Das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu – ein Jahr reich an historischen Erinnerungen.
Vor 100 Jahren kam es in Deutschland zu einem historischen Ereignis, dass die Bourgeoisie am liebsten geheim halten würde, denn im November 1918 begannen in Kiel die Matrosen zu meutern und zogen die Proletariat in den Kampf für eine neue Welt, den ihre Klassenbrüder und -schwestern schon ein Jahr zuvor in Russland begonnen hatten. Dadurch erwischten sie die Bourgeoisie auf den falschen Fuß und brachten ihr das Fürchten bei. Unter dem Titel: Revolution in Deutschland - Vor 100 Jahren zitterten die Herrschenden vor der Arbeiterklasse, rufen wir dieses Ereignis wieder ins Gedächtnis, da die heutige Bourgeoisie versucht, diese Revolution aus dem Bewusstsein der Arbeiterklasse zu wischen, indem sie darüber entweder überhaupt nicht oder dann nur aus ihrer bürgerlich beschränkten Sicht über das angebliche Dilemma zwischen Totalitarismus und Demokratie (Weimarer Republik) berichtet. Der Artikel unterstreicht die Stärken, aber auch die Schwächen der damaligen revolutionären Erhebung. Wir erachten es insbesondere als wichtig, die Lehren auch auf der Ebene der politischen Organisation der Revoutionäre, namentlich der KPD, zu ziehen.
Danach wird der Leser sofort 50 Jahre nach vorne katapultiert, wo das Proletariat auf die Bühne des Klassenkampfes zurückkehrte. 50 Jahre seit Mai 1968 ist eine Artikelserie, die wir schon auf unserer Webseite zu veröffentlichen begonnen haben. Der erste Teil dieser Reihe möchten wir hier abdrucken. Er befasst sich mit der Wirtschaftskrise und trägt den Titel Das Versinken in der ökonomischen Krise. Er gibt einen Überblick über die Entwicklung der letzten 50 Jahre und geht auch ein auf die umstrittene Frage, welche Rolle das Wiederauftauchen der Krise bei den Kämpfen 1968 gespielt hat. Zum Thema Mai 68 werden die anderen zwei Artikel der Serie – über den Klassenkampf und das revolutionäre Milieu – vorerst auf der Webseite zu lesen sein.
Im Jahr 2018 hat sich die imperialistische Lage verschlimmert. Sei es Nordkorea, das mit Atomkrieg drohte, sei es China, das sein Einflussgebiet in Afrika aufbauen und erweitern möchte, seien es die USA, die ihre Machtposition aufrechterhalten wollen – an allen Ecken dieses Planeten brennt es oder nehmen die Spannungen zu. Der hier veröffentlichte Bericht ist im Juni 2018 vom Zentralorgan der IKS diskutiert und angenommen worden. Seither haben die Ereignisse insbesondere um den Besuch Trumps in Europa eine der Hauptaussagen des Berichts bestätigt, wonach die USA der wichtigste Motor bei der Ausbreitung der Tendenz des „Jeder für sich“ geworden sind. Sie stellen die Instrumente der von ihnen selber errichteten „Weltordnung“ immer mehr in Frage.
Alle zwei Jahre trifft sich die IKS zu ihrem höchsten Gremium, dem Internationalen Kongress. Darin werden die letzten zwei Jahre bilanziert, wird diskutiert, in wieweit sich die bisherigen Einschätzungen bestätigt haben. Der Kongress lotet die bestehenden Analysen aus und korrigiert sie soweit nötig entsprechend der aktuellen Situation. Alle wesentlichen Fragen wie Wirtschaftskrise, imperialistische Spannungen, Klassenkampf und organisatorisches Leben werden diskutiert und neue Orientierungen in Berichten und Resolutionen vorgeschlagen und schließlich entschieden. Es ist eine Tradition der Arbeiterbewegung und der IKS, die Ergebnisse dieser Kongresse zu veröffentlichen, damit sie auch als Orientierungspunkte für die Diskussionen in der Arbeiterklasse und im revoltuionären Milieu dienen können. Die Resolution zum internationalen Klassenkampf, verabschiedet am 22. Kongress der IKS im Mai 2017, hat in der Zwischenzeit nichts an Aktualität verloren. Das unentschiedene Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist einer der bestimmenden Faktoren, auf deren Grundlage sich gesellschaftliche Erscheinungen wie der Populismus zeigen.
Ohne Zweifel ist die Russische Revolution eines der wichtigsten Ereignisse, das die Arbeiterklasse jemals hervorgebracht und der Bourgeoisie einen großen Schrecken versetzt hat. Danach wurden viele Bücher verfasst, mit denen einerseits die der herrschenden bürgerlichen Ideologie verpflichteten Schreiberlinge die Ereignisse um die Revolution verzerrt oder vernebelt und andererseits Internationalisten, Revolutionäre der wahren Geschichte auf den Grund zu gehen versucht haben, um Beiträge zur Klärung des Bewusstseins zu leisten. Emma Goldmann: Späte Antwort an eine revolutionäre Anarchistin ist einen Beitrag zur notwendigen Polemik zwischen internationalistischen Revolutionären. Emma Goldmans Ideen leben weiter und unsere späte Antwort ist daher kein Schrei in die Leere. Sie unterstützte die Russischen Revolution und die Bolschewiki propagandistisch in den USA, wurde im Januar 1920 ausgewiesen und verbrachte darauf zwei Jahre in Russland. Anschließend verfasste sie mehrere Bücher mit ihrer Kritik an den Bolschewiki, auf die wir in unserem Artikel antworten. Dabei stellen wir nicht die historischen Fakten, die sie schonungslos schilderte, in Frage, sondern kritisieren gewisse der Schlussfolgerungen Emma Goldmans.
IKS November 2018
Ein solcher Titel mag heute seltsam erscheinen, so sehr ist dieses gewaltige historische Ereignis in Vergessenheit geraten. Der herrschenden Klasse ist es gelungen, es aus dem Gedächtnis der Arbeiter zu löschen. Doch 1918 richteten sich alle Augen auf Deutschland, Augen voller Hoffnung für das Proletariat, während die Herrschenden mit Schrecken auf die Ereignisse starrten.
Die Arbeiterklasse hatte gerade die Macht in Russland erobert; es war Oktober 1917, die Sowjets, die Bolschewiki, der Aufstand ... Wie Lenin schrieb: "Die russische Revolution ist lediglich einer der Trupps der internationalen sozialistischen Armee, von deren Aktion der Erfolg und der Triumph der von uns vollzogenen Umwälzung abhängt. Diese Tatsache wird von keinem von uns vergessen. (…) Das russische Proletariat ist sich bewusst, in der Revolution allein dazustehen, und erkennt klar, dass die vereinte Aktion der Arbeiter der ganzen Welt oder einiger in kapitalistischer Hinsicht fortgeschrittener Länder die notwendige Bedingung und grundlegende Voraussetzung seines Sieges ist“ (Referat auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der Betriebskomitees, 23. Juli 1918, Zeitungsbericht, Lenin Werke, Band 27, S. 547).
Deutschland war das Schlüsselland, das wichtigste Verbindungsglied zwischen Ost und West. Eine siegreiche Revolution hier, dann würde sich die Tür zum Klassenkampf zu den anderen Ländern in Europa öffnen; die Flammen der Revolution könnten auf ganz Europa übergreifen. Die herrschende Klasse aus allen Ländern wollte verhindern, dass die Kämpfe in Deutschland die Brücke zu den anderen Ländern schlagen. Deshalb richtete die herrschende Klasse all ihren Hass gegen die Entfaltung der Kämpfe und sie stellte die raffiniertesten Fallen auf. Vom Ausgang der Kämpfe der Arbeiterklasse in Deutschland hing der Erfolg oder Misserfolg der in Russland begonnenen Weltrevolution ab.
1914. Der Weltkrieg brach aus. Vier Jahre lang erlebte das Proletariat das schlimmste Abschlachten in der Geschichte der Menschheit: Schützengräben, Giftgasangriffe, Hunger, Millionen Tote ... Vier Jahre lang nutzten die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie ihre ruhmreiche proletarische Vergangenheit - die sie 1914 verraten hatten – aus, indem sie die Mobilisierung für den Krieg seitens der Herrschenden tatkräftig unterstützten – und sie missbrauchten das Vertrauen, das ihnen von den Arbeitern aufgrund ihrer Vergangenheit entgegengebracht wurde, um ihnen die schlimmsten Opfer aufzuzwingen und die Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen.
Aber in diesen vier Jahren entwickelte auch die Arbeiterklasse allmählich ihren Kampf. In allen Städten nahmen Streiks und Unruhen in der Armee weiter zu. Auf der anderen Seite blieb die herrschende Klasse natürlich nicht untätig, sie schlug heftig zurück. Streikführer in den Fabriken, die von den Gewerkschaften denunziert wurden, wurden verhaftet. Soldaten wurden wegen Disziplinlosigkeit oder Fahnenflucht hingerichtet.
1916. Am 1. Mai rief Karl Liebknecht: "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" Rosa Luxemburg wurde inhaftiert, ebenso wie andere Revolutionäre: Meyer, Eberlein, Mehring[1] (damals 70 Jahre alt!). Karl Liebknecht[2] wurde an die Front geschickt. Aber diese Unterdrückung reichte nicht aus, um die Unzufriedenheit zum Schweigen zu bringen – im Gegenteil! In den Fabriken brodelte es immer mehr.
1917. Gewerkschaften wurden zunehmend kritisiert. Die Obleute, die Delegierten der Fabrik, traten in Erscheinung, hauptsächlich bestehend aus Delegierten aus der „Basis“ der Gewerkschaft, die mit der Gewerkschaftsspitze gebrochen hatten. Vor allem die Arbeiter in Deutschland ließen sich vom Mut der Arbeiter in Russland inspirieren, der Atem der Oktoberrevolution wurde immer mehr spürbar.
1918. Die deutsche Bourgeoisie war sich der Gefahr bewusst. „Zum offenen Ausbruch kam die revolutionäre Bewegung in Kiel. Der Anlass war die Weigerung der Matrosen der Hochseeflotte, in diesem Stadium des Zusammenbruchs noch einmal auszufahren und der englischen Flotte eine Seeschlacht zu liefern, die an der militärischen Lage nichts ändern konnte, aber die Vernichtung der deutschen Flotte und den sicheren Untergang der 80.000 Matrosen herbeigeführt hätte (…) Mit der Verhaftung der meuternden Matrosen der Hochseeflotte hatte die Marineleitung versucht, der revolutionären Bewegung Herr zu werden. Diese Verhaftung jedoch wurde der Anstoß zum offenen Widerstand, zur Organisierung des bewaffneten Aufstandes gegen das herrschende Regime.“ (Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, S. 185).
Inspiriert durch die Oktoberrevolution übernahm die Arbeiterklasse die Kontrolle über ihre Kämpfe und gründete die ersten Arbeiter- und Soldatenräte. Die Bourgeoisie berief sich dann auf einen ihrer treuesten Bluthunde: die Sozialdemokratie. So wurde Gustav Noske, SPD-Führer, Spezialist für militärische Angelegenheiten und "Truppenmoralerhaltung" (sic!), in das Gebiet geschickt, um die Bewegung zu beruhigen und zu ersticken. Aber es war zu spät, der Arbeiter- und Soldatenrat verbreitete schon seine Forderungen: Eine spontane Bewegung breitete sich auf andere Hafenstädte aus, dann auf die großen Arbeiterzentren des Ruhrgebiets und in Bayern. Die geografische Ausdehnung der Kämpfe war in Gang gesetzt worden. Noske konnte sich dieser nicht mehr direkt entgegenstellen. Am 7. November rief der Kieler Arbeiterrat zur Revolution auf und verkündete: "Die Macht liegt in unseren Händen". Am 8. November befand sich fast ganz Nordwestdeutschland in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten. Gleichzeitig drängten die Ereignisse in Bayern und Sachsen die „Provinzfürsten“ zur Abdankung. In allen Städten des Reiches breiteten sich die Arbeiter- und Soldatenräte aus.
Gerade die Verbreitung dieser politischen Organisierung der Arbeiterklasse in der Form der Arbeiter- und Soldatenräte, welche zur Antriebskraft der Bewegung der Arbeiter wurde, jagte der herrschenden Klasse Angst ein. Die Organisation der Klasse in Arbeiter- und Soldatenräten mit gewählten Vertretern, die der Versammlung gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sind, ist eine äußerst dynamische Organisationsform, die den revolutionären Prozess widerspiegelt. Sie sind der Ort, an dem die gesamte Arbeiterklasse auf einheitliche Weise ihren Kampf und die Kontrolle der Gesellschaft, die revolutionäre Perspektive, diskutiert. Mit der Erfahrung von 1917 hatte die Bourgeoisie dies nur allzu gut verstanden. Deshalb begann sie, die Arbeiter- und Soldatenräte von innen heraus abzuwürgen und die noch immer sehr großen Illusionen der Arbeiterklasse gegenüber ihrer ehemaligen Partei, der SPD, auszuschlachten. Noske wurde zum Vorsitzenden des Kieler Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. Diese Schwäche der Arbeiterklasse sollte tragische Folgen für die darauffolgenden Wochen haben.
Aber vorerst, am Morgen des 9. November 1918, entwickelte sich der Kampf weiter. In Berlin zogen die Arbeiter vor die Kasernen, um die Soldaten für ihre Sache zu gewinnen, sie zogen zu den Gefängnissen, um ihre Klassenkameraden zu befreien. Die Bourgeoisie war sich damals bewusst, dass der Krieg sofort beendet und das Kaiserregime fallen musste. Sie hatte aus den Fehlern der russischen Bourgeoisie gelernt. Am 9. November 1918 wurde Wilhelm II. abgesetzt, am 11. November der Waffenstillstand unterzeichnet.
Der Kampf der Arbeiter in Deutschland hatte das Ende des Krieges herbeigeführt, aber es war die Bourgeoisie, die den Friedensvertrag unterzeichnete und dieses Ereignis nutzte, um gegen die Revolution vorzugehen.
Zunächst eine kurze Zusammenfassung des Kräfteverhältnisses zu Beginn des Bürgerkriegs im November 1918:
- Auf der einen Seite war die Arbeiterklasse äußerst kämpferisch. Sie konnte die Arbeiter- und Soldatenräte sehr schnell auf das ganze Land ausdehnen. Aber sie war voller Illusionen über ihre ehemalige Partei, die SPD; sie ließ diese Verräter sogar die höchsten Posten in den Arbeiter- und Soldatenräten übernehmen, wie Noske in Kiel. Die revolutionären Organisationen, die Spartakisten und die verschiedenen Gruppen der revolutionären Linken, führten den politischen Kampf an, sie übernahmen ihre Rolle als Wegweiser in den Kämpfen; sie betonten die Notwendigkeit, eine Brücke zur Arbeiterklasse in Russland zu bauen, sie entlarvten die Manöver und Sabotage der Bourgeoisie, sie erkannten die grundlegende Rolle der Arbeiterräte.
- Andererseits war sich die deutsche Bourgeoisie, eine äußerst erfahrene und organisierte Bourgeoisie, der Wirksamkeit der Waffe der SPD in ihren Händen bewusst. Aus den Ereignissen in Russland zog sie Lehren und erkannte deutlich die Gefahr einer Fortsetzung des Krieges und der Entstehung von Arbeiter- und Soldatenräten. Die Untergrabung der Bewegung durch die SPD sollte daher darin bestehen, im revolutionären Prozess ‚mitzuschwimmen‘, um den Kampf in Richtung bürgerliche Demokratie zu lenken. Dazu griff die Bourgeoisie auf allen Ebenen an: von der verleumderischen Propaganda über die heftigste Unterdrückung bis hin zu mehreren Provokationen.
Die SPD griff daher das Motto der Revolution auf: "Beendigung des Krieges" und setzte sich für "die Einheit der Partei" ein und sie unternahm alles, um ihre eigene führende Rolle bei der Durchführung des Krieges in Vergessenheit geraten zu lassen. Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes nutzte die SPD die Schwächen des Proletariats aus; sie verbreitete das Betäubungsmittel der Demokratie und sorgte dafür, dass das, was für die Arbeiter am unerträglichsten war: Krieg und Hungersnot, ‚beseitigt‘ wurde. Dazu präsentierte die Sozialdemokratie geeignete Sündenbö aus Russland. Die Abwählbarkeit der Delegierten war ein echtes Problem für die Bourgeoisie, denn sie erlaubte es den Räten, sich ständig zu erneuern und zu radikalisieren. Die Räte wurden daher von den treuen Vertretern der SPD angegriffen und sie nutzten dabei die noch vorhandenen Illusionen über diese alte "Arbeiterpartei" aus. Die Räte wurden von innen heraus ausgehöhlt, wobei sie bekannte SPD-Führer (Noske in Kiel, Ebert in Berlin) an deren Spitze stellten. Das Gift der Demokratie wurde u.a. dadurch verbreitet, dass zur Unterstützung der Wahl der Nationalversammlung aufgerufen wurde. Das Ziel war klar: die Arbeiter- und Soldatenräte zu neutralisieren, indem ihr revolutionärer Charakter beseitigt wurde. Die Tagung des Reichsrätekongresses am 16. Dezember 1918 in Berlin war das beste Beispiel dafür:
- Die Delegierten der Soldaten waren im Verhältnis zu den Delegierten der Arbeiter überrepräsentiert (ein Delegierter für 100.000 Soldaten, einer für 200.000 Arbeiter), da die Arbeiter eher ziemlich links von den Soldaten standen.
- Der Zugang zum Kongress wurde der russischen Delegation untersagt. Der Internationalismus wurde begraben.
- Es sollten nur „Arbeiterdelegierte“ in der Gestalt von „Hand- und Kopfarbeitern“ zugelassen werden, d.h. die Delegierten beteiligten sich anhand ihrer beruflichen Tätigkeit. So wurde Mitgliedern des Spartakusbundes einschließlich Luxemburg und Liebknecht die Teilnahme verweigert. Die revolutionäre Linke wurde so ausgesperrt. Selbst dem Druck von 250.000 Demonstranten vor dem Gebäude des Kongresses gab der Rätekongress nicht nach.
- Und der SPD gelang es, den Kongress dazu zu bewegen, für die Forderung nach der Abhaltung von Wahlen zum Reichstag am 19. Januar 1919 zu stimmen.
Das System der Arbeiter- und Soldatenräte war ein Gegenpol gegen den Kapitalismus und seinen demokratischen Machtapparat. Die Bourgeoisie war sich dessen wohl bewusst. Aber sie wusste auch, dass die Zeit gegen sie lief und der Stern der SPD als Arbeiterpartei tendenziell verblasste. Die SPD musste also die Initiative ergreifen, während das Proletariat Zeit brauchte, um zu reifen, um politisch zu wachsen.
Parallel zu diesen ideologischen Manövern schlossen Ebert und die SPD ab dem 9. November geheime Vereinbarungen mit der Armee, um die Revolution zu zerschlagen. Sie vermehrten Provokationen, Lügen und Verleumdungen, um den Weg zu einer militärischen Konfrontation zu ebnen. Ihre Verleumdungen richteten sich insbesondere gegen den Spartakusbund, indem sie ihn der Ermordung und Plünderung bezichtigten und behaupteten, der Spartakusbund fordere die Arbeiter wieder auf, ihr Blut zu vergießen. Sie drängten auf Pogrome gegen die Spartakisten, insbesondere gegen Liebknecht und Luxemburg. Sie gründeten eine "Weiße Armee" - das Freikorps, bestehend aus Soldaten, die durch den Krieg traumatisiert und durch blinden Hass angetrieben waren.
Ab dem 6. Dezember 1918 startete die Bourgeoisie große konterrevolutionäre Offensiven:
- Angriff auf die Druckerei, in der die Spartakisten ihre Zeitung „Rote Fahne“ druckten.
- Versuche, Mitglieder des Vollzugsrates zu verhaften,
- versuchte Ermordung von Karl Liebknecht,
- systematisch bewaffnete Überfälle auf Arbeiterdemonstrationen,
- Medienkampagne der Verleumdung und militärische Offensive gegen die Volksmarinedivision. Diese bestand aus bewaffneten Matrosen, die von den Häfen der Küste auf die Hauptstadt marschiert waren, um die Revolution zu verbreiten und diese zu verteidigen.
Aber weit davon entfernt, die erwachende Arbeiterklasse einzuschüchtern, verstärkte dies nur den Zorn der Arbeiter. Immer mehr Arbeiter bewaffneten sich, um auf die Provokation zu reagieren. Die Antwort lautete: Klassensolidarität. Am 25. Dezember 1918 fand die bis dahin größte Demonstration seit dem 9. November statt! Fünf Tage später wurde in Berlin die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands, gegründet.
Angesichts dieser Misserfolge lernte und passte sich die Bourgeoisie schnell an. Ende Dezember 1918 verstand sie, dass ein direkter Angriff auf die führenden Revolutionäre ihr nicht nützlich sein würde, weil ein solcher umgekehrt nur die Klassensolidarität stärken würde. Dann beschloss sie, Gerüchte und Verleumdungen zu verstärken, direkte bewaffnete Konfrontationen zu vermeiden und weniger bekannte Revolutionäre ins Visier zu nehmen. So richteten sich ihre Angriffe gegen den Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, der zum Vorsitzenden eines Soldatenausschusses in Berlin gewählt worden war. Eichhorn wurde am 4. Januar vom preußischen Innenminister aus dem Amt entlassen. Dies wurde sofort als Angriff gegen die Arbeiter der Stadt empfunden. Das Berliner Proletariat reagierte am 5. Januar 1919 massiv: 150.000 Menschen waren auf den Straßen, was sogar die Bourgeoisie überraschte. Aber das hinderte die Arbeiterklasse nicht daran, in die Falle eines vorzeitigen Aufstands zu tappen. Obwohl die Bewegung in den übrigen Gebieten Deutschlands, wo Eichhorn nicht bekannt war, dem Proletariat der Hauptstadt nicht folgte, beschloss der provisorische Revolutionsausschuss[3], darunter Pieck und Liebknecht, noch am selben Abend, den bewaffneten Aufstand zu starten, was gegen die Beschlüsse des KPD-Kongresses verstieß. Die Folgen dieses überstürzten Handelns waren dramatisch: Nachdem die Arbeiter in großen Massen auf der Straße zusammengeströmt waren, verharrten sie dort, ohne Anweisungen, ohne ein präzises Ziel und in größter Verwirrung. Schlimmer noch, die Soldaten weigerten sich, an dem Aufstand teilzunehmen, was ein Zeichen für sein Scheitern war. Angesichts dieses Fehlers der Einschätzung der Lage und der daraus resultierenden sehr gefährlichen Situation verteidigten Rosa Luxemburg und Leo Jogiches die einzig gültige Position, um ein Blutbad zu vermeiden: die Mobilisierung fortsetzen, das Proletariat bewaffnen und es auffordern, die Kasernen zu umzingeln, bis sich die Soldaten für die Revolution erheben. Diese Position untermauerten sie mit der richtigen Analyse, dass zwar das politische Kräfteverhältnis Anfang Januar 1919 nicht zugunsten des Proletariats in Deutschland war, aber die Aussichten auf militärischer Ebene (zumindest in Berlin) nicht schlecht standen.
Aber anstatt zu versuchen, die Arbeiter zu bewaffnen, begann der "provisorische Revolutionsausschuss" mit der Regierung zu verhandeln, die er gerade für abgesetzt erklärt hatte. Von da an spielte die Zeit nicht mehr zugunsten des Proletariats, sondern zugunsten der Konterrevolution.
Am 10. Januar 1919 forderte die KPD Liebknecht und Pieck zum Rücktritt auf. Aber der Schaden war schon angerichtet. Es folgt die "blutige Woche" oder "Spartakuswoche". Der "kommunistische Putsch" wurde "von den Helden der Freiheit und Demokratie" vereitelt. Der weiße Terror fing an. Die Freikorps verfolgten Revolutionäre in der ganzen Stadt, und die standrechtlichen Erschießungen fingen an. Am Abend des 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Liebknecht entführt und dann sofort ermordet. Im März 1919 wurden Leo Jogiches und Hunderte andere Revolutionäre ermordet.
Worauf war dieses dramatische Scheitern zurückzuführen? Die Ereignisse vom Januar 1919 weisen alle Faktoren auf, die zur Niederlage der Revolution führten: Einerseits war eine schlaue, trickreiche Bourgeoisie am Werk, andererseits eine Arbeiterklasse, die immer noch Illusionen über die Sozialdemokratie hegte und eine unzureichend organisierte Kommunistische Partei, deren Bemühungen, ihr eine solide programmatische Grundlage zu geben, nicht ausgereicht hatten. Die KPD war in der Tat ziemlich desorientiert, sie war unerfahren (es gab viele neue, junge Mitglieder, viele der älteren Generation waren durch Krieg oder Unterdrückung nicht mehr da), gespalten und unfähig, der Arbeiterklasse eine klare Führung zu geben.
Im Gegensatz zu den Bolschewiki, die seit 1903 über eine historische Kontinuität verfügten, und Erfahrungen mit der Revolution und den Arbeiter- und Soldatenräten 1905 gewonnen hatten, musste die revolutionäre Linke in Deutschland, die eine sehr kleine Minderheit innerhalb der SPD war, im August 1914 gegen den Verrat der Parteiführung ankämpfen und dann hastig eine Partei in der Hitze der Ereignisse aufbauen. Die KPD wurde am 30. Dezember 1918 vom Spartakusbund und den Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) gegründet. Auf dieser Konferenz sprach sich die Mehrheit der Delegierten sehr deutlich gegen die Teilnahme an bürgerlichen Wahlen aus und lehnte Gewerkschaften ab. Aber die Organisationsfrage wurde weitgehend unterschätzt. Die Bedeutung der Partei wurde nicht ausreichend im Lichte dessen, was auf dem Spiel stand, verstanden.
Diese Unterschätzung führte zur Entscheidung für den bewaffneten Aufstand seitens Liebknecht und anderer Genossen anhand einer neuen Analyse des Kräfteverhältnisses, ohne dabei jedoch eine klare Analyse und Methode für die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zu benutzen. Es fehlte an einer zentralen Entscheidungsfindung.
Die Tatsache, dass vorher keine Weltpartei gegründet worden war (die Kommunistische Internationale wurde erst zwei Monate später, im März 1919, gegründet), spiegelte die mangelnde Vorbereitung der KPD wider – und das sollte dramatische Folgen haben. Innerhalb weniger Stunden kehrte sich das Kräfteverhältnis um: Die Bourgeoisie konnte nun ihren weißen Terror verbreiten.
Die Streiks hörten jedoch nicht auf. Von Januar bis März 1919 entfalteten sich landesweit viele Massenstreiks. Aber gleichzeitig setzte die Bourgeoisie ihre schmutzige Arbeit fort: Hinrichtungen, Gerüchte, Verleumdungen ... Mit den Methoden des Terrors zerschlug die Bourgeoisie die Bewegung Stück für Stück. Während im Februar in ganz Deutschland massive Streiks stattfanden, konnte das Berliner Proletariat, das Herzstück der Revolution, nicht mehr folgen, angeschlagen durch die Niederlage im Januar. Als es wieder zurückschlug, war es zu spät. Die Kämpfe in Berlin und dem Rest Deutschlands schafften es nicht, sich zu vereinen. Gleichzeitig war die "enthauptete" KPD gezwungen, in der Illegalität zu arbeiten. So konnte sie in den Streikwellen von Februar bis April 1919 ihre entscheidende Rolle nicht spielen. Ihre Stimme wurde vom Kapital fast erstickt. Hätte die KPD die Gelegenheit gehabt, die Provokation der Bourgeoisie in der Januarwoche aufzudecken und zu verhindern, dass die Arbeiter in diese Falle tappen, wäre die Bewegung sicherlich ganz anders ausgegangen ... Überall setzte die Jagd auf "Kommunisten" ein. Die Kommunikation zwischen den noch vorhandenen Teilen der KPD-Zentrale und den lokalen oder regionalen KPD-Delegierten wurde mehrmals unterbrochen. Auf der Reichskonferenz am 29. März 1919 wurde festgestellt, dass "die lokalen Organisationen von Agenten und Provokateuren durchsiebt sind".
Die Revolution in Deutschland war vor allem die Massenstreikbewegung des Proletariats, die sich geografisch ausdehnte, sich mittels der Solidarität der Arbeiter gegen die kapitalistische Barbarei wandte, die Lehren aus dem Oktober 1917 übernahm und sich in Arbeiter- und Soldatenräten organisierte. Die Revolution in Deutschland verdeutlicht auch die Lehre, dass eine zentralisierte internationale kommunistische Partei mit klaren organisatorischen und programmatischen Grundlagen notwendig ist, ohne die das Proletariat den Machiavellismus der Bourgeoisie nicht vereiteln kann. Aber die Revolution in Deutschland verdeutlichte auch die Fähigkeit der Bourgeoisien, sich gegen das Proletariat zusammenzuschließen, mit ihrem Arsenal an Manövern, Lügen und Manipulationen aller Art. Sie brachte den Fäulnisprozess einer dahinsiechenden Welt zum Ausdruck, die nicht von selbst verschwinden will. Die tödliche Falle der Illusionen über die Demokratie wurde ersichtlich. Die Arbeiterräte wurden von ihrem Inneren her ausgehöhlt. Obwohl die Ereignisse von 1919 entscheidend waren, erlosch die noch vorhandene brennende Glut der deutschen Revolution mehrere Jahre lang nicht. Aber im historischen Rückblick waren die Folgen dieser Niederlage für die Menschheit dramatisch: der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, des Stalinismus in Russland, der Weg zum Zweiten Weltkrieg unter dem Banner des Antifaschismus. Diese alptraumhaften Ereignisse sind alle auf das Scheitern der revolutionären Welle zwischen 1917 und 1923 zurückzuführen, die die bürgerliche Ordnung erschüttert hatte, ohne sie ein für allemal stürzen zu können. Deshalb ist die Revolution in Deutschland 1918 für uns eine Quelle der Inspiration und der Lehren für die zukünftigen Kämpfe des Proletariats. Denn wie Rosa Luxemburg am Vorabend ihrer Ermordung durch die Handlanger der Sozialdemokratie schrieb: „Was zeigt uns die ganze Geschichte der modernen Revolutionen und des Sozialismus? Das erste Aufflammen des Klassenkampfes in Europa, der Aufruhr der Lyoner Seidenweber 1831, endet mit einer schweren Niederlage; die Chartistenbewegung in England – mit einer Niederlage. Die Erhebung des Pariser Proletariats in den Junitagen 1848 endet mit einer niederschmetternden Niederlage. Die Pariser Kommune endete mit einer furchtbaren Niederlage. Der ganze Weg des Sozialismus ist – soweit revolutionäre Kämpfe in Betracht kommen – mit lauter Niederlagen besät. (…)
Wo wären wir heute ohne jene „Niederlagen“, aus denen wir historische Erfahrung, Erkenntnis, Macht, Idealismus geschöpft haben! Wir fußen heute, wo wir unmittelbar bis vor die Endschlacht des proletarischen Klassenkampfes herangetreten sind, geradezu auf jenen Niederlagen, deren keine wir missen dürften, deren jede ein Teil unserer Kraft und Zielklarheit ist. (…) Die Revolutionen haben uns bis jetzt lauter Niederlagen gebracht, aber diese unvermeidlichen Niederlagen häufen gerade Bürgschaft auf Bürgschaft des künftigen Endsieges. Allerdings unter einer Bedingung! Es fragt sich, unter welchen Umständen die jeweilige Niederlage davongetragen wurde (…).
„Ordnung herrscht in Berlin!“ Ihr stumpfen Schergen! Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon „rasselnd wieder in die Höh‘ richten“ und zu eurem Schreck mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“ (Rosa Luxemburg, Die Rote Fahne, 14. Januar 1919).
IKS, 29. Oktober 2018
[1] Alle drei gehörten zu der SPD-Minderheit, die Kriegskredite ablehnte und sich dem Spartakusbund anschloss.
[2] Er war zusammen mit Rosa Luxemburg einer der beiden berühmtesten und am meisten gehetzten und verfolgten Führer des Spartakusbundes.
[3] „Am 5. Januar trafen sich die Revolutionären Obleute, Mitglieder der Führung der USPD des Großraums Berlin, und Liebknecht und Pieck von der KPD im Polizeipräsidium, um darüber zu diskutieren, wie die Aktion fortgesetzt werden soll (...) Die Vertreter der revolutionären Arbeiter gründeten einen 52-köpfigen provisorischen Revolutionsausschuss, der die revolutionäre Bewegung leiten und gegebenenfalls alle Regierungs- und Verwaltungsfunktionen übernehmen sollte. Die Entscheidung, den Kampf um den Sturz der Regierung zu beginnen, wurde auf dieser Sitzung gegen sechs Gegenstimmen getroffen.“ (Zusammenfassung aus Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, S. 274, Junius-Drucke, Paul Frölich)
Die Ereignisse im Frühling 1968 in Frankreich hatten in ihren Wurzeln und Auswirkungen eine internationale Bedeutung. Ihr Fundament hatten sie in den Konsequenzen, welche die ersten Symptome der internationalen Wirtschaftskrise für die Arbeiterklasse hatte, einer Krise, die nach mehr als einem Jahrzehnt kapitalistischer Prosperität ausbrach.
Nach Jahrzehnten von Niederlagen, Desorientierungen und Unterwerfung trat die Arbeiterklasse im Mai 1968 wieder auf die historische Bühne. Während die Agitation der Studentenschaft, welche in Frankreich schon ab dem Frühlingsbeginn stattfand, und die radikalen Arbeiterkämpfe von 1967 die soziale Atmosphäre verändert hatten, warf der massive Eintritt der Arbeiterklasse (10 Millionen Streikende) die Nation aus den Fugen.
Sehr bald traten andere Sektoren der internationalen Arbeiterklasse in den Kampf. Nach den massiven Streiks im Mai 1968 in Frankreich bestätigten die Kämpfe in Argentinien (der Cordobazo), der „Heiße Herbst“ in Italien und viele andere Bewegungen in verschiedenen Ländern, dass die Arbeiterklasse die Periode der Konterrevolution beendet hatte. Im Gegensatz zur Krise von 1929 führte die nun ausbrechende nicht zu einem Weltkrieg, sondern zu Klassenkämpfen, welche die herrschende Klasse daran hinderte, ihre barbarische Lösung für die Erschütterungen der Ökonomie durchzusetzen.
Um die Bedeutung der vor 50 Jahre ausgebrochenen Ereignisse hervorzuheben, veröffentlichen wir auf unserer Webseite ein Dossier mit den wichtigsten Artikeln, welche die IKS dazu geschrieben hat. Hier möchten wir folgende zur Lektüre empfehlen:
Wir beginnen hier mit der Veröffentlichung einer Serie von drei Artikeln, die sich der Zeit seit dem Mai 1968 widmen und welche untersuchen sollen, inwieweit die von uns über die Bedeutung des Mai 1968 gemachten Schlussfolgerungen von der Geschichte bestätigt wurden.
In Nummer 2 von Révolution Internationale, die 1969 veröffentlicht wurde, befindet sich ein Artikel mit dem Titel Den Mai verstehen, der von Marc Chirik geschrieben wurde, welcher nach mehr als zehn Jahren Exil in Venezuela zurückkehrte, um aktiv an den „Ereignissen“ im Mai 1968 in Frankreich teilzunehmen.[1]
Dieser Artikel ist eine polemische Antwort auf die Broschüre Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen, herausgegeben von der Situationistischen Internationale (SI). Der Artikel anerkennt zwar die aktive Rolle, welche die SI in der Bewegung vom Mai-Juni gespielt hatte, zeigte aber vor allem die schrankenlosen Anmaßungen und Selbstverherrlichungen, welche die SI zur substitutionistischen Schlussfolgerung führte, dass „die Agitation vom Januar 1968 in Nanterre durch vier oder fünf Revolutionäre, welche die Gruppe der Wütenden gegründet hatten, innerhalb von fünf Monaten beinahe zur Liquidation des Staates geführt hat“. Ebenso: „Noch nie hatte eine Agitation durch eine Handvoll Individuen in so kurzer Zeit zu solchen Konsequenzen geführt.“
Das Hauptziel der Polemik in Révolution Internationale sind jedoch die den Übertreibungen bezüglich „exemplarischer“ Minderheiten zugrundeliegenden Auffassungen – die Ablehnung der materiellen Grundlagen einer proletarischen Revolution. Der Artikel von Marc zieht die Schlussfolgerung, dass der Voluntarismus und Substitutionismus der SI eine logische Konsequenz der Zurückweisung der marxistischen Methode ist, welche davon ausgeht, dass massive und spontane Kämpfe der Arbeiterklasse immer im Zusammenhang mit der objektiven Situation der kapitalistischen Ökonomie stehen.
Marc zeigt auf, wie im Gegensatz zur Idee der SI, dass die Ereignisse vom Mai-Juni 1968 sich in einem „gut funktionierenden“ Kapitalismus, in dem es in der Periode vor dem Ausbruch der Bewegung „keine Tendenz hin zur ökonomischen Krise“ abgespielt hätten, der Bewegung eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und des Lohnabbaus vorangegangen war – Anzeichen des Endes der „glorreichen“ Periode des Wiederaufschwungs nach dem Krieg. Diese Anzeichen beschränkten sich nicht auf Frankreich, sondern existierten in unterschiedlicher Form in anderen Ländern der „entwickelten“ Welt, vor allem in der Entwertung des britischen Pfundes und in der Dollarkrise in den USA. Marc unterstrich, dass dies nur Anzeichen und Symptome waren, denn „Natürlich ist dies noch keine offene Wirtschaftskrise, erstens weil wir erst am Anfang stehen, und zweitens weil der Staat im heutigen Kapitalismus über ein ganzes Arsenal an Mitteln verfügt, um die markantesten Äußerungen der Krise zu verlangsamen und vorübergehend abzuschwächen.“
Ebenso zeigt der Artikel auf, dass im Gegensatz zur anarchistischen (und situationistischen) Auffassung, nach der die Revolution zu jedem Zeitpunkt möglich ist, die ökonomische Krise zwar eine notwendige, aber noch lange nicht ausreichende Bedingung für die Revolution ist und grundlegende Schritte im subjektiven Bewusstsein der Massen nicht automatisch durch den Niedergang der Ökonomie hervorgerufen werden. Dies im Gegensatz zu den Stalinisten, welche 1929 aufgrund der Krise den Ausbruch einer „Dritten Periode“ der Revolution deklariert hatten, während in der Realität die Arbeiterklasse die tiefste Niederlage ihrer Geschichte erlitt (von welcher der Stalinismus Produkt sowie auch aktiver Faktor war).
Der Mai 1968 war nicht die Revolution, aber er signalisierte das Ende der konterrevolutionären Periode, welche der Niederlage der Arbeiterkämpfe nach dem Ersten Weltkrieg gefolgt war. „Die Bedeutung des Mai 68 liegt darin, dass er eine der ersten und wichtigsten Reaktionen der Arbeitermassen auf die sich weltweit verschlechternde ökonomische Situation ist.“ Der Artikel geht bezüglich der konkreten Ereignisse des Mai 1968 nicht weiter. Doch er gibt einige Hinweise auf die Konsequenzen des Endes der Konterrevolution (einer Periode, welche Marc von Beginn bis zum Ende durchlebte) auf die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes. Es bedeutete die Befreiung der neuen Generation der Arbeiterklasse von Mystifikationen, welche sie in der vorgängigen Periode gefangen gehalten hatten, vor allem der Stalinismus und Antifaschismus. Und obwohl die Krise, die sich nun erneut zeigte, den Kapitalismus wieder Richtung Weltkrieg drängte, gab es 1968 einen Gegensatz zu den 1930er Jahren: „Der Kapitalismus verfügt über immer weniger Themen der Mystifikation, die in der Lage sind, die Massen zu mobilisieren und zum Schlachten zu bringen. Der russische Mythos bricht zusammen; die falsche Wahl zwischen bürgerlicher Demokratie und Totalitarismus wird immer dünner. Unter diesen Bedingungen ist die Krise sofort erkennbar. Die ersten Symptome werden in allen Ländern immer heftigere Reaktionen der Massen hervorrufen.“ Wie wir in den Artikeln Mai 68 und die revolutionäre Perspektive in der Internationalen Revue Nr. 41 und 42 von 2008 gezeigt haben, war der Mai 1968 mehr als nur eine defensive Reaktion gegenüber der sich verschlechternden ökonomischen Situation, er bedeutete auch eine intensive politische Gärung in zahlreichen Debatten über die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft und eine seriöse Anstrengung junger politisierter Elemente – Arbeiter und Studenten – zur Wiederentdeckung der revolutionären Tradition der Vergangenheit. Diese Dimension der Bewegung bedeutete die Wiederbelebung der revolutionären Perspektive, nicht als eine unmittelbare und kurzfristige Perspektive, sondern als das historische Produkt einer ganzen Periode des wieder aufkommenden Klassenkampfes. Unmittelbares Produkt dieses neuen Interesses an der revolutionären Politik war die Bildung eines neuen proletarischen politischen Milieus, unter anderem die Gruppe, welche dann unsere Organisation gründete. Die Frage, die wir hier aber behandeln wollen, ist, ob sich die Voraussagen im Artikel von Marc bestätigt haben, korrigiert werden müssen oder schlicht falsch sind.
Die Mehrheit der marxistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen davon aus, dass der Erste Weltkrieg der definitive Schritt war von der Epoche, in welcher die kapitalistischen Produktionsverhältnisse „Verhältnisse der Entwicklung“ der Produktivkräfte waren, in die Epoche, in der diese sich in Fesseln ihre eigenen Entwicklung verwandelten. Dies drückte sich auf der ökonomischen Ebene im Übergang von zyklischen Überproduktionskrisen, welche das 19.Jahrhundert geprägt hatten, in eine chronische Krise aus, begleitet von einer permanenten Militarisierung der Ökonomie und einer Spirale barbarischer Kriege. Doch dies bedeutete im Gegensatz zu den Positionen einiger Marxisten in der Zeit nach dem Krieg von 1914-18 nicht, dass der Kapitalismus in seine „Todeskrise“ eingetreten wäre, aus der es kein Zurück gibt. In einer Zeit des weltweiten Niedergangs gab es immer noch Erholungen, Ausdehnungen in neue Zonen, die bisher außerhalb des kapitalistischen Systems waren, und tatsächliche Fortschritte in der Verfeinerung der Produktivkräfte. Die allem zugrunde liegende Tendenz war aber nicht die vorbeiziehender Erschütterungen, sondern eine permanente und chronische Krankheit, welche in gewissen Momenten in akute Phasen eintrat. Dies bestätigte sich schon durch die Krise der 1930er Jahre: Die Idee des „laisser faire“, des sich Abstützen auf die unsichtbare Hand des Marktes, der die Ökonomie fast natürlicherweise wieder auf die Beine bringe – die erste Antwort der traditionelleren Kreise der Bourgeoisie –, musste der offenen Politik der Intervention des Staates Platz machen, was sich in der Politik des New Deal in den USA und der Kriegsökonomie der Nazis zeigte. Und es war vor allem Letztere, welche in einer Periode der Niederlage der Arbeiterklasse das Geheimnis enthüllte, wie die akute Krise der 1930er Jahre an die Hand genommen werden sollte: durch die Vorbereitung eines zweiten imperialistischen Weltkrieges.
Unser Artikel von 1969 unterstreicht das Ausbrechen einer offenen Krise, was sich im Laufe der folgenden Jahre durch den Schock der „Ölkrise“ von 1973-74 und die zunehmenden Schwierigkeiten im keynesianischen Konsens der Nachkriegsjahre bestätigte. All das äußerte sich in einer zunehmenden Inflation und in Angriffen auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse, und dort vor allem auf die Löhne, welche in der Aufschwung nach dem Krieg laufend angestiegen waren. Wie wir in unseren Artikeln von 1999 Wirtschaftskrise: 30 Jahre offenen Krise des Kapitalismus (Internationale Revue Nr. 24, 25, 26) aufzeigten, ist die Tendenz zur offenen Krise, die im dekadenten Kapitalismus eine permanente Gefahr darstellt, in der Periode seit 1968 angestiegen: heute müsste man einen Artikel über „50 Jahre offene Krise“ schreiben. Unser Artikel von 1999 behandelt die Entwicklung der Krise durch die Explosion der Arbeitslosigkeit, die dem „Thatcherismus“ und den „Reaganomics“ in den frühen 1980er Jahren folgte; den Finanz-Crash von 1987; die Rezession der frühen 1990er Jahre; die Erschütterungen der fernöstlichen „Drachen- und Tiger-Staaten“; Russland und Brasilien 1997/98. Eine aktualisierte Version müsste andere Rezessionen in der Zeit der Jahrtausendwende behandeln, vor allem der Kredit-Crash von 2007. Der Artikel von 1999 unterstreicht die zentralen Merkmale, welche die Ökonomie dieser Jahrzehnte auszeichnen: der grenzenlose Anstieg der Spekulation, da Investitionen in den produktiven Sektoren immer weniger Profit einbringen, die Desindustrialisierung ganzer Zonen in den alten kapitalistischen Zentren, da das Kapital immer mehr nach billigen Arbeitskräften in den „Schwellenländern“ sucht; und an der Wurzel eines großen Teils sowohl des Wachstums als auch der Finanzschocks dieser ganzen Zeitspanne stand die unüberwindbare Abhängigkeit des Kapitals von der Verschuldung. Die Krise des Kapitalismus lässt sich nicht nur an der Arbeitslosigkeit oder der Wachstumsrate messen, sondern an ihren sozialen und militärischen Aspekten. Es war die weltweite Krise des Kapitalismus, welche ein entscheidender Faktor für den Zusammenbruch des Ostblocks war, wie auch für die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und die sich verbreitenden Kriege und das Chaos, vor allem in den schwächsten Zonen der Welt. In einer aktualisierten Analyse der Situation müssen wir auch den Zusammenhang zwischen der zugespitzten Konkurrenz, verursacht durch die ökonomischen Krise, und der Ausplünderung der Natur aufzeigen, deren Konsequenzen (Umweltverschmutzung, Klimawandel, etc.) weltweit für die ganze Bevölkerung existieren. Zusammengefasst: Der permanente Charakter der offenen Krise des Kapitalismus in den letzten 50 Jahren, in denen die beiden sich antagonistisch gegenüberstehenden Klassen in der Gesellschaft – die Bourgeoisie und das Proletariat – weder die eine noch die andere ihre Perspektive durchsetzen konnten – der Krieg oder die Weltrevolution – ist Basis für eine neue Phase in der Dekadenz des Kapitalismus, die Phase des generalisierten Zerfalls.
Zweifellos war die Dynamik dieser Phase nicht die eines lang anhaltenden Rückgangs oder einer permanenten Stagnation. Die herrschende Klasse hat immer, vor allem auch in ihrer Propaganda, die verschiedenen Erholungen und Mini-Booms welchen in den am meisten entwickelten Ländern in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren existierten, in großen Tönen behauptet, dass der Kapitalismus weit davon entfernt sei, ein seniles System zu sein. Vor allem der beeindruckende Aufstieg der chinesischen Ökonomie dient dabei als materieller Beleg. Aber die zerbrechliche Grundlage und die limitierten und lediglich temporären Erholungen in den starken Zentren des Systems haben gerade durch den enormen Finanz-Crash von 2007 ans Tageslicht gebracht, wie das kapitalistische Wachstum auf dem Sand der grenzenlosen Verschuldung steht. Dieses Phänomen ist auch ein Faktor, der beim Aufstieg Chinas mitspielt, auch wenn dessen Wachstum eine festere Basis hat als die „Erholungen durch Vampirisierung“, die „Erholungen ohne Arbeitsplätze“ oder die „Erholungen ohne Lohnanstieg“ in den westlichen Staaten. Doch auch China kann den Widersprüchen des globalen Systems nicht entfliehen; vielmehr verstärkt die schiere Größe der Expansion Chinas nur das Potential zukünftiger zerstörerischer Überproduktionskrisen auf globaler Ebene. Zurückblickend auf die letzten 50 Jahre wird klar, dass wir nicht von einem Zyklus der Expansion und Rezession sprechen, wie es sie im 19. Jahrhundert gab, als der Kapitalismus tatsächlich ein florierendes System war. Im Gegenteil existiert eine sich fortsetzende globale Wirtschaftskrise des Kapitalismus, welche Ausdruck der offensichtlichen Überholtheit dieser Produktionsweise ist. Der Artikel von 1969, bestückt mit dem Verständnis über den historischen Charakter des Kapitalismus, ist fähig eine Diagnose über die wirkliche Bedeutung der kleinen Krankheitszeichen der Ökonomie zu machen, welche die situationistischen Professoren so leichtfertig verworfen hatten.
Mit ein bisschen Abstand können wir auch feststellen, dass der Artikel richtig liegt mit der Aussage, wonach „der Staat im heutigen Kapitalismus über ein ganzes Arsenal an Mitteln verfügt, um die markantesten Äußerungen der Krise zu verlangsamen und vorübergehend abzuschwächen“.
Hauptgrund für die lange Dauer der Krise und dafür, dass sie oft schwer zu erkennen war, ist die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Auswirkungen der Widersprüche des Systems aufzuhalten und hinauszuzögern. Die herrschende Klasse hat seit 1969 nicht denselben Fehler begangen wie die Verteidiger des „laisser-faire“ in den 1930er Jahren. Im Gegensatz dazu stabilisierte und stärkte eine mittlerweile weisere und erfahrenere Bourgeoisie die staatskapitalistische Kontrolle der Ökonomie, welche es erlaubte, auf die Krise in den 1930er Jahren zu reagieren und den Nachkriegsboom zu unterstützen. Dies zeigte sich in den ersten keynesianischen Antworten auf die wiederaufkommende Krise, die oft die Form von Nationalisierungen und direkten Finanzmanipulationen des Staates annahmen, was trotz der ideologischen Vernebelung auch in der Periode der „Reaganomics“ und des „Neoliberalismus“ anhielt, in welcher der Staat die Tendenz hatte, viele seiner Aufgaben an den privaten Sektor zu delegieren, um die Produktivität zu steigern und die Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen.
Der Artikel von 1999 erklärt, wie das verfeinerte Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie funktioniert: „Der Mechanismus des „Finanz-Engineering“ war wie folgt. Auf der einen Seite gab der Staat Obligationen und Anleihen aus, um seine beträchtlichen und ständig wachsenden Defizite zu finanzieren, zu denen auch die Finanzmärkte (Banken, Geschäfte, Individuen) beisteuerten. Auf der anderen Seite drängte er die Banken dazu, nach Anleihen auf den Finanzmärkten zu suchen und gleichzeitig Obligationen und Anleihen zu emittieren sowie die sukzessive Expansion von Kapital (Ausgabe von Aktien) durchzuführen. Es handelte sich hierbei um einen höchst spekulativen Mechanismus, der versuchte, die Entwicklung einer wachsenden Menge von fiktivem Kapital (toter Mehrwert, der nicht in neues Kapital investiert werden kann) auszubeuten. Auf diese Weise wurde das Gewicht privater Fonds größer als das der öffentlichen Fonds bei der Finanzierung der Schulden (öffentlicher und privater). Das heißt nicht, dass es eine Verringerung des staatlichen Gewichts (wie die „Liberalen“ behaupten) gegeben hat, vielmehr war dies eine Antwort auf die wachsenden Bedürfnisse der Finanzierung (und besonders der sofortigen Liquidität), die eine massive Mobilisierung allen verfügbaren Kapitals erforderte.“
Die Kreditkrise von 2007 war vermutlich der deutlichste Ausdruck, wie die Wundermedizin des kapitalistischen Systems – die Verschuldung – den Patienten in den letzten Jahrzehnten nur vergiftet hat, indem er zwar die unmittelbaren Auswirkungen der Krise hinauszögert, aber damit nur zukünftige Erschütterungen auf einem viel höheren Niveau erzeugt. All dies zeigt aber schlussendlich auch, dass diese Herangehensweise die systematische Politik des kapitalistischen Staates ist. Die Goldgrube des Kredits, welche vor 2007 den Immobilienboom angeheizt hatte und oft ganz simpel gierigen Bankiers in die Schuhe geschoben wurde, war in der Realität eine Politik, die auf der höchsten Ebene des Staates entschieden und unterstützt wurde, genauso wie es die Regierungen waren, welche in der Turbulenz des Crashs intervenierten, um die Banken und das wacklige Finanzsystem zu retten. Die Tatsache, dass sie diesen Schritt unternommen hatten, damit aber noch mehr in die Schulden schlitterten und sogar schamlos Geld druckten („quantitative easing“), macht nur deutlich, dass der Kapitalismus auf seine Widersprüche nur reagieren kann, indem er sie noch weiter zuspitzt.
Es ist eine Sache aufzuzeigen, wie wir recht hatten, als wir 1969 das Aufkommen der offenen ökonomischen Krise vorhersagten und einen Rahmen gaben, der aufzeigte, weshalb diese Krise eine langanhaltende Geschichte ist. Es ist aber eine zweite, viel schwerere Aufgabe zu zeigen, dass sich auch unsere Vorhersage über das Wiedererstarken des Klassenkampfes auf internationaler Ebene bestätigte. Wir werden dieser Frage den zweiten Teil dieses Artikels widmen, ein dritter Teil wird dann zeigen, was aus dem neuen revolutionären Milieu, das in der Dynamik des Mai 1968 entstand, geworden ist.
Amos, März 2018
[1] Siehe dazu auch unsere kurze Biografie von Marc, um einen genaueren Eindruck dieser aktiven Teilnahme an den Ereignissen im Mai 1968 zu haben. „Er zeigte auch, dass sein Charakter nichts mit dem eines „Lehnstuhl-Theoretiker“ zu tun hatte: präsent an allen Orten, an denen die Bewegung lebte, in den Diskussionen, aber auch auf den Demonstrationen, er verbrachte entschlossen eine ganze Nacht hinter einer Barrikade an der Seite einer Gruppe junger Militanter, um die "Stellung gegen die Polizei zu halten" ... wie dies die kleine Ziege des Herrn Seguin angesichts des Wolfes in Alphonse Daudets Geschichte getan hatte." (Internationale Revue Nr. 67, engl./franz./span. Ausgabe)
Die Hauptausrichtungen des Berichts vom November 2017 über die imperialistischen Spannungen[1] bieten uns den wesentlichen Rahmen, um die aktuellen Entwicklungen zu verstehen:
- Das Ende der beiden Blöcke des Kalten Krieges bedeutete nicht das Verschwinden von Imperialismus und Militarismus. Obwohl die Zusammensetzung neuer Blöcke und der Ausbruch eines neuen "Kalten Krieges" nicht auf der Tagesordnung steht, brachen überall auf der Welt Konflikte aus. Die Entwicklung des Zerfalls hat zu einer blutigen und chaotischen Entfesselung von Imperialismus und Militarismus geführt;
- Die Explosion der Tendenz eines jeden für sich selbst hat zum Aufstieg der imperialistischen Ambitionen der Mächte der zweiten und dritten Ebene sowie zur zunehmenden Schwächung der dominanten Stellung der USA in der Welt geführt;
- Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch imperialistische Spannungen und ein immer weniger kontrollierbares Chaos, vor allem aber durch seinen höchst irrationalen und unberechenbaren Charakter, der mit den Auswirkungen des populistischen Drucks verbunden ist, insbesondere mit der Tatsache, dass die stärkste Macht der Welt heute von einem populistischen Präsidenten geführt wird, der mit von seinem Temperament geprägten unberechenbaren Reaktionen regiert.
In der letzten Zeit wird das Gewicht des Populismus immer greifbarer, was die Tendenz des "Jeder für sich" und die wachsende Unvorhersehbarkeit imperialistischer Konflikte verschärft;
- Die Infragestellung internationaler Abkommen, supranationaler Strukturen (insbesondere der EU), jedes globalen Ansatzes macht die imperialistischen Beziehungen chaotischer und verstärkt die Gefahr militärischer Konfrontationen zwischen den imperialistischen Haien (Iran und Naher Osten, Nordkorea und Ferner Osten).
- Die Ablehnung der traditionellen globalisierten politischen Eliten in vielen Ländern geht einher mit der Verstärkung einer aggressiven nationalistischen Rhetorik auf der ganzen Welt (nicht nur in den USA mit Trumps "America First"-Slogan und in Europa, sondern beispielsweise auch in der Türkei oder Russland).
Diese allgemeinen Merkmale der Zeit finden ihre Konkretisierung heute in einer Reihe von besonders bedeutsamen Tendenzen.
Die Entwicklung der imperialistischen Politik der USA in den letzten dreißig Jahren ist eines der bedeutendsten Phänomene der Zeit des Zerfalls: Nach dem Versprechen eines neuen Zeitalters des Friedens und des Wohlstands (Bush Senior) nach der Implosion des Sowjetblocks, nachdem sie dann gegen die Tendenz des “Jeder für sich” gekämpft hat, sie die USA heute die Haupttriebkraft dieser Tendenz in der Welt. Der ehemalige Blockführer und nach der Implosion des Ostblocks und mittlerweile einzig übrig gebliebene große imperialistische Supermacht, die seit rund 25 Jahren als Weltpolizist gegen die Ausbreitung des “jeder für sich” auf imperialistischer Ebene kämpft, lehnt nun internationale Verhandlungen und globale Abkommen zugunsten einer Politik des "Bilateralismus" ab.
Ein gemeinsames Prinzip, das darauf abzielt, das Chaos in den internationalen Beziehungen zu überwinden, ist im folgenden lateinischen Satz zusammengefasst: "pacta sunt servanda" - Verträge, Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Wenn jemand ein globales Abkommen - oder ein multilaterales - unterzeichnet, soll er es zumindest scheinbar respektieren. Aber die USA unter Trump haben diese Vorstellung abgeschafft: "Ich unterschreibe einen Vertrag, aber ich kann ihn morgen abschaffen." Dies geschah bereits mit dem Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP, dem Pariser Abkommen über den Klimawandel, dem Atomvertrag mit dem Iran, dem endgültigen Abkommen vom G7-Gipfel in Québec. Die USA lehnen heute internationale Abkommen zugunsten einer Verhandlung zwischen Staaten ab, bei der die US-Bourgeoisie ihre Interessen durch wirtschaftliche, politische und militärische Erpressung (wie wir heute beispielsweise mit Kanada vor und nach der G7 im Hinblick auf die NAFTA oder mit der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen gegen europäische Unternehmen, die im Iran investieren, sehen können) unverblümt durchsetzen wird. Dies wird enorme und unvorhersehbare Folgen für die Entwicklung der imperialistischen Spannungen und Konflikte (aber auch für die wirtschaftliche Situation der Welt) in der kommenden Periode haben. Wir werden dies mit drei "Hot Spots" in den heutigen imperialistischen Konfrontationen veranschaulichen:
(1) Der Nahe/Mittlere Osten: Mit der Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran wenden sich die USA nicht nur gegen China und Russland, sondern auch gegen die EU und sogar gegen Großbritannien. Ihr scheinbar paradoxes Bündnis mit Israel und Saudi-Arabien führt zu einer neuen Konfiguration von Kräften im Nahen Osten (mit einer wachsenden Annäherung zwischen der Türkei, dem Iran und Russland) und erhöht die Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Region, weiterer Konfrontationen zwischen den wichtigsten Haien und ausgedehnterer blutiger Kriege.
(2) Die Beziehungen zu Russland: Wie stehen die USA zu Putin? Aus historischen Gründen (die Auswirkungen des “Kalten Krieges" und das mit den letzten Präsidentschaftswahlen begonnene “Russia-gate”) gibt es in der US-Bourgeoisie starke Kräfte, die auf stärkere Konfrontationen mit Russland drängen, aber die Trump-Regierung scheint trotz der imperialistischen Konfrontation im Nahen Osten eine Verbesserung der Zusammenarbeit mit Russland nicht auszuschließen: So schlug Trump beispielsweise beim letzten G7 die Wiedereingliederung Russlands in das Forum der Industrieländer vor.
(3) Fernost: Weil nicht vorsehbar ist, ob Abkommen eingehalten werden, belastet dies die Verhandlungen mit Nordkorea besonders stark: (a) Welche Auswirkungen hat ein Abkommen zwischen Trump und Kim, wenn China, Russland, Japan und Südkorea nicht direkt an der Aushandlung dieses Abkommens beteiligt sind? Dies ist bereits an die Oberfläche gekommen, als Trump in Singapur zum Entsetzen seiner asiatischen "Verbündeten" offenbarte, dass er versprochen hatte, gemeinsame militärische Übungen in Südkorea zu beenden (b) wenn irgendein Deal jederzeit von den USA in Frage gestellt werden kann, wie weit kann Kim ihnen vertrauen? (c) werden sich Nord- und Südkorea in diesem Zusammenhang vollständig auf ihren "natürlichen Verbündeten" verlassen und erwägen sie eine alternative Strategie?
Obwohl diese Politik ein enormes Wachstum des Chaos und der Dynamik des “Jeder für sich” und letztlich auch eine weitere Schwächung der globalen Positionen der führenden Macht der Welt bedeutet, gibt es in den USA keine greifbare Alternative. Nach eineinhalb Jahren von Müllers Ermittlungen und anderem Druck gegen Trump sieht es nicht danach aus, dass Trump aus dem Amt gedrängt wird, unter anderem weil keine andere Kraft in Sicht ist. Die US-Bourgeoisie steckt weiterhin im Morast fest.
Der Widerspruch könnte nicht stärker hervorstechen. Während die USA die Globalisierung verurteilen und auf "bilaterale" Abkommen zurückfallen, kündigt China ein globales Großprojekt an, die "Neue Seidenstraße", an der rund 65 Länder auf drei Kontinenten beteiligt sind, die 60% der Weltbevölkerung und rund ein Drittel des Welt-BIP repräsentieren und den Plan, in den nächsten 30 Jahren (2050!) bis zu 1,2 Billionen Dollar investieren.
Seit Beginn seines Wiederauftauchens, das auf systematischste und langfristigste Weise geplant war, hat China seine Armee modernisiert und eine "Perlenkette" aufgebaut - beginnend mit der Besetzung der Korallenriffe im Südchinesischen Meer und der Errichtung einer Kette von Militärstützpunkten im Indischen Ozean. Im Augenblick sucht China jedoch keine diekte Konfrontation mit den USA. Im Gegenteil, China will bis 2050 die mächtigste Volkswirtschaft der Welt werden und versucht, seine Verbindungen zum Rest der Welt auszubauen und dabei direkte Zusammenstöße zu vermeiden. Chinas Politik ist eine langfristige, im Gegensatz zu den von Trump favorisierten kurzfristigen Deals. Es will seine industrielle, technologische und vor allem militärische Kompetenz und Macht ausbauen. Auf dieser letzten Ebene haben die USA noch immer einen erheblichen Vorsprung vor China.
Zum gleichen Zeitpunkt des gescheiterten G7-Gipfels in Kanada (9.-10.6.18) organisierte China in Quingdao eine Konferenz der Shanghai Cooperation Organisation mit Beteiligung der Präsidenten von Russland (Putin), Indien (Modi), Iran (Rohani) und der Führer von Belarus, Usbekistan, Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan und Kirgisien (20% des Welthandels, 40% der Weltbevölkerung). Chinas aktueller Schwerpunkt ist eindeutig das Seidenstraßenprojekt - das Ziel ist es, seinen Einfluss zu verbreiten. Es ist ein langfristiges Projekt und eine direkte Konfrontation mit den USA würde diesen Plänen entgegenwirken.
- Mit dieser Perspektive wird China seinen Einfluss nutzen, um auf ein Abkommen zu drängen, das zur Neutralisierung aller Atomwaffen in der koreanischen Region führt (einschließlich US-Waffen), das - vorausgesetzt, die USA würden dies akzeptieren - die US-Truppen nach Japan zurückdrängen und die unmittelbare Bedrohung für Nordchina verringern würde.
Die Ambitionen Chinas werden jedoch unweigerlich zu einer Konfrontation mit den imperialistischen Zielen nicht nur der USA, sondern auch anderer Mächte wie Indien oder Russland führen:
- eine wachsende Konfrontation mit Indien, der anderen Großmacht in Asien, ist unvermeidlich. Beide Mächte haben mit einer massiven Aufrüstung ihrer Armeen begonnen und bereiten sich mittelfristig auf eine Verschärfung der Spannungen vor;
- In dieser Hinsicht befindet sich Russland in einer schwierigen Situation: Beide Länder kooperieren, aber auf lange Sicht kann Chinas Politik nur zu einer Konfrontation mit Russland führen. Russland hat in den letzten Jahren auf militärischer und imperialistischer Ebene wieder an Macht gewonnen, aber seine wirtschaftliche Rückständigkeit ist nicht überwunden, im Gegenteil: 2017 lag das russische BIP (Bruttoinlandsprodukt) nur 10% über dem BIP der Benelux-Länder!
- Schließlich ist es wahrscheinlich, dass Trumps Wirtschaftssanktionen und politische und militärische Provokationen China dazu zwingen werden, die USA kurzfristig direkter zu konfrontieren.
Die Verschärfung der Tendenz des “Jeder für sich” auf der imperialistischen Ebene und die wachsende Konkurrenz zwischen den imperialistischen Haien führen zu einem weiteren bedeutenden Phänomen dieser Phase des Zerfalls: die Übernahme der Macht durch "starke Führer" mit einer radikalen Sprache und einer aggressiven, nationalistischen Rhetorik.
Die Machtübernahme eines "starken Führers" und eine radikale Rhetorik über die Verteidigung der nationalen Identität (oft kombiniert mit Sozialprogrammen zugunsten von Familien, Kindern, Rentnern) ist typisch für populistische Regime (Trump natürlich, aber auch Salvini in Italien, Orbán in Ungarn, Kaczynski in Polen), Babiš in der Tschechischen Republik, ....), aber es ist auch eine allgemeinere Tendenz auf der ganzen Welt, nicht nur in den stärksten Mächten (Putin in Russland), sondern auch in zweitrangigen imperialistischen Ländern wie der Türkei (Erdogan), Iran, Saudi-Arabien (mit dem "weichen Putsch" des Kronprinzen Mohammed Ben Salman). In China wurde die Beschränkung der Staatspräsidentschaft auf zwei Fünfjahresperioden aus der Verfassung gestrichen, so dass sich Xi Jinping als "Führer auf Lebenszeit", der neue chinesische Kaiser (als Präsident, Parteichef und Vorsitzender der zentralen Militärkommission, was seit Deng Xiaoping nie geschehen ist), durchsetzt. "Demokratische" Slogans oder die Aufrechterhaltung demokratischer Fassaden (z.B. Menschenrechte) sind nicht mehr der dominierende Diskurs (wie die Gespräche zwischen Donald Trump und Kim Jong-un gezeigt haben), anders als zur Zeit des Auseinanderbrechens des Sowjetblocks und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie sind einer Kombination aus sehr aggressiven Reden und pragmatischen imperialistischen Abmachungen gewichen.
Das stärkste Beispiel ist die Krise in Korea. Trump und Kim benutzten zunächst sowohl starken militärischen Druck (mit der Gefahr einer nuklearen Konfrontation) als auch eine sehr aggressive Sprache, bevor sie sich in Singapur trafen, um zu feilschen. Trump bot gigantische wirtschaftliche und politische Vorteile (das burmesische Modell) mit dem Ziel, Kim schließlich ins US-Lager zu ziehen. Das ist nicht völlig undenkbar, da die Nordkoreaner ein zweideutiges Verhältnis zu China haben und ihm sogar misstrauen. Der Verweis auf Libyen durch US-Beamte (National Security Adviser John Bolton) - Nordkorea könnte das gleiche Schicksal haben wie Libyen, als Gaddafi aufgefordert wurde, seine Waffen aufzugeben, und dann gewaltsam abgesetzt und getötet wurde - macht die Nordkoreaner besonders misstrauisch gegenüber amerikanischen Vorschlägen.
Diese politische Strategie ist eine allgemeinere Tendenz in den gegenwärtigen imperialistischen Konfrontationen, wie die aggressiven Tweets von Trump gegen Kanadas Premierminister Trudeau zeigen, "ein falscher und schwacher Führer", weil er sich weigerte, höhere Einfuhrsteuern zu akzeptieren, die von den USA eingeführt wurden. Es gab auch das brutale Ultimatum Saudi-Arabiens gegen Katar, das des "Zentrismus" gegenüber dem Iran beschuldigt wurde, oder Erdogans kriegerische Erklärungen gegen den Westen und die NATO über die Kurden. Schließlich werden wir Putins sehr aggressive "State of the Union"-Rede erwähnen, die eine Präsentation der ausgefeiltesten Waffensysteme Russlands mit der Botschaft war: "Ihr nehmt uns besser ernst"!
Diese Tendenzen verstärken die allgemeinen Merkmale dieser Zeit, wie die Intensivierung der Militarisierung (trotz der damit verbundenen starken wirtschaftlichen Belastung) unter den drei größten imperialistischen Haien, aber auch als globaler Trend und im Kontext einer sich verändernden imperialistischen Landschaft in der Welt und in Europa. In diesem Kontext aggressiver Politik ist die Gefahr begrenzter Atomschläge sehr real, da es in den Konflikten um Nordkorea und den Iran viele unvorhersehbare Elemente gibt.
Alle Trends in Europa in der vergangenen Zeit - Brexit, der Aufstieg einer wichtigen populistischen Partei in Deutschland (AfD), die Machtübernahme der Populisten in Osteuropa, wo die meisten Länder von populistischen Regierungen regiert werden, werden durch zwei große Ereignisse akzentuiert:
- die Bildung einer 100% populistischen Regierung in Italien (bestehend aus der 5-Sterne-Bewegung und der Lega), die zu einer direkten Konfrontation zwischen den "Bürokraten aus Brüssel" (der EU), den "Champions" der Globalisierung (unterstützt von der Eurogruppe) und den Finanzmärkten auf der einen Seite und der "populistischen Volksfront" auf der anderen Seite führen wird;
- der Sturz von Rajoy und der Partido Popular in Spanien und die Machtübernahme einer Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei, die von den katalanischen und baskischen Nationalisten und Podemos unterstützt wird, was die zentrifugalen Spannungen innerhalb Spaniens und in Europa verstärken wird.
Dies wird enorme Folgen für den Zusammenhalt der EU, die Stabilität des Euro und das Gewicht der europäischen Länder auf der imperialistischen Bühne haben.
(a) Die EU ist unvorbereitet und weitgehend machtlos gegen Trumps Politik eines US-Embargos gegen den Iran: Die europäischen multinationalen Unternehmen halten sich bereits an die Vorgaben der USA (Total, Lafarge). Dies gilt umso mehr, als verschiedene europäische Staaten Trumps populistischen Ansatz und seine Politik im Nahen Osten unterstützen (Österreich, Ungarn, Tschechien und Rumänien waren bei der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem gegen die offizielle Politik der EU vertreten). Was die Erhöhung der Einfuhrzölle betrifft, so ist es keineswegs sicher, dass es innerhalb der EU ein Abkommen geben wird, um systematisch auf die von Trump erhobenen höheren Einfuhrzölle zu reagieren.
(b) Das Projekt eines europäischen Militärpols bleibt weitgehend hypothetisch in dem Sinne, dass sich immer mehr Länder unter dem Einfluss populistischer Kräfte an der Macht oder unter Druck auf die Regierung nicht der deutsch-französischen Achse unterwerfen wollen. Während die politische Führung der EU aus der deutsch-französischen Achse besteht, hat Frankreich traditionell die militärisch-technologische Zusammenarbeit mit Großbritannien entwickelt, das kurz davor steht, die EU zu verlassen.
(c) Spannungen um die Aufnahme von Flüchtlingen bringen nicht nur die Koalition populistischer Regierungen im Osten gegen jene Westeuropas auf, sondern zunehmend auch westliche Länder gegeneinander, wie die starken Spannungen zwischen Macron's Frankreich und der italienischen populistischen Regierung zeigen, während Deutschland in dieser Frage zunehmend gespalten ist (Druck der CSU).
d) das wirtschaftliche und politische Gewicht Italiens (der dritten Volkswirtschaft der EU) ist beträchtlich und in keiner Weise mit dem Gewicht Griechenlands vergleichbar. Die italienische populistische Regierung will unter anderem Steuern senken und ein Grundeinkommen einführen, das mehr als hundert Milliarden Euro kosten wird. Gleichzeitig fordert die Regierung die Europäische Zentralbank auf, 250 Milliarden Euro der italienischen Schulden zu überspringen!
(e) Auf wirtschaftlicher, aber auch imperialistischer Ebene hatte Griechenland bereits die Idee entwickelt, an China zu appellieren, seine angeschlagene Wirtschaft zu unterstützen. Auch hier plant Italien, China oder Russland um Hilfe zur Unterstützung und Finanzierung einer wirtschaftlichen Erholung zu bitten. Eine solche Orientierung könnte einen großen Einfluss auf die imperialistische Ebene haben. Italien ist bereits gegen die Fortsetzung der EU-Embargomaßnahmen gegen Russland nach der Annexion der Krim.
All diese Orientierungen verstärken die Krise innerhalb der EU und die Tendenzen zur Fragmentierung. Es wird letztlich die Politik Deutschlands als einflussreichstes Land in der EU beeinflussen, da es intern gespalten ist (Gewicht von AfD und CSU), mit politischer Opposition durch die populistischen Führer Osteuropas, wirtschaftlicher Opposition durch die Mittelmeerländer (Italien, Griechenland,....) und mit Streit mit der Türkei konfrontiert ist, während es gleichzeitig direkt von den Importzöllen von Trump angegriffen wird. Die zunehmende Zersplitterung Europas durch die Einflüsse des Populismus und der "America First"-Politik wird auch für die Politik Frankreichs ein großes Problem darstellen, denn diese Trends stehen in völligem Widerspruch zu Macrons Programm, das im Wesentlichen auf der Stärkung Europas und der vollständigen Integration der Globalisierung beruht.
IKS, Juni 2018
[1] https://en.internationalism.org/international-review/201805/15142/report-imperialist-tensions-november-2017 [4] (nur auf Englisch, oder auf unseren entsprechenden Webseiten Französisch bzw. Spanisch)
1. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, die dem überraschenden Resultat des EU-Referendums in Großbritannien folgte, hat eine Welle der Besorgnis, der Furcht, aber auch eine Menge Fragen aufgeworfen. Wie konnten unsere Herrscher, die angeblich für die gegenwärtige Weltordnung verantwortlich sind, zulassen, dass solche Dinge geschehen - Ereignisse, deren Wendungen die "rationalen" Interessen der kapitalistischen Klasse zu beeinträchtigen scheinen? Wie konnte es geschehen, dass ein Opportunist, ein narzisstischer Strolch und Gauner heute an der Spitze des mächtigsten Staates der Welt steht? Und noch wichtiger: was sagt uns das darüber, was der gesamten Welt bevorsteht?
2. Unserer Ansicht nach kann die Verfassung der menschlichen Gesellschaft nur vom Standpunkt des Klassenkampfes, der ausgebeuteten Klasse dieser Gesellschaft, des Proletariats, aus begriffen werden, das kein Interesse hat, die Wahrheit zu verbergen, und dessen Kampf es zwingt, all die Mystifikationen des Kapitalismus zu durchschauen, um das Ziel seiner Überwindung anzustreben. Desgleichen ist es nur dann möglich, aktuelle, unmittelbare oder lokale Ereignisse zu verstehen, wenn man sie in einem globalen und historischen Rahmen verortet. Dies ist der Kern des Marxismus. Aus diesem Grund, und nicht einfach, weil 2017 der hundertste Jahrestag der Revolution in Russland ist, beginnen wir, indem wir ein Jahrhundert und mehr zurückgehen, um die historische Epoche zu begreifen, innerhalb derer die jüngsten Entwicklungen in der Weltlage stattfinden: die Epoche des Niedergangs, der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise.
Die Revolution in Russland war die Antwort der Arbeiterklasse in Russland auf den Horror des ersten imperialistischen Weltkrieges. Wie die Kommunistische Internationale 1919 bekräftigte, markierte dieser Krieg den Beginn einer neuen Epoche, das Ende der Aufstiegsperiode des Kapitalismus, des ersten großen Ausbruchs der kapitalistischen "Globalisierung", als er auf die Barrieren stieß, die von der Spaltung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten errichtet wurden: die Epoche der "Kriege und Revolutionen". Die Fähigkeit der Arbeiterklasse, den bürgerlichen Staat in einem ganzen Land zu stürzen und sich mit einer politischen Partei auszustatten, die die Klasse zur Diktatur des Proletariats führte, zeigte an, dass das Versprechen der Ablösung des Kapitalismus sowohl eine historische Notwendigkeit als auch eine Möglichkeit war.
Darüber hinaus erkannte die bolschewistische Partei, die 1917 die Vorhut der revolutionären Bewegung war, dass die Machtergreifung durch die Sowjets in Russland nur von Bestand sein konnte, wenn sie der erste Schlag einer erst in ihren Anfängen steckenden Weltrevolution war. Auch die deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg verstand, dass, wenn das Weltproletariat nicht auf die Herausforderung des Oktoberaufstandes reagierte und dem kapitalistischen System ein Ende machte, die Menschheit in eine Epoche wachsender Barbarei gestürzt werden würde, in eine Spirale der Kriege und der Zerstörung, die die menschliche Zivilisation gefährden würden.
Die Weltrevolution und die Notwendigkeit im Sinn, einen alternativen Bezugspunkt für das Proletariat gegenüber der mittlerweile konterrevolutionären Sozialdemokratie zu schaffen, übernahm die bolschewistische Partei die Leitung bei der Schaffung der Kommunistischen Internationalen, deren erster Kongress 1919 in Moskau stattfand. Die neuen Kommunistischen Parteien, besonders jene in Deutschland, Italien waren die Speerspitze bei der Ausbreitung der proletarischen Revolution nach Westeuropa.
3. Die Revolution in Russland entfachte in der Tat eine weltweite Reihe von Massenstreiks und Aufständen, die die Bourgeoisie dazu zwang, das imperialistische Gemetzel zu beenden, doch die internationale Arbeiterklasse war nicht fähig, die Macht in anderen Ländern zu übernehmen, abgesehen von einigen kurzlebigen Versuchen in Ungarn und in einigen deutschen Städten. Angesichts der bisher größten Bedrohung durch ihren potenziellen Totengräber war die herrschende Klasse imstande, selbst ihre schlimmsten Rivalitäten zu überwinden, um sich gegen die proletarische Revolution zu vereinen: die Isolierung der Sowjetmacht in Russland durch Blockaden, Invasion und Unterstützung der bewaffneten Konterrevolution, Verwendung der sozialdemokratischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die bereits ihre Loyalität gegenüber dem Kapital bewiesen hatten, indem sie sich an den imperialistischen Kriegsanstrengungen beteiligt hatten, um die Arbeiterräte in Deutschland zu infiltrieren und zu neutralisieren und sie zu einer Arrangement mit dem neuen "demokratischen" Regime zu bringen. Doch die Niederlage zeigte nicht nur die anhaltende Kapazität einer mittlerweile reaktionären herrschenden Klasse, ihr Recht auszuüben; sie rührte auch aus der Unreife der Arbeiterklasse, die gezwungen war, einen abrupten Übergang vom Kampf für Reformen zum revolutionären Kampf zu bewerkstelligen, und immer noch große Illusionen über die Möglichkeit einer Verbesserung des kapitalistischen Regimes durch demokratische Abstimmung, über die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien oder die Gewährung der sozialen Wohlfahrt für die ärmsten Gesellschaftsschichten hegte. Hinzu kommt, dass die Arbeiterklasse durch die Schrecken des Krieges, in dem die schöne Blume ihrer Jugend dezimiert wurde und aus dem die tiefe Spaltung zwischen Arbeiter_innen der "siegreichen" und der "bezwungenen" Nationen herrührte, ernsthaft traumatisiert war.
In Russland beging die bolschewistische Partei angesichts der Isolation, des Bürgerkrieges und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs eine Reihe katastrophaler Fehler, die sie mehr und mehr in einen gewalttätigen Konflikt mit der Arbeiterklasse brachten, insbesondere die Politik des "Roten Terrors", die die Unterdrückung von Arbeiterprotesten und politischen Organisationen beinhaltete und in der Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt 1921 kulminierte, nachdem die Aufständischen die Wiederherstellung der echten Sowjetmacht, wie sie 1917 existiert hatte, gefordert hatten. Auf internationaler Ebene begann die Kommunistische Internationale, die zunehmend an die Bedürfnisse des Sowjetstaates statt der Weltrevolution gefesselt wurde, Zuflucht zu suchen in eine opportunistische Politik wie die 1922 verabschiedete Taktik der Einheitsfront, die ihre ursprüngliche Klarheit untergrub.
Diese Degeneration führte zur Entstehung einer wichtigen Linksopposition besonders in den deutschen und italienischen Parteien. Und in Letzterer war es die italienische Fraktion, die Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre in der Lage war, die Lehren aus der schließlichen Niederlage der Revolution aufzudecken.
4. Nach der Niederlage der weltweiten revolutionären Welle bewahrheiteten sich die Warnungen der Revolutionäre 1917/18 über die Folgen eines solchen Scheiterns: einen neuen Abstieg in die Barbarei. Die Diktatur des Proletariats in Russland degenerierte nicht nur, sondern verwandelte sich in eine kapitalistische Diktatur gegen das Proletariat, ein Prozess, der bestätigt (wenn auch nicht begonnen) wurde durch den Sieg des stalinistischen Apparates mit seiner Doktrin des "Sozialismus in einem Land". Der "Frieden", der installiert wurde, um der Bedrohung durch die Revolution ein Ende zu machen, machte bald den Weg frei für neue imperialistische Konflikte, die durch den Ausbruch der weltweiten Überproduktionskrise 1929 beschleunigt und intensiviert wurden, ein weiteres Anzeichen, dass die Expansion des Kapitals auf seine eigenen, systemimmanenten Grenzen stieß. Die Arbeiterklasse in den Kernländern des Systems, besonders der USA und Deutschlands, waren den Schlägen der wirtschaftlichen Depression voll ausgesetzt, doch nachdem sie ein Jahrzehnt zuvor vergeblich versucht hatte, die Revolution zu machen, war sie im Wesentlichen eine besiegte Klasse, trotz einiger realer Ausdrücke von Klassenwiderstand wie in den USA und Spanien. Sie war somit nicht in der Lage, sich einem weiteren Marsch in den Weltkrieg in den Weg zu stellen.
5. Die Mistgabel der Konterrevolution hatte drei Hauptzinken: Stalinismus, Faschismus, Demokratie, die allesamt tiefe Narben in der Psyche der Arbeiterklasse hinterlassen hatten.
Die Konterrevolution erreichte ihren größten Tiefstand in jenen Ländern, wo die revolutionäre Flamme am höchsten gelodert hatte: Russland und Deutschland. Doch der Kapitalismus nahm angesichts der Notwendigkeit, das proletarische Gespenst auszutreiben, mit der größten Wirtschaftskrise in seiner Geschichte fertig zu werden und sich auf den Krieg vorzubereiten, überall in wachsendem Maße eine totalitäre Form an, die jede Pore des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens penetrierte. Das stalinistische Regime gab dabei den Ton an: eine vollständige Kriegswirtschaft, die Zerschlagung aller Dissidenten, monströse Ausbeutungsraten, ein einziges Konzentrationslager. Doch die schlimmste Hinterlassenschaft des Stalinismus - im Leben wie im Tod Jahrzehnte später - war, dass er sich als wahrer Erbfolger der Oktoberrevolution maskierte. Die Zentralisierung des Kapitals in den Händen des Staates wurde der Welt als Sozialismus, imperialistische Expansion als proletarischer Internationalismus verkauft. Zwar haben viele Arbeiter in den Jahren, als die Oktoberrevolution noch eine lebendige Erinnerung war, weiterhin an diesem Mythos vom sozialistischen Vaterland geglaubt, aber weitaus mehr haben sich angesichts der fortlaufenden Enthüllungen über den wahren Charakters des stalinistischen Regimes von jeglichem Gedanken an die Revolution abgewandt. Der Schaden, den der Stalinismus der Perspektive des Kommunismus, der Hoffnung angetan hatte, dass die Arbeiterrevolution eine höhere Form der Gesellschaftsorganisation herbeiführen kann, ist unkalkulierbar, nicht zuletzt weil der Stalinismus nicht von den Wolken zum Proletariat herabgestiegen war, sondern durch die internationale Niederlage der Klassenbewegung und vor allem durch die Degeneration seiner politischen Partei ermöglicht worden war. Nach dem traumatischen Treuebruch der sozialdemokratischen Parteien 1914 hatten nun ein zweites Mal innerhalb zweier Jahrzehnte die Organisationen, für deren Gründung und Verteidigung die Arbeiterklasse große Anstrengungen unternommen hatte, sie verraten und sind zu seinen ärgsten Feinden geworden. Konnte es einen schlimmeren Schlag gegen das Selbstvertrauen des Proletariats geben, gegen seine Überzeugung in die Möglichkeit, die Menschheit auf ein höheres Gesellschaftsniveau zu führen?
Der Faschismus, anfangs eine Bewegung von Ausgestoßenen aus der herrschenden Klasse und den Mittelschichten und sogar von Abtrünnigen aus der Arbeiterbewegung, konnte von den mächtigsten Fraktionen des deutschen und italienischen Kapitals aufgenommen werden, weil er mit ihren Bedürfnissen übereinstimmte: die Zerschlagung des Proletariats zu vervollständigen und für den Krieg zu mobilisieren. Er spezialisierte sich auf den Gebrauch moderner Techniken, um die dunklen Kräfte der Irrationalität zu entfesseln, die sich unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft befinden. Insbesondere der Nazismus, das Produkt einer weitaus zerstörerischeren Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland, erreichte neue Tiefstände der Irrationalität, indem er den mittelalterlichen Pogrom verstaatlichte und industrialisierte sowie die demoralisierten Massen in einen irren Marsch in die Selbstzerstörung führte. Die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit unterlag nicht irgendeinem positiven Glauben in den Faschismus - im Gegenteil, sie war weitaus verwundbarer gegenüber der Verlockung des Antifaschismus, der der Hauptschlachtruf für den kommenden Krieg war. Doch der beispiellose Schrecken der Todeslager der Nazis war kein geringerer Schlag gegen das Vertrauen in die Zukunft der Menschheit - und somit in die Perspektive des Kommunismus - als der stalinistische Gulag.
Die Demokratie, die dominante Form der bürgerlichen Herrschaft in den fortgeschrittenen Industrieländern, präsentierte sich selbst als Gegner dieser totalitären Formen - was sie nicht daran hinderte, den Faschismus zu unterstützen, als dieser die revolutionäre Arbeiterbewegung erledigte, oder sich im Krieg gegen Hitlerdeutschland mit dem stalinistischem Regime zu verbünden. Doch die Demokratie hat sich als weitaus intelligentere und beständigere Form des kapitalistischen Totalitarismus erwiesen als der Faschismus, der in den Kriegstrümmern kollabierte, und der Stalinismus, der (mit der bemerkenswerten Ausnahme Chinas und des anormalen Regimes in Nordkorea) unter dem Gewicht der Wirtschaftskrise und seiner Unfähigkeit zusammenbrechen sollte, konkurrenzfähig auf dem kapitalistischen Weltmarkt zu sein, dessen Gesetze er versucht hatte, per Staatsdekret zu umgehen.
Auch die Manager des demokratischen Kapitalismus sind von der Systemkrise dazu genötigt worden, den Staat und die Macht des Kredits zu benutzen, um die Kräfte des Marktes zu beugen, aber sie waren nicht gezwungen, die extreme Form der Top-down-Zentralisierung anzugreifen, die der materiellen und strategischen Schwäche den osteuropäischen Regimes geschuldet war. Die Demokratie hat ihre Rivalen überlebt und ist nun in den alten kapitalistischen Kernländern des Westens the only game in town geworden. Bis heute ist es ein Sakrileg, die Notwendigkeit der Unterstützung der Demokratie gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg in Frage zu stellen; und jene, die argumentieren, dass hinter der Fassade der Demokratie die Diktatur der herrschenden Klasse herrscht, werden als Verschwörungstheoretiker abgetan. Schon in den 1920er und 1930er Jahren schuf die Entwicklung der Massenmedien in den Demokratien ein Modell für die Weiterverbreitung der offiziellen Propaganda, das einen Goebbels neidisch machte, während die Penetration der Warenverhältnisse in die Sphären von Freizeit und Familienleben, wie vom amerikanischen Kapitalismus vorgemacht, ein subtileres Einfallstor für die totalitäre Vorherrschaft des Kapitals war als das Vertrauen auf Spitzel und nacktem Terror.
6. Entgegen der Hoffnungen der ohnehin dezimierten revolutionären Minderheit, die in den 30er und 40er Jahren an internationalistische Positionen festhielt, brachte das Kriegsende keinen neuen revolutionären Aufstand. Im Gegenteil war es die Bourgeoisie, die, mit Churchill an der Spitze, die Lehren von 1917 lernte und jeglichen Ansatz einer proletarischen Revolte im Keim erstickte durch die Flächenbombardements deutscher Städte und durch die Politik, die Italiener im Zuge der Massenstreiks in Norditalien 1943 im "eigenen Saft schmoren" zu lassen. Das Kriegsende vertiefte somit die Niederlage der Arbeiterklasse. Und auch hier: entgegen der Erwartungen vieler Revolutionäre folgte dem Krieg keine weitere wirtschaftliche Depression und ein neuer Zug zum Weltkrieg, auch wenn die imperialistischen Antagonismen zwischen den siegreichen Blöcken eine konstante Bedrohung blieb, die über der Menschheit hing. Stattdessen erlebte die Nachkriegsperiode eine Phase realer Expansion der kapitalistischen Verhältnisse unter amerikanischer Führung, auch wenn ein Teil des Weltmarktes (der russische Block und China) versuchte, sich selbst vor dem Eindringen westlichen Kapitals abzuschotten. Die Fortsetzung der Kriegswirtschaft und Repression im Ostblock provozierte bedeutende Arbeiterrevolten (Ostdeutschland 1953, Polen und Ungarn 1956), doch im Westen gab es nach einigen Nachkriegsmanifestationen der Unzufriedenheit wie die Streiks in Frankreich 1947 eine allmähliche Abschwächung des Klassenkampfes, was so weit ging, dass Soziologen über die "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse als Resultat der Verbreitung der Konsumgesellschaft und der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates zu räsonieren begannen. Und in der Tat bleiben diese beiden Aspekte des Kapitalismus nach 1945 zusätzliche Lasten, die auf die Möglichkeit der Wiederherstellung der Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft drückten. Die Konsumgesellschaft atomisiert die Arbeiterklasse und geht mit der Illusion hausieren, dass jedermann das Paradies des individuellen Eigentums erreichen kann. Der Wohlfahrtsstaat, der oftmals von linken Parteien eingeführt worden war und als eine Errungenschaft der Arbeiterklasse präsentiert wurde, ist ein noch bedeutenderes Instrument der kapitalistischen Kontrolle. Er unterminiert das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse und macht sie vom Wohlwollen des Staates abhängig; und später, in einer Phase der Massenmigration, würde seine Organisation durch den Nationalstaat bedeuten, dass die Frage des Zugangs zu Krankenversicherung, Wohnungen und anderen Leistungen zu einem starken Faktor bei der Suche nach Sündenböcken unter den Immigranten und der Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse werden würde. In der Zwischenzeit wurde, zusammen mit dem offensichtlichen Verschwinden des Klassenkampfes in den 1950er und 1960er Jahren, die revolutionäre politische Bewegung auf ihren isoliertesten Zustand in der Geschichte reduziert.
7. Einige jener Revolutionäre, die in dieser dunklen Zeit aktiv geblieben waren, hatten zu argumentieren begonnen, dass der Kapitalismus dank des bürokratischen Staatsmanagements gelernt habe, die ökonomischen Widersprüche, die von Marx analysiert worden waren, zu kontrollieren. Doch Andere, weiter Vorausschauende, wie die Gruppe Internacionalismo in Venezuela, erkannten, dass die alten Probleme - die Grenzen des Marktes, der tendenzielle Fall der Profitrate - nicht weggezaubert werden konnten und dass die finanziellen Kalamitäten Ende der 60er Jahre Vorboten einer neuen Phase der offenen Wirtschaftskrise waren. Sie nahmen auch freudig die Fähigkeit einer neuen Generation von Proletariern zur Kenntnis, durch die Wiederaufnahme des Klassenkampfes auf die Krise zu antworten - eine Vorhersage, die durch die beeindruckende Bewegung in Frankreich im Mai 1968 und der folgenden internationalen Welle von Kämpfen voll und ganz bestätigt wurde; sie demonstrierten, dass eine jahrzehntelange Konterrevolution zu Ende gegangen ist und dass der proletarische Kampf das Haupthindernis war, das verhinderte, dass die neue Krise einen Kurs in Richtung Weltkrieg initiierte.
8. Dem proletarischen Aufschwung Ende der 60er, Anfang der 70er Jahren ist eine wachsende politische Agitation unter breiten Bevölkerungsschichten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und besonders in der Jugend vorausgegangen. In den USA Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Rassentrennung; die Bewegung der deutschen Student_innen, die ein Interesse an einer theoretischeren Vorgehensweise gegenüber den Analysen des zeitgenössischen Kapitalismus manifestierten; in Frankreich die Agitation der Student_innen gegen den Krieg in Vietnam und gegen das repressive Regime in den Universitäten; in Italien die "operaistische" oder autonomistische Strömung, die erneut die Zwangsläufigkeit des Klassenkampfes bestätigte, als jene weisen Soziologen sein Überholtsein verkündeten. Überall tat sich, als reife Frucht des Nachkriegswirtschaftswohlstandes, eine wachsende Unzufriedenheit mit dem entmenschlichten Leben kund. Angetrieben vom Aufschwung militanter Kämpfe in Frankreich und anderen Industrieländern, konnte sich eine kleine Minderheit an der Gründung einer bewussten, internationalistischen politischen Avantgarde beteiligen, nicht zuletzt weil ein Teil dieser Minderheit den Beitrag der kommunistischen Linken wiederzuentdecken begann.
9. Wie wir uns nur zu bewusst sind, war das Rendezvous zwischen dieser Minderheit und der breiteren Klassenbewegung nur eine Episode in den Bewegungen Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger. Dies war zum Teil das Ergebnis der Tatsache, dass die politisierte Minderheit stark von einem unzufriedenen Kleinbürgertum dominiert war: Insbesondere der Studentenbewegung mangelte es an einem starken proletarischen Kern, der erst in den nächsten Jahrzehnten durch Änderungen in der Organisation des Kapitalismus erzeugt wurde. Und trotz mächtiger Klassenbewegungen auf der ganzen Welt, trotz ernster Konfrontationen zwischen den Arbeiter_innen und den Eindämmungskräften in ihrer Mitte - Gewerkschaften und linke Parteien - blieb die Klassenkämpfe mehrheitlich defensiv; nur sehr selten stellten sie direkt politische Fragen. Ferner sah sich die Arbeiterklasse erheblichen Spaltungen in ihren Reihen als weltweite Klasse ausgesetzt: der "Eiserne Vorhang" zwischen Ost und West und die Spaltung zwischen den sogenannten "privilegierten" Arbeiter_innen im Zentrum des Kapitals und den verarmten Massen in den einstigen Kolonialgebieten. Unterdessen wurde die Reifung einer politischen Vorhut durch eine Vision der sofortigen Revolution und durch aktivistische Praktiken, typisch für die kleinbürgerliche Ungeduld, aufgehalten, die nicht den langfristigen Charakter der revolutionären Arbeit und das gigantische Ausmaß der theoretischen Aufgaben erfassen konnte, welchen sich die politisierte Minderheit ausgesetzt sah. Die Dominanz des Aktivismus machte große Teile der Minderheit verwundbar gegenüber der Rückgewinnung durch den Linksextremismus oder, wenn der Kampf abflaute, gegenüber der Demoralisierung. Indes waren jene, die den Linksextremismus ablehnten, oft behindert durch rätekommunistische Vorstellungen, die das ganze Problem des organisatorischen Aufbaus leugneten. Eine kleine Minderheit jedoch war in der Lage, diese Hindernisse zu überwinden und die Tradition der kommunistischen Linken aufzugreifen, indem sie eine Dynamik des Wachstums und der Umgruppierung in Gang setzten, die die ganzen siebziger Jahre hindurch anhielt. Aber auch dies fand zu Beginn der achtziger Jahre ein Ende, symbolisiert durch den Zusammenbruch der Internationalen Konferenzen. Das Scheitern der Kämpfe dieser Periode, eine höhere politische Ebene zu erreichen, die Saat zu düngen, die in den Straßen und auf den Versammlungen von 1968 das Problem der Ablösung des Kapitalismus in Ost und West durch eine neue Gesellschaft gestellt hatte, sollte erhebliche Konsequenzen im folgenden Jahrzehnt haben.
Dennoch verlor dieser riesige Ausbruch proletarischer Energie nicht einfach an Schwung, sondern es erforderte konzertierte Anstrengungen durch die herrschende Klasse, sie abzulenken, zu Fall zu bringen und zu unterdrücken. Im Wesentlichen fand dies auf politischer Ebene statt, wo von den Kräften der kapitalistischen Linken und der Gewerkschaften, die noch immer einen beträchtlichen Einfluss in der Arbeiterklasse hatten, maximaler Gebrauch gemacht wurde. Ob durch das Versprechen gewählter linker Regierungen oder durch die spätere Strategie der "Linken in der Opposition", gekoppelt mit der Entwicklung radikaler Gewerkschaften - in den beiden Jahrzehnten nach 1968 war die Instrumentalisierung von Organen, die die Arbeiter_innen immer noch in einem gewissen Sinn als ihre eigenen Organe betrachteten, unverzichtbar bei der Eindämmung der Kämpfe der Klasse.
Gleichzeitig zog die Bourgeoisie allen möglichen Nutzen aus den strukturellen Veränderungen, die ihr von der Weltkrise aufgezwungen wurden: auf der einen Hand die technologischen Veränderungen, die sowohl Facharbeiter als auch ungelernte Arbeitskräfte in Industrien wie den Werften, in der Automobilindustrie, den Druckereien erfassten; auf der anderen Hand die Bewegung in Richtung "Globalisierung" des Produktionsprozesses, als ganze Industriegruppen in den alten Zentren des Kapitals dezimiert und die Produktion in die Peripherien ausgelagert wurden, wo die Arbeitskraft unvergleichlich billiger und die Profite weitaus höher sind. Diese Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse in den Kernländern, die häufig Bereiche betrafen, die im Mittelpunkt des Kampfes in den siebziger und frühen achtziger Jahre gestanden hatten, waren zusätzliche Faktoren in der Atomisierung der Klasse und der Untergrabung ihrer Klassenidentität.
10. Trotz einiger Unterbrechungen setzte sich die 1968 ausgelöste Dynamik in den siebziger Jahren fort. Der Höhepunkt in der Reifung der Fähigkeit des Proletariats zur Selbstorganisation und Ausweitung wurde im polnischen Massenstreik 1980 erreicht. Jedoch markierte dieser Zenit auch den Beginn eines Niedergangs. Obwohl die Streiks in Polen das klassische Wechselspiel zwischen wirtschaftlichen und politischen Forderungen offenbarten, stellten sich die Arbeiter_innen in Polen an keiner Stelle dem Problem einer neuen Gesellschaft. In dieser Hinsicht waren die Streiks "unter" dem Level der Bewegung 1968, als die Selbstorganisation ziemlich embryonal war, aber einen Kontext schuf für eine weitaus radikalere Debatte über die Notwendigkeit einer sozialen Revolution. Die Bewegung in Polen schaute, mit einigen sehr beschränkten Ausnahmen, auf den "freien Westen" als die alternative Gesellschaft, auf das Ideal einer demokratischen Regierung, "unabhängiger Gewerkschaften" und all den Rest. Im Westen selbst gab es einige Ausdrücke der Solidarität mit den Streiks in Polen, und ab 1983 erlebten wir angesichts einer sich schnell vertiefenden Wirtschaftskrise eine Welle von Kämpfen, die in wachsender Weise simultan und global in ihrer Reichweite waren; in einer Reihe von Fällen zeigten sie einen wachsenden Konflikt zwischen den Arbeiter_innen und den Gewerkschaften. Doch das Nebeneinander der Kämpfe in der gesamten Welt bedeutete nicht automatisch, dass es ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer bewussten Internationalisierung des Kampfes gab; auch beinhaltete der Zusammenstoß mit den Gewerkschaften, die natürlich Bestandteil des Staates sind, nicht eine Politisierung der Bewegung im Sinne einer Realisierung, dass der Staat gestürzt werden muss, oder einer wachsenden Fähigkeit, eine Perspektive für die Menschheit vorzustellen. Mehr noch als in den Siebzigern blieben die Kämpfe der Achtziger in den fortgeschrittenen Ländern auf dem Terrain der Partikularforderungen und in diesem Sinne anfällig für die Sabotage durch radikalisierte Gewerkschaftsformen. Die Verschärfung der imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Blöcken in dieser Periode führte sicherlich dazu, dass die Kriegsdrohung in wachsendem Maße zur beherrschenden Frage wurde, doch wurde dies größtenteils in die Richtung pazifistischer Bewegungen gelenkt, die wirksam die Entwicklung einer bewussten Verbindung zwischen ökonomischem Widerstand und der Kriegsgefahr unterband. Was die kleinen Gruppen von Revolutionären angeht, die eine organisierte Aktivität in dieser Periode aufrechterhielten, waren sie zwar in der Lage, direkter in gewissen Arbeiterinitiativen zu intervenieren, doch auf einer tieferen Ebene stießen sie auf überwiegendes Misstrauen gegenüber der "Politik" in der Arbeiterklasse insgesamt - und diese wachsende Kluft zwischen der Klasse und ihren politischen Minderheiten war selbst ein weiterer Faktor in der Unfähigkeit der Klasse, ihre eigene Perspektive zu entwickeln.
11. Der Kampf in Polen und seine Niederlage zogen eine Zwischenbilanz im weltweiten Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Die Streiks machten klar, dass die Arbeiter_innen Osteuropas nicht bereit waren, im Interessen ihrer russischen Oberherren in einem Krieg zu kämpfen, und dennoch waren sie nicht in der Lage, eine revolutionäre Alternative zur sich vertiefenden Krise des Systems anzubieten. Tatsächlich hatte die physische Zerschlagung der polnischen Arbeiter_innen äußerst negative Konsequenzen für die Arbeiterklasse in der gesamten Region, die in den politischen Umwälzungen, welche den Untergang der stalinistischen Regimes einleiteten, als Klasse abwesend und anschließend für die schlimme Welle nationalistischer Propaganda empfänglich war, die heute in den autoritären Regimes verkörpert wird, welche in Russland, Ungarn und Polen herrschen. Unfähig, mit der Krise und ohne schonungslose Repression mit dem Klassenkampf zu Rande zu kommen, offenbarten die stalinistischen Regimes einen Mangel an Flexibilität, um sich den wechselnden historischen Umständen anzupassen. So war 1980/81 die Bühne für den Zusammenbruch des Ostblocks in seiner Gesamtheit, dem Vorboten einer neuen Phase im historischen Niedergang des Kapitalismus, vorbereitet. Doch diese neue Phase, die wir als die Phase des Zerfalls des Kapitalismus definieren, hat ihren Ursprung in einer viel weiter reichenden Pattsituation zwischen den Klassen. Die Klassenbewegungen, die nach 1968 in den fortgeschrittenen Ländern ausgebrochen waren, markierten das Ende der Konterrevolution, und der anhaltende Widerstand der Arbeiterklasse bildete ein Hindernis für die bürgerliche "Lösung" der Wirtschaftskrise: den Weltkrieg. Man konnte diese Periode mit Fug und Recht als einen "Kurs in Richtung massiver Klassenkonfrontationen" definieren und behaupten, dass ein Kurs zum Krieg nicht ohne offene Niederlage einer aufständischen Arbeiterklasse eingeleitet werden konnte. In der neuen Phase nahm die Auflösung der beiden imperialistischen Blöcke den Weltkrieg von der Tagesordnung, unabhängig vom Stand des Klassenkampfes. Dies bedeutete jedoch, dass die Frage des historischen Kurses nicht mehr in denselben Bedingungen gestellt werden konnte. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, seine Widersprüche zu überwinden, bedeutete noch immer, dass er der Menschheit nur eine barbarische Zukunft anbieten kann, deren Konturen man bereits in der höllischen Kombination von lokalen und regionalen Kriegen, von Umweltverwüstung, Pogromismus und brudermörderischer, sozialer Gewalt flüchtig erblicken kann. Doch anders als der Weltkrieg, der eine direkt physische wie auch ideologische Niederlage der Arbeiterklasse voraussetzt, wirkt dieser "neue" Abstieg in die Barbarei auf langsamere, schleichendere Weise, der allmählich die Arbeiterklasse verschlingen und außer Stande setzen kann, sich selbst als Klasse zu rekonstituieren. Das Kriterium zur Einschätzung der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen kann nicht mehr darin bestehen, dass das Proletariat den Weltkrieg aufhält; es ist im Allgemeinen schwieriger geworden, dieses Verhältnis einzuschätzen.
12. In der Anfangsphase der Wiedergeburt der kommunistischen Bewegung nach 1968 gewann die These der Dekadenz des Kapitalismus zahllose Anhänger und sollte die programmatische Grundlage einer wiederbelebten kommunistischen Linken werden. Heute ist dies nicht mehr der Fall: Die Mehrheit neuer Elemente, die den Kommunismus als eine Antwort auf die Probleme der Menschheit ansehen, finden alle möglichen Gründe, um sich gegen das Konzept der Dekadenz zu sträuben. Und wenn es um den Begriff des Zerfalls geht, den wir als die finale Phase des kapitalistischen Niedergangs definieren, ist die IKS mutterseelenallein. Andere Gruppen akzeptieren die Hauptmanifestationen der neuen Periode - das interimperialistische Gerangel, die Rückkehr zutiefst reaktionärer Ideologien, wie der religiöse Fundamentalismus und der wuchernde Nationalismus, die Krise im Verhältnis des Menschen zur natürlichen Welt -, aber nur Wenige, wenn überhaupt, ziehen den Schluss, dass diese Situation aus der Pattsituation im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen herrührt, oder stimmen zu, dass all diese Phänomene Ausdrücke einer qualitativen Veränderung in der Dekadenz des Kapitalismus sind, einer ganzen Phase oder Periode, die nicht umgekehrt werden kann, außer von der proletarischen Revolution. Diese Opposition gegen das Konzept des Zerfalls nimmt oft die Form von Hetzreden über die "apokalyptischen" Tendenzen der IKS, da wir über ihn als die Schlussphase des Kapitalismus reden, oder über unseren "Idealismus" an, da wir, obgleich wir die lang hingezogene Wirtschaftskrise als den Schlüsselfaktor hinter dem Zerfall sehen, nicht nur rein ökonomische Faktoren als das entscheidende Element am Anfang der neuen Phase erblicken. Hinter diesen Einwänden steckt das Unverständnis, dass der Kapitalismus als letzte Klassengesellschaft in der Geschichte zu dieser Art von historischer Sackgasse verdammt ist, weil er, anders als frühere Klassengesellschaften, mit dem Eintritt in die Epoche seines Niedergangs von sich aus keine neue und dynamischere Produktionsweise gebären kann, während der einzige Weg zu einer höheren Form des gesellschaftlichen Lebens nicht nur auf einer automatischen Erarbeitung der ökonomischen Gesetze gebaut wird, sondern auch auf einer bewussten Bewegung der überwiegenden Mehrheit der Menschheit, was erklärtermaßen die schwerste Aufgabe ist, die jemals in der Geschichte unternommen wurde.
13. Der Zerfall ist das Produkt aus der Pattsituation in der Schlacht zwischen den beiden Hauptklassen. Doch hat er sich selbst als ein aktiver Faktor in den wachsenden Schwierigkeiten der Klasse seit 1989 offenbart. Die fein abgestimmten Kampagnen über den Tod des Kommunismus, die den Fall des russischen Blocks begleiteten - was die Fähigkeit der herrschenden Klasse zeigte, die Manifestationen des Zerfalls gegen die Ausgebeuteten für sich zu nutzen - waren ein sehr wichtiges Element in der weiteren Untergrabung des Selbstvertrauens der Klasse und ihrer Fähigkeit, ihre historische Mission zu erneuern. Kommunismus, Marxismus, ja der Klassenkampf selbst wurden für passé erklärt, für nicht mehr als tote Geschichte. Doch die enormen und lang anhaltenden negativen Auswirkungen der Ereignisse von 1989 auf das Bewusstsein, auf den Kampfgeist und die Identität der Arbeiterklasse sind nicht nur das Resultat des gigantischen Umfangs der antikommunistischen Kampagnen. Die Effektivität dieser Kampagne verlangt selbst eine Erklärung. Sie kann nur im Kontext der spezifischen Entwicklung der Revolution und Konterrevolution ab 1917 begriffen werden. Mit dem Scheitern der militärischen Konterrevolution gegen die UdSSR selbst und der gleichzeitigen Niederlage der Weltrevolution entstand eine völlig unerwartete, beispiellose Konstellation: die einer Konterrevolution von innerhalb der proletarischen Bastion und einer kapitalistischen Wirtschaft in der Sowjetunion ohne eine historisch entwickelte kapitalistische Klasse. Was daraus resultierte, war nicht der Ausdruck irgendeiner höheren historischen Notwendigkeit, sondern eine historische Anomalie: das Betreiben einer kapitalistischen Wirtschaft durch eine konterrevolutionäre bürgerliche Staatsbürokratie, die völlig unqualifiziert und ungeeignet für solch eine Aufgabe war. Obwohl die stalinistische Kommandowirtschaft sich als wirksam erwies, um die UdSSR durch die Tortur des Zweiten Weltkrieges durchzubekommen, scheiterte sie langfristig völlig, ein wettwerbsfähiges nationales Kapital zu generieren.
Obwohl die stalinistischen Regimes besonders reaktionäre Formen der dekadenten bürgerlichen Gesellschaft waren und nicht ein Rückfall in irgendeine Art feudales oder despotisches Regime, waren sie keinesfalls "normale" kapitalistische Ökonomien. Einer kapitalistischen Ökonomie, in der ineffiziente Betriebe nicht durch Eliminierung bestraft und Arbeiter_innen nicht entlassen werden können, kann kein bürgerlicher Erfolg beschieden sein. Es war zu einem bedeutenden Anteil dank dieses Verständnisses der Besonderheiten des Stalinismus als ein unerwartetes Produkt der Konterrevolution, dass die IKS in der Lage war, die Ereignisse von 1989 zu verstehen; zum Beispiel dass der Stalinismus nicht durch Arbeiterkämpfe gestürzt wurde, sondern durch eine ökonomische und politische Implosion, und dass der Kollaps im Osten nicht der Vorbote eines bevorstehenden ähnlichen Zusammenbruchs im Westen war. Hinsichtlich der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen verstanden wir, dass der Untergang des Stalinismus, der in vielerlei Hinsicht der schlimmste Feind des Proletariats gewesen war, für einen beträchtlichen Zeitraum nicht von Vorteil für die Arbeiterklasse sein wird. Mit seinem Kollaps erwies er der herrschenden Klasse einen letzten Dienst. Vor allem ihre Kampagnen über den Tod des Kommunismus schienen von der Wirklichkeit selbst bestätigt zu werden. Das Abweichen des Stalinismus von einem gut funktionierenden Kapitalismus war so schwerwiegend und so weitreichend, dass er den Menschen als nicht-kapitalistisch erschien. So lange er sich aufrechterhalten konnte, schien er zu beweisen, dass Alternativen zum Kapitalismus möglich sind. Selbst wenn diese besondere Alternative alles andere als attraktiv für die meisten Arbeiter_innen war, so hatte dennoch er eine Lücke im ideologischen Arsenal der herrschenden Klasse hinterlassen. Das Wiederaufleben des Klassenkampfes in den sechziger Jahren konnte von dieser Lücke profitieren, um die Vision einer Revolution zu entwickeln, die gleichzeitig antikapitalistisch und antistalinistisch ist und sich nicht auf einer Staatsbürokratie oder einem Einparteienstaat stützt, sondern auf Arbeiterräte. Wenn die Weltrevolution in den sechziger und siebziger Jahren, wenn überhaupt, als eine unrealisierbare Utopie betrachtet wurde, als "Luftschloss", so lag dies an der immensen Macht der herrschenden Klasse oder was als ein uns innewohnender egoistischer und zerstörerischer Charakterzug unserer Spezies gesehen wurde. Solche Gefühle der Hoffnungslosigkeit konnten jedoch, und taten dies auch gelegentlich, ein Gegengewicht in den Massenkämpfen und der Solidarität des Proletariats finden. Nach 1989, mit dem Zusammenbruch der "sozialistischen" Regimes, tauchte ein qualitativ neuer Faktor auf: der Eindruck der Unmöglichkeit einer modernen Gesellschaft, die nicht auf kapitalistischen Prinzipien beruht. Unter diesen Umständen war es fürs Proletariat schwieriger, nicht nur sein Klassenbewusstsein und eine Klassenidentität, sondern selbst seine defensiven, ökonomischen Kämpfe zu entwickeln, da die Logik der Bedürfnisse der kapitalistischen Ökonomie viel schwerer wiegen, wenn sie ohne jegliche Alternative zu sein scheinen.
In diesem Sinn hat sich - obwohl es freilich nicht notwendig ist, dass die Arbeiterklasse als Ganzes marxistisch wird oder eine klare Vision über den Kommunismus entwickelt, um eine proletarische Revolution zu machen - die unmittelbare Lage des Klassenkampfes beträchtlich verändert und ist davon abhängig, ob breite Bereiche der Klasse den Kapitalismus als etwas betrachten, das in Frage gestellt werden kann.
14. Doch indem er auf heimtückischere Weise wirkt, zernagt der fortschreitende Zerfall im Allgemeinen und "für sich genommen" die Klassenidentität und das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse. Dies war besonders offenkundig unter den Langzeitarbeitslosen und teilweise unter den Beschäftigten, die vom Strukturwandel "zurückgelassen" wurden, der in den 1980er Jahren eingeleitet wurde: Während in der Vergangenheit die Arbeitslosen die Vorhut der Arbeiterkämpfe gewesen waren, waren sie nun viel anfälliger für die Verlumpung, das Bandenunwesen und die Verbreitung nihilistischer Ideologien wie den Dschihadismus oder den Neofaschismus. Wie die IKS unmittelbar nach den Ereignissen 1989 vorhergesagt hatte, war die Klasse im Begriff, eine lange Periode des Rückzugs anzutreten. Aber die Länge und das Ausmaß dieses Rückzugs hat sich als noch größer herausgestellt, als wir selbst erwartet hatten. Wichtige Bewegungen einer neuen Generation der Arbeiterklasse im Jahr 2006 (die Anti-CPE-Bewegung in Frankreich) und zwischen 2009 und 2013 in zahllosen Ländern überall auf der Welt (Tunesien, Ägypten, Israel, Griechenland, USA, Spanien...) machten es zusammen mit einem gewissen Wiedererwachen eines an kommunistische Ideen interessierten Milieus möglich zu denken, dass der Klassenkampf einmal mehr in den Mittelpunkt rückt und eine neue Phase in der Entwicklung der revolutionären Bewegung dabei ist, sich aufzutun. Doch eine Reihe von Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts hat gezeigt, wie tiefgreifend die Schwierigkeiten sind, denen sich das Weltproletariat und seine revolutionäre Avantgarde gegenübersehen.
15. Die Kämpfe rund um 2011 waren ausschließlich mit den Auswirkungen der sich vertiefenden Wirtschaftskrise verknüpft, ihre Protagonisten wiesen häufig zum Beispiel auf die prekären Beschäftigungsverhältnisse und die mangelnden Berufsaussichten für junge Leute selbst nach etlichen Jahren der universitären Ausbildung hin. Doch es gibt keine automatische Verknüpfung zwischen der Verschlimmerung der Wirtschaftskrise und der qualitativen Entwicklung des Klassenkampfes - eine Schlüssellehre aus den dreißiger Jahren, als die Große Depression eine bereits geschlagene Arbeiterklasse noch mehr demoralisiert hatte. Und angesichts der langen Jahre des Rückzugs und der Desorientierung, die ihm vorausgingen, sollte das finanzielle Erdbeben von 2007/08 größtenteils negative Auswirkungen auf das Bewusstsein des Proletariats haben.
Ein wichtiges Element dabei war die Auswucherung des Kreditsystems, das im Zentrum der wirtschaftlichen Expansion in den 1990er und 2000er Jahren gestanden hatte, dessen systemimmanente Widersprüche aber nun den Crash herbeiführten. Dieser Prozess der "Finanzialisierung" wirkte nun nicht nur auf der Ebene der großen Finanzinstitutionen, sondern auch im Leben von Millionen von Arbeiter_innen. In dieser Hinsicht unterschied sich die Lage deutlich von den 1920ern und 1930ern, als der größte Teil der so genannten Mittelschichten (kleine Eigentümer, die akademischen Berufe, etc.), aber nicht die Arbeiter_innen ihre Ersparnisse verloren hatten; und wo die staatlichen Versicherungen kaum ausgereicht hatten, um den Hunger der Arbeiter_innen zu vermeiden. Wenn daher einerseits die unmittelbare materielle Situation vieler Arbeiter_innen in solchen Ländern immer noch weniger dramatisch ist als acht oder neun Jahrzehnte zuvor, so befinden sich andererseits Millionen von Arbeiter_innen genau in diesen Ländern in einer Zwangslage, die in den 1930ern kaum existiert hatte: Sie sind Schuldner geworden, oft in einem erheblichen Umfang. Im 19. Jahrhundert und auch zu einem großen Teil vor 1945 waren die einzigen Gläubiger, mit denen es die Arbeiter_innen zu tun hatten, die örtlichen Kneipen oder Cafés und der Lebensmittelhändler gewesen. In besonders schweren Zeiten mussten sie sich auf ihre eigene Klassensolidarität verlassen. Die Verschuldung von Arbeiter_innen in größerem Umfang begann mit den Wohnungs- und Eigenheimkrediten, um dann in den jüngsten Jahrzehnten mit der massenhaften Ausbreitung von Konsumentenkrediten zu explodieren. Die immer raffiniertere, listigere und tückischere Weiterentwicklung dieser Kreditwirtschaft für einen größeren Teil der Arbeiterklasse hat äußerst negative Konsequenzen für das proletarische Bewusstsein. Die Enteignung des Arbeitereinkommens durch die Bourgeoisie wird versteckt und scheint unverständlich, wenn sie die Form einer Entwertung von Ersparnissen, des Bankrotts von Banken oder Versicherungssystemen oder der Verpfändung von Hauseigentum auf dem Markt annimmt. Die wachsende Prekarität der staatlichen "Wohlfahrt" und ihrer Finanzierung macht es leichter, die Arbeiter_innen zwischen jenen, die in dieses öffentliche System einzahlen, und jenen zu spalten, die von Letzterem über Wasser gehalten werden, ohne entsprechend einzuzahlen. Und die Tatsache, dass Millionen von Arbeiter_innen verschuldet sind, ist ein neues, zusätzliches und mächtiges Mittel zur Disziplinierung des Proletariats.
Auch wenn das Reinergebnis des Crashs die Sparpolitik für die Vielen und ein immer schamloserer Transfer von Reichtum an eine kleine Minderheit gewesen ist, bewirkte das allgemeine Resultat des Crashs nicht ein besseres und erweitertes Verständnis der Wirkungsweise des kapitalistischen Systems: Der Unmut über die wachsende Ungleichheit richtete sich größtenteils gegen die "korrupte urbane Elite"; ein Motto, das zu einem Hauptverkaufsschlager des Rechtspopulismus geworden ist. Und selbst wenn die Reaktion auf die Krise und die dazugehörige Ungerechtigkeit proletarischere Kampfformen erzeugte, wie die Occupy-Bewegung in den USA, so war auch sie erheblich durch die Tendenz belastet, die Schuld den gierigen Bankern oder gar Geheimgesellschaften in die Schuhe zu schieben, die den Crash bewusst herbeigeführt hätten, um ihre Kontrolle über die Gesellschaft zu stärken.
16. Die revolutionäre Welle 1917-23 wurde, wie frühere aufständische Bewegungen der Klasse (1871, 1905), vom imperialistischen Krieg ausgelöst, was Revolutionäre dazu verleitete, davon auszugehen, dass der Krieg die günstigsten Bedingungen für die proletarische Revolution schafft. In Wahrheit zeigte die Niederlage der revolutionären Welle, dass der Krieg tiefe Spaltungen in der Klasse bewirken kann, insbesondere zwischen den "Sieger"- und "Verlierer"-Nationen. Ferner hatte die Bourgeoisie, wie die Ereignisse Ende des Zweiten Weltkriegs demonstrierten, die nötigen Lehren aus den Geschehnissen von 1917 gezogen und ihre Fähigkeit bewiesen, die Möglichkeit von proletarischen Reaktionen auf den imperialistischen Krieg einzuschränken, nicht zuletzt durch die Entwicklung von Strategien und Formen der Militärtechnologie, die die Fraternisierung zwischen feindlichen Armeen zunehmend erschweren.
Entgegen den Versprechungen der westlichen herrschenden Klasse nach dem Fall des russischen imperialistischen Blocks war die neue historische Phase, die sich eröffnete, keine Epoche des Friedens und der Stabilität, sondern des wachsenden militärischen Chaos, der zunehmend unlösbaren Kriege, die ganze Schneisen der Verwüstung in Afrika und Nahost geschlagen haben und schon an den Toren Europas rütteln. Sicherlich hat die Barbarei, die sich im Irak, in Afghanistan, Ruanda und jetzt im Jemen und in Syrien zeigt, für Entsetzen und Empörung in beträchtlichen Sektoren des Weltproletariats - einschließlich des Proletariats in den kapitalistischen Zentren, dessen eigene Bourgeoisien direkt in diesen Kriegen verwickelt waren - gesorgt, jedoch haben die Kriege des Zerfalls nur sehr wenige proletarische Formen der Opposition erzeugt. In den am meisten betroffenen Ländern war die Arbeiterklasse zu schwach gewesen, sich selbst gegen die örtlichen militärischen Gangster und ihre imperialistischen Sponsoren zu organisieren. Dies wird am offenkundigsten im aktuellen Krieg in Syrien, das nicht nur eine gnadenlose Dezimierung der Bevölkerung durch Luft- und andere Formen der Bombardements erlebt, vor allem durch die offiziellen Streitkräfte des syrischen Staates, sondern auch das Entgleisen eines anfangs noch sozialen Unmuts durch die Schaffung militärischer Fronten und die Anwerbung von Opponenten des Regimes durch unzählige bewaffnete Banden, von denen die eine brutaler als die andere ist. In den kapitalistischen Zentren haben diese entsetzlichen Geschehnisse hauptsächlich Gefühle der Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgerufen - nicht zuletzt weil es den Anschein hat, als ob jeder Versuch des Aufbegehrens gegen das gegenwärtige System die Dinge nur noch schlimmer macht. Das grauenvolle Schicksal des "Arabischen Frühlings" kann leicht als ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit einer Revolution benutzt werden. Darüber hinaus hat die brutale Verstümmelung ganzer Länder in den Peripherien Europas in den letzten paar Jahren begonnen, einen Bumerang-Effekt auf die Arbeiterklasse im Herzen des Systems auszuüben. Dies kann in zwei Fragen zusammengefasst werden: auf der einen Seite die weltweite und wachsend chaotische Entwicklung einer Flüchtlingskrise, die wahrhaft planetarischen Ausmaßes ist; und auf der anderen Seite die Entfaltung des Terrorismus.
17. Das auslösende Moment der Flüchtlingskrise in Europa war die Öffnung der Grenzen Deutschlands (und Österreichs) für die Flüchtlinge auf der "Balkan-Route" im Sommer 2015. Die Motive für diese Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel waren zweierlei Art. Erstens die wirtschaftliche und demografische Lage in Deutschland (eine florierende Industrie, die konfrontiert ist mit der Aussicht auf eine Verknappung qualifizierter und "motivierter" Arbeitskräfte). Zweitens die Gefahr des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung in Südosteuropa durch die Konzentration von Hunderttausenden von Flüchtlingen in Ländern, die außerstande waren, sie zu bewältigen. Die deutsche Bourgeoisie verkalkulierte sich jedoch bei den Konsequenzen ihrer einseitigen Entscheidung für den Rest der Welt, insbesondere für Europa. Im Nahen Osten und in Afrika begannen Millionen von Flüchtlingen und andere Opfer des kapitalistischen Elends Pläne zu schmieden, sich nach Europa, insbesondere nach Deutschland aufzumachen. In Europa machten EU-Regularien wie "Schengen" oder das "Dubliner Flüchtlingsabkommen" Deutschlands Problem zu einem Problem Europas insgesamt. Eines der ersten Resultate dieser Situation war daher eine Krise der Europäischen Union - möglicherweise die ernsteste bis heute.
Die Ankunft so vieler Flüchtlinge in Europa stieß anfangs auf eine spontane Welle der Sympathie in breiten Bevölkerungsschichten - ein Impuls, der in Ländern wie Italien oder Deutschland immer noch stark ist. Doch dieser Impuls wurde bald vom Aufstieg der Fremdenfeindlichkeit in Europa erstickt. Letzterer wurde nicht nur von den Populisten angeführt, sondern auch von den Sicherheitskräften und den professionellen Vertretern der bürgerlichen Rechtsordnung, die alarmiert waren über den plötzlichen und unkontrollierten Zustrom von häufig nicht identifizierten Personen. Die Furcht vor einem Zustrom von terroristischen Agenten ging Hand in Hand mit der Befürchtung, dass das Erscheinen so vieler Muslime die Entwicklung von migrantischen Parallelgesellschaften innerhalb Europas befördern könnte, die sich nicht mit dem Nationalstaat des Landes identifizieren, in dem sie leben. Diese Ängste verstärkten sich angesichts der Zunahme terroristischer Anschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland. In Deutschland selbst gab es eine starke Zunahme rechtsterroristischer Angriffe gegen Flüchtlinge. In Teilen der früheren DDR entwickelte sich eine regelrechte Pogromatmosphäre. In Westeuropa insgesamt wurde die Flüchtlingskrise neben der Wirtschaftskrise zum zweiten wichtigen Faktor (verstärkt durch fundamentalistischen Terror) beim Entfachen des Feuers des Rechtspopulismus. So wie sich in der Wirtschaftskrise nach 2008 tiefe Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie in der Frage auftaten, wie man am besten die Weltwirtschaft managt, markierte der Sommer 2015 den Anfang vom Ende ihres Konsenses in der Migrationsfrage. Die Grundlage dieser Politik war bis dahin das Prinzip der halb-durchlässigen Grenze gewesen. Die Mauer gegen Mexiko, die Donald Trump bauen möchte, existiert bereits, wie jene um Europa herum (auch in Gestalt von militärischen Patrouillenbooten oder Flughafengefängnissen). Doch der Zweck der aktuellen Mauern ist es, die Einwanderung zu drosseln und zu regulieren, nicht sie zu verhindern. Die Migranten zu zwingen, illegal das Lad zu betreten, kriminalisiert sie und zwingt sie so, für einen Hungerlohn unter fürchterlichen Bedingungen ohne jegliche Sozialhilfeansprüche zu arbeiten. Mehr noch, indem Menschen gezwungen werden, ihr Leben zu riskieren, um Einlass zu erlangen, wird das Grenzregime zu einer Art von barbarischem Selektionsmechanismus, in dem nur der Wagemutigste, Entschlossenste und Dynamischste hineinkommt.
Der Sommer 2015 war in der Tat der Beginn des Kollapses des existierenden Einwanderungssystems. Das Ungleichgewicht zwischen der stetig anwachsenden Zahl von Zuflucht Suchenden auf der einen Seite und der schrumpfenden Nachfrage nach Arbeitskräften in den Ländern, die sie betreten, auf der anderen Seite (Deutschland ist in gewisser Weise eine Ausnahme), ist unhaltbar geworden. Und wie üblich haben die Populisten eine einfache Lösung zur Hand: Die halb-durchlässige Grenze muss undurchlässig gemacht werden, welches Ausmaß an Gewalt dies auch immer erfordert. Hier erneut scheint das, was sie vorschlagen, sehr plausibel vom bürgerlichen Standpunkt aus. Es läuft mehr oder weniger auf nichts anderes hinaus als auf die Anwendung der Logik der "gated communities" auf der Ebene ganzer Nationen...
Auch hier sind die Auswirkungen dieser Situation auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse für den Moment sehr negativ. Der Zusammenbruch des Ostblocks wurde als Beweis für den ultimativen Triumph des demokratischen Kapitalismus westlicher Prägung präsentiert. Angesichts dessen gab es die Hoffnung, dass vom Standpunkt des Proletariats aus die Entwicklung der Krise der kapitalistischen Gesellschaft auf allen Ebenen letztendlich mithelfen würde, dieses Image des Kapitalismus als das bestmögliche System zu unterminieren. Doch heute - und trotz der Weiterentwicklung der Krise - kann die Tatsache, dass viele Millionen von Menschen (nicht nur Flüchtlinge) bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Zugang zu den alten kapitalistischen Zentren zu erlangen, die Europa und Nordamerika sind, nur den Eindruck verstärken, dass diese Zonen (zumindest vergleichsweise), wenn nicht Paradiese, so doch mindestens Oasen des relativen Wohlstandes und der Stabilität sind.
Anders als die Große Depression der 1930er, als der Zusammenbruch der Weltwirtschaft sich auf die USA und Deutschland konzentrierte, werden heute dank eines globalen, staatskapitalistischen Managements die zentralen kapitalistischen Länder allem Anschein nach die letzten sein, die zusammenbrechen. In diesem Kontext ist insbesondere (aber nicht nur) in Europa und den Vereinigten Staaten eine Situation entstanden, die an die Lage einer belagerten Festung erinnert. Die Gefahr ist real, dass die Arbeiterklasse in diesen Zonen, auch wenn sie nicht aktiv hinter der Ideologie der herrschenden Klasse mobilisiert ist, Schutz sucht bei ihren "eigenen" Ausbeutern ("Identifizierung mit dem Aggressor" nennt man das in der Psychologie) gegen das, was man als gemeinsame Gefahr von außen wahrnimmt.
18. Der "Gegenschlag" der aus den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten resultierenden terroristischen Attacken begann lange vor der aktuellen Flüchtlingskrise. Die Anschläge von al-Qaida auf die Twin Towers 2001, denen weitere Gräueltaten gegen die öffentlichen Verkehrssysteme in Madrid und London folgten, deuteten bereits an, dass die wichtigsten kapitalistischen Staaten jetzt den Sturm ernten, den sie mit ihren Kriegen in Afghanistan und im Irak gesät haben. Doch die aktuellere Flut von Morden in Deutschland, Frankreich, Belgien, der Türkei, den USA und anderswo, die dem Islamischen Staat zugeschrieben werden, hat - trotz ihres offenkundig eher amateurhaften und gar zufälligen Charakters, was es immer schwieriger macht, einen ausgebildeten terroristischen "Soldaten" von einem isolierten und gestörten Individuum zu unterscheiden, und angesichts dessen, dass sie in Verbindung mit der Flüchtlingskrise aufkam - das Gefühl des Misstrauens und der Paranoia in der Bevölkerung weiter verstärkt, was dazu führt, dass Letztrere sich an den Staat wendet, um Schutz zu erheischen vor einem amorphen und unberechenbaren "Feind unter uns". Gleichzeitig bietet die nihilistische Ideologie des Islamischen Staates und seiner Nachahmer einen kurzen Moment des Ruhms für unzufriedene, junge Migranten, die keine Zukunft für sich in den Semi-Ghettos der westlichen Großstädte sehen. Der Terrorismus, der in der Zerfallsphase immer mehr zu einem Mittel der Kriegsführung zwischen Staaten und Proto-Staaten geworden ist, macht auch den Ausdruck des Internationalismus überaus schwierig.
19. Der gegenwärtige populistische Aufschwung ist somit von all diesen Faktoren genährt worden - vom Crash von 2008, vom Terrorismus und von der Flüchtlingskrise - und erscheint als ein konzentrierter Ausdruck des Zerfalls des Systems, der Unfähigkeit beider Hauptklassen in der Gesellschaft, der Menschheit eine Perspektive für die Zukunft anzubieten. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus bedeutet er die Erschöpfung des "neoliberalen" Konsenses, der dem Kapitalismus ermöglicht hatte, die Akkumulation seit Ausbruch der offenen Wirtschaftskrise in den den 70ern und insbesondere der Erschöpfung der keynesianischen Politik, die den Nachkriegsboom geleitet hatte, aufrechtzuerhalten und gar auszuweiten. Im Anschluss an den Crash 2008, der die bereits beträchtliche Wohlstandskluft zwischen den wenigen Superreichen und der breiten Mehrheit weiter vergrößerte, sind die Deregulierung und die "Globalisierung", die "freie Bewegung" von Kapital und Arbeit in einem Rahmen, der von den mächtigsten Staaten der Welt ersonnen wurde, von einer wachsenden Sektion der Bourgeoisie in Frage gestellt worden, versinnbildlicht durch die populistische Rechte, auch wenn diese in derselben Wahlkampfrede den Neoliberalismus und gleichzeitig den Neokeynesianismus vorschlagen kann. Die Essenz der populistischen Politik ist die politische und juristische Formalisierung der Ungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft. Was die Krise von 2008 besonders klarzumachen mithalf, ist, dass diese formale Gleichheit die wahre Grundlage einer immer eklatanteren sozialen Ungleichheit ist. In einer Situation, in der das Proletariat unfähig ist, seine revolutionäre Lösung vorzuschlagen - die Etablierung einer Gesellschaft ohne Klassen -, ist die populistische Antwort die Ersetzung der existierenden, heuchlerischen Pseudo-Gleichheit durch ein offenes und "ehrliches" System der legalen Diskriminierung. Dies ist der Kern der "konservativen Revolution", die vom Berater von Präsident Trump, Steve Bannon, befürwortet wird.
Ein erstes Anzeichen, was mit Slogans wie "America first" gemeint ist, wurde vom Wahlkampf des Front National ("France d'abord") geliefert. Er schlägt vor, französische Bürger in Sachen Beschäftigung, Steuern und Sozialfürsorge gegenüber Menschen aus anderen EU-Ländern zu privilegieren, die ihrerseits Vorrang vor anderen Ausländern haben sollen. Es gibt eine ähnliche Debatte in Großbritannien, ob nach dem Brexit EU-Bürgern ein Zwischenstatus zwischen Einheimischen und anderen Ausländern gewährt werden soll. Im Vereinigten Königreich bestand das Hauptargument, das zugunsten dem Brexit vorgebracht wurde, nicht in Einwänden gegen die EU-Handelspolitik oder in irgendeinem Impuls der Briten gegenüber Kontinentaleuropa, sondern im politischen Willen, bezüglich der Einwanderung und des nationalen Arbeitsmarktes die "nationale Souveränität wiederzuerlangen". Die Logik dieser Argumentation besteht darin, dass in Abwesenheit einer längerfristigen Perspektive des Wachstums der nationalen Wirtschaft die Lebensbedingungen der Einheimischen nur mehr oder weniger stabilisiert werden können, wenn alle anderen diskriminiert werden.
20. Statt ein Gegenmittel zum langen und ausgeprägten Rückfluss des Klassenbewusstseins, der Klassenidentität und des Kampfgeistes nach 1989 zu sein, hatten die so genannte Finanz- und Eurokrise den gegenteiligen Effekt. Namentlich die schädlichen Auswirkungen des Verlustes der Solidarität in den Reihen des Proletariats fielen immer mehr ins Gewicht. Insbesondere sehen wir den Aufstieg des Phänomens des Sündenbockverhaltens, von Denkweisen, die Personen - auf die alles Übel der Welt projiziert wird - für alles, was falsch läuft in der Gesellschaft, die Schuld zuzuschreiben. Solche Gedanken öffnen die Tür zum Pogrom. Der heutige Populismus ist die auffälligste, aber bei weitem nicht die einzige Manifestation dieses Problems, das dazu neigt, alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchdringen. Auf Arbeit und im Alltag der Arbeiterklasse schwächt es zunehmend die Kooperation und leistet der Atomisierung und Entwicklung des gegenseitigen Misstrauens und Mobbings Vorschub.
Die marxistische Arbeiterbewegung hat lange die theoretischen Erkenntnisse vertreten, die dieser Tendenz entgegenzuwirken helfen. Die zwei wichtigsten Erkenntnisse waren a) dass im Kapitalismus die Ausbeutung unpersönlich geworden ist, da sie den "Gesetzen" des Marktes gemäß (Wertgesetz) funktioniert; selbst die Kapitalisten sind gezwungen, diesen Gesetzen zu gehorchen; b) dass trotz dieses maschinenartigen Charakters der Kapitalismus ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Klassen ist, da dieses "System" auf einen Willensakt des bürgerlichen Staates (die Bildung und Verstärkung von kapitalistischem Privateigentum) beruht und durch ihn bewahrt wird. Der Klassenkampf ist daher nicht persönlich, sondern politisch. Statt Personen zu bekämpfen, richtet er sich direkt gegen ein System - und eine Klasse, die es verkörpert -, um die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwandeln. Diese Erkenntnisse immunisieren keinesfalls gegen das Sündenbockverhalten, auch nicht die klassenbewussteren Schichten des Proletariats. Aber sie machen es widerstandsfähiger. Sie erklären zum Teil, warum selbst inmitten der Konterrevolution, selbst in Deutschland, das Proletariat dem Aufkommen des Antisemitismus stärker und länger als andere Teile der Gesellschaft widerstanden hatte. Diese proletarischen Traditionen hatten auch dort weiterhin positive Auswirkungen, wo die Arbeiter_innen sich nicht mehr in irgendeiner bewussten Weise mit dem Sozialismus identifizierten. Die Arbeiterklasse blieb die einzige wirkliche Barriere gegen diese Art von Gift, selbst wenn einige Teile der Klasse ernstlich von ihm betroffen waren.
21. All dies hat zu einer veränderten politischen Einstellung der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt geführt; eine Stimmung jedoch, die im Moment überhaupt nicht zugunsten des Proletariats ist. In Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Polen, wo Populisten heute an der Regierung sind, gab es Massenproteste auf den Straßen vor allem für die Verteidigung der existierenden kapitalistischen Demokratie und ihrer "liberalen" Regeln. Ein anderes Thema, das die Massen mobilisiert, ist der Kampf gegen die Korruption (Brasilien, Südkorea, Rumänien oder Russland). Die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien wird hauptsächlich von dieser Frage angetrieben. Die Korruption, die im Kapitalismus heimisch ist, nimmt in seiner Endphase epidemische Ausmaße an. Soweit sie Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit hemmt, gehören jene, die sie bekämpfen, zu den besten Vertretern der Interessen des nationalen Kapitals. Die Massen von Nationalfahnen bei solchen Protesten sind also kein Zufall. Es gibt auch ein wiedererwecktes Interesse am bürgerlichen Wahlprozess. Manche Teile der Arbeiterklasse fallen, unter dem Eindruck des Rückzuges der Solidarität oder als eine Art Protest gegen die etablierte politische Klasse, der Stimmabgabe für die Populisten zum Opfer. Eine der Barrieren gegen die Weiterentwicklung der Sache der Emanzipation heute ist der Eindruck dieser Arbeiter_innen, dass sie die herrschende Klasse eher durch eine populistische Wahl denn durch den proletarischen Kampf schocken und unter Druck setzen können. Die vielleicht größte Gefahr ist jedoch, dass die modernsten und globalisierten Sektoren der Klasse im Zentrum des Produktionsprozesses - sei es aus Empörung über die widerliche Ausgrenzungspolitik der Populisten oder aus einem mehr oder weniger klaren Verständnis, dass diese politischen Strömungen die Stabilität der herrschenden Ordnung gefährden - in die Falle der Verteidigung des herrschenden demokratischen kapitalistischen Regimes zu tappen.
22. Der Aufstieg des Populismus und des Anti-Populismus hat gewisse Ähnlichkeiten mit den 1930er Jahren, als die Arbeiterklasse im Schraubstock von Faschismus und Antifaschismus gefangen war. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten ist die aktuelle Lage nicht dieselbe wie in den 1930ern. Damals hatte das Proletariat in der Sowjetunion und in Deutschland nicht nur eine politische, sondern auch eine physische Niederlage erlitten. Im Gegensatz dazu entspricht die heutige Lage nicht einer Konterrevolution. Aus diesem Grund ist die Wahrscheinlichkeit, dass die herrschende Klasse versuchen wird, eine physische Niederlage des Proletariats herbeizuführen, gegenwärtig gering.
Es gibt einen weiteren Unterschied gegenüber den dreißiger Jahren: Die ideologische Bindung von Proletariern am Populismus oder Anti-Populismus ist überhaupt nicht definitiv. Viele Arbeiter_innen, die heute für populistische Kandidaten stimmen, können sich von einem Tag zum nächsten im Kampf vereint mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern befinden; dasselbe trifft auch auf Arbeiter_innen zu, die von anti-populistischen Demonstrationen eingefangen sind.
Die Arbeiterklasse heute, vor allem jene in den alten Zentren des Kapitalismus, ist nicht bereit, ihr Leben für die Interessen der Nation zu opfern, trotz des wachsenden Einflusses des Nationalismus auf einige Sektoren der Klasse; sie hat auch nicht die Möglichkeit verloren, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen, und dieses Potenzial dringt weiterhin an die Oberfläche, auch wenn zersplitterter und flüchtiger als in der Periode zwischen 1968 und 1989 sowie in den Kämpfen zwischen 2006 und 2013. Gleichzeitig setzt sich trotz Schwierigkeiten und Rückschläge der Prozess der Reflexion und der Reifung in einer Minderheit von Proletariern fort, und dies wiederum spiegelt einen eher unterirdischen Prozess wider, der in breiteren Schichten des Proletariats stattfindet.
Unter diesen Bedingungen wäre der Versuch, die Klasse zu terrorisieren, politisch gefährlich und höchstwahrscheinlich kontraproduktiv. Es würde die herrschenden Illusionen der Arbeiter_innen in den demokratischen Kapitalismus stark eintrüben, die einen der wichtigsten ideologischen Vorteile der Ausbeuter bilden.
Aus all diesen Gründen ist es vielmehr im objektiven Interesse der kapitalistischen Klasse, die negativen Effekte des zerfallenden, in der Sackgasse befindlichen Kapitalismus zu nutzen, um die Arbeiterklasse zu schwächen.
23. Eine der Haupttaktiken der "liberalen" Bourgeoisie gegen die Oktoberrevolution von 1917 war und ist der angebliche Gegensatz zwischen den demokratischen Verheißungen des Februaraufstandes und dem "Staatsstreich" der Bolschewiki im Oktober, der Russland in die Katastrophe und Tyrannei gestürzt habe. Doch der Schlüssel zum Verständnis der Oktoberrevolution war, dass sie auf der Notwendigkeit beruhte, die imperialistische Kriegsfront zu durchbrechen, die von allen Fraktionen der Bourgeoisie, nicht zuletzt von ihrem "demokratischen" Flügel, aufrechterhalten wurde, und somit zum ersten Schlag der Weltrevolution auszuholen. Es war die erste deutliche Antwort des Weltproletariats auf den Eintritt des Kapitalismus in die Epoche seines Niedergangs; vor allem in dieser Hinsicht ist die Oktoberrevolution alles andere als eine Ruine aus einem untergegangenen Zeitalter, sondern der Wegweiser in die Zukunft der Menschheit.
Heute mag die Arbeiterklasse nach all den Gegenschlägen durch die Weltbourgeoisie sehr weit von einer Wiedergewinnung ihres revolutionären Projekts entfernt zu sein. Und dennoch: "In gewissem Sinne befindet sich die Frage des Kommunismus im Zentrum des Dilemmas der Menschheit von heute. Er dominiert gegenwärtig die Weltlage in Gestalt der Leere, die er durch seine Abwesenheit geschaffen hat." (Bericht über die Weltlage, 22. Kongress der IKS) Die mannigfaltige Barbarei des 20. und 21. Jahrhunderts, von Auschwitz und Hiroshima zu Fukushima und Aleppo, ist der hohe Preis, den die Menschheit für das Scheitern der kommunistischen Revolution all die Jahrzehnte seither bezahlt hat. Und wenn in diesem fortgeschrittenen Stadium der Dekadenz der bürgerlichen Zivilisation die Hoffnungen auf eine revolutionäre Transformation endgültig enttäuscht werden würden, wären die Konsequenzen für das Überleben der Menschheit noch schwerwiegender. Und doch sind wir überzeugt, dass diese Hoffnungen noch immer leben, noch immer auf realen Möglichkeiten beruhen.
Andererseits basieren sie auf der objektiven Möglichkeit und Notwendigkeit des Kommunismus, die im verstärkten Zusammenprall der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen enthalten sind. Dieser Zusammenprall ist akuter geworden, gerade weil der Kapitalismus in der Dekadenz im Gegensatz zu früheren Klassengesellschaften, die ganze Epochen der Stagnation überdauert hatten, nicht aufgehört hat, global zu expandieren und jede Pore des sozialen Lebens zu durchdringen. Dies kann in mehrfacher Hinsicht beobachtet werden:
Die unerträgliche Zuspitzung der o.g. Widersprüche weisen vor allem auf eine Lösung hin: eine assoziierte Weltproduktion für den Gebrauch, nicht für Profite, eine Assoziation nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Natur. Der vielleicht wichtigste Ausdruck des Potenzials dieser Transformation ist, dass innerhalb der zentralen und meisten modernen Sektoren des Weltproletariats die junge Generation, obwohl sie sich zunehmend des Ernstes der Lage bewusst ist, nicht mehr die "No future"-Hoffnungslosigkeit der letzten Jahrzehnte teilt. Dieses Vertrauen stützt sich auf das Bewusstsein über die eigene assoziierte Produktivität: auf das Potenzial, das der wissenschaftliche und technologische Fortschritt repräsentiert, auf die "Akkumulation" von Kenntnissen und der Mittel, um Zugang zu ihnen zu erlangen, und auf das Wachstum eines tieferen und kritischeren Verständnisses der Interaktion zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur. Gleichzeitig ist sich dieser Teil des Proletariats - wie wir in den Bewegungen Westeuropas 2011 gesehen haben, die auf ihrem Höhepunkt den Schlachtruf der "Weltrevolution" anstimmten - weitaus bewusster über den internationalen Charakter der Arbeiterassoziation heute und somit besser in der Lage, die Möglichkeiten der internationalen Vereinigung der Kämpfe zu begreifen.
Doch die globale Vereinigung des Proletariats ist eine Lösung, die das Kapital um jeden Preis verhindern muss, auch wenn es Mittel anwenden muss, die die innewohnenden Grenzen der Produktion zum Zweck des Tausches aufzeigen. Die Entwicklung des Staatskapitalismus in der dekadenten Epoche ist gewissermaßen eine Art verzweifelte Suche nach einem Weg, die Gesellschaft durch totalitäre Mittel zusammenzuhalten, ein Versuch der herrschenden Klasse, in einer Periode Kontrolle über das Wirtschaftsleben auszuüben, in der die "natürlichen Gesetze" des Systems selbiges in den eigenen Untergang drängen.
24. Zwar kann der Kapitalismus die Notwendigkeit des Kommunismus nicht wegzaubern, aber wir wissen, dass diese Produktionsweise nicht automatisch entstehen kann, sondern das bewusste Eingreifen der revolutionären Klasse, des Proletariats, erfordert. Trotz der extremen Schwierigkeiten, denen sich die Arbeiterklasse heute gegenübersieht, trotz ihrer scheinbaren Unfähigkeit, ihre "Eigentumsrechte" am kommunistischen Projekt zu erneuern, haben wir bereits unsere Gründe erläutert, warum wir darauf beharren, dass diese Erneuerung, die Rekonstitution des Proletariats als Klasse für den Kommunismus, heute immer noch möglich ist. Denn so wie der Kapitalismus die objektive Notwendigkeit des Kommunismus nicht wegzaubern kann, so kann er in der Klasse der Assoziation, dem Proletariat, niemals vollständig die subjektive Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft oder die Suche nach einem Weg dahin unterdrücken.
Das Gedenken an die wahre Bedeutung der Oktoberrevolution und, ja, auch die Erinnerung, dass die deutsche Revolution und die weltweite revolutionäre Welle, die durch den Oktober in Gang gesetzt wurden, überhaupt jemals geschehen war, wird nicht völlig verschwinden. Sie sind sozusagen verdrängt worden, doch alle verdrängten Erinnerungen sind dazu verurteilt, wieder aufzutauchen, wenn die Bedingungen dazu reif sind. Und es gibt in der Arbeiterklasse stets eine Minderheit, die standgehalten und die wahre Geschichte sowie ihre Lehren auf bewusster Ebene erarbeitet hatte, bereit, den Denkprozess der Klasse zu befruchten, wenn diese die Notwendigkeit entdeckt, der eigenen Geschichte einen Sinn zu geben.
Die Klasse kann dieses hohe Prüfungsniveau in ihrer Masse nicht erreichen, ohne durch die harte Schule der praktischen Kämpfe zu gehen. Diese Kämpfe, eine Antwort auf die zunehmenden Angriffe des Kapitals, sind die granitene Basis für die Entwicklung des Selbstvertrauens und der uneingeschränkten Solidarität, die durch die Realität der assoziierten Arbeit erzeugt werden.
Doch die Sackgasse, in der die rein defensiven, ökonomischen Schlachten des Proletariats seit 1968 stecken, erfordert auch auf der einen Seite einen theoretischen Kampf, ein Streben nach Verständnis seiner "tiefen" Vergangenheit und seiner möglichen Zukunft, ein Streben, das nur auf die Notwendigkeit für die Klassenbewegung hinweisen kann, vom Lokalen und Nationalen zum Universellen, vom Ökonomischen zum Politischen, von der Defensive in die Offensive überzugehen. Während der unmittelbare Kampf der Klasse mehr oder weniger eine Tatsache im Leben des Kapitalismus ist, gibt es keine Garantie, dass dieser nächste, hochwichtige Schritt getan wird. Doch er deutet sich, wie limitiert und konfus auch immer, in den Kämpfen der gegenwärtigen Generation von Proletariern an, vor allem in Bewegungen wie die Indignados in Spanien, die durchaus Ausdruck einer echten Empörung über das gesamte System waren - ein "überholtes" System, wie Demonstranten auf ihren Spruchbändern verkündeten. Er deutet sich in in dem Begehren an, zu verstehen, wie dieses System arbeitet und was es ersetzen könnte, und gleichzeitig die organisatorischen Mittel zu entdecken, die benutzt werden können, um aus den Institutionen der herrschenden Ordnung auszubrechen. Und siehe da, diese Mittel waren im Grunde nicht neu: die Generalisierung der Massenversammlungen, die Wahl mandatierter Delegierter waren ein klares Echo aus den Tagen der Sowjets 1917. Dies war eine klare Demonstration des Wirkens des "alten Maulwurfs" im Untergrund des Gesellschaftslebens.
Es verschaffte auch einen ersten, flüchtigen Eindruck vom Potenzial für die Entwicklung der, wie wir sie nennen, politisch-moralischen Dimension des proletarischen Kampfes: das Aufkommen einer tiefen Ablehnung der herrschenden Lebens- und Verhaltensweisen durch breitere Sektoren der Klasse. Die Evolution dieses Moments ist ein sehr wichtiger Faktor für die Vorbereitung und Reifung sowohl von Massenkämpfen auf einem Klassenterrain als auch einer revolutionären Perspektive.
Gleichzeitig weist das Scheitern der Indignados-Bewegung, eine echte Klassenidentität wiederherzustellen, auf die Notwendigkeit hin, diese einsetzende Politisierung auf den Straßen und Plätzen mit dem ökonomischem Kampf zu verknüpfen, mit der Bewegung am Arbeitsplatz, wo die Arbeiterklasse immer noch ihre ausgeprägteste Existenz hat. Die revolutionäre Zukunft liegt nicht in einer "Negation" des ökonomischen Kampfes, wie die Modernisten verkünden, sondern in einer echten Synthese der ökonomischen und politischen Dimensionen der Klassenbewegung, wie in Luxemburgs Massenstreik beobachtet und befürwortet.
25. In der Entwicklung dieser Kapazität, die Verbindung zwischen den ökonomischen und politischen Dimensionen ihrer Bewegung zu sehen, haben kommunistische politische Organisationen eine unverzichtbare Rolle zu spielen, und daher wird die Bourgeoisie alles Erdenkliche tun, um die Rolle der bolschewistischen Partei 1917 zu diskreditieren, indem sie sie als eine Konspiration von Fanatikern und Intellektuellen darstellt, die lediglich daran interessiert gewesen seien, die Macht für sich zu erringen. Die Aufgabe der kommunistischen Minderheit ist es nicht, Kämpfe zu provozieren, sondern in ihnen zu intervenieren, um die Methoden und Ziele der Bewegung zu erläutern.
Die Verteidigung des Roten Oktobers erfordert freilich die Darlegung, dass der Stalinismus keineswegs irgendeine Kontinuität mit der Oktoberrevolution repräsentierte, sondern die bürgerliche Konterrevolution gegen sie war. Diese Aufgabe ist heute umso wichtiger angesichts des Gewichts der Idee, wonach der Zusammenbruch des Stalinismus die ökonomische Undurchführbarkeit des Kommunismus bewiesen habe. Die negativen Auswirkungen auf die politisch suchenden Minderheiten - das instabile Milieu zwischen der kommunistischen Linken und der Linken des Kapitals - sind beträchtlich. Während vor 1989 konfuse, aber erkennbare antikapitalistischen Ideen, beispielsweise einer rätistischen oder autonomistischen Spielart, verhältnismäßig einflussreich in solchen Zirkeln waren, hat es seither einen bedeutenden Vormarsch von Konzeptionen gegeben, die darauf beruhen, Netzwerke des gegenseitigen Austausches auf örtlicher Ebene zu bilden, Bereiche der Subsistenzwirtschaft oder des noch immer existierenden "Gemeingutes" zu bewahren und auszuweiten. Das Vordringen solcher Ideen zeigt an, dass selbst die politisierteren Schichten des Proletariats heute häufig außerstande sind, sich eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus auch nur vorzustellen. Unter diesen Umständen ist einer der notwendigen Faktoren, der die Entstehung einer künftigen Generation von Revolutionären vorbereitet, dass die existierenden revolutionären Minderheiten heute so tiefgehend und überzeugend wie möglich darlegen, warum der Kommunismus heute nicht nur eine Notwendigkeit ist, sondern auch eine sehr reale und praktikable Möglichkeit.
Angesichts des äußerst dezimierten und zersplitterten Zustandes der heutigen kommunistischen Linken und der enormen Schwierigkeiten, denen sich ein breiteres Milieu von Elementen gegenübersieht, die auf der Suche nach politischer Klarheit sind, ist es offensichtlich, dass von der heutigen kleinen revolutionären Bewegung bis zu einer künftigen Fähigkeit, als eine authentische Vorhut von proletarischen Massenbewegungen zu agieren, noch eine riesige Wegstrecke zurückgelegt werden muss. Die Revolutionäre und die politisierten Minderheiten sind nicht rein passive Produkte dieser Situation, da ihre eigenen Konfusionen auch dazu beigetragen haben, ihre Uneinigkeit und Desorientierung zu verschlimmern. Doch im Wesentlichen ist die Schwäche der revolutionären Minderheit ein Ausdruck der Schwäche der Klasse in ihrer Gesamtheit, und keine organisatorischen Rezepte oder aktivistischen Slogans werden in der Lage sein, sie zu überwinden.
Die Zeit ist nicht auf der Seite der Arbeiterklasse, doch sie kann nicht über ihren eigenen Schatten springen. In der Tat ist sie dazu gezwungen, viel von dem wiederherzustellen, was sie nicht nur seit 1917, sondern auch seit den Kämpfen von 1968-89 verloren hat. Von den Revolutionären erfordert dies eine langfristige, geduldige Arbeit der Analyse der realen Klassenbewegung und der Perspektiven, die durch die Krise der kapitalistischen Produktionsweise offenbar werden, und, auf der Grundlage dieser theoretischen Anstrengungen, die Beantwortung der Fragen, die von jenen Elementen gestellt werden, die zu kommunistischen Positionen streben. Und der wichtigste Aspekt dieser Arbeit ist, dass sie als Teil der politischen und organisatorischen Vorbereitung der künftigen Partei betrachtet werden muss, wenn die objektiven und subjektiven Bedingungen einmal mehr die Frage der Revolution in den Raum stellen. Mit anderen Worten, die Aufgaben der revolutionären Organisation heute ähneln denen einer kommunistischen Fraktion, wie sie am deutlichsten von der iatlienischen Fraktion der kommunistischen Linken in den 1930er Jahren entwickelt worden war.
IKS, April 2017
[1] Notizbuch IV, das Kapitel über das Kapital. Zirkulationsprozess, Überproduktion, S. 313f.
Wir veröffentlichen hier eine Antwort auf die Analyse welche Emma Goldman (1869-1940) in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 erarbeitete. Nach ihrer Deportation aus den USA im Januar 1920, verbrachte sie zwei Jahre in Russland und veröffentlichte danach drei Bücher[1].
„Ich war der Meinung und bin es heute noch, dass das russische Problem viel zu kompliziert ist, als dass man darüber mit einigen leichtfertigen Worten hinweggehen könnte“, schrieb sie in der Einleitung zu ihrem ersten Buch.
Wir antworten auf Emma Goldman weil sie eine zentrale Figur der revolutionären Arbeiterbewegung in den USA zur Zeit des Ersten Weltkrieges war. Wegen ihrer Entschlossenheit eine klare internationalistische Position gegen den Krieg zu erheben, wurde sie von der amerikanischen herrschenden Klasse als „Rote Emma - die gefährlichste Frau Amerikas“ bezeichnet. Es gibt aber noch zwei andere Gründe Goldmans Positionen näher zu betrachten. Einerseits wegen ihres großen Einflusses im anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Milieu bis heute – die „Rosa Luxemburg der Anarchisten“, und andererseits weil ihre früh formulierte Analyse zur Entwicklung und den aufgetauchten Problemen in der Russischen Revolution von großer Ehrlichkeit und Verantwortung zeugen. Goldmans Anstrengungen sind noch heute ein wertvoller Beitrag die Degeneration der Russischen Revolution zu verstehen, auch wenn man einige ihrer Positionen nicht teilen kann.
Goldman, Anarchistin mit familiären Wurzeln in Russland, lehnte sich an die Theorien der einflussreichen anarchistischen Autorität Peter Kropotkin an, repräsentierte jedoch in ihren Aktivitäten eine anarcho-syndikalistische Haltung. Den Marxismus als politische und theoretische Orientierung verwarf sie klar. Was Goldman von Kropotkin unterschied, war ihre Entschlossenheit mit anderen wie Malatesta und Berkman im Februar 1915 eine entschiedene Stellung gegen das sogenannte Manifest der 16 zu beziehen, mit dem sich Kropotkin und andere Anarchisten zur beschämenden Zustimmung für den Ersten Weltkrieg heruntergelassen hatten. Goldman vertrat eine klar internationalistische Position die jegliche Beteiligung, Unterstützung oder auch nur Duldung des Krieges verurteilte, und sie wurde damit zu einem internationalistischen Orientierungspunkt in den USA.
Es ist unser Anliegen, in diesem Artikel den politischen Ausgangspunkt Goldmans gegenüber der Russischen Revolution, ihre Erfahrungen, sowie ihre Schlussfolgerungen zu betrachten. Um es vorwegzunehmen: Ihre Beobachtungen, getragen von einem tiefen proletarischen Instinkt, eine ausgeprägte Errungenschaft Goldmans, müssen von einigen ihrer zentralen politischen Schlussfolgerungen getrennt werden. Um einen ausreichenden Einblick in die Position Goldmans zu erlauben, kommt man nicht umhin auch längere Zitate einzufügen. Da es nicht möglich ist auf alle Aspekte ihrer Analyse einzugehen, sind wir gezwungen eine Auswahl zu treffen und zu einer direkten Lektüre ihrer Schriften zur Russischen Revolution sowie ihrer Autobiografie aufzurufen.
Zwei Fragen beschäftigten Goldman stetig: Die Verschmelzung der Bolschewiki mit dem Staatsapparat und deren Konsequenzen, und ihre eigene schmerzhafte Zerrissenheit über den Zeitpunkt, der es erlaubt oder gar erfordert, ihre Kritik gegenüber den Bolschewiki offen darzulegen - etwas das sie nach monatelangem schmerzhaftem Zögern auch tat. Andere politische Sorgen Goldmans können wir hier nicht aufgreifen, wie den „Roten Terror“, die Tscheka, Brest-Litowsk, die Machno-Bewegung in der Ukraine, die Rastwojartska (die unnachgiebige Eintreibung von Lebensmitteln bei der Bauernschaft, was somit auch das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und den Bauern beinhaltet), die katastrophale Situation des Kindes[2] oder ihre Position zu den Arbeiterräten. Ihre Erfahrungen und Analysen zum Aufstand vom März 1921 in Kronstadt sind jedoch wichtig, da dies Goldmans Bruch mit den Bolschewiki bedeutete.
Der Ausbruch der Oktoberrevolution erfüllte sie mit großem Enthusiasmus: „Zwischen November 1917 und Februar 1918, auf Kaution aus der Haft wegen meiner Haltung gegen den Krieg freigelassen, reiste ich durch Amerika um die Bolschewiki zu verteidigen. Ich veröffentlichte eine Broschüre zur Aufklärung über die Russische Revolution und zur Rechtfertigung der Bolschewiki. Ich verteidigte sie trotz ihrer marxistischen Theorie als praktische Verkörperung des Geistes der Revolution.“ [3]
In der anarchistischen Zeitschrift MOTHER EARTH veröffentlichte sie 1918 einen Artikel mit dem Titel Die Wahrheit über die Bolschewiki: „Die Russische Revolution bedeutet nichts, außer sie vernichtet die Landgebühr und setzt dem entthronten Zaren seinen kapitalistischen Partner, den entthronten Großgrundbesitzer, zur Seite. Dies erklärt den historischen Hintergrund der Bolschewiki und ihre soziale und ökonomische Rechtfertigung. Sie sind mächtig, weil sie das Volk verkörpern. Im Moment wo sie aufhören dies zu tun müssen sie gehen, so wie die Provisorische Regierung Kerenskis. Denn niemals wird das russische Volk zufrieden sein, oder der Bolschewismus hört auf, bis das Land und die Lebensmittel zum Erbe der Kinder Russlands werden. Sie haben zum ersten Mal seit Jahrhunderten bestimmt dass sie gehört werden sollen, und dass ihre Stimmen das Herz nicht der herrschenden Klassen erreichen werden – denn sie wissen, dass diese kein Herz haben - aber die Herzen der Völker der Welt, einschließlich der Leute der Vereinigten Staaten. Darin liegt die tiefe Bedeutung der Russischen Revolution, wie sie von den Bolschewiki symbolisiert wird. (...) Die Bolschewiki sind gekommen, um die Welt herauszufordern. Sie kann nie mehr ruhen in ihrer alten schmutzigen Bequemlichkeit. sie muss die Herausforderung annehmen. Sie hat es bereits in Deutschland, in Österreich und Rumänien, in Frankreich und Italien, ja sogar in Amerika akzeptiert. Wie plötzliches Sonnenlicht breitet sich der Bolschewismus über die ganze Welt aus, erleuchtet die große Vision und erwärmt sie ins Sein - das neue Leben der menschlichen Brüderlichkeit und des sozialen Wohlergehens.“ [4]
Goldmans Standpunkt gegenüber den Bolschewiki war 1918 alles andere als ablehnend. Ganz im Gegenteil, ihre Verteidigung der Russischen Revolution und der Bolschewiki war eine höchst verantwortungsvolle Reaktion gegenüber der Lügenkampagne der Amerikanischen Bourgeoisie und deren Rolle innerhalb des international koordinierten, brutalen Feldzugs gegen das revolutionäre Russland. Ihre radikale Kritik nach zwei Jahren in Russland war immer von der Absicht getragen, die Oktoberrevolution gegen die äußeren Feinde, als auch gegen die innere Degeneration zu verteidigen. Das war die Hauptsorge ihrer Aktivitäten und Schriften.
Der Wechsel in Goldmans Einschätzung über die Entwicklungen in Russland kann in eindrücklicher Weise durch zwei kurze Zitate aufgezeigt werden. Ihre Ankunft im Januar 1920 in Petrograd beschreibt sie mit überschwänglichsten Worten: „Sowjetrussland! Geheiligter Boden, magisches Volk! Nun bist du zum Symbol der Hoffnungen der Menschheit geworden, du allein bist dazu bestimmt die Welt zu erlösen. Ich bin hier um dir zu dienen, geliebte Matuschka. Nimm mich an deine Brust, lass mich in dir aufgehen, mein Blut mit deinem mischen, meinen Platz in deinem heroischen Kampf finden und mich das Äußerste für dich geben!“ [5]
Doch dann, zwei Jahre später, als letzte Beschreibung ihres Aufenthalts in Russland finden wir folgendes: „Im Zug, 1. Dezember 1921! Meine Träume zerstört, mein Glaube gebrochen, mein Herz ein Stein. „Matuschka Rossija“ blutend aus tausend Wunden. Ihre Erde bedeckt mit Toten. Ich klammerte mich an den Griff der vereisten Fensterscheibe, biss die Zähne zusammen und unterdrückte mein Schluchzen.“ [6] “Es waren nun beinahe ein Jahr und elf Monate vergangen seit ich meinen Fuß auf das gesetzt hatte, das mir das gelobte Land zu sein schien. Die russische Tragödie lastete schwer auf meinem Herzen. Nur noch ein Gedanke beschäftigte mich: Ich muss meine Stimme gegen die Verbrechen im Namen der Revolution erheben. Ich muss gehört werden, unabhängig ob von Freund oder Feind.“ [7] Was war also zwischen ihrer Ankunft 1920 und der Abreise zwei Jahre später geschehen? War ihre Enttäuschung lediglich Ergebnis einer naiven Erwartung, die nun von der Realität eingeholt worden war? Wir werden am Ende des Artikels nochmal auf die zweite Frage eingehen.
Goldman maß der internationalen Isolierung der Russischen Revolution eine große Bedeutung zu, welche ihrer Meinung nach in den ersten Jahren der Sowjetmacht eine entscheidende Rolle spielte. Wie wir aber später sehen werden, findet man in ihren Schriften kaum eine Beschreibung der politischen Isolierung und weshalb die Arbeiterklasse in den anderen Ländern die Macht nicht ergreifen konnten. Nur eine Ausdehnung der Revolution hätte die Fehler der Bolschewiki korrigieren können.
In Ihrem Buch Der Niedergang der Russischen Revolution von 1922, unterstreicht Goldman zu Beginn, wie die Isolation Russlands der Revolution allen Atem nahm und dass die Situation eines Weltkrieges die schlechtesten Bedingungen für eine Revolution schuf: „Der Kreuzzug gegen Russland begann. Die Eindringlinge mordeten Millionen von Russen, durch die Blockade verhungerten Hunderttausende von Frauen und Kindern, und Russland verwandelte sich in eine ungeheure Einöde, wo die Agonie und die Verzweiflung ihre Heimstätte aufgeschlagen hatte. Die Russische Revolution wurde zu Boden geschlagen, und das Regime der Bolschewiki verstärkte sich ins Unermessliche. Dies ist das Endergebnis der vierjährigen Verschwörung der Imperialisten gegen Russland.“ [8]
Der international koordinierte Krieg gegen Russland bedeutete eine brutale Strangulation. Diese tragische Situation außer Acht zu lassen wäre für jede Analyse über die Degeneration und das Scheitern der Russischen Revolution eine komplett falsche Grundlage, und Goldman erwähnt dies auch immer wieder in ihren persönlichen Erfahrungen. So beschreibt sie zum Beispiel die schreckliche Situation die 1920/21 für Millionen von Kindern durch die erbarmungslose Aushungerung Russlands entstand, welche durch die selbstbereichernden Machenschaften vieler Staatsbürokraten aufs Schlimmste verschärft wurde. In dieser Frage verteidigt Goldman trotz all ihrer harschen Kritik an den Bolschewiki deren Anstrengungen zur Verbesserung der Situation der Kinder: „Es ist wahr, dass die Bolschewiki in Bezug auf das Kind und die Erziehung ihr Möglichstes getan haben. Es ist auch wahr, dass, wenn es ihnen nicht gelungen ist, den Nöten der Kinder in Russland Einhalt zu gebieten, dieses mehr die Schuld der Feinde der Russischen Revolution als ihre eigene Schuld gewesen ist. Die furchtbaren Folgen der Intervention und Blockade fielen am schwersten auf die schwachen Schultern der Kinder und Kranken. Aber sogar unter günstigeren Bedingungen würde das bürokratische Monstrum des bolschewistischen Staates die besten Absichten und die gewaltigsten Anstrengungen, welche die Kommunisten zugunsten des Kindes und der Erziehung bekundeten, gelähmt und vereitelt haben. (…) Mehr und mehr musste ich erkennen, dass die Bolschewiki tatsächlich versuchten, alles was in ihrer Kraft stand für das Kind zu tun, dass aber all ihre Bemühungen von der schmarotzenden Bürokratie zunichte gemacht wurden, die ihr Staat selbst ins Leben gerufen hatte.“ [9]
Konkret beschreibt sie die so genannten „Toten Seelen“ [10] : fiktive Kinder, selbst-kreierte oder schon verstorbene, die in den Lebensmittel-Bezugslisten der unteren Bürokratie geführt wurden. Die Bürokraten verbrauchten diese erschwindelten Lebensmittel selbst oder verkauften sie. All dies auf Kosten von Hunderttausenden hungernder Kinder, den hilflosesten Opfer der Ausblutung durch die internationale Blockade!
Goldman kann nicht vorgeworfen werden ihre Analyse über den Niedergang der Russischen Revolution außerhalb der alles bestimmenden und tödlichen Situation der Isolation Russland gestellt zu haben. Sie versuchte darüber hinaus, wie in den Zitaten ersichtlich, eine Unterscheidung zu machen zwischen den Bolschewiki und der Staatsbürokratie, worauf wir später eingehen.
Ihre Schwäche liegt vielmehr im Fehlen einer klaren Analyse darüber, dass der Krieg und die Blockade gegen Russland nur möglich waren, weil die Arbeiterklasse gerade in Westeuropa Schritt für Schritt geschlagen wurde, allem voran in Deutschland. Die Arbeiterklasse in Westeuropa und auch in den USA war mit einer viel erfahreneren Bourgeoisie und ausgefeilteren Staatsapparaten konfrontiert als in Russland. Es war aber nicht nur die Niederlage der internationalen revolutionären Welle, welche die ausweglose Situation Russlands produzierte, sondern auch die Verspätung der internationalen Arbeiterklasse im Vergleich zu Russland.
In Deutschland begann der Revolutionsversuch erst mehr als ein Jahr nach dem Oktober 1917, was der Strategie der Isolation Russlands lange Zeit freie Hand gab, wie dies die Monate nach den Verhandlungen von Brest-Litowsk zeigten. Eine Machtübernahme des Proletariats in den zentralen Staaten Westeuropas wäre der einzige Weg gewesen, die Ausblutung der Russischen Revolution zu durchbrechen und die Interventionsarmeen zu stoppen. Die Wurzeln der Niederlage der Russischen Revolution zu verstehen, ist nur bei einem genauen Betrachten des internationalen Kräfteverhältnisses zwischen dem Proletariat und der Bourgeoise möglich. Ein Aspekt der in Goldmans Schriften zwar punktuell auftaucht, jedoch kaum entwickelt ist und den Eindruck hinterlässt als hätte sich das Schicksal der Revolution vor allem auf russischem Boden entschieden.
Die Isolierung und Ausblutung Russlands nach dem Oktober 1917 erklärt niemals alle Aspekte der inneren Degeneration, welche schlussendlich die erschütterndste Erfahrung für die Arbeiterklasse war, noch weniger soll sie als Rechtfertigung der Degeneration von innen dienen. Es ist entscheidend zu verstehen, dass der katastrophale Fehler der Bolschewiki, sich mit dem Staatsapparat zu identifizieren, nur durch den Einfluss einer erfolgreichen revolutionären Arbeiterklasse in anderen Ländern hätte korrigiert werden können, was tragischerweise nicht der Fall war.[11]
Bei genauer Betrachtung springt ein Widerspruch in den zentralen Thesen Goldmans über das Verhältnis zwischen der internationalen Situation und den Ursachen der Degeneration der Russischen Revolution ins Auge. Einerseits schreibt sie: „Meine Beobachtungen und Studien von zwei Jahren haben mir bis zur Gewissheit klar gemacht, dass das russische Volk, wäre es nicht die ganze Zeit von außen bedroht gewesen, die große Gefahr, die ihm von innen drohte, sehr bald wahrgenommen und abgewendet haben würde, (…).“ Andererseits jedoch: “Wenn jemals ein Zweifel darüber bestand, ob die größte Gefahr für die Revolution in den Angriffen von außen her oder an der Ausschaltung des Volkes an den Ereignissen und der Lähmung seiner Interessen für die Revolution von innen her zu suchen sei, so hat die Russische Revolution jeden Zweifel darüber in dieser Frage ein für allemal behoben. Die Gegenrevolution, unterstützt von den Alliierten durch Geld versagte vollständig.“ [12]
Wie schon erwähnt, die Isolierung Russlands darf in keiner Weise Ausrede für Fehler sein. Doch Goldman macht eine kuriose Schlussfolgerung in der sie ihren „Beobachtungen und Studien“, wie zuerst zitiert, widerspricht: Die Rettung der Revolution sei im Wesentlichen von den Kräften der Arbeiterklasse im Innern Russlands abhängig gewesen, wobei die internationale Situation viel mehr ein zweitrangiger Faktor gewesen sei. Goldman entwickelt hier eine Logik welche an diejenige Volins[13] erinnert, auch wenn sie nicht soweit geht wie dieser. Sie behauptet, dass aufgrund der eintretenden Niederlage der Alliierten, die Intervention der überwindbare Teil der Konterrevolution gewesen sei, da die Alliierten schlussendlich ja zurückgeschlagen werden konnten
Was in dieser simplen Logik untergeht, ist die Auswirkung der komplett demoralisierenden und das Leben zehntausender von entschlossensten Revolutionären fordernden Schlächterei[14], welche Goldman ja selbst treffend beschrieben hat. Diese gefallenen, bewussten Revolutionäre, welche sich zu tausenden freiwillig an die Front stellten, hätten der inneren Konterrevolution wohl am ehesten etwas entgegensetzen können.
Die beiden Faktoren, die Strangulation und die Fehler der Bolschewiki, verstärkten sich gegenseitig. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass der Krieg gegen Russland für alle ersichtlich war, während die Degeneration im Inneren viel verdeckter begann und schlussendlich für die internationale Arbeiterklasse zum Trauma des Jahrhunderts wurde. Goldmans Schlussfolgerungen sind im wesentlichen Ausdruck des großen Problems die Konterrevolution von außen und deren Auswirkungen auf die konterrevolutionäre Degeneration von innen zu verstehen, eine Schwierigkeit, mit der alle Revolutionäre in den 1920er Jahren konfrontiert waren.
Ein zu anerkennender Beitrag Goldmans die Niederlage der Russischen Revolution zu verstehen ist ihr Standpunkt über die Bedingungen für die Revolution während und nach einem Krieg, auch wenn wir ihre Schlussfolgerung nicht teilen: „Vielleicht war das Schicksal der russischen Revolution bereits bei ihrer Geburt entschieden. Die Revolution folgte einem vierjährigen Kriege direkt auf den Fersen, einem Kriege, der Russland seiner besten Manneskraft beraubt, sein Blut in Strömen vergossen und das ganze Land verwüstet hatte. Unter solchen Umständen wäre es begreiflich gewesen, wenn die Revolution nicht die nötige Kraft hätte aufbringen können, um dem wütenden Anprall der ganzen übrigen Welt zu widerstehen.“ [15]
Hier unterstreicht sie richtigerweise das direkte Ergebnis des Krieges und gibt eine Antwort auf falsche, schematische Auffassungen nach denen die Krise automatisch den Krieg, der Krieg automatisch das Klassenbewusstsein vertieft und dann die Revolution ermöglicht. Goldman streicht hier die Erschöpfung in Russland selbst durch den Krieg hervor, die unbestreitbar nur zu Ungunsten der Arbeiterklasse war. Aber der Gedanke, das Schicksal der Revolution sei womöglich „bereits bei ihrer Geburt entschieden“, ist eine eigenartig fatalistische Herangehensweise.
Es gab einen gewichtigen Faktor, der sich nicht in Russland selbst ausdrückte. Der Erste Weltkrieg endete im November 1918, also ein Jahr nach dem Oktober 1917. Wie schon unterstrichen, war die alleinige Hoffnung des Oktobers das schnellstmögliche Übergreifen der Revolution auf andere Länder, und vor allem eine schnell folgende revolutionäre Welle in Westeuropa. Dies war eine Perspektive welche historische möglich gewesen ist und die Arbeiterklasse hatte keine andere Wahl als ihren Kampf in diese Richtung voranzutreiben.
Der Krieg endete mit Gewinner- und Verliererländern. Wenn die Niederlage der Verliererstaaten deren Regierungen schockte, sie schwächte und eine revolutionäre Dynamik stärkten, so war dies in den gestärkten Siegerstaaten nicht der Fall. In den Siegerstaaten, in denen die Arbeiterklasse vier Jahre lang von der herrschenden Klasse schmerzhaft durch die Kriegsschlächterei getrieben worden war, untergrub der Wunsch nach Friede und Stabilität die revolutionären Anstrengungen des Proletariats enorm, so in Ländern wie Frankreich, England, Belgien, Holland und Italien. Es war nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Staaten welches nach dem Krieg anders aussah, sondern auch der unterschiedliche Geist in den Massen der auf den Schultern der Arbeiterklasse lastete und sie in Sieger und Verlierer spaltet. Goldman wirft das Problem der schlechten Bedingungen eines Krieges für die Revolution auf, sie reduziert es aber alleine auf die Auswirkungen dieser Situation Russland selbst.
Was war in Russland an Veränderungen überhaupt möglich, in einer Zeit der kompletten Einkreisung und Aushungerung? Im Lager der Anarchisten gab es darüber sehr unterschiedliche Auffassungen. Bezeichnend aber war die große Erwartung an sofortige Verbesserungen, gerade auf der Ebene von wirtschaftlichen Maßnahmen und dem Umkrempeln der Produktion, und damit Verbesserungen im täglichen Leben, das verzweifelt nach einer Veränderung schrie. Was waren die Erwartungen Goldmans in einer Zeit, kaum zwei Jahre nach dem Oktober 1917? Erwartete sie bei ihrer Ankunft im Januar 1920 mit Ungeduld eine in Russland schon existierende Gesellschaft anzutreffen, welche den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird? In ihrer ersten Begegnung mit Maxim Gorki, in einem Zug nach Moskau, erklärte sie ihm: „Du glaubst mir hoffentlich auch, wenn ich sage, dass obwohl ich Anarchistin bin, nicht so naiv bin zu meinen, dass sich der Anarchismus über Nacht aus den Trümmern des alten Russlands erhebt.“ [16]
Aus Gesprächen mit Alexander Berkman, ihrem über Jahrzehnte hinweg engsten politischen und persönlichem Gefährten, berichtet sie folgendermaßen: “Er wies die Anschuldigungen (gegen die Bolschewiki) als unverantwortliches Geschwätz unfähiger ewig nörgelnder Leute zurück. Die Anarchisten in Petrograd wären wie so viele in unseren Reihen in Amerika, die nichts täten und nur kritisieren, sagte er. Vielleicht wären sie so naiv gewesen und hätten erwartet, dass der Anarchismus über Nacht aus den Ruinen der Autokratie, aus dem Krieg und den Fehlern der provisorischen Regierung hervorgehen würde.“ [17] Goldman maß die Russische Revolution nicht mit einer blauäugigen, lediglich auf sofortige Verbesserungen der Lebensbedingungen und der Wirtschaft ausgerichteten Elle.[18]
Bei der Frage der sofortigen Möglichkeiten zur Umwälzung der Gesellschaft im Interesse der Arbeiterklasse und anderen unterdrückten Schichten, wie in Russland das Millionen zählende Bauerntum, stellt Goldman ihre Ansichten wieder in einen Rahmen der die internationale Situation nicht außer Acht lässt. Sie war auch nicht zu scheu, Anstrengungen der Bolschewiki (wie wir es bei der Frage der Situation der Kinder gesehen haben, welche sofortige und drastische Maßnahmen forderten) zu verteidigen und Positionen anderer Anarchisten scharf zu kritisieren. Goldman verfiel nicht in Allianzen des gegenseitigen unkritischen Schweigens mit anderen Anarchisten. Wir wissen nicht wie sie gegenüber ungeduldigen Anarchisten, welche nur das sofortige Umwälzen der Gesellschaft erwarteten argumentierte. Doch diese Auseinandersetzungen in den Reihen der Anarchisten zeigen auf, dass es im Russland der Revolution keineswegs einen homogenen Anarchismus gab.
Die Frage von möglichen Sofortmaßnahmen zur schnellen Linderung des Leidens stellte sich für die Arbeiterklasse und das Bauerntum in ihrer Gesamtheit in höchstem Maße und war nicht lediglich Thema ungeduldigster Teile des Anarchismus, bei denen diese Frage oft einzig und allein über ihr Verhältnis gegenüber den Bolschewiki entschied. Für die Arbeiterklasse ist die Revolution keine abstrakte historische Folgerichtigkeit. Geknüppelt durch jahrzehntelange brutale Ausbeutung und leidend unter der Schlächterei des Weltkrieges von 1914-1918 waren größte Hoffnungen auf eine Sonne am Horizont des Lebens mehr als angebracht und verständlich. Sie stellten eine bedeutende Triebkraft zur revolutionären Überzeugung und zur Kampfbereitschaft dar die den Oktober ermöglichte. Angesichts der unmittelbaren Realität einer Strangulation des revolutionären Russlands, des Hungers und des Krieges gegen die Weißen Armeen, erhob sich die erwartete Sonne am Horizont nicht. Ausblutung und Demoralisierung lasteten schwer auf der Arbeiterklasse. In dieser fast ausweglosen Situation nahm Goldman eine verantwortungsvolle Haltung der Geduld und des Durchhaltens ein, welche aber in der schrittweisen Niederschlagung der weltrevolutionären Welle nach dem Krieg für alle Revolutionäre nur mit enormem Willen und politischer Klarheit aufrecht erhalten werden konnte.
In ihrer Analyse zur Frage der Dynamik des anwachsenden Staatsapparates nach dem Oktober wurde Goldman ihrem Anspruch gerecht, dass das russische Problem viel zu kompliziert sei, als dass man darüber mit einigen leichtfertigen Worten hinweggehen könnte. Sie widmet dieser Frage große Aufmerksamkeit und zeichnet sich durch präzise Beobachtungen und Reflexionen aus. Dennoch sind viele ihrer Schlussfolgerungen nicht zu teilen! Ihre Schriften beinhalten Widersprüche zur Frage des Verhältnisses zwischen den Bolschewiki und dem aufkommenden Staatsapparat.
1922 war sie noch nicht fähig eine tiefe Analyse mit Distanz zu machen, so wie es Ende der 20er und anfangs der 30er Jahre möglich war, als sich die Italienische Kommunistische Linke dieser Aufgabe stellte. Sehr dominierend bei ihrer Analyse und ihren Schlussfolgerungen sind zweifellos einige anarchistische Prinzipien zur Frage des Staates.
Es ist notwendig, zuerst Goldmans Gedanken dazu in ausgedehnter Form zu betrachten: „Die ersten sieben Monate meines Aufenthalts in Russland hatten mich nahezu vernichtet. Ich war angekommen mit so viel Begeisterung im Herzen, ganz und gar beseelt von dem leidenschaftlichen Verlangen, mich in die Arbeit stürzen zu können und mitzuhelfen, die heilige Sache der Revolution zu verteidigen. Aber was ich in Russland fand, überwältigte mich geradezu. Ich war nicht fähig, irgend etwas zu tun. Das Rad der sozialistischen Staatsmaschine ging über mich hinweg und lähmte meine Energie. Das furchtbare Elend und die Bedrängnis des Volkes, die kaltherzige Ignorierung seiner Wünsche und Bedürfnisse, die Verfolgungen und Unterdrückungen lagen mir wie ein Berg auf der Seele und machten mir das Leben unerträglich. War es die Revolution, die Idealisten in wilde Bestien verwandelt hatte? Wenn dies der Fall war, so waren die Bolschewiki bloß Schachfiguren in der Hand eines unvermeidlichen Schicksals. Oder war es der kalte, unpersönliche Charakter des Staates, dem es gelungen war, durch verwerfliche und unehrliche Mittel die Revolution in sein Joch zu spannen, um sie nun auf Wege zu peitschen, die ihm unentbehrlich waren? Ich fand keine Antwort auf diese Fragen - wenigstens nicht im Juli 1920.“ [19]
„In Russland jedoch vertreten die Gewerkschaften weder im konservativen und noch weniger im revolutionären Sinne die Bedürfnisse der Arbeiter. Sie sind dort nicht mehr wie das untergeordnete und militaristisch ausgebildete Werkzeug des bolschewistischen Staates. Die "Schule des Kommunismus", wie Lenins These über die Aufgabe der Gewerkschaften lautet. Aber sie sind sogar das nicht. Eine Schule setzt den freien Meinungsausdruck und die Initiative des Schülers voraus, während die Gewerkschaften in Russland bloß militärische Kasernen für mobilisierte Arbeiterarmeen sind, denen jeder auf Kommando des Staates beizutreten gezwungen ist.“ [20]
„Ich bin überzeugt, dass weder Lunatscharski noch Gorki davon (die Inhaftierung von Kindern durch die Tscheka) eine Ahnung hatten. Aber darin liegt ja gerade der Fluch des ganzen verhängnisvollen Systems. Es nimmt denen, die an der Spitze stehen, die Möglichkeit, zu wissen, was der Schwarm ihrer Untergebenen tut. (…) Sind Lunatscharski solche Fälle bekannt? Wissen andere führende Kommunisten davon? Manche zweifellos. Aber sie sind so sehr mit "wichtigen Staatsangelegenheiten" beschäftigt. Außerdem sind sie gegen solche "Kleinigkeiten" unempfindlich geworden. Und dazu sind sie selbst in denselben verhängnisvollen Kreis hinein gebannt, ist doch jeder von ihnen nur ein Teil des großen bolschewistischen Beamtenapparates. Sie wissen, daß die Zugehörigkeit zur Partei eine Menge Sünden zudeckt.“ [21]
Und bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Staatsapparat und seinen Bürokraten: „In der Kleinstadt in dem er (Kropotkin) lebte, im kleinen Dimitrov, gab es mehr bolschewistische Beamte als es je unter dem Regime der Romanovs gegeben hatte. Sie lebten alle abseits der Massen. Sie waren Parasiten am Körper der Gesellschaft, und Dimitrov war nur ein kleines Beispiel von dem was sich überall in Russland abspielte. Es war nicht der Fehler irgendwelcher bestimmter Individuen: es war vielmehr der Staat der sie kreiert hatte, es diskreditierte jegliches revolutionäres Ideal, erstickte jegliche Initiative und setzte auf Inkompetenz und Verschwendung.“ [22]
Goldmans Beobachtungen zur konkreten Wirklichkeit des Staates beschreiben sehr genau wie der Staat sich mehr und mehr ausbreitet und unaufhaltsam alles einzuverleiben beginnt. Es ist ihre Stärke, detaillierte Eindrücke über das „tägliche Leben“ des bürokratischen Apparates und seine tiefen Konflikte mit den Interessen der Arbeiterklasse und den anderen ausgebeuteten Schichten zu schildern. Ihre Schilderungen waren 1922 nur berechtigt, gegen all die Glorifizierungen, die in der internationalen Arbeiterbewegung über die Situation in Russland die Runde machten und der Blindheit gegenüber den großen Problemen, die sich in Russland stellten. Zweifellos war Goldmans Stoßrichtung, vor der Gefahr des Staates wie er sich in Russland entwickelte zu warnen in dieser Zeit kostbar, auch wenn ihre Analyse noch vielmehr Bestandsaufnahme und ein erster Anlauf war.
Welche Schlussfolgerungen zieht sie jedoch daraus? „Es wäre ein Fehler zu glauben, dass das Scheitern der Revolution ausschließlich dem Charakter der Bolschewiki zuzuschreiben ist. Grundsätzlich ist es Resultat der Prinzipien und Methoden des Bolschewismus. Es sind der autoritäre Geist und die Prinzipien des Staates welche die libertären und befreienden Aspirationen ersticken. Auch wenn irgendeine andere politische Partei die Kontrolle über die Regierung in Russland hätte, das Resultat wäre grundsätzlich dasselbe. Es sind nicht so sehr die Bolschewiki welche die Russische Revolution erwürgten, sondern vielmehr die bolschewistischen Ideen. Es war der Marxismus, jedoch ein modifizierter, kurzum fanatische Staatsmentalität. (…) Ich habe weiter aufgezeigt, dass nicht nur der Bolschewismus versagte, sondern der Marxismus selbst. Es ist die STAATSIDEE, das autoritäre Prinzip welche durch die russische Erfahrung den Bankrott erlitt. Wenn ich meine ganze Argumentation in einem Satz zusammenfassen will: Die inhärente Tendenz des Staates ist es zu konzentrieren, zu verengen, und alle sozialen Aktivitäten zu monopolisieren; die Natur der Revolution ist, im Gegenteil, zu wachsen, zu erweitern, und sich weiter auszubreiten. Mit anderen Worten, der Staat ist institutionell und statisch, die Revolution fließend und dynamisch. Diese zwei Tendenzen sind unvereinbar und zerstören sich gegenseitig. Die Staatsidee ermordete die Russische Revolution, und sie wird in allen anderen Revolutionen denselben Ausgang nehmen, es sei denn die libertäre Idee überwiegt. (…) Der Hauptgrund der Niederlage der Russischen Revolution liegt tiefer. Er befindet sich im ganzen sozialistischen Revolutionskonzept selbst.“ [23]
„Und während die Arbeiter und Bauern Russlands so heroisch ihr Leben einsetzten, wuchs der innere Feind immer mächtiger heran. Langsam aber sicher errichteten die Bolschewiki einen zentralistischen Staat, der die Sowjets zerstörte und die Revolution niederschlug, einen Staat, der sich, was Bürokratie und Despotismus anbelangt, heute mit jedem Großstaat der Welt vergleichen kann.“ [24]
„Es war die marxistische Staatskunst der Bolschewiki, die Taktik, die man zuerst als für den Erfolg der Revolution unumgänglich notwendig gepriesen hatte, um sie später, nachdem sie überall Elend, Misstrauen und Antagonismus verbreitet hatte, als schädlich beiseite zu werfen, welche langsam den Glauben des Volkes an die Revolution untergrub.“ [25]
Goldmans These ist demnach folgende: Der Marxismus an sich erweist sich aufgrund der Politik der Bolschewiki gegenüber dem Staat nach der Revolution als unbrauchbar. Im Gegensatz zu eingefleischt organisationsfeindlichen Teilen des Anarchismus stand Goldman nie auf der Position, dass die Probleme der Bolschewiki lediglich daher rühren dass sie als organisatorischer Körper, eine feste Partei seien. Vielmehr wies sie deren konkrete Politik zurück. In zwei Punkten liegt sie absolut richtig, wenn sie sagt, dass der Staat in seinem Charakter „institutionell und statisch“ ist. Sie bezieht sich offenbar auf die Erfahrung mit dem bürgerlichen Staat und dessen Charakter vor der Revolution. Goldmans Position ist nicht lediglich emotional, so wie es ihre gewisse Anarchisten damals immer vorgeworfen hatten, sondern sie stützt sich auf der geschichtlichen Erfahrung ab. Der Staat im Feudalismus und im Kapitalismus ist in seinem Wesen durch und durch statisch, und überdies durch die bedingungslose Verteidigung der Interessen und Macht der herrschenden Klasse offen reaktionär. Zweitens teilen wir die Sichtweise, dass das Problem nicht bei einzelnen Persönlichkeiten in den Reihen der Bolschewiki lag, sondern ihren enormen Konfusionen gegenüber dem Staat nach einer Revolution.
Selbst nach einer weltweiten Proletarischen Revolution (was zur Zeit der Russischen Revolution nie der Fall war da sie weitgehend auf Russland beschränkt blieb) bleibt ein notwendiger, aber auf ein Minimum beschränkter, durch die Arbeiterräte kontrollierter und absterbender „Halb-Staat“ in seinem Wesen immer konservativ und statisch, und ist keineswegs Treibkraft zur Verwirklichung einer kommunistischen Gesellschaft oder gar ein Organ der Arbeiterklasse. Wie es die Italienische Kommunistische Linke beschrieb: „Der Staat, auch wenn er oft als „proletarisch“ bezeichnet wird, bleibt ein Organ des Zwangs, er bleibt ein akuter und permanenter Gegenspieler der Verwirklichung des kommunistischen Programms; er ist in gewissem Maße die Offenbarung der Beharrlichkeit der kapitalistischen Gefahr während all der Phasen und Entwicklungen in der Übergangsperiode.“[26] Deshalb ist es absolut falsch von einem „proletarischen Staat“ als Organ der Revolution zu sprechen, so wie es die Trotzkisten bezüglich Russland behaupten, aber auch die bordigistische Strömung auf einer theoretischen Ebene bezüglich der Übergangsperiode. Eine solche Idee ist komplett blind gegenüber der lauernden Gefahr einer Vermischung zwischen den Arbeiterräten und der politischen Partei mit dem Staatsapparat – so wie es sich in Russland tragischerweise entwickelte.
Um falsche Diskussionen zu vermeiden ist eine Bemerkung notwendig: Goldman spricht oft von einem „zentralisierten Staat“ welcher von den Bolschewiki aufgebaut wurde. Dies aber nicht weil sie Fürsprecherin eines föderalistischen Konzepts war, so wie Rudolf Rocker der die politische Losung eines enorm föderalistischen Klassenkampfes vertrat.[27] Goldmans Bezeichnung „zentralistisch“ war vielmehr Beschreibung des undurchschaubaren, trägen, korrupten und hierarchischen Staatsapparates in Russland, der auch noch so kleine Maßnahmen zugunsten der Arbeiterklasse und den anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft wie dem Bauerntum sabotierte.
Doch erlitt der Marxismus durch die Prüfung der Revolution kompletten Schiffbruch wie Goldman behauptet? Und wurde im Gegensatz der Anarchismus durch die Russische Revolution bestätigt? Wenn wir die Russische Revolution verstehen wollen, so ist eine solche, bezüglich zweier historischer politischer Strömungen Schiedsrichter-artige Herangehensweise welche dem „Spielfeld der Revolution“ einen Gewinner und einen Verlierer zuspricht, nicht hilfreich.
Wir können in dieser Antwort nicht auf alle Aspekte der tragischen Degeneration der Bolschewiki und der Russischen Revolution eingehen, dies haben wir schon in zahlreichen Texten der IKS getan. Doch auf den sogenannten Schiffbruch des Marxismus als Ganzes müssen wir Goldman antworten. Die Bolschewiki degenerierten, was sich durch ihre Verschmelzung mit den Staatsapparat deutlich ausdrückte, dies ist ein Faktum – doch der Marxismus scheiterte nicht „in corpore“.
Wie erklärt sich Goldman mit ihrer Methode die Tatsache, dass angesichts der Kriegsfrage und des Internationalismus exakt innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung und auf der Basis ihres historischem Erbes die klarsten und beharrlichsten internationalistischen Positionen entstanden, wie sie durch die Konferenz in Kienthal 1916 verkörpert wurden? Und all dies mit einer marxistischen Organisation, den Bolschewiki, als Speerspitze gegen den Reformismus der gegenüber der Kriegsfrage in die Knie ging.
Wie erklärt sie sich mit dieser Methode die Tatsache, dass wie zu Beginn dieses Artikels erwähnt und von Goldman richtigerweise denunziert, innerhalb des Anarchismus und sogar rund um seine wohl zentralste Person der damaligen Zeit, Kropotkin, eine Tendenz entstand, welche die internationalistischen Prinzipien verließ und sie in einem Manifest offen formulierte - ein Abgleiten das innerhalb der anarchistischen Reihen eine große Unsicherheit, Spannungen und einen Widerstand hervorrief? Goldmans Methode folgend hätte der Anarchismus hier Schiffbruch erlitten, da gerade von einflussreichsten Vertretern wie Kropotkin der Internationalismus über Bord geworfen wurde. Ähnlich wie innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung entstand in der Prüfung des Krieges eine scharfe Auseinandersetzung, und ein entschlossener internationalistischer Teil zu dem auch Goldman zählte, bekämpfte jegliche Zustimmung für das eine oder andere Kriegslager.
Es wäre absolut falsch zu behaupten, dass der Anarchismus als Ganzes 1914 Schiffbruch erlitten hätte. Im Gegenteil, gerade weil innerhalb des Anarchismus und innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung eine harte Scheidung stattfand, war es möglich, dass im Kampf gegen den Krieg und im Oktober 1917 die revolutionären internationalistischen Anarchisten mit dem revolutionären Marxismus Schulter an Schulter kämpfen konnten. Wenn das „Spielfeld des Krieges und der Revolution“ tatsächlich ein Resultat hervorbrachte, dann die sich sowohl bei den Marxisten und den Anarchisten herausschälende Entschlossenheit, welche konsequent den Internationalismus und die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse verkörperte.
Weiter noch. Wie erklärt sich Goldman mit ihrer Herangehensweise und der These eines schiffbrüchigen Marxismus die Tatsache, dass die Bolschewiki, eine Organisation der marxistischen Tradition, fähig waren, 1917 mit den Aprilthesen, formuliert durch ihre entschlossensten Vertreter, Klarheit gegen die in der Arbeiterklasse Russlands noch existierenden demokratischen Konfusionen zu bringen?
Es ist eine Tatsache, dass die Mehrheit der Bolschewiki sich Schritt für Schritt vom Geist der Oktoberrevolution entfernte, ihr den Rücken zukehrte und durch ihre Vermischung mit dem Staatsapparat sowie durch Repressionsmaßnahmen gegen Kritiken unter dem Vorwand, damit die Revolution retten zu können, zur Verkörperung der Konterrevolution von Innen wurde. Aber es war nicht die Gesamtheit, welche diesen Weg einschlug, denn es entstanden verschiedene organisierte Reaktionen innerhalb der Partei auf diese Anzeichen der Degeneration.
Goldman beschreibt ihre große Sympathie und Nähe zu einer dieser Oppositionsgruppen innerhalb der Bolschewistischen Partei, die „Arbeiteropposition“ rund um Kollontai und Schljapnikov. Offenbar war der Marxismus fähig, eine kämpferische revolutionäre Opposition hervorzubringen, welche Goldman ausdrücklich begrüßte. Auf der anderen Seite beschreibt sie (und noch ausführlicher ihr politischer Weggefährte Alexander Berkman) organisierte Tendenzen innerhalb des Anarchismus in Russland, die so genannten „Sowjet-Anarchisten“, welche offen die Politik der Bolschewiki unterstützten, und dies sogar noch 1920 als der Terror der Tscheka[28] schon um sich griff. Sie schreibt in ihrer ehrlichen Art auch folgendes: „Leider, und es war unter diesen Umständen nicht zu vermeiden, fanden fremde Ideen auch Eintritt in die Reihen der Anarchisten. Trümmer die von der revolutionären Flut an Land gespült wurden. (…) Macht ist korrumpierend, und Anarchisten sind nicht davor gefeit“ [29]. Scheiterte also, wenn wir Goldmans Methode folgen, der Anarchismus aufgrund solcher Tatsachen ebenfalls in seiner Gesamtheit? Eine solche Schlussfolgerung wäre unseres Erachtens falsch. Ihre Herangehensweise und Schlussfolgerung lässt alle Auseinandersetzungen nach dem Oktober 1917 innerhalb des sog. „gescheiterten Marxismus“ außer Acht.
Die Frage des Staates nach der Revolution war zur damaligen Zeit innerhalb der Arbeiterbewegung nicht geklärt. Das trifft auch für die Anarchisten zu. Ein wesentlicher Grund dafür war das Fehlen einer konkreten historischen Erfahrung wie sie sich nach 1917 in Russland stellte. Die unüberwindbare Isolation der Russischen Revolution und der entstandene Zwang das Territorium zu verteidigen förderten auf brutale Art und Weise die Ausblutung der Revolution und ihre Degenerierung. Der Staat und die bolschewistische Partei „fusionierten“ dabei zu einem aktiven Faktor dieser Dynamik.
Auch Goldmans politische Orientierung „Vater Kropotkin“, wie ihn sein politisches Umfeld nannte, war in seinem Buch Der Staat – seine historische Rolle nicht in der Lage die Rolle und Funktion des Staates nach einer Revolution zu beantworten. Das radikale Verwerfen des Staates auf der Basis eines instinktiven Misstrauens wie es von der absoluten Mehrzahl der Anarchisten vertreten wurde, war auf der Erfahrung der brutalen Konfrontation mit den Staat unter dem Feudalismus und dem kapitalistischen Staatsapparat entstanden und forderte richtigerweise die Zerstörung des bürgerlichen Staates durch eine proletarische Revolution, so wie dies auch im Buch Lenins Staat und Revolution verteidigt wird. Auch wenn der anarchistischen Bewegung dieser Verdienst zukommt, so dominierte in ihren Reihen ein tückisches Konzept: Das Organisieren der Gesellschaft unmittelbar nach der Revolution durch die Arbeiterräte, Gewerkschaften und Genossenschaften. Ein solches Szenario treibt die politischen und dynamischen Organe der Arbeiterklasse, die Arbeiterräte, bedingungslos in die Vermischung mit dem „organisierenden Körper“ (den wir einen reduzierten und kontrollierten Übergangsstaat nennen[30]), oder sie werden selbst zur Bürokratie und verlieren damit ihre politische Unabhängigkeit als Organ der Arbeiterklasse. Diese Position finden wir auch bei Goldman, auch wenn nur in einer angedeuteten und nicht entwickelten Form.
Zurück zur Frage des angeblichen Schiffbruchs des Marxismus. Ein Großteil der Anarchisten kritisierte die tragischen Entwicklungen in Russland. Doch der Anarchismus wurde dadurch in der Russischen Revolution nicht „in corpore“ bestätigt, sowenig wie der Marxismus keineswegs als Ganzes scheiterte. Zweifellos gab es bei den Bolschewiki eine falsche Auffassung über das Verhältnis zwischen den Arbeiterräten, dem Staat und der politischen Partei. Zur Zeit der Russischen Revolution dominierte das Konzept einer Einheit zwischen Partei und Staatsapparat, der Partei also welche neben den Arbeiterräten an der Macht beteiligt sein müsse. Die Partei – eine Minderheit innerhalb der Arbeiterklasse - sei berechtigt, im Namen der Arbeiterklasse und aufgrund deren Vertrauens in die Partei, die Macht zu übernehmen. Diese Sicht drückte immer noch deutlich die existierende Unreife über die Frage des Staates nach der Revolution aus.
Durch ihre Auffassungen über den nach-revolutionären Staat und ihr Verhältnis ihm gegenüber, gerieten die Bolschewiki als Akteur der Realität in eine tragische Spirale, welche sich in der Situation der kompletten Isolierung der Revolution von einer falschen Konzeption in eine Tragödie verwandelte. Auch wenn die Bolschewiki nie offen das Prinzip der Machtübernahme durch die Arbeiterräte verwarfen, war eines der ersten Anzeichen der Degeneration die schrittweise Entmachtung der Räte bei der die Bolschewiki eine entscheidende Rolle spielten.
Es ist keine fatalistische Feststellung, sondern eine historische Tatsache zu sagen, dass erst die tragische Erfahrung der Russische Revolution in all diese Fragen Klarheit gebracht hat. Die einzige Rettung wäre die internationale Ausdehnung der Revolution auf der Basis der Lebendigkeit der Räte gewesen. Dies hätte auch jeglichen retrospektiven Determinismus, dass das Schicksal der Russischen Revolution bereits bei ihrer Geburt entschieden war Lügen gestraft. Die Rettung der Revolution mit der Waffe eines „starken Staates“, was die Bolschewiki zu propagieren begannen, war eine schlichte Unmöglichkeit.
Eine Schwäche in Goldmans Methode bezüglich der stetig anwachsenden Dominanz des Staatsapparats nach dem Oktober und dem Degenerationsprozess ist ihre statische Schlussfolgerung. Sie lässt die Dynamik der Dominanz des Staates, den Kampf dagegen innerhalb der marxistischen Reihen und die enormen Schwierigkeiten der Anarchisten dieser Situation gegenüber außer Acht, auch wenn sie all dies ausführlich in ihren Beobachtungen schildert. Diese Schwäche paart sich mit ihrer Auffassung, dass die Bolschewiki – als Teil des Marxismus, und gerade deswegen – von Beginn weg aufgrund ihres angeblich alleinigen Ziels die Macht zu ergreifen zum Scheitern verurteilt waren. Es scheint, dass Goldman zufolge schon die reine Existenz marxistischer Positionen über das Schicksal der Revolution entschieden habe. Auch negiert sie in ihrer Schlussfolgerung zur Frage des Staates exakt die Tatsache, dass es sich aufgrund der internationalen Situation (auf die sie an anderen Stellen selber immer wieder hingewiesen hatte) um einen Prozess der Degeneration handelte, und keinesfalls um eine von Beginn weg entschiedene Sache. Mit ihrer Deklaration des „Scheiterns des Marxismus“ in der Erfahrung der Russischen Revolution macht sie es sich etwas allzu leicht, was sie schlussendlich zu einer weiteren These führt.
Eine der wohl am weitest gehenden Thesen Goldmans ist folgende: „Die Bolschewisten bilden den Jesuitenorden in der marxistischen Kirche. Nicht daß sie als Menschen unehrlich oder von schlechten Absichten beseelt sind. Es ist ihr Marxismus, der ihre Politik und ihre Methoden bestimmt hat. Dieselben Mittel, die sie zur Anwendung brachten, haben die Verwirklichung ihrer ursprünglichen Ziele verhindert Kommunismus, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit - alles, wofür die russischen Massen sich den größten Leiden unterzogen hatten, ist durch die bolschewistische Taktik, durch ihren jesuitischen Grundsatz, dass der Zweck alle Mittel heilige, diskreditiert und in den Kot gezogen worden (...) Doch Lenin ist ein schlauer und listiger Jesuit, und so machte er den allgemeinen Schrei des Volkes: "Alle Macht den Räten!" zu seinem eigenen Motto. Erst als er und seine jesuitischen Gefolgsleute sich fest im Sattel fühlten, begann die Abtragung der Sowjets. Heute sind sie, wie alle anderen Dinge in Russland, nur noch ein Schattengebilde, dessen körperliche Substanz entschwunden ist. (…) Kein Zweifel, Lenin gibt oft seiner Reue Ausdruck. Von jeder allrussischen Konklave der Kommunisten tönt uns ein Mea Culpa, "Ich habe gesündigt!" entgegen. Ein junger Kommunist sagte mir einst: "Ich würde nicht überrascht sein, wenn Lenin eines Tages die Oktober-Revolution für einen Irrtum erklären würde.“ [31]
Ja, die Ziele der Bolschewiki, der Kommunismus, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit, die Goldman den Bolschewiki hier als ihr eigentliches Ziel nicht streitig macht, konnten nicht verwirklicht werden. Sie beschreibt an anderen Stellen ihrer Schriften über Russland, wie sie von vielen führenden Bolschewik immer wieder mit der hoffnungsvollen Frage konfrontiert war: „Kommt die Revolution in Deutschland und den USA bald?“. So auch von Lenin in einem Treffen mit Goldman. Die Bolschewiki mit denen sie darüber sprach erhofften angespannt eine positive Antwort von ihr zu erhalten, da sich ja in den USA gut auskannte. Es war nach ihren Beschreibungen offensichtlich, dass die Bolschewiki in einer permanenten Angst lebten immer mehr isoliert zu werden, und mit Verzweiflung auf kleinste Anzeichen revolutionärer Entwicklungen in anderen Ländern hofften. Sie selbst gibt den Beweis, wie auch zur Zeit der immer unübersehbarer werdenden Degeneration der bolschewistischen Partei - welche alles andere als homogen war - in deren Reihen die Hoffnung auf eine weltweite Revolution weiterlebte. Also nicht die angebliche Gier nach der Macht in Russland, wie sie sich in ihren Ideen zum „Jesuitismus“ der Bolschewiki versteigt.
Die Sorge Goldmans drehte sich um den Widerspruch zwischen den ursprünglichen Zielen der Bolschewiki und ihrer konkreten Politik und Methoden. Dies führte sie zu einem definitiven Bruch, nachdem bei der blutigen Niederschlagung des Aufstandes in Kronstadt im März 1921 unter dem Banner die Revolution zu retten eine brutale Anwendung von Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse stattfand, was in einem schreienden Widerspruch zu kommunistischen Prinzipien steht. Bei ihrem Bruch mit den Bolschewiki spielte ihre Erfahrung mit der Tscheka ebenfalls eine entscheidende Rolle.
Die Methode, dass der Zweck die Mittel heiligt ist durch die Arbeiterklasse vehement zu bekämpfen. Es ist Goldmans Ehrlichkeit, ihre eigenen Schwankungen darüber nicht im Verborgenen zu lassen. Doch gerade ihre Schilderungen widerlegen die These, dass die Bolschewiki in ihrem Denken die „Jesuiten des Marxismus“ seien, welche bei der Verfolgung ihres Ziels keine Rücksicht kennen, und hier ein grundlegender Unterschied zwischen den Bolschewiki und dem Anarchismus bestünde.
Wie stellte sich diese Frage in den Reihen der Anarchisten? Sie beschreibt ihre Diskussionen mit Berkman zur Frage der erlaubten Mittel zur Verteidigung der Revolution: „Es wäre absurd, die Bolschewiken für die drastischen Maßnahmen, die sie anwandten, verantwortlich zu machen, sagte Sascha nachdrücklich. Wie sollen sie sonst Russland vom Würgegriff der Konterrevolution und Sabotage befreien? Was das betraf, so glaubte er, dass keine Maßnahme dagegen zu hart wäre. Die Anforderung der Revolution rechtfertigt jedes Mittel, wie sehr auch immer es unseren Gefühlen widersprechen mochte. Solange die Revolution in Gefahr wäre, müssten diejenigen, die sie unterwandern wollten, dafür büßen. Mein alter Freund war so aufrichtig und umsichtig wie immer. Ich war seiner Meinung, aber dennoch, die grässlichen Schilderungen meiner Genossen beunruhigten mich weiterhin.“ [32]
Diese Auseinandersetzung mit Berkman ging in schärfster Art und Weise weiter: „Stundenlang warf er mir meine Ungeduld, mein mangelndes Urteilsvermögen in Bezug auf langfristige Ziele vor, sprach davon, dass ich die Revolution mit Samthandschuhen anpacken wollte. Schon immer hätte ich den ökonomischen Faktor als die Hauptursache des kapitalistischen Übels zu wenig beachtet, behauptete er. Könnte ich jetzt nicht sehen, dass gerade diese ökonomische Notwendigkeit die treibende Kraft der Leute am sowjetischen Ruder war? Die ständige Gefahr von außen, die natürliche Trägheit der russischen Arbeiter, die es nicht geschafft hatten, die Produktion zu steigern, der Mangel an den notwendigen landwirtschaftlichen Geräten und die Weigerung der Bauern die Städte zu versorgen, hätten die Bolschewiki zu diesen verzweifelten Maßnahmen gezwungen. Natürlich hielt er solche Methoden für konterrevolutionär, die notwendig ihren Sinn verfehlen mussten. Doch es wäre lächerlich, Männer wie Lenin und Trotzki eines vorsätzlichen Verrats an der Revolution zu bezichtigen. Hatten sie doch ihr Leben der Sache gewidmet, waren verfolgt, verleumdet, für ihre Ideale ins Gefängnis und ins Exil geschickt worden! Sie konnten sich nicht so weit von ihnen entfernt haben!“ [33]
Für die Arbeiterklasse dürfen die angewendeten Mittel nicht in einem Widerspruch zu ihren grundlegenden Zielen stehen.[34] Wir weisen aber die Behauptung zurück, dass ausschließlich der Marxismus, und hier vor allem die Bolschewiki, mit der Gefahr in solche Methoden abzugleiten, also mit dem Eindringen der Ideologie der herrschenden Klasse in sein Denken, konfrontiert ist und dagegen kämpfen muss. Die von Goldman beschrieben Diskussionen sind kennzeichnend dafür, dass der Anarchismus diesbezüglich immer enorme Schwierigkeiten hatte. Ein Beispiel der Anwendung von Mitteln, welche dem Ziel vieler Anarchisten widersprechen, ist das Attentat von Fanny Kaplan am 30. August 1918 auf Lenin, mit der Rechtfertigung Lenin habe die Revolution verraten. Aufgrund einer langen Tradition von Attentaten auf verhasste Exponenten des zaristischen Regimes, welches die Anarchisten einer brutalen Repression unterwarf, griff ein Teil des russischen Anarchismus mit der sog. „Propaganda der Tat“ immer wieder auf Mittel zurück, welche durch den Zweck geheiligt würden. Und wie das Attentat auf Lenin zeigt, nun auch innerhalb der Arbeiterklasse!
Es geht nicht darum den verhassten Figuren des Zarismus Tränen nachzuweinen. Die Methoden eines Teils des russischen Anarchismus drückten vielmehr auch das reduzierte Verständnis aus, den Feudalismus an Personen festzumachen. Dieser fußte aber nicht, wie es Berkman richtig gegenüber Goldman vertrat, auf der Böswilligkeit einzelner, sondern auf sozialen und ökonomischen Grundlagen, die in einem Widerspruch zu den Bedürfnissen der ausgebeuteten Schichten stand. Die „Propaganda der Tat“, die individuelle Gewalt gegen verhasste Exponenten des Feudalismus, verstanden als „Zündfunke zum Denken“, drückte aber auch eine falsche Auffassung über die Entwicklung des Klassenbewusstseins aus, da diese Methoden keinesfalls die Notwendigkeit eines solidarischen Kampfes als gesamte Klasse gegen die Grundlagen der Ausbeutung aufzeigen.
Es ist nachvollziehbar, weshalb sich Goldman für Kaplan als Gefangene engagierte, da diese von der Tscheka gefoltert wurde. Sie rief selbst nicht zu solchen Methoden auf, zu denen Kaplan gegriffen hatte. Weshalb jedoch wagte sie sich in dieser Situation nicht einen Schritt weiter zu gehen und eine Kritik an „jesuitischen“ Methoden in den Reihen des Anarchismus zu machen, es stattdessen aber auf die Bolschewiki zu reduzieren?
Goldman litt schwer unter den Hinrichtungen befreundeter Anarchisten wie Fanya Baron durch die Tscheka im September 1921, auf Billigung Lenins. Auch wenn Lenin eine der entschlossensten und klarsten Persönlichkeiten in der Oktoberrevolution war, sind solche Schritte unannehmbar. Goldman formulierte eine immer stärkere Antipathie vor allem gegenüber Trotzki und Lenin, den sie als schlauen und listigen Jesuiten bezeichnete. [35]
Die unkontrollierbar gewordene Tscheka begann mit Erschießungen zur Einschüchterung, Geiselnahmen zur Erpressung und mit Folter. Dies oft auch gegenüber politischen Oppositionsgruppen aus den Reihen der Bolschewiki selbst, gegen Anarchisten, aber auch gegen Arbeiter, die sich an Streiks beteiligten. Goldmans Kritik gegen Todesstrafen an Gefangenen - also wehrlosen Individuen - seien es auch Mitglieder bürgerlicher konterrevolutionärer Organisationen, Kriminelle oder inhaftierte Mitglieder der Weißen Armeen, ist absolut berechtigt, da solche Schritte nicht nur sinnlose Gewaltakte darstellten, sondern vielmehr auch Ausdruck einer Haltung, dass Menschen ihre Auffassungen, Verhaltensweisen und politischen Positionen nicht ändern können und deshalb kurzum liquidiert werden müssten.[36]
Innerhalb der Bolschewiki entbrannte schon 1918 ein Kampf gegen die Unterdrückung oppositioneller Stimmen in der Partei und der Arbeiterklasse. Obwohl Goldman selbst Zeugin unterschiedlicher Positionen und Auseinandersetzungen in den Reihen der Bolschewiki wurde, so zeichnet sie zu deren Verurteilung als „Jesuiten des Marxismus“ ein allzu simples Bild, als wären diese wie aus einem Stück Eisen und Feuer geschmiedet, was nie der Realität entsprach. Das zentrale Problem war ein Abgleiten in eine militaristische Herangehensweise an politische Probleme, welche das Leben innerhalb der Arbeiterklasse überging, welcher die Mehrheit der Bolschewiki erlag, im falschen Glauben, damit die bedrängte Revolution zu retten. Es war keine in ihren Wurzeln angelegte marxistische Gier nach der Macht.
Der Marxismus stand nie auf dem Prinzip, dass der Zweck die Mittel heiligt, und es war auch keinesfalls ein Prinzip oder eine Praxis der Bolschewiki vor und in der Oktoberrevolution. Kronstadt jedoch, tragischer Höhepunkt der zunehmenden Repression, zeigte, wie weit die Degeneration schon fortgeschritten war und welche Formen und welche Logik sie annahm. Deren politische Rechtfertigung beinhaltete tatsächlich die Idee des Zwecks (den „eisernen Zusammenhalt“ Russlands gegenüber den internationalen Angriffen), der die Mittel (eine blutige Niederschlagung) rechtfertige.
Goldmans persönliche und absolut demoralisierende Erfahrungen in Kronstadt führte zum Bruch mit den Bolschewiki und stellte einem Wendepunkt dar. Sie war in den letzten Tagen vor der Niederschlagung der Kronstädter Matrosen, Soldaten und Arbeiter Mitglied einer Delegation (Perkus, Pertrowski, Berkman, Goldman), welche versuchte, zwischen den Kronstädtern und der Roten Armee zu verhandeln. „Kronstadt zerschnitt den letzten Faden, der mich noch mit den Bolschewiki verband. Die mutwillige Schlächterei, die sie durchgeführt hatten, sprach deutlicher gegen sie als alles je zuvor. Was immer auch für Täuschungen schon in der Vergangenheit gemacht worden waren, die Bolschewiki stellten sich jetzt als die verderblichsten Feinde der Revolution heraus. Ich konnte mit ihnen nichts mehr zu tun haben.“ [37]
Kronstadt war eine furchtbare Tragödie, viel mehr als lediglich ein „Fehler“.
Die Niederschlagung Kronstadts mit mehreren Tausend toten Proletariern (auf beiden Seiten!), gründete auf einer absolut falschen Einschätzung der führenden Bolschewiki über den Charakter dieses Aufstandes. Dies vor allem, weil die internationale Bourgeoisie perfide den Moment ergriff und sich heuchlerisch mit den Aufständischen „solidarisch“ erklärte, aber auch in Angst und Panik, Kronstadt würde ins Lager der Konterrevolution überlaufen oder sei bereits Ausdruck der Konterrevolution. Goldman antwortet richtig auf diese zwei Aspekte. Die wichtigste Lehre aus der Kronstädter Tragödie jedoch konnte sie in ihrer Autobiografie von 1931 nicht ziehen, gleich wie die Marxistische Linke, welche zur Zeit des Aufstandes dessen Niederschlagung im Wesentlichen unterstützte, mit Ausnahme von Miasnikov welcher sich von Beginn weg dagegen gewehrt hatte. Selbst mit zeitlichem Abstand gelang es Goldman nicht, im Unterschied zu einigen Teilen der Kommunistischen Linken, zu formulieren, dass die Gewalt gerade innerhalb der Arbeiterklasse unnachgiebig zu verwerfen ist und ein Prinzip darstellen muss. [38]
Wie schon bei der Frage des Staates macht Goldman es sich auch bei der Frage des angeblichen „Jesuitismus von Beginn weg“ der Bolschewiki etwas allzu leicht. Sie deklariert die Bolschewiki als Jesuiten, was absolut nicht mit deren Geschichte übereinstimmt. Die Dynamik der Mehrheit der Bolschewiki, die 1921 in Kronstadt nicht vor der Anwendung der Gewalt als angeblich auserwähltes Mittel im Klassenkampfe zurückschreckte, war mitnichten „ihre Tradition“, sondern vielmehr Ausdruck ihres fortschreitenden Degenerationsprozesses.
Statt sich ganz grundsätzlich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Mittel überhaupt im Klassenkampf und in der Revolution angewendet werden dürfen, vor der ausnahmslos alle Revolutionäre standen, war Goldmans leichtfertige Jesuiten-Etikette, welche sie den Bolschewiki anhängte, vielmehr eine Barriere davor, die Degenerierung der Revolution als einen schrittweisen Prozess zu verstehen.
Eine Frage zieht sich wie ein roter Faden durch Goldmans Schriften über Russland: Wann ist es berechtigt, eine offene Kritik gegenüber den Bolschewiki zu formulieren? Mit großer Empörung beschreibt sie ein Treffen mit Anarchisten in Petrograd: „Diese Beschuldigungen und Denunziationen trafen mich wie ein Schlag mit dem Hammer, und ich war wie betäubt. Angespannt lauschte ich mit jeder Faser und ich war kaum in der Lage zu begreifen, was ich hörte. Das konnte nicht wahr sein – diese ungeheuerlichen Anschuldigungen! (…) Die Männer in jenem düsteren Saal mussten verrückt sein, dachte ich. Unmögliche, lächerliche Geschichten, böswillige Verurteilungen der Kommunisten, sie mussten doch wissen, dass die konterrevolutionären Bande, die Blockade und die Weißen Generäle, die die Revolution angriffen, dafür verantwortlich waren. Ich sagte, was ich dachte, doch meinen Stimme ging in Hohn und Spottgelächter unter.“ [39]
Wie schon bei der Frage der unmittelbar nach der Revolution zu erwartenden Veränderungen, zeigt Goldmans Konsternation über die Positionen anderer Anarchisten auf, dass es alles andere als einen einheitlichen Anarchismus, gerade bezüglich der Loyalität gegenüber den Bolschewiki, gab. Der Anarchismus in Russland hatte sich erneut in verschiedene Lager gespalten.[40] Die folgenden Passagen aus den Schriften Goldmans zeugen erneut von ihrer verantwortungsvollen Haltung, eigene Unsicherheiten nicht zu verschweigen, sie zeigen aber auch die Entwicklung ihrer Haltung gegenüber den Bolschewiki.
„Ich verstand die Haltung meiner ukrainischen Freunde sehr gut. Sie hatten während des letzten Jahres enorm gelitten, sie sahen die großen Erwartungen an die Revolution zerschellen und Russland unter der Ferse des bolschewistischen Staates zerbrechen. Dennoch konnte ich ihren Wünschen nicht folgen. Ich glaubte noch an die Bolschewiki und an deren revolutionäre Ehrlichkeit und Integrität. Dazu war ich überzeugt, dass ich, solange Russland von außen bedroht war, Kritik aussprechen dürfe. Ich wollte kein Öl ins Feuer der Konterrevolution gießen. Deshalb musste ich Schweigen und an der Seite der Bolschewiki, den organisierten Verteidigern der Revolution, stehen. Doch meine russischen Freunde gähnten über diese Sichtweise. Sie meinten ich würde die Kommunistische Partei mit der Revolution verwechseln, doch dies sei nicht dasselbe, sondern im Gegenteil einander entgegengestellt, ja sogar antagonistisch.“ [41]
„Bei den ersten Nachrichten vom Krieg mit Polen hatte ich meine kritische Haltung zurückgestellt und meine Dienste als Frontschwester angeboten. (…) Er (Sorin) versprach, die zuständigen Behörden über mein Angebot zu unterrichten. Aber nichts geschah. Das hatte selbstverständlich keinen Einfluss auf meinen Entschluss, dem Land zu helfen, in welcher Eigenschaft auch immer. Nichts war wichtiger in diesem Augenblick. (…) Weder bestritt ich Machnos Verdienste an der Revolution im Kampf gegen die Truppen der Weißen noch die Tatsache, dass seine Armee eine spontane Massenbewegung der Bauern war. Ich glaubte allerdings nicht, dass der Anarchismus sich irgendetwas von militärischen Aktivitäten versprechen konnte oder dass unsere Propaganda von militärischen und politischen Siegeszügen abhängen sollte. Das war jedoch nebensächlich. Ich konnte mich weder ihnen noch weiterhin den Bolschewisten anschließen. Ich war bereit, offen zuzugeben, dass ich mich schwer geirrt hatte, als ich Lenin und seine Partei als die wahren Verfechter der Revolution verteidigt hatte. Aber ich wollte nicht in offene Opposition zu ihnen treten, solange Russland von den äußeren Feinden angegriffen wurde.“ [42]
„Die große Schuld die ich gegenüber den Arbeitern in Europa und Amerika hatte bedrückte mich: Ich musste ihnen die Wahrheit über Russland mitteilen. Doch konnte ich dies tun, solange das Land an verschiedenen Fronten belagert war? Ich würde damit in die Hände von Polen und Wrangel arbeiten. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich mich zurück, große soziale Übel aufzudecken. Ich hatte das Gefühl, das Vertrauen der Massen zu verraten, vor allem der amerikanischen Arbeiter, deren Glauben ich sehr liebte.“ [43]
„Ich hielt es für notwendig, solange zu schweigen, wie die vereinten Mächte des Imperialismus Russland an der Gurgel hielten. (…) Nun aber ist die Zeit des Schweigens vorüber. Ich werde daher offen aussprechen, was ausgesprochen werden muss. Dabei bin ich mir der Schwierigkeiten bewusst. Ich weiß, dass die Reaktionäre, die Feinde der Russischen Revolution, meinen Worten eine falsche Deutung geben werden, ich weiß auch, dass ihre sogenannten Freunde, welche die Kommunistische Partei Russlands mit der Russischen Revolution verwechseln, über mich den Stab brechen werden. Es ist daher notwendig, meine Stellung zu beiden klarzulegen.“ [44]
Es gab andere Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, welche schon sehr früh eine Kritik an den Bolschewiki formuliert hatte, auch wenn sie ihnen ihre ganze Solidarität zusprach und ihre entscheidende Rolle in der Russischen Revolution verteidigte. Sie schrieb 1918 ihre Broschüre Zur Russischen Revolution, zur gleichen Zeit als Goldman in MOTHER EARTH mit überschwänglichem Enthusiasmus den Artikel Die Wahrheit über die Bolschewiki veröffentlichte. Gerade das Beispiel Rosa Luxemburgs zeigt auf, wie schwierig es war den Entscheid zur Veröffentlichung einer Kritik im richtigen Moment zu fällen, immer mit dem Zweifel der Revolution den Rücken zu fallen. Luxemburg legte in ihrem Text, im Gefängnis von Moabit geschrieben, eine entschiedene Kritik an den Bolschewiki dar, mit dem Ziel, durch einen Klärung der in Russland gestellten Probleme, eine solidarische Unterstützung zu leisten: „Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für Diktatur nach bürgerlichem Muster. (…) Aber diese Diktatur muss das Werk der KLASSE, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen. Genauso würden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen. (...) Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.“
Luxemburg hielt sich nicht zurück. Weshalb folgte Goldman dem Beispiel Rosa Luxemburgs nicht, obwohl sie in ihren Schriften mehrmals ihre Trauer über die Ermordung Luxemburgs im Januar 1919 ausgedrückt hatte und deren Positionen kannte? Weshalb nahm sie in ihrer Broschüre Der Niedergang der Russischen Revolution nie Bezug zur Kritik Luxemburgs, obwohl diese schon drei Jahre zuvor niedergeschrieben worden war? Der Grund dafür ist einfach. Luxemburgs Text wurde Opfer der enormen Angst mit einer Kritik der Revolution ein Messer in den Rücken zu stoßen und der Bourgeoise einen Dienst zu erweisen. Die Veröffentlichung von Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki, welche sie sofort nach der Niederschrift publizieren wollte, wurde von ihren nächsten politischen Gefährten bewusst verhindert und erst vier Jahre später, 1922, veröffentlicht. [45]
Leider hatte Goldman nicht Gelegenheit von Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki inspiriert zu werden. Ihre Überschwänglichkeit bei der Ankunft in Russland ist angesichts des Horrors mit dem der Weltkrieg die Menschheit in eine Dunkelheit geworfen hatte verständlich. Goldmans „Sowjetrussland! Geheiligter Boden“ und ihre spätere totale Desillusionierung sind aber auch ein Beispiel dafür, dass eine Euphorie meist dazu verdammt ist in großer Enttäuschung zu enden. Es ist nicht verwunderlich, dass sie ihre anfängliche Verteidigung der Bolschewiki 13 Jahre später sogar als „naiv“ bezeichnete.
Luxemburg hatte nie den Hang zur politischen Überschwänglichkeit und machte ihre Kritik auf der Basis erster Erfahrungen in den Monaten nach dem Oktober 1917. Sie schloss mit den berühmten Worten, dass die Zukunft dem Bolschewismus gehört. Goldman schrieb ihre Kritik drei Jahre danach, auf der Basis ihrer eigenen Erfahrung im Russland einer späteren Phase der Revolution - nach der Entmachtung der Arbeiterräte, in einer Zeit der entfesselten Gewalt der Tscheka und dem nicht mehr aufzuhaltenden Verschmelzen der Bolschewistischen Partei mit dem Staatsapparat. Dennoch hegte sie größte Hoffnungen: „Lenin und seine Gefolgsleute fühlen die Gefahr. Ihre Angriffe auf die Arbeiteropposition und die Verfolgungen der Anarchosyndikalisten nehmen fortgesetzt zu an Schärfe und Heftigkeit. Wird der Stern des Anarcho-Syndikalismus im Osten aufgehen? Wer weiß - Russland ist das Land der Wunder.“ [46] Was die Analyse Luxemburgs zu Ende 1921 gewesen wäre, nach dem Einzug einer unübersehbaren Degeneration und nach Kronstadt, bleibt traurigerweise eine Hypothese.
Goldman schwankte zwischen Schweigen und ihrem „Ich muss meine Stimme gegen die Verbrechen im Namen der Revolution erheben“. Doch wie sollte Letzteres geschehen? Sie wurde schon während ihrer Zeit in Russland mehrmals von der bürgerlichen New Yorker Zeitung WORLD angefragt Artikel über Russland zu veröffentlichten. Goldman lehnte erst ab, nach harten Auseinandersetzungen mit Berkman der strickte gegen solche Schritte war, mit dem Argument alles in der bürgerlichen Presse Veröffentlichte würde lediglich der Konterrevolution in die Hände arbeiten, und vorschlug eigene Flugschriften zur Verteilung an die Arbeiter herzustellen. Einige Wochen nachdem Goldman Russland Ende 1921 verlassen hatte, erlaubte sie WORLD ihre Texte zu publizieren. „Ich schrieb, dass ich es eigentlich vorzöge, meine Meinung in der liberalen Arbeiterpresse der Vereinigten Staaten kundzutun und eher geneigt wäre, denen meine Artikel sogar gratis zu überlassen, als sie der New Yorker WORLD oder ähnlichen Publikationen zu überlassen. (…) Nun da ich die Wahrheit wusste, sollte ich sie unterdrücken und schweigen? Nein, ich musste protestieren, ich musste hinausschreien, welch ungeheurer Betrug sich als Recht und Wahrheit ausgab, und wenn es in der bürgerlichen Presse sein müsste.“ [47]
Auch wenn Goldman in Russland monatelang vor öffentlicher Kritik zurückschreckte, da sie der Revolution nicht in den Rücken fallen wollte, so wurde mit diesem unüberlegten Entscheid tatsächlich der Stab über sie gebrochen. „Nicht nur meine kommunistischen Ankläger schrien: „Kreuzigt sie!“ Es gab auch einige anarchistische Stimmen im Chor. Es waren genau die Leute, die mich auf Ellis Island, auf der „Budford“ und während des ersten Jahres in Russland bekämpft hatten, weil ich mich geweigert hatte, die Bolschewiki zu verdammen, bevor ich nicht die Möglichkeit gehabt hatte, ihr Konzept zu überprüfen. Täglich bestätigten die Nachrichten aus Russland über die dauerhafte politische Verfolgung jede Tatsache, die ich in meinen Artikeln und meinem Buch beschrieben hatte. Es war verständlich, dass Kommunisten ihre Augen vor der Realität verschlossen, doch auf Seiten derer, die sich Anarchisten nannten, war es verachtenswert, besonders nach der Behandlung die Mollie Steimer in Russland erhalten hatte, nachdem sie in Amerika so tapfer für das Sowjetregime eingetreten war.“ [48]
Der Vorwurf von Teilen der amerikanischen Arbeiterklasse, als Verräterin aufzutreten, raubte ihrer Analyse und ihren Reflexionen viel Anerkennung und Beachtung. In einer Welt, in der sich zwei Klassen absolut antagonistisch gegenüberstehen, ist es eine enorme Illusion, ja und höchst gefährlich, dass irgendein Instrument der Bourgeoisie, auch wenn nur punktuell, als Sprachrohr für die Arbeiterklasse nutzen zu wollen. Schade, dass eine so standfeste Militante in diese Falle tappte!
Das Gemeinsame an Goldman und Rosa Luxemburg ist zweifellos der gewaltige Wille die Probleme der Russischen Revolution zu verstehen, den revolutionären Charakter des Oktobers 1917 zu verteidigen und die dramatische Situation nicht unkritisch zu übergehen. Goldman akzeptierte nie eine taktische Methode die Bolschewiki lediglich als das „geringere Übel“ zu betrachten und sie nur deshalb, solange der Krieg gegen die Weißen Truppen andauerte, zu unterstützen. Eine Position, die in Russland vom Anarchisten Machajaski in der Zeitschrift THE WORKERS REVOLUTION offen vertreten wurde.
Eine Kritik an der Politik der Bolschewiki offen zu vertreten war außerhalb Russlands weniger riskant als in Russland selbst. Doch die Zweifel Goldmans rührten nicht von einer Angst oder Repressionsmaßnahmen gegen ihre Person. Aufgrund ihres Status als bekannte Revolutionärin aus den USA genoss sie einen viel größeren Schutz als andere revolutionäre Immigranten. Sie direkt der Repression zu unterwerfen hätte den Ruf der Bolschewiki innerhalb der amerikanischen Arbeiterklasse stark gefährdet. Auch wenn sie ihre Sympathie mit der Arbeiteropposition nicht verbarg und sich für inhaftierte Anarchisten engagierte (z.B. als Sprecherin an der Beisetzung Kropotkins), wurde sie von der Tscheka lediglich mit dem Ziel einer „sanften“ Abschreckung überwacht.
Hätte eine Kritik das leuchtende Beispiel der Oktoberrevolution innerhalb der internationalen Arbeiterklasse zerstört? Sicher nicht. Die Alternative war nicht Mund halten oder Anprangern der Bolschewiki. Im Gegenteil, eine reife politische Kritik an der Politik der Bolschewiki war damals eine politische Unterstützung für die gesamte internationale revolutionäre Welle. Die Arbeiterklasse ist die Klasse des Bewusstseins, nicht der unüberlegten Aktion. Deshalb ist die Kritik am eigenen Vorgehen und den gemachten Fehler ein Erbe der Arbeiterbewegung, welches gerade auch in solch dramatischen Zeiten aufrechterhalten werden musste. Es entspricht nicht dem Charakter der Arbeiterklasse ihre Probleme zu verheimlichen, so wie es die Bourgeoisie in ihrem innersten Wesen repräsentiert. Wie der Text Luxemburgs aufzeigt, sollte eine Kritik an den Bolschewiki nicht lediglich auf Empörung beschränkt sein. Und sie sollte zur Unterstützung des Kampfs gegen die Degeneration der Revolution eine Reife ausdrücken. Dies war später ein Kriterium für die Italienische Kommunistische Linke, keine hastige Analyse und Kritik zu äußern, welche es nicht ermöglicht, Lehren zu ziehen.
Goldmans Analyse der Russischen Revolution war keineswegs auf Empörung beschränkt. Doch sie zeigt an verschiedenen Stellen eine Gefahr auf: Mit ihren Beschreibungen Lenins und Trotzkis als „listige Jesuiten“ manifestiert sie das Abgleiten in eine Methode der Kritik, die sich auf Personen fixiert, auch wenn diese einen großen Einfluss auf die Politik der Bolschewiki ausübten und ein Charisma besaßen. Lenin ist nicht die Entmachtung der Räte und die Verschmelzung mit dem Staat, Trotzki nicht die Niederschlagung Kronstadts.
Gegenüber Trotzki vertrat Goldman später die Position, dass er aufgrund seiner Taten – v.a. Kronstadt – ein Wegbereiter des Stalinismus gewesen sei.[49] Die angewendete Gewalt als Kommandant der Roten Armee in Kronstadt basierte nicht auf persönlichen Neigungen, sondern auf der Entscheidung der gesamten bolschewistischen Macht und - erinnern wir uns daran - im damaligen Moment von der ganzen Marxistischen Linken vertreten wurde. Die Tragödie von Kronstadt war eine Illustration einerseits der Unreife der Arbeiterbewegung bezüglich der Frage der Gewalt (Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse), und andererseits der Degeneration der Russischen Revolution, welche später in die offen konterrevolutionäre Politik des „Sozialismus in einem Land“ und das Auftauchen Stalins als Führer der weltweiten Konterrevolution führte. Was auch immer die Unzulänglichkeiten in Trotzkis politischer Denunzierung Stalins, seines organisierten Repressionsapparates und der physischen und politischen Niederschlagung der Arbeiterklasse waren, sie stellte dennoch eine proletarische Reaktion dar.
Der Wert von Goldmans Analyse besteht darin, die zentralen Fragen vor der die Russische Revolution stand aufgeworfen zu haben. Die Widersprüche in ihrer Analyse und diejenigen Schlussfolgerungen, welche wir absolut nicht teilen sind nicht Grund ihre Anstrengungen in Bausch und Bogen zu verwerfen oder sie zu ignorieren. Sie sind im Gegenteil Ausdruck der enormen Schwierigkeit schon 1922 eine gradlinige Analyse des russischen Problems zu erstellen. Damit stand sie nicht alleine. Es kommt ihr aber das Verdienst zu, die Verschmelzung mit dem Staatsapparat, die Machtergreifung durch die Partei oder die Niederschlagung Kronstadts verworfen zu haben.
In diesem Sinne leistete sie einen wichtigen Beitrag für die Arbeiterklasse, der begrüßt, aber auch kritisiert werden muss. Goldman behauptete nie, dass der Oktober 1917 die Geburt des späteren Stalinismus gewesen sei, wie es die verlogenen Kampagnen der herrschenden Klasse bis heute tun, sondern sie verteidigte aufs hartnäckigste die Oktoberrevolution.
7.1.2018 Mario
[1] Der Niedergang der Russischen Revolution (1922), ihre erste und kompakteste Analyse. My disillusionment in Russia (1923/24), Gelebtes Leben (1931) v.a. Kapitel 52 über Russland.
[2] Diese Frage beschäftigte sie enorm, was angesichts der katastrophalen Situation der Kinder mehr als verständlich ist. In dieser Situation der Misere waren die Kinder, welche oft eines oder gar beide Eltern durch den Krieg verloren hatten, die Hilflosesten. Dies vor allem auch gegenüber den herzlosen kleinen Bürokraten, welche weder Skrupel noch Moral besaßen. Sie war dem gegenüber sicher besonders sensibel, da sie als Krankenschwester die Möglichkeit hatte „Vorzeigeinstitutionen“ zu besuchen.
[3] My disillusionment in Russia, Vorwort (dieses Buch existiert nicht in deutscher Sprache. Die Übersetzungen sind von uns)
[4] Die Wahrheit über die Bolschewiki
[5]Gelebtes Leben, Kapitel 52
[6]ebenda
[7]My disillusionment in Russia, Kapitel The socialist republic resorts to deportation
[8]Der Niedergang der Russischen Revolution, Vorwort
[9]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Lage des Kindes in Russland
[10]Ein Ausdruck in Anlehnung an das berühmte Buch von Nikolaj Gogol aus dem Jahr 1842. Die Methoden und das Schmarotzertum der Staatsbürokratie waren eine tragische Wiederholung gewisser Techniken der Selbstbereicherung unter dem Feudalismus.
[11]Dazu unser Artikel Der Niedergang der Russischen Revolution https://de.internationalism.org/rusrev06 [5]
[12]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Kräfte die die Revolution niederschlugen
[13]Volin (W.M. Eichenbaum) Die unbekannte Revolution, Kapitel Die Konterrevolution. Volin geht sogar soweit zu behaupten, dass die internationale Intervention gegen Russland meist übertrieben dargestellt sei und zu einer Legende gemacht wurde, welche durch die Bolschewiki in die Welt gesetzt worden sei.
[14]Siehe dazu unseren Artikel Die internationale Bourgeoisie gegen die Oktoberrevolution in der Internationalen Revue Nr. 160, engl., franz., span. Ausgabe
[15]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Kräfte die die Revolution niederschlugen
[16]Gelebtes Leben, Kapitel 52
[17]ebenda
[18]Die Übergangsperiode eröffnet sich nach der Machtübernahme der Arbeiterräte bis zur Abschaffung des Staates. Während dieser Periode muss eine Reihe von Maßnahmen getroffen werden, wie die Abschaffung der geldlichen Form des Lohns und die Sozialisierung des Konsums und der öffentlichen Güter (Transport, Wohnungen, Erholung, etc.). Dazu empfehlen wir unsere Artikel Der Staat in der Übergangsperiode in der Internationalen Revue Nr. 7 in Deutsch und Probleme der Übergansperiode in Nr. 1 (engl., franz., span. Ausgabe der Revue). Selbst wenn die sofort eingeführten Maßnahmen beschränkt sind, müssen einige sofort und mit größter Entschlossenheit durchgesetzt werden. So zum Beispiel der kostenlose Transport, die Unterbringung von Obdachlosen in öffentlichen Wohnhäusern oder solchen von Reichen. Überdies das Verbot von Kinderarbeit und jeglicher Form von Zwangsarbeit und von Prostitution.
[19]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Mein Besuch bei Peter Kropotkin
[20]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Gewerkschaften in Russland
[21]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Lage des Kindes in Russland
[22]My disillusionment in Russia, Kapitel Another visit to Peter Kropotkin
[23]My disillusionment in Russia, Nachwort
[24]Der Niedergang der Russischen Revolution, Einführung
[25]ebenda, Kapitel Die Kräfte welche die Revolution Niederschlugen
[26]OCTOBRE Nr. 2, März 1938, Die Frage des Staates
[27]Rudolf Rocker, Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus, 1922
[28]Goldman beschreibt die Tscheka sehr treffend mit folgenden Worten: „Anfangs wurde die Tscheka durch das Kommissariat des Innern, die Sowjets und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei kontrolliert. Nach und nach aber entwickelte sie sich als die mächtigste Organisation in ganz Russland. Die Tscheka ist heute nicht mehr ein Staat im Staate, sondern ein Staat über dem Staate. Ganz Russland, bis zu den entlegensten Dörfern, ist mit einem Netze von Tschekas bedeckt.“ Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Tscheka
[29]My disillusionment in Russia, Kapitel Die Verfolgung der Anarchisten
[30]Siehe unsere Broschüre The period of transition from capitalism to socialism - The withering away of the state in the marxist theory
[31]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Kräfte die die Revolution niederschlugen und Die Sowiets. Der Jesuiten-Orden wird meist als Symbol einer machtbesessenen, rücksichtslosen Politik verwendet, welche dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ folgt.
[32]Gelebtes Leben, Kapitel 52
[33]ebenda
[34]Siehe dazu auch unseren Artikel Terror, Terrorismus und Klassengewalt
[35]Volin ging sogar soweit, Lenin und Trotzki als brutale Reformisten die nie Revolutionäre gewesen waren und bürgerliche Methoden anwenden zu bezeichnen. Die unbekannte Revolution Kapitel Der bolschewistische Staat. Die Konterrevolution
[36]Diese Frage wird ausführlich im Buch „Das sittliche Antlitz der Revolution“ (1923) behandelt. Geschrieben vom Volkskommissar für Justiz bis März 1918, Isaak Steinberg.
[37]My disillusionment in Russia, Kapitel Kronstadt
[38]Siehe dazu: Kronstadt verstehen. Internationale Revue Nr. 28
[39]Gelebtes Leben, Kapitel 52
[40]Im Frühling 1918 (historisch schon gespalten in Pan-Anarchisten, Individualistische Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und Anarcho-Kommunisten, deren Abgrenzungen schwer zu definieren sind) polarisierte die Frage des Verhältnisses gegenüber den Bolschewiki aufs Stärkste. Die Frage der Gewalt oder der Einschätzung des Charakters der Oktoberrevolution spielten eine zweitrangige Rolle. Von offener Unterstützung der Bolschewiki (die sog. Sowjet-Anarchisten) bis hin zur Sichtweise, dass die Bolschewiki die Revolution verraten hätten und mit Gewalt anzugreifen seien fand man alles vor. Siehe dazu Paul Avrich: The Russian Anarchists, 1967, Kapitel The Anarchists and the Bolshevik regime
[41]My disillusionment in Russia, Kapitel In Charkov
[42]Gelebtes Leben, Kapitel 52
[43]My disillusionment in Russia, Kapitel Back in Petrograd
[44]Der Niedergang der Russischen Revolution, Vorwort
[45]Paul Frölich, einer ihrer politischen Gefährten, beschreibt, in seiner Luxemburg-Biografie Gedanke und Tat von 1939 diesen legendenumwobenen Hergang: Paul Levi publizierte Zur Russischen Revolution im Laufe des Jahres 1922 (also nach Goldmans Broschüre), nachdem er mit der KPD gebrochen hatte. Levi behauptete, Leo Jogiches (der sich gegen die Veröffentlichung gewandt hatte, mit dem Argument Luxemburg hätte in der Zwischenzeit ihre Meinung geändert) habe das Manuskript vernichtet. J.P. Nettl legt in glaubwürdiger Weise dar, dass es Levi selbst war, der starken Druck auf Luxemburg ausgeübt hatte, den Text zurückzuhalten, mit dem Argument, die Bourgeoise werde ihn gegen die Bolschewiki missbrauchen. Klar ist, dass Luxemburgs Text nicht zufällig in den Wirren der Revolution in Deutschland unterging, sondern im Gegenteil in den „Wirren der Konfusionen“ über die Notwendigkeit einer offenen Kritik verhindert wurde!
[46]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Gewerkschaften in Russland
[47]Gelebtes Leben, Kapitel 53
[48]ebenda, Kapitel 54
[49]Trotzki protestiert zu viel, Juli 1938
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/internationale_revue_55.pdf
[2] https://de.internationalism.org/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1919-deutsche-revolution
[3] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/100-deutsche-revolution
[4] https://en.internationalism.org/international-review/201805/15142/report-imperialist-tensions-november-2017
[5] https://de.internationalism.org/rusrev06