war ihre Förderung der Wirtschaft gewesen, durch die der Lebensstandard für die meisten Menschen auf dem Lande und für die städtischen Armen angehoben wurde. Es wurden Jobs geschaffen, indem riesige Anleihen für Staatsinvestitionen und Staatsprojekte auf dem Kapitalmarkt aufgenommen wurden. Gleichzeitig hat Erdogan vom Aufstieg des Islams profitiert und eine moderate Form des Fundamentalismus verfolgt, um das Image der "Neuen Türkei" aufzuwerten und seine Macht als ein potenzieller Führer der sunnitischen Welt zu demonstrieren. Hinter dem Konflikt zwischen der islamistischen AKP und den säkularen Kemalisten in der Armee und in breiteren Gesellschaftsschichten, d.h. der Konfrontation zwischen Islamismus und säkularistischen Nationalismus, steckt ein weiteres religiöses Element. Das frühere säkulare, kemalistische System wurde verdächtigt, indirekt die schiitisch-alewitische Minderheit zuungunsten der sunnitischen Mehrheit zu begünstigen, da die alewitische Form des Islams als für die moderne Welt besser geeignet betrachtet wurde. In diesem Punkt gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem früheren kemalistischen System in der Türkei und dem Assad-Regime, das über eine sunnitische Mehrheit herrscht, während es selbst größtenteils aus der schiitischen Glaubensrichtung der Alewiten zusammengesetzt ist.[3] Der gegenwärtige Krieg in Syrien zwischen Alewiten und Sunniten wird die religiösen und kulturellen Rivalitäten zwischen vergleichbaren Elementen in der Türkei beeinflussen und verschärfen. So gab es nach dem Putschversuch Berichte über pogromistische Angriffe gegen Wohnungen und Geschäfte von Alewiten.

Die Türkei von heute ist nicht dasselbe Land, das es zurzeit des Militärputsches von 1980 war, der seine Rechtfertigung aus dem wachsenden Chaos zog, das von den Konflikten zwischen rechten und linken politischen Fraktionen angerichtet wurde, oder das es vor nur zehn Jahren war, als die AKP an die Macht gelangt war. Infolge des Wirtschaftsbooms, der nun anscheinend zu Ende geht, entstand sowohl ein modernes Proletariat als auch eine neue Elite von Spezialisten und Intellektuellen in den großen Städten. Ein großer Teil dieser Elemente fühlt sich absolut nicht wohl angesichts der "Islamisierung". So ist eine gefährliche Situation entstanden, in der der Putsch der alten Elite (in dem Maße, wie sie sie daran teilgenommen hat) Hass und Rachegelüste unter den AKP-Anhängern provoziert hat. Andererseits muss Erdogan die Warnung ernstnehmen, die dieser Putschversuch darstellt. Wenn er mit seinem "Gegen-Putsch" zu weit geht, kann er im schlimmsten Fall einen Bürgerkrieg oder einen endlosen Konflikt in Gestalt von bewaffneten Revolten oder neuen Formen des Terrorismus provozieren - selbst wenn der Widerstand dieser Kräfte im Augenblick gebrochen ist.

Zu einer Zeit, wo das Land von einem Wirtschaftswunder zu einem von Morgan Stanleys "Fragile Five" geworden ist, wo seine Produktivität und sein Wachstum bergab gehen, während Arbeitskosten, Inflation und Schuldenmacherei im Steigen begriffen sind, könnten die Folgen einer weiteren wirtschaftlichen Instabilität dramatisch sein - Zusammenbruch des Tourismus, Emigration der neuen Generation ausgebildeter ArbeiterInnen, etc.

Hinzu kommt, dass die türkische Bourgeoisie eine lange Tradition in der "Exklusion" hat; auf ihr sind die Fundamente der modernen Türkei gegossen worden: der Völkermord an den Armeniern, die Massaker an den Griechen und eine lang andauernde Gegnerschaft gegenüber jeglicher Möglichkeit eines kurdischen Staates. Die Ansicht der AKP, dass alle Opponenten Feinde sind, die unterdrückt werden müssen, hat eine lange Vorgeschichte in der Türkei.

Weitere Destabilisierung im ganzen Nahen Osten

Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 ist die Türkei von den dadurch ausgelösten zentrifugalen Tendenzen heftig tangiert worden. Die Schwächung des US- und russischen Imperialismus hat es der Türkei erlaubt, ihre eigenen Ambitionen geltend zu machen und als regionaler Führer der sunnitischen Regimes zu posieren. Das Erdogan-Regime hat sich mit Israel entzweit, stärkte dagegen seine Bande zur Hamas und nannte die al Sisi-Regierung in Ägypten, die die Muslim-Bruderschaft gestürzt hatte, "illegitim". Seine Beziehungen zu Russland, die sich nach dem Putsch und Erdogans  Treffen mit Putin in St. Petersburg am 9. August wieder verbessert haben, sind kompliziert und schwankend. In ihrer gegenwärtigen Lage kann die Türkei den Westen mit ihren Verbindungen zu Russland, China (und den Iran) erpressen und ihre eigene Karte im Nahen Osten ausspielen.

Der größte Albtraum für die türkische Bourgeoisie wäre die Etablierung eines kurdischen Staates. Der Westen hat ein Dilemma hier: In seinem Krieg gegen den IS verlässt er sich auf die Kurden als Kanonenfutter, versorgt sie mit Waffen, Luftsicherung und "Beratern". Solche Entwicklungen können den kurdischen Nationalismus und seine Ambitionen für einen "unabhängigen" Staat nur befeuern, auch wenn die kurdischen Nationalisten selbst in eine Reihe von unterschiedlichen Fraktionen aufgespalten sind. Die Interessenskollision zwischen den USA, Deutschland und Großbritannien auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen in der Kurdenfrage ist schroff. Erdogan stand vor dem Krieg dem Assad-Regime sehr nahe, und während des Krieges haben beide die IS-Kräfte zu ihrem eigenen vermeintlichen Vorteil benutzt. Assad hat die kurdische PKK aus deselben Gründen benutzt. Und jetzt, nach fünf Kriegsjahren und der russischen (und anderen) Intervention zu Gunsten Assads, gibt es Anzeichen dafür, dass Ankara in Betracht zieht, Assad an der Macht zu lassen und gleichzeitig eine Art Deal mit ihm auszuhandeln. Weder Assad noch die Türkei haben irgendein Interesse an einem kurdischen Staat oder an jeglicher Art einer autonomen kurdischen Region entlang der Grenze. Seit rund einem Jahr werden zwischen Assads alewitischen Repräsentanten in Damaskus und Repräsentanten der türkischen Heimatpartei[4] zusammen mit Elementen des türkischen Geheimdienstes mit Blick darauf u.a. Gespräche darüber geführt, die militärische Unterstützung von Assads Feinden durch die Türkei zu stoppen. Diese türkischen "Gesprächspartner" scheinen unberührt von der Atmosphäre nach dem Putschversuch zu sein; dies deutet darauf hin, dass die Gespäche fortgeführt werden. Wenn dies der Fall ist, so wird dies auf Kosten des Westens und seiner kurdischen "Verbündeten"[5] geschehen.

Wir müssen ebenfalls die Bedeutung der Tatsache berücksichtigen, dass Erdogan, der Führer eines NATO-Landes, die Regierungen anderer NATO-Länder - insbesondere der USA -beschuldigt hat, den Putsch unterstützt zu haben, während er gleichzeitig Russland dafür preist, dass es ihn vor den Plänen eines Staatsstreichs gewarnt hatte. Es gibt auch ein dickes Fragezeichen hinter der Verfügbarkeit der Militärbasis Incirlik: Bis jetzt wird Incirlik als NATO-Basis betrachtet, doch Erdogan hat geäußert, dass er sich nicht den Russen widersetzen werde, wenn sie Incirlik für ihre Operationen gegen den IS benutzen wollen. Diese Entwicklung, dieses Spiel des Schacherns und Erpressens ist ein weiteres Anzeichen für die wachsende Fragilität imperialistischer Bündnisse in dieser Region.

Die Flüchtlinge: "... Benzin direkt am Feuer"

Sir Richard Dearlove, Ex-Chef des MI6, verglich den EU-Deal mit der Türkei über die Flüchtlinge damit, "Benzin direkt am Feuer zu lagern" (BELFAST TELEGRAPH, 15.5.16). Die Türkei wird diese Millionen von "Aktivposten" als ein weiteres Element zur Erpressung der EU (die Erdogan einen "Christenklub" nennt) nutzen. Erdogan hat bereits gedroht, den Deal zu canceln, was die Europäer umgehend dazu zwang, ihn zu beschwichtigen. Die gegenwärtige Säuberungswelle und die Jagd auf Oppositionelle bedeuten, dass es zusätzlich zu den mehr als zwei Millionen Syrern und anderen Flüchtlingen immer mehr Türken geben wird, die selbst aus dem Land fliehen und ihren Beitrag zur allgemeinen Flüchtlingskrise leisten werden.

Langfristige Ungewissheit

In einem System, das sich in einem sich beschleunigenden Niedergang befindet, ist die Tendenz zu Instabilität und Chaos auf historischer Ebene vorherrschend. Doch dies bedeutet nicht, dass die herrschende Klasse angesichts dessen hilflos ist und dass es keine Gegentendenzen gibt. Wir haben dies am Beispiel Großbritanniens nach dem katastrophalen Ergebnis des EU-Referendums gesehen: Die herrschende Klasse reagierte sehr schnell auf die Gefahr ernsthafter Brüche in ihren Reihen, reorganisierte clever ihre Regierungsmannschaft, um eine vereinte Antwort auf die Brexit-Krise zu präsentieren. Und wir können ähnliche Tendenzen in der Türkei wahrnehmen. Obwohl Kemalisten und Gülenisten in dem Putsch kooperierten, wurden nach seinem Scheitern allein die Gülenisten ausgesondert. Nach dem Putsch hat Erdogan mehrfach das Vermächtnis von Atatürk betont und die Karte des türkischen Nationalismus statt des Islamismus gespielt. Dies könnte einen ernsthaften Versuch bedeuten, die Kemalisten wie auch Alewiten und andere bürgerliche Fraktionen für die Option eines autokratischen Führers zu gewinnen, der die Ansprüche der türkischen Nation durchdrückt (ein wenig wie das Modell Putin in Russland).

Die gegenwärtige Verherrlichung Erdogans in den ausgiebig publizierten Straßendemonstrationen könnten Bestandteil dieser Strategie sein, eine neue Einheit innerhalb der herrschenden Klasse der Türkei zu schmieden. Indes dürfen die offiziellen Bilder, die eine Unterstützung Erdogans und der AKP durch die Massen zeigen, nicht für bare Münze genommen werden. Im Augenblick ist er der Sieger, nachdem er die rivalisierenden Cliquen aufgemischt hat, doch es gibt Grenzen für Erdogans autoritäres Projekt... Eine Stärke Erdogans und der AKP war die starke Wirtschaft gewesen, doch wie wir bereits erwähnt haben, neigt sich diese Phase ihrem Ende zu. Er war nie so populär gewesen, wie die Propaganda suggeriert; Anti-Regierungs-Demonstrationen in wichtigen Gebieten 2013 zeigten, nachdem sie von den Protesten im Gezi-Park am Taksim-Platz[6] entfacht wurden, die Existenz einer breiten Ablehnung seiner Politik unter der urbanen, gebildeten Jugend im Besonderen. Und es bleiben tiefe Ressentiments im Militär gegen Erdogan und seine Partei bestehen. Nur ein Jahr zuvor sahen sich AKP-Minister auf Begräbnissen von Soldaten, die im Kampf gegen die kurdische PKK getötet worden waren, öffentlichen Schmähungen und dem Gespött seitens ranghoher Militärs ausgesetzt. Die Erdogan-Regierung antwortete auf diese öffentliche Erniedrigung - bei Anlässen, die eigentlich als Schaufenster der Staatspropaganda dienen sollten - damit, dass sie die Medien aufforderte, ihre Berichterstattung über die Begräbnisse einzustellen (TIMES, 31.8.16). Die Militärs nahmen öffentlich Anstoß daran, dass die getöteten Soldaten "Märtyrer" genannt wurden, und drückten die Ansicht aus, dass der Militärschlag gegen die PKK  nur der Stärkung der AKP in den Wahlen gegen die pro-kurdische Demokratische Partei (HDP) dienen sollte.

Zurzeit hat die Erdogan-Clique ihre Stellung gestärkt, weil sie den Putschisten die Kontrolle entriss, doch ihre gesellschaftliche Kontrolle bleibt ungewiss, mit Konsquenzen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei.

Boxer (Dieser Artikel ist der Beitrag eines Sympathisanten der IKS)

[1]Fetullah Gülen, ein Ex-Verbündeter Erdogans, nun im Exil in den USA, betreibt von dort aus so etwas wie ein Imperium und übt die Kontrolle über etliche Einrichtungen und Vermögenswerte aus, die nach Berichten etwa 50 Milliarden Dollar wert sein sollen. Die gülenistische oder Hizmet-Bewegung hat weltweit über 80 Millionen Anhänger und unterstützte offen die Clintons und die Demokraten. Ihr Islamismus scheint fundamentalistischer zu sein als der der AKP. Durch ihr Bündnis mit Erdogan und der AKP von 2002 bis 2011 waren die anti-kemalistischen Gülenisten auch in der Lage, Elemente in den türkischen Staat einzuschleusen. Doch ihre sektenartige Struktur wurde von Erdogan in wachsendem Maße als eine Bedrohung seiner Herrschaft wahrgenommen.

[2]Kemalisten: säkulare Nationalisten, die behaupten, in der Tradition von Kemal Atatürk zu stehen, dem Begründer des modernen türkischen Staates in den 1920er Jahren.

[3]Die Alewiten (oder Alawiten) sind nicht dieselbe Glaubensrichtung, obwohl ihre beiden Namen ihr Bekenntnis zu Ali bedeuten, dem Schwiegersohn Mohammeds und eine Schlüsselfigur im schiitischen Richtung des Islam. Es gibt auch ethnische Unterschiede in der Mehrheit ihrer Angehörigen.

[4]Heimatpartei (YP), eine kleine, rechtskonservative Partei, die 2002 gegründet worden war.

[5]Am 29. August verurteilten die USA scharf die wiederaufgeflammten Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und den kurdischen Kämpfern in Nordsyrien. Wie in der Vergangenheit benutzte die Türkei eine Offensive gegen den IS (die selbigen aus der Stadt Jarablus vertrieb) als ein Mittel der Eskalation ihres Krieges gegen die Kurden; dieser Konflikt weitete sich nun offen auf den syrischen Kriegsschauplatz aus.

[6]Mehr über diese Proteste siehe https://en.internationalism.org/icconline/201306/8371/HYPERLINK "https://en.internationalism.org/icconline/201306/8371/turkey-cure-state-terror-isnt-democracy"turkey-cure-state-terror-isnt-democracy [2].

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Die Lage in der Türkei

Brexit, Trump: Rückschläge für die Bourgeoisie, nichts Gutes für das Proletariat

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Das Referendum, das außer Kontrolle geriet

Vor mehr als 30 Jahren stellten wir in den "Thesen über den Zerfall"[1] fest, dass es für die Bourgeoisie immer schwieriger werden würde, die zentrifugalen Tendenzen ihres eigenen Politapparates zu kontrollieren. Was dies konkret bedeuten kann, demonstriert das "Brexit"-Referendum in Großbritannien und Donald Trumps Präsidentschaftskandidatur in den Vereinigten Staaten. In beiden Fällen haben skrupellose politische Abenteurer aus der herrschenden Klasse zur eigenen Selbsterhöhung die populistische Revolte jener ausgenutzt, die am meisten unter den ökonomischen Umbrüchen der letzten 30 Jahre gelitten haben.

Die IKS hat erst spät den Aufstieg des Populismus erkannt und seine Konsequenzen in Betracht gezogen. Daher veröffentlichen wir nun einen allgemeinen Text über den Populismus, der noch in unserer Organisation diskutiert wird.[2] Der folgende Artikel hat zum Ziel, die Hauptgedanken in Anwendung zu bringen, die im Diskussionstext bezüglich der besonderen Lage in Großbritannien und den USA vorgebracht worden waren. Angesichts einer sich schnell verändernden Weltlage gibt er nicht vor, vollständig zu sein, doch hoffen wir, dass er einen Denkanstoß geben und weitere Diskussionen anregen kann.

Der Kontrollverlust der herrschenden Klasse war noch nie so offensichtlich gewesen wie im Spektakel des beispiellosen Wirrwarrs, das sich nach dem EU-Referendum in Großbritannien und seinen Folgen entfaltet hat. Niemals zuvor hat die herrschende Klasse Großbritanniens so sehr die Kontrolle über den demokratischen Prozess verloren, nie zuvor hat sie ihre existenziellen Interessen solch Abenteurern wie Boris Johnson oder Nigel Farage überlassen.

Das allseitige Versäumnis, sich auf die Konsequenzen eines Brexit einzustellen, zeigt das Ausmaß der Verwirrung innerhalb der herrschenden Klasse Großbritanniens. Nur Stunden nachdem das Resultat verkündet worden war, mussten die Hauptaktivisten für den Brexit gegenüber ihren Anhängern einräumen, dass die 350 Millionen Pfund zusätzlich pro Woche für den NHS[3], die ein Brexit-Votum, wie sie versprochen hatten, bringen würde - eine Zahl, mit der die "Leave EU"-Busse von allen Seiten bepflastert wurden -, natürlich ein "Druckfehler" waren. Binnen weniger Tage trat Farage als UKIP-Führer[4] zurück und ließ seine Amtskollegen auf dem ganzen Brexit-Schlamassel sitzen; Boris Johnsons früherer Kommunikationschef Guto Harri erklärte, dass die Brexit-Kampagne "keine Herzenssache" für Johnson gewesen sei; es gibt den mehr als starken Verdacht, dass Johnsons Eintreten für den Brexit ein rein opportunistisches, eigennütziges Manöver war, das dazu bestimmt war, seinen Führungsanspruch gegenüber David Cameron zu zementieren. Michael Grove, der Johnsons Kampagnenchef während des gesamten Referendums gewesen war und Johnsons Kampagne für den Posten des Premierministers leiten sollte (und selbst wiederholt erklärte, dass er selbst kein Interesse an diesem Job habe), meuchelte keine zwei Stunden vor Fristablauf der Kandidatur Johnson von hinten, indem er seinen Hut in den Ring warf und dies damit begründete, sein langjähriger Freund Johnson eigne sich nicht als Premier. Nachdem sie noch vor drei Jahren erklärt hatte, dass der Austritt aus der EU eine Katastrophe für Großbritannien wäre, trat Andrea Leadsom nun als stramme "Leave"-Anhängerin in das Rennen um die Tory-Führung ein. Lügen, Heucheleien, Doppelspiele - nichts davon ist an der herrschenden Klasse natürlich neu. Was auffällt, ist der Verlust jeglichen staatsmännischen Sinnes, eines übergeordneten historischen, nationalen Interesses in der weltweit erfahrensten herrschenden Klasse, das über den persönlichen Ambitionen und den kleingeistigen Rivalitäten von Cliquen steht. Um eine vergleichbare Episode im Leben der englischen Herrschaftsklasse zu finden, müssen wir zu den Rosenkriegen (die in Shakespeares Drama Heinrich VI. thematisiert wurden) zurückkehren, dem letzten Atemzug einer niedergehenden Feudalordnung.

Das Unvorbereitetsein der Finanz- und Industriebosse auf den Ernstfall eines Brexit ist gleichermaßen auffällig, vor allem angesichts all der Anzeichen dafür, dass das Resultat "den knappsten Ausgang (nehmen würde), den du in deinem Leben jemals gesehen hast" (um uns die Freiheit zu nehmen, den Duke von Wellington nach der Schlacht von Waterloo zu zitieren.[5] Der Kollaps des Pfund Sterling um 20, dann 30 Prozent gegenüber dem Dollar ist ein Hinweis, dass der Brexit unerwartet kam - er wurde bei der Bewertung des Pfunds vor dem Referendum nicht berücksichtigt. Wir werden mit einem wenig erbaulichen Schauspiel traktiert, in dem Banker und Geschäftsleute zum Ausgang eilen, nachdem sie ihre Büros oder gar Körperschaften nach Dublin oder Paris haben umziehen lassen. George Osbornes spontaner Entschluss, die Körperschaftssteuer auf 15 Prozent zu senken, war offenkundig eine Notbremse, um Firmen in Großbritannien zu halten, ist doch die britische Wirtschaft weltweit mit am abhängigsten von den ausländischen Direktinvestitionen.

Das Imperium schlägt zurück

Davon abgesehen jedoch, ist die herrschende Klasse Großbritanniens nicht ausgezählt. Camerons sofortige Ersetzung als Premier durch Theresa May (anfangs nicht vor September erwartet) - eine grundsolide und kompetente Politkerin, die diskret für ein Bleiben warb - und die Demontage ihrer Opponenten Andrea Leadsom und Michael Grove durch die Presse und Tory-Abgeordnete demonstrieren die ausgesprochene Fähigkeit zu raschen, kohärenten Reaktionen von Seiten der dominanten Staatsfraktionen der herrschenden Klasse.

Im Grunde wird diese Situation durch die Evolution des Weltkapitalismus und des Kräfteverhältnisses der Klassenkräfte bedingt. Sie ist das Produkt einer allgemeineren Dynamik In Richtung Destabilisierung einer kohärenten bürgerlichen Politik auf der gegenwärtigen Ebene des Staatskapitalismus. Die treibenden Kräfte hinter der Tendenzen zum Populismus sind nicht das Thema dieses Artikels: Sie werden im o.g. "Diskussionsbeitrag zum Problem des Populismus" analysiert. Doch diese internationalen Phänomene nehmen unter dem Einfluss der spezifischen nationalen Historien und Charakteristiken konkrete Gestalt an. Demgemäß hat die Tory-Partei stets einen "euroskeptischen" Flügel beherbergt, der nie wirklich die britische Mitgliedschaft in der EU akzeptiert hat und dessen Ursprünge wir wie folgt definieren können:

1. Großbritanniens - und zuvor Englands - geographische Lage fern der Küsten Europas hatte bedeutet, dass Großbritannien in der Lage gewesen war, auf eine Weise unbeteiligt in den europäischen Rivalitäten zu bleiben, wie es die Kontinentalstaaten nicht sein konnten; seine verhältnismäßig kleine Größe und die Nicht-Existenz eines Landheeres hatte bedeutet, dass es niemals darauf setzen konnte, Europa zu dominieren, wie es Frankreich bis zum 19. Jahrhundert tat und Deutschland seit 1870, sondern seine existenziellen Interessen nur verteidigen konnte, indem es die Hauptmächte gegeneinander ausspielte und jegliche Verpflichtung gegenüber ihnen vermied.

2. Großbritanniens geographische Lage als eine Insel und sein Status als die weltweit erste Industrienation haben seinen Aufstieg als maritime Weltimperialist bedingt. Zumindest seit dem 17. Jahrhundert hatten die herrschenden Klassen Großbritanniens eine Weltsicht gehabt, die es ihnen gestattete, eine gewisse Distanziertheit zu einer ausschließlich europäischen Politik zu erhalten. Diese Situation änderte sich nach dem II. Weltkrieg radikal, erstens weil Großbritanniens Status als dominante Weltmacht nicht mehr aufrechtzuerhalten war; zweitens weil die moderne Militärtechnologie (Airpower, Langstreckenraketen, Nuklearwaffen) bedeutete, dass die Isolation gegenüber der europäischen Politik keine Option mehr war. Einer der ersten, die diese Situation erkannten, war Winston Churchill, der 1946 zur Schaffung der "Vereinten Staaten von Europa" aufrief; seine Position wurde jedoch innerhalb der Konservativen Partei niemals völlig akzeptiert . Die Opposition gegen eine Mitgliedschaft in der EU[6] wuchs, als Deutschland immer stärker wurde, insbesondere nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der deutschen Wiedervereinigung 1990, die das Gewicht Deutschlands in Europa steigerte. Während der Referendumskampagne verursachte Boris Johnson bekanntermaßen einen Skandal, als er sagte, dass die EU ein Instrument der deutschen Vorherrschaft "à la Hitler" sei, doch konnte er keine Urheberschaft anmelden. Dieselben Ressentiments, in so ziemlich dergleichen Sprache, wurden 1990 von Nicolas Ridley ausgedrückt, damals Minister in Thatchers Regierung. Es spricht für den Autoritätsverlust und die Disziplinlosigkeit innerhalb des politischen Apparates nach dem Krieg, dass, während Ridley sofort gezwungen wurde, aus der Regierung zurückzutreten, die Konsequenzen  für Johnson darin bestehen, dass er Mitglied im neuen Kabinett wird.

3. Großbritanniens einmaliger Status als die weltweit größte imperiale Macht und der Verlust dieses Status' ist ein tief verwurzeltes psychologisches und kulturelles Phänomen in der britischen Bevölkerung (einschließlich der Arbeiterklasse). Die nationale Besessenheit vom II. Weltkrieg - das letzte Mal, dass Großbritannien so tun konnte, als handle es als eine unabhängige Weltmacht - veranschaulicht dies perfekt. Ein Teil der britischen Bourgeoisie und mehr noch des Kleinbürgertums hat noch immer nicht begriffen, dass Großbritannien heute nur noch eine zweit- oder drittrangige Macht ist. Viele der "Leave"-MitstreiterInnen schienen zu glauben, dass, wenn Großbritannien von den "Fußfesseln" der EU befreit wäre, die Welt herbeieilen würde, um britische Güter und Dienstleistungen zu erwerben - eine Fantasievorstellung, für die die britische Wirtschaft wahrscheinlich teuer bezahlen muss.

Diese Empfindung des Ressentiments und Zorns gegen die äußere Welt wegen des Verlustes der imperialen Macht ist vergleichbar mit jener eines Teils der amerikanischen Bevölkerung als Ergebnis des so wahrgenommenen Statusverlustes der Vereinigten Staaten und ihres Unvermögens, ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, so wie sie dies im Kalten Krieg taten.

Das Referendum als Zugeständnis an den Populismus

Die populistischen Eskapaden von Boris Johnson waren spektakulärer und erhielten mehr Medienrummel als David Camerons althergebrachte, schrecklich vornehme, "verantwortungsvolle" Rolle. Doch in Wahrheit ist Cameron ein besseres Indiz dafür, wie weit die Fäulnis in der herrschenden Klasse gediehen ist. Johnson mag der Hauptakteur gewesen sein, doch es war Cameron, der die Bühne bereitete, indem er das Versprechen eines Referendums für parteipolitische Zwecke benutzte, um die letzten allgemeinen Wahlen zu gewinnen. Ein Referendum ist von Hause aus weitaus schwerer zu kontrollieren als eine Parlamentswahl und stellt als solches stets ein Wagnis dar.[7] Wie ein Süchtiger im Casino zeigte sich Cameron als wiederholter Hasardeur, zunächst mit dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit, das er mit Ach und Krach gewann, dann mit dem Brexit. Seine Konservative Partei, die sich stets als der beste Vertreter der Wirtschaft, der Union[8] und der nationalen Sicherheit darstellte, hat letztendlich alle drei aufs Spiel gesetzt.

Angesichts der Schwierigkeit, die Ergebnisse zu manipulieren, sind Plebiszite über wichtige Angelegenheiten von nationalem Interesse größtenteils ein unerwünschtes Risiko für die herrschende Klasse. Im klassischen Konzept und in der Ideologie der parlamentarischen Demokratie, selbst in ihrer dekadenten Scheinform, sind für solche Entscheidungen "gewählte Repräsentanten" vorgesehen, die von Experten und Interessengruppen beraten (und beeinflusst) werden - nicht von der Bevölkerung in ihrer Gesamtheit. Vom Standpunkt der Bourgeoisie aus ist es der reine Wahnwitz, Millionen von Menschen aufzufordern, über solch komplexe Themen wie den EU-Verfassungsvertrag 2004 zu entscheiden, als die Massen von Abstimmenden ungewillt, ja nicht einmal in der Lage waren, den Vertragstext zu lesen oder zu verstehen. Kein Wunder, dass die herrschende Klasse in den Referenden, die über diesen Vertrag abgehalten worden waren (Frankreich, Niederlande, im ersten Anlauf Irland),  so oft das "falsche" Resultat erzielte.[9]

Einige aus der britischen Bourgeoisie scheinen heute zu hoffen, dass die May-Regierung denselben Trick wie die französische und irische Regierung nach ihren vermasselten Referenden über den Verfassungsvertrag anwendet und das Referendum einfach ignoriert oder kippt.  Dies erscheint uns zumindest kurzfristig als unwahrscheinlich, nicht weil die britischen Bourgeois feurigere Demokraten sind als ihre Kumpel, sondern gerade weil das Ignorieren des "demokratischen" Ausdrucks des "Volkswillens" lediglich den populistischen Ideen mehr Glaubwürdigkeit verleiht und sie noch gefährlicher macht.

Theresa Mays Strategie hat bislang das Beste aus einem miesen Job gemacht und den Rahmen für den Brexit abgesteckt, wobei drei der prominentesten "Leave"-Befürworter Ministerposten erhalten haben und sich für die Organisierung der Loslösung Großbritanniens von der EU verantwortlich zeichnen. Selbst Mays Ankündigung, den Clown Johnson zum Außenminister zu machen - im Ausland mit einer Mischung aus Horror, Heiterkeit und Unglauben aufgenommen -, ist gewiss Teil dieser breiter angelegten Strategie. Indem sie Johnson auf den heißen Stuhl der Verhandlungsführung für den Austritt aus der EU setzt, stellte May sicher, dass der Großsprecher der "Leave"-Befürworter am meisten unter Beschuss und im Zentrum der Glaubwürdigkeitskrise stehen wird und somit daran gehindert wird, von außen querzuschießen.

Die Auffassung besonders unter jenen, die für die populistischen Bewegungen in Europa oder in den USA stimmten, dass der gesamte demokratische Prozess ein Schwindel sei, weil die Elite einfach unbequeme Resultate ignoriert, ist eine reale Bedrohung für die Effektivität der Demokratie als ein System der Klassenherrschaft. In der populistischen Konzeption von Politik soll der "direkte Volksentscheid" die Korruption gewählter Repräsentanten durch die etablierten Politeliten verhindern. Daher wurden in Deutschland als Folge der negativen Erfahrungen mit ihnen in der Weimarer Republik und ihres Gebrauchs in Nazi-Deutschland solche Referenden aus der Nachkriegsverfassung ausgeschlossen.[10]

Die Wahlen, die aus dem Ruder gerieten

Wenn Brexit ein Referendum war, das außer Kontrolle geriet, dann ist Trumps Wahl als republikanischer Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2016 eine Wahl, die aus dem Ruder geriet. Als Trump seine Kandidatur erklärte, wurde er zunächst kaum ernstgenommen: Der Frontmann war Jeb Bush, Mitglied der Bush-Dynastie, bevorzugte Wahl der republikanischen Granden und als solche potenziell ein mächtiger Spendensammler (immer ein entscheidender Gesichtspunkt in US-Wahlen). Doch entgegen aller Erwartungen triumphierte Trump in den ersten Vorwahlen und gewann auch weiterhin einen Bundesstaat nach dem anderen. Bush verpuffte wie ein Knallfrosch, andere Kandidaten zählten nie mehr als unter ferner liefen, und die Bosse der republikanischen Partei sahen sich letztendlich der unerquicklichen Aussicht ausgesetzt, dass der einzige Kandidat mit einer Chance, Trump zu schlagen, Ted Cruz war, ein Mann, der von seinen Senatskollegen als absolut nicht vertrauenswürdig und als nur etwas weniger egoistisch und eigennützig als Trump angesehen wird.

Die Möglichkeit, dass Trump Clinton schlägt, ist an sich schon ein Hinweis darauf, wie irrsinnig die politische Lage geworden ist. Doch auch so schon hat Trumps Kandidatur Schockwellen durch das ganze System imperialistischer Bündnisse gejagt. 70 Jahre lang waren die USA der Hauptgarant des NATO-Bündnisses gewesen, dessen Wirksamkeit von der Unantastbarkeit der wechselseitigen Verteidigung (Bündnisfallklausel) abhängt: Ein Angriff auf einen wird als ein Angriff gegen alle aufgefasst. Wenn ein potenzieller US-Präsident das NATO-Bündnis und die Bereitschaft der USA in Frage stellt, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, wie es Trump getan hat, als er erklärte, dass eine US-Antwort auf einen russischen Angriff gegen die baltischen Staaten davon abhänge, ob sie nach seiner Einschätzung "ihren Unterhalt bestreiten können", dann jagt dies sicherlich einen Schauer über den Rücken der herrschenden Klassen Osteuropas, die direkt mit Putins Mafia-Staat konfrontiert sind, ganz zu schweigen von den asiatischen Ländern (Japan, Südkorea, Vietnam, Philippinen), die sich darauf verlassen haben, dass Amerika sie vor dem chinesischen Drachen beschützt. Fast ebenso alarmierend ist die reale Möglichkeit, dass Trump einfach nicht weiß, was los ist, wie dies in seiner jüngsten Stellungnahme angedeutet wird, wonach es keine russischen Truppen in der Ukraine gibt (anscheinend unwissend, dass die Krim von jedermann, außer den Russen, noch immer als Bestandteil der Ukraine angesehen wird).

Mehr noch, Trump forderte den russischen Geheimdienst auf, sich in die IT-Systeme der Demokratischen Partei zu hacken und lud Putin ein, sein Bestes zu geben. Wie sehr dies, wenn überhaupt, Trump beschädigen wird, ist schwer zu sagen, aber es lohnt sich, sich zu vergegenwärtigen, dass seit 1945 die Republikanische Partei entschieden, wenn nicht fanatisch anti-russisch gewesen war und zugunsten einer starken, weltweiten militärischen Präsenz, koste es, sie was sie wolle (es war Reagans militärische Aufrüstung, die die Staatsschulden explodieren ließ).

Es ist nicht das erste Mal, dass die Republikanische Partei einen Kandidaten aufs Feld schickte, der von ihrer Führung als gefährlich extremistisch betrachtet wurde. 1964 gewann Barry Goldwater, dank der Unterstützung durch die religiöse Rechte und die "konservative Fraktion" - den Vorläufern der heutigen Tea Party -, die Vorwahlen. Sein Programm war zumindest kohärent: drastische Reduzierung besonders der Sozialfürsorge durch die Bundesregierung, militärische Stärke und die Bereitschaft, Nuklearwaffen gegen die UdSSR einzusetzen. Dies war das klassische Programm von Rechtsaußen, aber eines, dass überhaupt nicht zu den Bedürfnissen des US-Staatskapitalismus passte; Goldwater erlitt schließlich in den Wahlen, auch in Folge der Verweigerung der republikanischen Hierarchie, ihn zu unterstützen, eine schwere Niederlage.

Ist Trump lediglich ein Goldwater 2.0.? Keineswegs, die Unterschiede sind aufschlussreich. Goldwaters Kandidatur stellte die Machtübernahme in der Republikanischen Partei durch die seinerzeitige "Tea Party" dar, die nach Goldwaters krachender Wahlniederlage auf Jahre kaltgestellt wurde. Es ist kein Geheimnis, dass die letzten paar Jahrzehnte ein Comeback dieser Tendenz erlebt haben, die der GOP[11] ein mehr oder weniger erfolgreiches Übernahmeangebot gemacht hat. Die Goldwater-Anhänger waren dagegen eine im wahrsten Sinn des Wortes "konservative Koalition": Sie stellte eine reale konservative Tendenz innerhalb eines Amerikas dar, das tiefgehende gesellschaftliche Veränderungen (Feminismus, die Bürgerrechtsbewegung, der Beginn der Opposition gegen den Vietnam-Krieg und der Zusammenbruch traditioneller Werte) durchlief. Obwohl viele "Ursachen" der Tea Party dieselben wie Goldwaters sein mögen, ist der Kontext nicht der gleiche: Die gesellschaftlichen Veränderungen, denen er sich widersetzte, haben stattgefunden; die Tea Party von heute ist dagegen nicht so sehr eine Koalition von Konservativen, sondern ein Bündnis der Hysterie.

Dies hat der großen Bourgeoisie, die sich wenig bis gar nicht um soziale und "kulturelle" Fragen kümmert und im Wesentlichen an der Militärmacht der USA und am Freihandel, aus dem sie ihre Profite zieht, interessiert ist, wachsende Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine Binsenweisheit, dass ein jeder, der in den republikanischen Vorwahlen aufläuft, in einer Reihe von Themen "untadelig" sein muss: Abtreibung (man muss "fürs Leben" sein), Waffenkontrolle (dagegen), fiskalischer Konservatismus und niedrige Besteuerung, "Obamacare" (Sozialismus, sollte abgeschafft werden: in der Tat stützt Ted Cruz einen Teil seiner Qualifikationen auf einen öffentlichkeitsheischenden Filibuster gegen Obamacare im Senat), Ehe (heilig), Demokratische Partei (wenn Satan eine Partei hätte, wäre es sie). Nun, in einem Zeitraum von wenigen Monaten, hat Trump die Republikanische Partei faktisch zerlegt. Wir haben hier einen Kandidaten, der sich selbst als "unzuverlässig" in der Abtreibung, Waffenkontrolle, Ehe (drei in seinem Fall) gezeigt hat und der in der Vergangenheit an den Teufel höchstpersönlich, Hillary Clinton, gespendet hat. Ferner schlägt er vor, den Mindestlohn anzuheben, Obamacare zumindest in Teilen zu erhalten, zur isolationistischen Außenpolitik zurückzukehren, die Haushaltsschulden in die Höhe schnellen zu lassen und elf Millionen illegaler Immigranten, deren billige Arbeitskraft existenziell für das US-Business ist, auszuweisen.

Wie die Tories in Großbritannien mit dem Brexit, so findet sich die Republikanische Partei - und potenziell die gesamte herrschende Klasse in Amerika - in einem Programm wieder, das vom Standpunkt ihrer imperialistischen und ökonomischen Klasseninteressen aus betrachtet völlig irrational ist.

Die Folgen

Die einzige Sache, die wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass Brexit und Trump-Kandidatur in eine Periode wachsender Instabilität in jeder Hinsicht hineinführen werden: wirtschaftlich, politisch und imperialistisch. Auf der ökonomischen Ebene befinden sich die europäischen Länder - die, was wir nicht vergessen sollten, einen Hauptteil der Weltwirtschaft und ihren größten einzelnen Markt repräsentieren - bereits in einer fragilen Situation: Sie mussten die Finanzkrise von 2007/08 und einen drohenden griechischen Austritt aus der Euro-Zone überstehen, doch sie haben sie nicht überwunden. Großbritannien bleibt eine der wichtigsten Ökonomien; der langwierige Prozess der Aufdröselung seiner Verbindungen zur EU wird durch Unvorhersehbarkeit belastet sein, nicht zuletzt auf finanzieller Ebene: Niemand weiß beispielsweise, welchen Effekt der Brexit auf die City von London haben wird, Europas Epizentrum im Bankgeschäft, in Versicherungen und im Aktienhandel. Politisch kann der Erfolg des Brexit die populistischen Parteien in Europa nur ermutigen und ihnen größere Glaubwürdigkeit verleihen. Nächstes Jahr finden die Präsidentschaftswahlen in Frankreich statt, wo Marine Le Pens populistischer, antieuropäischer Front National, gemessen an Wählerstimmen,  mittlerweile die größte Partei geworden ist. Die Regierungen in den europäischen Hauptmächten sind zerrissen zwischen dem Anliegen, die Trennung Großbritanniens von Europa so glatt und schmerzlos wie möglich zu gestalten, und der realen Furcht, dass jegliche Zugeständnisse an Großbritannien (wie zum Beispiel der Zugang zum gemeinsamen Markt zusammen mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Menschen) andere auf dumme Gedanken bringen könnten, namentlich Länder wie Polen und Ungarn. Der Versuch, Europas südöstliche Grenzen zu stabilisieren, indem die Länder des ehemaligen Jugoslawien integriert werden, wird fast sicher eingestellt werden. Die EU wird größte Schwierigkeiten haben, eine gemeinsame Antwort auf Erdogans demokratischen Staatsstreich in der Türkei und seine Benutzung der syrischen Flüchtlinge als Faustpfand in einem widerlichen Spiel der wechselseitigen Erpressungen zu präsentieren. Obwohl die EU selbst niemals ein imperialistisches Bündnis gewesen war, sind die meisten ihrer Mitglieder ebenfalls Mitglieder der NATO. Jegliche Schwächung des europäischen Zusammenhalts wird daher einen Dominoeffekt auf die Fähigkeit der NATO haben, dem russischen Druck auf ihre östliche Flanke, der weiteren Destablisierung der Ukraine und der baltischen Staaten zu begegnen. Es ist kein Geheimnis, dass Russland eine geraume Zeitlang den französischen Front National finanziert hatte und die deutsche Pegida-Bewegung zumindest benutzt, wenn nicht sogar finanziert. Der einzige klare Sieger aus dem Brexit-Referendum ist in der Tat Wladimir Putin.

Wie wir oben sagten, hat bereits Trumps Kandidatur der Glaubwürdigkeit der USA einen Schlag versetzt. Der Gedanke an einen Präsidenten Trump mit dem Finger am Nuklearknopf ist, gelinde gesagt, eine Schrecken erregende Aussicht.[12] Doch wie wir viele Male gesagt haben, ist eines der Hauptelemente der Instabilität und des Krieges heute die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, ihre dominante imperialistische Stellung gegen alle Neuankömmlinge aufrechtzuerhalten. Diese Situation wird sich nicht ändern.

Rage against the machine

Boris Johnson und Donald Trump haben mehr gemein als nur ihr Großmaul. Beide sind politische Abenteurer, bar jeglicher Prinzipien oder jeglichen Sinns für übergeordnete nationale Interessen. Beide sind bereit, sich drehen und zu winden, ihre Botschaft danach auszurichten, was ihr Publikum zu hören wünscht. Ihre dummen Mätzchen werden von den Medien aufgeblasen, bis sie überlebensgroß sind, doch in Wahrheit sind sie ein komplettes Unding, nichts anderes als Sprachrohre, durch die die Verlierer der Globalisierung ihre Wut, ihre Verzweiflung und ihren Hass gegen die reichen Eliten und gegen die Immigranten herausheulen, die sie für ihr Elend verantwortlich machen. Daher kommt Trump trotz haarsträubendster und widersprüchlichster Stellungnahmen ungeschoren davon: Seine Anhänger kümmert es einfach nicht, denn er sagt, was sie hören wollen.

Das heißt nicht, dass Johnson und Trump identisch sind, doch ihre Unterschiede haben weniger mit dem persönlichen Charakter zu tun als vielmehr mit den Differenzen zwischen den beiden herrschenden Klassen, denen sie angehören: Die britische Bourgeoisie hat jahrhundertelang eine Hauptrolle auf Weltebene gespielt, während Amerikas ungestüme, freibeuterische, auf sich bezogene Phase erst mit Roosevelt zu Ende ging, als dieser die Isolationisten besiegte, um in den II. Weltkrieg einzutreten. Wichtige Fraktionen der herrschenden Klasse Amerikas sind bis heute zutiefst ignorant gegenüber der Außenwelt geblieben; man ist versucht zu sagen, dass sie in einem Zustand der zurückgebliebenen Pubertät steckengeblieben sind.

Wahlergebnisse werden niemals ein Ausdruck von Klassenbewusstsein sein; dennoch können sie uns etwas über die Bedingungen der Arbeiterklasse mitteilen. Ob es nun um das Brexit-Referendum geht, um die Unterstützung Trumps in den USA, Marine Le Pens in Frankreich oder der deutschen Populisten von Pegida und AfD - alle Wählerzahlen weisen darauf hin, dass diese Parteien und Bewegungen Unterstützung vor allem unter jenen ArbeiterInnen genießen, die am meisten unter den Veränderungen in der kapitalistischen Ökonomie in den letzten 40 Jahren gelitten haben und die nicht ganz zu Unrecht den Schluss ziehen, dass nach Jahren der Niederlagen und endlosen Angriffe gegen ihre Lebensbedingungen vonseiten rechter wie linker Regierungen der einzige Weg, die herrschenden Eliten zu erschrecken, darin besteht, demonstrativ verantwortungslose Parteien zu wählen, deren Politik eben jenen Eliten ein Gräuel ist. Die Tragödie ist, dass es genau jene ArbeiterInnen sind, die in den Kämpfen der 1970er Jahre zu den am massivsten Involvierten zählten. Ein gemeinsames Thema sowohl in den Brexit- als auch in den Trump-Kampagnen ist der Gedanke, dass "wir die Kontrolle zurückerlangen" können. Ganz gleich, dass "wir" niemals auch nur reale Kontrolle über unser Leben gehabt haben - wie ein Bewohner Bostons in Großbritannien sagte: "Wir wollen Dinge so, wie sie früher waren". Früher gab es Jobs; Jobs mit steigenden Löhnen, als die soziale Solidarität der Arbeitergemeinden noch nicht von Arbeitslosigkeit und Heruntergekommenheit zerbrochen waren, als Veränderung etwas Positives zu sein schien und in einer aushaltbaren Geschwindigkeit stattfand.

Es ist zweifellos richtig, dass der Brexit eine neue, hässliche Atmosphäre in Großbritannien bewirkt hat, eine Atmosphäre, in der unverhohlene Rassisten Morgenluft wittern und aus ihren Löchern kriechen. Doch viele - wahrscheinlich die Mehrheit - von jenen, die für den Brexit oder für Trump stimmten, um die Einwanderung zu stoppen, sind keine Rassisten als solche, sondern kranken vielmehr an Xenophobie: Angst vor dem Fremden, Angst vor dem Unbekannten. Und dieses Unbekannte ist im Grunde die kapitalistische Ökonomie selbst, die grundsätzlich mysteriös und unverständlich ist, weil sie die realen gesellschaftlichen Verhältnisse im Produktionsprozess so darstellt, als seien sie Naturkräfte, so elementar und unkontrollierbar wie das Wetter, deren Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der ArbeiterInnen jedoch noch verheerender sein können. Es ist eine fürchterliche Ironie, dass in diesem Zeitalter der wissenschaftlichen Entdeckungen die Menschen zwar nicht mehr glauben, dass schlechtes Wetter von Hexen verursacht wird, aber ohne Weiteres bereit sind zu glauben, dass ihre wirtschaftlichen Nöte von ihren eingewanderten Leidensgenossen verursacht werden.

Die Gefahr, der wir uns gegenübersehen

Wir begannen diesen Artikel mit der Bezugnahme auf die "Thesen zum Zerfall", die vor fast 30 Jahren, 1990, geschrieben wurden. Wir möchten den Artikel schließen, indem wir aus eben diesen Thesen zitieren: "Man muß sich besonders klar über die Gefahr sein, den der Zerfall für die Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihre historischen Aufgaben zu erfüllen, darstellt (...) Die verschiedenen Elemente, die die Stärke der Arbeiterklasse ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Erscheinungsweisen des ideologischen Zerfalls zusammen:

 - das kollektive Handeln, die Solidarität; all das hebt sich ab von der Atomisierung, dem Verhalten, 'Jeder für sich', 'jeder schlägt sich individuell durch';

- das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerbröckelung der Verhältnisse, auf die jede Gesellschaft baut;

- die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft immer mehr überhand nimmt, durch den Nihilismus, durch die Ideologie des 'No future';

- das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und den Zusammenhalt des Denkens, den Geschmack für die Theorie, all diese Elemente müssen sich behaupten gegenüber den Fluchtversuchen, der Gefahr der Drogen, der Sekten, dem Mystizismus, der Verwerfung der theoretischen Überlegungen, der Zerstörung des Denkens, d.h. all den destruktiven Elementen, die typisch sind für unsere Epoche."

Diese Gefahr droht uns heute.

Der Aufstieg des Populismus ist gefährlich für die herrschende Klasse, weil er ihre Fähigkeit beeinträchtigt, ihren Politapparat  zu kontrollieren und gleichzeitig die demokratische Mystifikation aufrechtzuerhalten, die eine der Pfeiler ihrer gesellschaftlichen Vorherrschaft ist. Doch er hat dem Proleratariat ebenfalls nichts zu bieten. Im Gegenteil, es ist eben jene Schwäche des Proletariats, seine Unfähigkeit, irgendeine alternative Perspektive zum den Kapitalismus bedrohenden Chaos zu bieten, die den Aufstieg des Populismus heute erst ermöglicht hat. Allein das Proletariat kann einen Ausweg aus der Sackgasse anbieten, in der sich die Gesellschaft heute befindet, doch wird es nie dazu im Stande sein, wenn ArbeiterInnen sich von den Sirenenklängen der populistischen Demagogen bezirzen lassen, die eine unmögliche Rückkehr zur Vergangenheit versprechen, die nie so existiert hat.

Jens, August 2016

[1] Veröffentlicht 1991 in Internationale Revue 13 (/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [3]).

[2] Siehe "Über das Problem des Populismus [4]"

[3] Nationaler Gesundheitsdienst.

[4] United Kingdom Independance Party: eine populistische Partei, die 1991 gegründet wurde und die im Grunde für den Austritt aus der EU und gegen Immigration wirbt. Paradoxerweise hat sie in Straßburg 22 Parlamentsmitglieder und ist damit die größte einzelne britische Partei im Europäischen Parlament.

[5] Es ist richtig, dass die EU und der britische Schatzkanzler einige Anstrengungen unternahmen, um Eventualpläne im Falle eines Sieges des "Leave"-Lagers ins Auge zu fassen. Dennoch spricht einiges dafür, dass diese Vorbereitungen unzureichend waren und - vielleicht wichtiger noch - dass keiner wirklich damit rechnete, dass "Leave" das Referendum tatsächlich gewinnen wird. Dies traf selbst auf die "Leave"-Anhänger selbst zu. Anscheinend räumte Farage um ein Uhr morgens in der Nacht des Referendums bereits den Sieg des "Remain"-Lagers ein, nur um am Morgen danach zu seinem Schrecken festzustellen, dass "Remain" verloren hat.

[6] Großbritannien trat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1973 unter einer konservativen Regierung bei. Seine Mitgliedschaft wurde in einem Referendum bestätigt, das von der Labour-Regierung 1975 abgehalten wurde.

[7] Es lohnt sich daran zu erinnern, dass Thatcher mehr als zehn Jahre an der Macht blieb, obwohl sie nie mehr als 40 Prozent der landesweiten Stimmen in Parlamentswahlen errang.

[8] D.h. die Union des Vereinten Königreiches Englands, Wales, Schottlands und Nordirlands.

[9] Nach diesen unbequemen Ergebnissen ließen die europäischen Regierungen den Verfassungsvertrag fallen, retteten jedoch seine wesentlichsten Elemente, indem sie mit dem Lissaboner Vertrag von 2009 die existierenden Übereinkommen einfach modifizierten.

[10] Man sollte hier unterscheiden von den Referenden in Orten wie der Schweiz und Kalifornien, wo sie Bestandteil eines historisch etablierten Prozesses sind.

[11] "Grand Old Party": ein umgangssprachlicher Name für die Republikanische Partei, der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht.

[12] Einer der Gründe für Goldwaters Niederlage war seine erklärte Bereitschaft, taktische Atomwaffen einzusetzen. Die Johnson-Kampagne konterte Goldwaters Motto: "In your heart, you know he's right" (In eurem Herzen wisst ihr, er hat recht) mit dem Slogan: "In your guts, you know he's nuts" (In euren Eingeweiden wisst ihr, dass er Eier hat).

Aktuelles und Laufendes: 

  • Populismus [5]
  • Zerfall [6]
  • Brexit [7]
  • Wahlzirkus [8]
  • Trump [9]

Rubric: 

Populismus und Zerfall

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Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/weltrevolution_181_web.pdf [2] https://en.internationalism.org/icconline/201306/8371/turkey-cure-state-terror-isnt-democracy [3] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [4] https://de.internationalism.org/content/2715/ueber-das-problem-des-populismus [5] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/populismus [6] https://de.internationalism.org/tag/6/1233/zerfall [7] https://de.internationalism.org/tag/6/1290/brexit [8] https://de.internationalism.org/tag/6/1291/wahlzirkus [9] https://de.internationalism.org/tag/6/1292/trump