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Weltrevolution Nr. 130

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60. Jahrestag der Befreiung der KZs, der Bombardierung Dresdens, Hiroshimas, der Kapitulation Deutschlands

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Das Jahr 2005 ist reich an makabren Jahrestagen. Einen davon feiert die Bourgeoisie anlässlich der Befreiung der KZ-Insassen im Januar 1945. Und sie tut das mit einem Aufwand, der die 50-Jahrfeiern weit in den Schatten stellt. Dies ist nicht erstaunlich, da die Zurschaustellung der monströsen Verbrechen der Verliererseite im 2. Weltkrieg seit 60 Jahren das wichtigste Mittel darstellt, um die Alliierten von den Verbrechen gegen die Menschheit freizusprechen, die auch sie begangen haben. Gleichzeitig dient dies dazu, die demokratischen Werte als zivilisatorische Garantien gegen die Barbarei zu preisen.
Der 2. Weltkrieg war genauso wie der 1. Weltkrieg ein Krieg, in dem imperialistische Räuber aufeinander prallten. Das  von ihnen angerichtete Blutbad (über 50 Mio. Tote) hat den Bankrott des Kapitalismus auf eine dramatische Weise bestätigt.
Für die Bourgeoisie ist es von höchster Bedeutung, dass ihre Mystifikation auch in den Köpfen der jüngeren Generation fortbesteht, eine Mystifikation, welche die Mobilisierung der älteren Generation für den Krieg erst ermöglicht hatte und die besagt, dass der Kampf des demokratischen Lagers gegen den Faschismus mit der Verteidigung der menschlichen Würde und der Zivilisation gegen die Barbarei gleichzusetzen sei. (2) Es reicht der herrschenden Klasse nicht, die amerikanische, englische, deutsche (3), russische oder französische Arbeiterklasse als Kanonenfutter verwendet zu haben; nein, sie will auch und insbesondere der heutigen Generation ihre scheußliche Propaganda einbläuen. Obgleich sie heute nicht bereit ist, sich für die ökonomischen und imperialistischen Interessen der Herrschenden zu opfern, ist die Arbeiterklasse weiterhin für die Mystifikation empfänglich, der zu Folge nicht der Kapitalismus die Ursache für die Barbarei auf der Welt ist, sondern gewisse totalitäre Regime, jene Erzfeinde der Demokratie.
Die Erfahrung der beiden Weltkriege belegt, dass es zwischen ihnen Parallelen gibt, welche die neuen Gipfel der Barbarei erklären, die damals erreicht wurden und für die alle beteiligten Kriegsparteien verantwortlich sind:
- Der höchste Entwicklungsstand der Technik wurde in der Rüstung erreicht, denn wie alle Kriegsanstrengungen beansprucht die Rüstungswirtschaft alle Ressourcen und Kräfte der Gesellschaft.
- Die Gesellschaft wird in ein stählernes Korsett gezwängt, das sie zwingt, sich völlig den Bedürfnissen des Militarismus und der Kriegsproduktion zu unterwerfen.
- Es kamen alle möglichen Mittel, bis hin zu den extremsten, zum Einsatz, um sich gegenüber dem Gegner militärisch durchzusetzen: Nervengas im 1. Weltkrieg, das vor dessen erstem Einsatz als die Waffe betrachtet wurde, die niemals benutzt werden würde; die Atombombe, die eine neue Stufe darstellte und 1945 gegen Japan eingesetzt wurde.
Weniger bekannt, aber noch mörderischer waren die Flächenbombardierungen der Städte im II. Weltkrieg, mit dem Ziel der Terrorisierung und Dezimierung der Zivilbevölkerung. Von Deutschland mit den Bombenangriffen auf London, Coventry und Rotterdam eingeführt, wurden sie von Großbritannien perfektioniert und systematisch angewandt, als britische Bomber wahre Feuerstürme in den Zentren der deutschen Städte entfachten: "Die deutschen oder sowjetischen Verbrechen dürfen nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die Alliierten selbst von dem Geist des Bösen erfasst wurden und Deutschland in bestimmten Bereichen übertrafen, insbesondere bei den Terrorbombardierungen. Als der Beschluss zu den ersten Bombenangriffen auf Berlin am 25.8.1940 als Antwort auf einen Zufallsangriff auf London gefasst wurde, nahm Churchill die enorme Verantwortung eines gewaltigen moralischen Rückschritts auf sich. Nahezu fünf Jahre lang griffen die Flugzeuge des Bomber Commands, Harris insbesondere, die deutschen Städte an" (Ein totaler Krieg 1939-45, Strategien, Mittel und Kontroverse, von Ph. Masson) (1). Die Bombardierungen deutscher Städte durch englische Bomber verursachten nahezu eine Million Tote.
Statt zu einer gewissen Mäßigung der Offensive gegen den Feind zu führen, bewirkte die absehbare Niederlage Deutschlands und Japans Anfang 1945 im Gegenteil, dass die Luftangriffe in ihrer Intensität und ihrem Schrecken noch verstärkt wurden. Der Grund hierfür: Es ging nicht mehr wirklich um den Sieg über diese Länder, der schon längst sicher war. Es ging vielmehr darum zu vermeiden, dass sich Teile der Arbeiterklasse in Deutschland angesichts des durch den Krieg hervorgerufenen Leids gegen den Kapitalismus erheben, wie dies während des 1. Weltkriegs der Fall gewesen war (2). Die englischen Luftangriffe zielten also hauptsächlich darauf ab, jene Teile der Arbeiterklasse zu vernichten, die noch nicht an der militärischen Front zu Tode gekommen waren. Das Proletariat sollte sich hilflos und terrorisiert fühlen.
Ein zweites Motiv kommt noch hinzu. In den Augen der britisch-amerikanischen Führung war es offensichtlich, dass die anstehende Neuaufteilung der Welt zu einer Konfrontation zwischen den Hauptsiegermächten des 2. Weltkriegs führen würde, in der sich die USA (mit einem erschöpften Großbritannien an ihrer Seite) und die Sowjetunion, die ihre Machtposition durch die militärischen Eroberungen und Besetzungen nach dem Sieg über Deutschland beträchtlich ausbauen konnte, gegenüberstehen werden. Für die westlichen Verbündeten ging es also darum, dem imperialistischen Appetit Stalins in Europa und Asien durch eine abschreckende Demonstration der Stärke Grenzen zu setzen. Dies war die zweite Funktion der britischen Bombardierungen Deutschlands 1945 und das einzige Ziel des Atombombeneinsatzes gegen Japan.
Dass die militärischen und ökonomischen Ziele immer begrenzter und zweitrangiger wurden, bewies die Bombardierung Dresdens. "Trotz des Leids, das der Bevölkerung zugefügt wurde, konnte man bis 1943 bei den Bombardierungen noch eine militärische oder ökonomische Rechtfertigung finden, als es um die Bombardierung der großen Häfen Norddeutschlands, des Ruhrgebietes, der Hauptindustriezentren oder gar der Hauptstadt des Reiches ging. Aber vom Herbst 1944 an ging es nicht mehr um das Gleiche. Mit einer schon sehr eingespielten Technik strebte das Bomber Command, das über 1600 Flugzeuge verfügte und auf eine immer schwächere deutsche Gegenwehr stieß, den systematischen Angriff und die Zerstörung von mittelgroßen oder selbst kleineren Städten an, bei denen das  militärische oder ökonomische Interesse nicht die geringste Rolle spielte.
Die Geschichte wurde Zeuge der schrecklichen Zerstörung Dresdens im Februar 1945; damals rechtfertigte man dies mit der Absicht, einen strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt lahm legen zu wollen (...) Aber für die Zerstörung der Städte wie Ulm, Bonn, Würzburg, Hildesheim, die teilweise über einen mittelalterlichen Stadtkern verfügten und die als Kunsthochburgen zum Kulturerbe Europas gehörten, gibt es keine Rechtfertigung. All diese alten Städte gingen in den Feuerstürmen unter, in denen Temperaturen von 1000-2000° Celsius erreicht wurde, und Zehntausende von Menschen unter dem schrecklichsten Leiden starben" (ebenda).

Als die Barbarei zum Selbstzweck wurde

Aber es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Weltkriegen: genauso wenig wie die herrschende Klasse fähig ist, im Kapitalismus die Produktivkräfte zu beherrschen, neigen die zerstörerischen Kräfte, die sie in ihrem totalen Krieg auslöst, dazu, ihrer Kontrolle zu entweichen und sich - ebenso wie die schlimmsten Triebe, die der Krieg freisetzt - zu verselbständigen und zu eskalieren, was zu einer ziellosen Barbarei führt, die keinen Bezug mehr zu den einstigen Zielen hat, so niederträchtig diese auch sein mögen.
Während des Krieges waren die Konzentrationslager der Nazis zu einer gewaltigen Tötungsmaschinerie geworden, in der all jene umgebracht wurden, die in Deutschland oder in den besetzten bzw. abhängigen Staaten des Widerstands verdächtigt wurden. Die Verschleppung von Gefangenen nach Deutschland stellte einen Versuch dar, die Ordnung in den von Deutschland besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten. Aber die immer planmäßigeren und radikaleren Mittel, um die KZ-Insassen zu vernichten, insbesondere die Juden, lassen sich immer weniger durch das Bedürfnis erklären, mit Terror zu regieren oder die Zwangsarbeit aufrechtzuerhalten. Es handelte sich vielmehr um eine Flucht in die Barbarei, die zu einem Selbstzweck geworden war. Neben dem Massenmord gingen die Folterer und Naziärzte zu "Experimenten" an Gefangenen über, wo Sadismus und wissenschaftliches Interesse miteinander wetteiferten. Die Naziärzte erhielten übrigens nach dem Krieg einen Status der Immunität und gar eine neue Identität, nachdem sie ihre Zusammenarbeit mit den geheimen militärischen Verteidigungsprojekten der USA zugesagt hatten.
Das Vordringen des russischen Imperialismus gen Berlin ging mit Zwangsmaßnahmen einher, die die gleiche Logik verfolgten: "Flüchtlingsströme wurden angegriffen - entweder starben viele durch die Ketten der Panzer  oder durch das Maschinengewehrfeuer der Luftwaffe. Die Bevölkerung ganzer Wohnbezirke wurde mit einer ausgeklügelten Grausamkeit massakriert. Frauen wurden an Scheunentoren nackt ans Kreuz geschlagen. Kindern wurden die Köpfe abgehackt oder mit Gewehrkolben zertrümmert, oder sie wurden lebend in einen Schweinetrog geworfen. All jene, die nicht die Flucht ergreifen oder von der Kriegsmarine in den Ostseehäfen evakuiert werden konnten, wurden ganz einfach umgebracht. Man schätzt, dass es zwischen 3 und 3.5 Mio. Tote gegeben hat (...)
Ohne dieselben Ausmaße zu erreichen, wurden alle deutschen Minderheiten in Südosteuropa, in Jugoslawien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Tausende von Sudeten Zielscheibe des mörderischen Wahnsinns. Die deutsche Bevölkerung in Prag, die seit dem Mittelalter in der Stadt lebte, wurde mit einem seltenen Sadismus massakriert. Nachdem sie vergewaltigt wurden, schnitt man Frauen die Achillesferse durch und ließ sie unter den schrecklichsten Leiden am Boden verbluten. Kinder wurden mit Maschinengewehrsalven am Schulausgang niedergemetzelt, von den höchsten Stockwerken lebendig auf die Straße, in Brunnen oder Teiche geworfen. Andere wurden wieder lebendig in Kellern eingemauert. Insgesamt zählte man mehr als 30.000 Opfer (...)
Diese Massaker sind in Wirklichkeit auf eine politische Strategie, nämlich die des Versuchs der Auslöschung, zurückzuführen, wobei die bestialischsten Triebe freigesetzt werden sollten" (Ph. Masson).
Die "ethnische Säuberung" der ostdeutschen Provinzen war nicht das selbstherrliche Werk der Armee Stalins, sondern sie fand mit der Unterstützung der britischen und amerikanischen Armeen statt. Obgleich sich damals schon die Gräben des heraufziehenden Interessengegensatzes zwischen der UdSSR und den USA abzeichneten, arbeiteten diese Länder gemeinsam mit Großbritannien ohne Vorbehalt bei der Ausmerzung der proletarischen Gefahr zusammen, als sie gemeinsam die Bevölkerung massenweise auszulöschen versuchten. Zudem hatten sie alle ein gemeinsames Interesse daran, dass die Bürde der zukünftigen Besetzung Deutschlands eine Bevölkerung trifft, die durch das unermessliche Leid erschöpft ist und in der es möglichst wenige Flüchtlinge durchzufüttern gilt. Dieses Ziel, als solches schon die Verkörperung der Barbarei, war der Ausgangspunkt einer unkontrollierten Eskalation des bestialischen Massenmordes.
An der Kriegsfront im Fernen Osten ging der amerikanische Imperialismus mit der gleichen Bestialität vor: "Zurück zum Sommer 1945. 66 der größten Städte Japans waren schon durch Brände nach den Napalmbombardierungen zerstört. In Tokio zählte man eine Million obdachlose Zivilisten, über 100.000 Menschen hatten den Tod gefunden. Sie waren, um den Ausdruck des Divisionsgenerals Curtis Lemay, der für die Brandbombardierungen verantwortlich war, zu benutzen, ‚gegrillt, gekocht und bei lebendigem Leib begraben' worden. Der Sohn Präsident Franklin Roosevelts, der auch sein Berater war, erklärte, dass die Bombardierungen solange fortgesetzt werden sollten, ‚bis wir ungefähr die Hälfte der japanischen Zivilbevölkerung ausgelöscht haben'" ("Von Hiroshima bis zu den Twin Towers", Le Monde Diplomatique, Sept. 2002).

Ideologische Verschleierungen und Lügen, um die zynischen Verbrechen der Bourgeoisie zu übertünchen


Es gibt noch ein anderes Verhaltensmerkmal der Bourgeoisie in Kriegszeiten, vor allem wenn es sich um totale Kriege handelt. Manche Verbrechen, die nicht vergessen gemacht werden sollen, werden in ihr Gegenteil verkehrt, als mutige, tugendhafte  Handlungen dargestellt, welche ermöglicht hätten, mehr Menschenleben zu retten, als sie gekostet haben.

Die britischen Bombardierungen Deutschlands
Mit dem Sieg der Alliierten ist ein ganzer Teil der Geschichte des 2. Weltkriegs aus der Wirklichkeit wegretuschiert worden: "Die Terrorbombardierungen sind fast vollständig in Vergessenheit geraten, genau wie die Massaker, die von der Roten Armee verübt wurden oder die furchtbaren Abrechnungen in Osteuropa" (Ph. Masson). An diese Ereignisse wird natürlich bei den makabren Jahresfeiern nicht erinnert; im Gegenteil, sie werden aus den Feierlichkeiten verbannt. Es gibt nur einige Aussagen von Zeitzeugen der Geschichte, die zu tief verwurzelt sind, um offen ignoriert zu werden, die aber "für die Medien umgeschrieben" werden, um sie ungefährlich zu machen. Das trifft insbesondere auf die Bombardierungen Dresdens zu. "… der größte Terrorangriff des ganzen Krieges, (welcher) das Werk der siegreichen Alliierten gewesen war. Ein absoluter Rekord wurde am 13. und 14. Februar 1945 erreicht: 253.000 Tote, Flüchtlinge, Zivilisten, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter. Ein militärisches Ziel lag nicht vor" (Jacques de Launay, Einführung zur französischen Ausgabe 1987 des Buches "Die Zerstörung Dresdens" (3).
Es gehört heute zum guten Ton, dass die Medien in ihren Kommentaren zu den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Bombardierung Dresdens nur von 35.000 Toten zu sprechen; und wenn die Zahl von 250.000 Opfern erwähnt wird, dann wird solch eine Schätzung von den einen als Nazipropaganda und von den anderen als stalinistische Propaganda dargestellt. Letztgenannte "Interpretation" stimmt übrigens wenig überein mit einer Hauptsorge der ostdeutschen Behörden, die seinerzeit nicht zulassen wollten, dass "die Information verbreitet wird, dass die Stadt von Hunderttausenden Flüchtlingen überflutet worden war, die vor der Roten Armee türmten" (Jacques Launay). Zum Zeitpunkt der Bombardierungen hielten sich in der Stadt ca. eine Million Menschen auf, davon ca. 400.000 Flüchtlinge. In Anbetracht der Art und Weise, wie die Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde, ist es schwer vorstellbar, wie nur 3,5% der Bevölkerung umgekommen sein soll!
Die Kampagne der Verharmlosung der Schreckenstaten von Dresden durch die Bourgeoisie mittels der willkürlichen Reduzierung der Opferzahlen wird durch eine zweite Kampagne begleitet, die darauf abzielt, dass jede legitime Empörung über diese barbarische Handlung als eine typische Reaktion von Neonazis dargestellt wird.  Der große Medienhype, der anlässlich der Demonstrationen von degenerierten Nostalgikern des 3. Reiches anlässlich der Jahrestage veranstaltet wird, dient nur dazu, Kritik an den Alliierten zu unterbinden, indem aller Kritiker mit den Nazis in einen Topf geschmissen werden.

Die Atombomben auf Japan

Im Gegensatz zu den britischen Bombardierungen Deutschlands, dessen ganzes Ausmaß verheimlicht werden soll, wird der erstmalige und einzige Einsatz von Atombomben in der Geschichte durch die führende Demokratie der Welt nicht vertuscht oder heruntergespielt. Im Gegenteil. Alles wird unternommen, damit dies bekannt bleibt und die Zerstörungskraft dieser neuen Waffe deutlich vor Augen geführt wird. Selbst vor der Bombardierung Hiroshimas am 6. August 1945 waren alle Maßnahmen in diese Richtung getroffen worden. "Vier Städte waren zur Bombardierung in Betracht gezogen worden. Hiroshima (ein großer Hafen und eine Industriestadt mit Militärbasen), Kokura (das größte Arsenal), Nigata (Hafen, Stahlwerke und Raffinerien) und Kyoto (Industriestadt) (…) Jedoch wurde keine dieser 3 Städte bombardiert. Sie mussten so wenig wie möglich getroffen werden, damit die zerstörerische Kraft der Atombombe außer Zweifel stünde" ("Bomben auf Hiroshima", https://www.momes.net/dictionnaire/h/hiroshima/html [1]). Und der Abwurf der zweiten Bombe auf Nagasaki spiegelt den Willen der USA wider, deutlich zu machen, dass sie, wann immer nötig, die Nuklearwaffen einsetzen können (was in Wirklichkeit nicht der Fall war, da die damals noch Bau befindlichen Bomben noch nicht fertig gestellt waren).
Der ideologischen Rechtfertigung des Massakers an der japanischen Bevölkerung zufolge handelte es sich um das einzige Mittel, um die Kapitulation Japans durchzusetzen und das Leben einer Million US-amerikanischer Soldaten zu retten. Was für eine Lüge! Japan war längst erschöpft, und die USA (welche die Geheimcodes der japanischen Diplomaten und des Stabschefs abgehorcht und entschlüsselt hatten) wussten, dass Japan bereit war, zu kapitulieren.
Die wichtigste Lehre dieses sechs Jahre dauernden Massakers des 2. Weltkriegs ist, dass die beiden beteiligten Kriegsparteien und die sie unterstützenden Länder, unabhängig von der Ideologie (ob stalinistischer, demokratischer oder faschistischer Couleur), die sie nach Außen zur Schau stellten, samt und sonders Ausgeburten des Monsters des dekadenten Kapitalismus waren. LC-S (16.04.05)
(nach einem Artikel aus unserer Internationalen Revue Nr. 121 (engl./französisch/spanische Ausgabe), 2. Quartal 2005).

1) Philippe Masson kann eigentlich nicht beschuldigt werden, Sympathien für Revolutionäre zu hegen, da er  Leiter der historischen Abteilung der "Historischen Abteilung der französischen Marine" ist und in der Hochschule der Kriegsmarine unterrichtet.
2) Seit Ende 1943 brachen in Deutschland Arbeiterstreiks aus und es desertierten immer mehr Soldaten der Reichswehr. In Italien waren Ende 1942 und vor allem 1943 überall in den Hauptindustriezentren des Nordens Streiks ausgebrochen.
3) Der Autor dieses Buches ist David Irving, der beschuldigt wird, jüngst negationistische Thesen übernommen zu haben. Obgleich solch eine Entwicklung von David Irving, wenn sie tatsächlich so stattgefunden hat, nicht dazu dient, ein günstiges Licht auf die Objektivität seines Buches "Die Zerstörung Dresdens" (französische Ausgabe 1987) zu werfen, muss man sagen, dass seine Methode, die unseres Wissens niemals ernsthaft in Frage gestellt worden ist, keine Spur von Negationismus zeigt. Das Vorwort zu seinem Buch von dem Luftwaffengeneral Sir Robert Saundby, der kein wütender Nazianhänger und auch kein Negationist ist, meint dazu folgendes: "Dieses Buch schildert ehrlich und ohne Leidenschaft die Geschichte eines besonders tragischen Falls des letzten Krieges, die Geschichte der Grausamkeit des Menschen gegenüber anderen Menschen. Hoffen wir, dass der Horror Dresdens, Tokios, Hiroshimas und Hamburgs die menschliche Rasse davon überzeugt, dass der moderne Krieg sinnlos, nutzlos und wild ist." 

Geographisch: 

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Historische Ereignisse: 

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Theoretische Fragen: 

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Buchbesprechung zu Cajo Brendels: "Anton Pannekoek – Denker der Revolution" (II)

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Buchbesprechung zu Cajo Brendels: ”Anton Pannekoek – Denker der Revolution” (II)

In unserer Buchbesprechung über ”Anton Pannekoek – Denker der Revolution” von Cajo Brendel in Weltrevolution 126 widersprachen wir der Darstellung Brendels, derzufolge die Übernahme bestimmter ”klassischer” Positionen des Rätekommunismus durch Pannekoek – wie die Ablehnung des proletarischen Charakters der russischen Oktoberrevolution oder die Verwerfung der aktiven und unerlässlichen Rolle der Organisation der Revolutionäre – sozusagen die Krönung der politischen und theoretischen Leistung des großen niederländischen Marxisten bilden würden. Entgegen der Auffassung Brendels von Pannekoek als ein einsames, in Abgeschiedenheit arbeitendes Individuum, das sich zu der Auffassung durchgerungen haben soll, dass die organisierte Arbeiterbewegung von Grund auf etwas Bürgerliches gewesen sei und auch sein musste, zeigten wir auf, dass Pannekoek und sein Beitrag zum Marxismus vielmehr selbst das Produkt der kollektiven Kämpfe dieser Arbeiterbewegung war. Zwar findet sich manches v.a. im Spätwerk Pannekoeks, worauf sich die ”Rätekommunisten” von heute berufen können. Doch diese – aus unserer Sicht irrigen – Auffassungen sind in der Zeit der größten Niederlage des Proletariats, nach dem Scheitern des ersten Anlaufs zur Weltrevolution am Ende des 1. Weltkriegs entstanden, als Pannekoek, wie die übrigen echten Revolutionäre, in eine zunehmende Isolation vom Rest der Klasse geriet. Darüber hinaus stehen solche Aussagen vielfach im Widerspruch nicht nur zu den früheren Positionen und Kämpfen Pannekoeks, sondern auch zu bestimmten Grundüberzeugungen, die er weiterhin - bis ans Ende seines Lebens – vertrat.
Da wir aus Platzgründen damals unsere Buchbesprechung nicht vollständig abdrucken konnten, beendeten wir unsere Aufführungen in der Weltrevolution Nr. 126 mit folgendem Versprechen: ”Im zweiten, abschließenden Teil dieses Artikels werden wir nachweisen, welch tiefer Gegensatz zwischen Pannekoeks marxistischer Sicht der aktiven Rolle der Theorie und der revolutionären Begeisterung im Klassenkampf und dem platten, ökonomistischen Vulgärmaterialismus eines Cajo Brendels besteht.” Dieses Versprechen wollen wir hier nun einlösen.

Der platte Vulgärmaterialismus des ”Rätekommunismus”Diese vulgärmaterialistische

Auffassung Brendels wird bereits in der Einleitung zu seinem Pannekoek-Buch überdeutlich. Dort schreibt Brendel: ”Zur Parteiauffassung gehört die Ansicht, der Sozialismus sei so etwas wie ein ”herrliches Ideal”; zwar ein Ideal, das in den gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelt und sein Entstehen dem kapitalistischen Klassengegensatz verdankt, aber dennoch ein Ideal in dem Sinne, dass es die Aufgabe der Partei sei, den Arbeitern ihre eigenen Bedürfnisse bewusst zu machen. Die Schriften des jungen Pannekoek vom Anfang dieses Jahrhunderts zeigen deutlich die Spuren eines solchen Denkens.” (S. 12) Brendel kritisiert in diesem Zusammenhang Pannekoeks Broschüre von 1906 ”Ethik und Sozialismus” und wirft ihm vor, dort eine ”idealistische” Analyse angefertigt zu haben, die “... auch ihn vom ”sozialistischen Proletariat” reden lässt und von der Umwandlung der Gesellschaft als einem Ziel’.” Dagegen behauptet Brendel: “Die Arbeiter setzen es sich nicht zum Ziel, die Gesellschaft zu verändern; die Gesellschaft verändert sich – ob sie das wollen oder nicht, und ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – infolge jener Handlungen, die sie aufgrund ihrer Klassenlage in ihrem eigenen Interesse zu tun gezwungen sind. Die Arbeiter sind auch nicht ”sozialistisch”; sie sind einfach nur Arbeiter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn sie sich im Gegensatz zur herrschenden kapitalistischen Ordnung befinden, so nicht, weil sie sich die Schaffung anderer (”besserer”, sagen die moralisierenden ”Idealisten”) sozialer Verhältnisse zum Ziel gesetzt haben. Ihr Kampf gegen das Kapital entspringt nicht ihren Auffassungen, sondern ihrer Lage. Dieser Kampf wird nicht in ihrem Kopf geboren, sondern in ihrem Magen. Kein Ideal liegt ihm zugrunde, sondern die sehr materielle Tatsache, dass ‘die Not sie treibt’. Auch wenn dies nicht immer unmittelbar der Fall sein mag, so hat der Kampf der Arbeiter doch nichts mit ‘erhabenen Idealen’ zu tun, sondern mit realen praktischen Situationen – Situationen, die zum Beispiel das Rechtsgefühl der Betroffenen verletzen.” (S. 14) So Brendel. Wir halten schon mal fest: Für Brendel gibt es ein klares Entweder-Oder. Die materielle Notwendigkeit des Sozialismus und die bewusste, willensstarke Verfolgung dieses Ziels werden einander gegenübergestellt. Laut Brendel werden die Arbeiter gezwungen die Revolution zu machen. Sie sind sozusagen die willenlosen Werkzeuge der Umstände. Nicht die Proletarier verändern die Welt, sondern ”die Gesellschaft verändert sich – ob sie das wollen oder nicht, und ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht.” Die Revolution bedarf weder des Bewusstseins noch des Kampfeswillens der revolutionären Klasse. Brendel beruft sich hierbei auf Marx. Er vergisst dabei, dass es Marx selbst war, der den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier - zwischen dem selbst schlechtesten Architekt und der fleißigsten Biene darin sah, dass der Mensch sich sein Haus und seine Zukunft zuerst im Kopf entwirft, bevor er sie in der Wirklichkeit auszuführen versucht.

Der proletarische, dialektische Materialismus Pannekoeks

Schauen wir nun, ob es nur der junge, vielleicht noch nicht theoretisch ausgereifte Pannekoek war, der mit dieser platten, bürgerlichen Auffassung des Materialismus von Cajo Brendel nicht übereinstimmte. Wir schlagen den Artikel ”Marxismus und Idealismus” auf, welcher 1921 im ”Proletarier”, der Zeitschrift der KAPD veröffentlicht wurde (1). Dort erklärt Pannekoek, was der Marxismus unter Materialismus versteht. ”Materiell bedeutet bei uns alles, was wirklich ist, die ganze reale Welt, alles, was auf uns wirkt. Nicht nur Nahrung und Luft, Bäume und Erde, sondern auch Farben und Töne, Worte und Gedanken. Alles Geistige ist also darin einbegriffen; wirklich, real bestehend, sind die Gedanken in unseren Köpfen, und sie wirken auch auf andere ein.” In der Weltsicht der Bourgeoisie gibt es eine äußere Welt, und im Gegensatz dazu eine innere Welt der Ideen und Gefühle. Während der bürgerliche Idealismus diese Innenwelt als das Eigentliche und Wahre, die äußere Welt hingegen als unwesentlich oder gar als eine Täuschung betrachtet, ist es für den bürgerlichen Materialismus umgekehrt: die Außenwelt bildet das Echte und Bestimmende, während die Gedanken und Gefühle des Menschen lediglich als die passive Wiederspiegelung der materiellen Wirklichkeit gelten. Es ist dieselbe Gegenüberstellung, welche Brendel zwischen materieller Not und bewusstem Hinstreben auf ein Ziel konstruiert. Pannekoek aber wusste, dass der Marxismus diesen Gegensatz zwischen äußerer Welt und innerer Welt, zwischen Handeln hier, Denken und Fühlen dort, längst aufgelöst hatte. ”Der Marxismus sagt also nicht, dass nur die materiellen Verhältnisse, im engeren, bürgerlichen Sinne, den Geist des Menschen bestimmen; sondern er sagt, dass nur die wirkliche, aber auch die ganze wirkliche Umwelt ihn bestimmt. Neben den äußeren Lebensverhältnissen treten die geistigen Einwirkungen der Menschen aufeinander als wichtigste Kräfte auf; einerseits die Tradition überlieferter Anschauungen, die den Kindern eingeprägt und von den Herrschenden sorgsam gehegt wird, andererseits die Propaganda, die die neuen Ideen von dem einem auf die andern überbringt. Darin spricht sich aus, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist; dass der geistige Besitz der Menschen an Wissen, Glauben, Anschauungen und Idealen ein kollektiver Besitz ist.”
Man sieht, wie sehr auch der reife Pannekoek der Revolutionsjahre im Gegensatz zu den Auffassungen Brendels steht. Weit davon entfernt, die aktive Rolle von Bewusstsein und Willen, von der Begeisterung für große Ideale zu verneinen, hat Pannekoek ihre Bedeutung stets betont. ”Die Geschichte, sagten wir, ist Handeln der Menschen. Was bestimmt das menschliche Handeln? Erstens die unmittelbaren Triebe, die zwingenden Bedürfnisse des Lebens: Hunger und Kälte treibt sie, wie die Tiere auch, Nahrung und Deckung zu suchen. Beim Menschen nimmt dies die Form des Gedankens, des bewussten Willens an. Aber auch andere Kräfte bestimmen sein Handeln: sittliche Triebe, geistige Einflüsse, Opfermut, Einsicht, Befreiung, Ideale verursachen oft ein Handeln gegen das unmittelbare Interesse. In revolutionären Zeiten sieht man die treibende Macht großer Ideen. Unwissende Gegner glauben, damit den Marxismus widerlegen zu können: also nicht bloß materielle Kräfte bestimmen die Geschichte. Aber es ist klar, dass dies ein Mißverstehen ist. Der Marxismus leugnet die Macht der sittlichen, geistigen, idealen Kräfte nicht, sondern fragt: woher stammen sie? Nicht vom Himmel, sondern aus der wirklichen Welt selbst; erzeugt durch die Nöte der ökonomischen Entwicklung verbreiten sie sich durch Rede und Schrift, Literatur, Kunst, Propaganda, durch alle Mittel geistigen Verkehrs, während sie stets aus dem Boden, worin sie wurzeln, Nahrung nehmen und gewinnen so eine Riesenkraft.”
Unserer Meinung nach hat die Auffassung Brendels Ähnlichkeiten mit der Neigung großer Teile der Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg, die Bedeutung der subjektiven Faktoren des Klassenkampfes so sehr zu unterschätzen, dass die bereits im Kommunistischen Manifest definierte Rolle der Revolutionäre aufgehoben wird, ”...praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder” zu sein: ”sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.” (MEW Band 4, S. 474). Allerdings hat diese Verneinung der Wichtigkeit der Verteidigung der Perspektive des kommunistischen Endziels jeweils eine andere Ursache. Bei den heutigen Rätekommunisten vom Schlage Brendels geschieht dies als Reaktion auf den Verrat der Arbeiterparteien der Vergangenheit sowie auf den Missbrauch des Begriffs der revolutionären Partei durch den Stalinismus. Die Sozialdemokratie hingegen begann, die Macht der objektiven Entwicklung zu überschätzen zu einer Zeit, als die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung war, als es noch galt, die Reifung dieser Bedingungen abzuwarten. Dabei wurde oft, wie Pannekoek schreibt, ”... die geistige Zwischenstufe als selbstverständlich übergangen. Diese Form der Darstellung gibt aber leicht zu Missdeutungen Anlass, als sei der Mensch gleichsam ein passives willenloses Werkzeug der materiellen Kräfte; in den sonst vorzüglichen historischen Werken Kautskys macht der Marxismus oft den Eindruck eines toten Mechanismus.”
Doch was Pannekoek damals, für die Intervention der Revolutionäre, gegen den fatalistischen ”orthodoxen Marxismus” eines Kautskys schlussfolgerte, gilt im vollen Umfang auch für heute und gegen das nicht Eingreifen der ”Rätekommunisten”.
”Diese Unterlassung wird aber zum prinzipiellen Fehler, wenn man den Marxismus auf die Gegenwart anwendet. Wenn für heute die wirtschaftlichen Ursachen und die Revolution als notwendiges Ergebnis unmittelbar nebeneinander gesetzt werden, wird die Theorie zum Fatalismus, dessen ‘marxistische’ Losungen und Gebote sind: die Verhältnisse ausreifen lassen, abwarten, sich nicht provozieren lassen, vor allem nicht eingreifen – an diesem Fatalismus ist der Marxismus der zweiten Internationale zugrunde gegangen.”
Diese tiefgreifende Überzeugung Pannekoeks von der lebenswichtigen Bedeutung der Theorie, der revolutionären Propaganda und der revolutionären Leidenschaft hilft uns auch, das Paradox aufzulösen, das Brendel in seinem Buch nicht befriedigend erklären kann: Dass auch in den späten Werken Pannekoeks (auf die die Rätekommunisten sich am ehesten berufen können, um ihre Ablehnung der Organisation der Revolutionäre zu untermauern) die Vorstellung von der Notwendigkeit der Klassenpartei wieder auftaucht. Sogar 1946 forderte Pannekoek in den ”Fünf Thesen über den Klassenkampf”, eine Partei neuen Stils, die nicht mehr die Macht an Stelle der Arbeiterklasse übernehmen soll. Statt dessen hat sie “... Kenntnis und Einsicht zu verbreiten, Ideen zu formulieren und den Geist der Massen aufzuklären.”
Es liegt uns fern, aus dem späten Pannekoek einen konsequenten Vertreter der Notwendigkeit der revolutionären Partei machen zu wollen. Auffallend ist vielmehr die Widersprüchlichkeit des älteren Pannekoeks in dieser Frage. Eine solche Widersprüchlichkeit findet sich bei Brendel freilich nicht. Weil er die Rolle der Theorie und der revolutionären Intervention gänzlich über Bord wirft, hat Brendel natürlich keine Probleme damit, konsequent die Klassenpartei abzulehnen. Der inkonsequente Pannekoek allerdings, ist dafür immer noch ungleich anregender als die sterile Impotenz der gradlinigen Rätekommunisten. Denn sie hält fest an der Überzeugung von der Unerlässlichkeit des Marxismus als Waffe der Befreiung des Proletariats.

(1) Dieser Artikel wurde 1974 auf deutsch wieder veröffentlicht als Band 1 der Reihe ”Neubestimmung des Marxismus” im Karin Kramer Verlag (Seiten 21 bis 26). Man wird die eher bürgerliche Auffassung des Materialismus durch Brendel nicht damit entschuldigen können, dass er vielleicht diesen Artikel Pannekoeks nicht gekannt habe. Denn die Einleitung zu diesem Band wurde von Cajo Brendel selbst beigesteuert.

Geographisch: 

  • Niederlande [5]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [7]

Diskussionsveranstaltung der Gruppe Eiszeit in Zürich

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Diskussionsveranstaltung der Gruppe Eiszeit in Zürich


 Wir berichten in unserer Presse regelmässig über politische Veranstaltungen anderer Organisationen,  an denen wir uns in der Diskussion beteiligten, und die unseres Erachtens für die Debatte innerhalb der Arbeiterklasse wertvoll sind. Am 16. April organisierte die Gruppe Eiszeit in Zürich eine Veranstaltung mit dem Titel: "Geschichte des Linksradikalismus", welche eine sehr grosse Teilnahme fand. Wie von Mitgliedern der Gruppe Eiszeit uns gegenüber erklärt, ist eine ihrer wichtigsten Sorgen das Vorwärtstreiben einer Debatte und politischen Klärung. Zur Veranstaltung vom 16. April hatte Eiszeit einen Referenten eingeladen (Gerhard Hanloser). Wir wissen nicht, inwieweit die von Hanloser (der offenbar dem operaistischen Milieu rund um die Zeitschrift Wildcat in Deutschland entstammt) dargelegten Positionen von Eiszeit geteilt werden. Leider können wir hier nicht von einer lebendigen Debatte berichten, da das Einleitungsreferat mehr als 2 Stunden dauerte und nur noch µ kurze Redebeiträge möglich waren! Das Referat streifte drei politische Strömungen : Den Rätekommunismus der 20er und 30er Jahre, die situationistsiche Strömung der 50er und 60er Jahre und den Operaismus. Repräsentierten diese drei Strömungen aber tatsächlich die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die im realen Klassenkampf gemachten Erfahrungen weiterzutragen und damit eine Orientierung auch für heute zu geben? Wir gehen zuerst auf die rätekommunistische Strömung und danach auf den Operaismus ein. (Die sog. situationistische Bewegung werden wir hier, lediglich aus Platzgründen, nicht behandeln.)

Rätekommunismus: Ausdruck einer Schwäche der Arbeiterklasse

Voran einige Zitate von Hanloser zum Rätekommunismus:
- "Die von Lenin angeführte Dritte Internationale schraubte die Macht der Räte zurück, diffamiert Kritiker von links als "Dummköpfe" und wollte sie aus ihren Reihen ausgrenzen."
- "Auch die Spontanitätstheorie - die in Deutschland am prominentesten durch Rosa Luxemburg stark gemacht wird - will Gorter nicht verabsolutieren - und damit ist er auch den heutigen Rätekommunisten, die den Spontanitätsgedanken als Dogma behandeln, überlegen."
- "Tritt die Internationale jedoch auf mit der Vollmacht der Zentralgewalt eines Landes, dann trägt sie den Todeskeim in sich und wird die Revolution hemmen."  
- "Wie für Anton Pannekoek, einen der Gründerväter des Rätekommunismus, war für Paul Mattick im rückständigen Russland im Gegensatz zum Westen keine proletarische Revolution möglich und so beschrieben die Rätekommunisten die bolschewistische Revolution auch als bürgerliche Revolution, die von einer jakobinischen Partei, den Bolschewiki an- und durchgeführt wurde."
Wir teilen einige Aspekte der zitierten Hauptgedanken durchaus, wie zum Beispiel Lenins mangelndes Verständnis für die Kritiken der internationalen Linksopposition, das falsche Verständnis der heutigen rätistischen Strömung über die Spontaneität des Klassenkampfes, vor allem aber den Hinweis, dass, als die Interessen der Kommunistischen Internationale denen eines Nationalstaates unterworfen wurden, dies ihren Tod bedeutete. Die Delegation der IKS versuchte in einem ersten Diskussionsbeitrag auf den proletarischen Charakter der Russischen Revolution einzugehen. Sie war in unseren Augen keinesfalls ein Produkt der spezifisch russischen Verhältnisse, sondern Ausdruck der internationalen revolutionären Welle, welche dem Ersten Weltkrieg durch die Aktion der Arbeiterklasse ein Ende setzte. Diese Frage schien uns gerade deshalb wichtig, weil das Referat die These einer angeblich bürgerlichen Revolution in Russland 1917 teilte und somit die wohl einschneidendste Verwirrung der rätekommunistischen Bewegung vor einem interessierten Publikum vertrat.
Für die Rätekommunisten blieb die Degenerierung der Russischen Revolution ein Rätsel. Die wohl bedeutendste rätekommunistische Organisation, die 1927 gegründete GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten), versuchte 1934 in den "Thesen über den Bolschewismus" die Niederlage der Arbeiterklasse den Auffassungen der  Bolschewiki und den angeblich unreifen Bedingungen für eine proletarische Revolution in Russland in die Schuhe zu schieben. Sie beschrieben die Russische Revolution als einen bolschewistischen Putsch mit bürgerlichem Charakter. Damit war für die Rätekommunisten (von denen die meisten noch einige Jahre zuvor die Russische Revolution vehement verteidigt hatten!) die Frage gelöst: Nicht das erdrückende Übergewicht der Weltbourgeoisie mit ihrem blutigen Krieg von über 20 Nationen gegen die Rätemacht in Russland und die internationale Isolierung der Russischen Revolution durch das Scheitern der Arbeiterrevolution in Deutschland 1918/19 war in ihren Augen Ursache der Katastrophe, sondern die Existenz einer Partei und die angeblich schon zu Beginn weg bürgerlichen Konzeptionen der Bolschewiki, welche aus diesen rückständigen nationalen Bedingungen in Russland resultiert hätten. Der proletarische Sturmlauf der "alten Arbeiterbewegung"  gegen den Weltkapitalismus führte also in ihren Augen fast vorbestimmt zum Stalinismus.
Es gilt beileibe nicht die Schwächen und tragischen Fehler der Bolschewiki (wie die blutige Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt 1921) zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil entstammt gerade auch unsere Organisation, die IKS, der Tradition der deutsch-holländischen und italienischen Linkskommunisten, welche schon zu Beginn der 20er Jahre gewichtige Kritiken an den Auffassungen der Bolschewiki geübt hatten. Es gilt auch nicht zu verheimlichen, dass die  Dritte Internationale im Verlaufe der 20er Jahre tatsächlich degenerierte und mit der Übernahme der Losung des "Sozialismus in einem Lande" 1928 als Ausdruck des Proletariats starb. Russland war ein stalinistischer Staatskapitalismus mit imperialistischer Habgier und Ausbeutung der Arbeiterklasse geworden. Wovor wir warnen möchten, ist die von den Rätekommunisten verwendete falsche Methode, sich den Gang der Geschichte zu erklären: Das lokalistische Ignorieren des wirklichen internationalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen als bestimmender Faktor für Sieg oder Niederlage von Arbeiterkämpfen und Revolutionen sowie die bürgerliche Auffassung der Geschichte als Produkt von Ideen herausragender Köpfe (oder eben der "Fehler Lenins"). Obwohl die rätekommunistische Strömung nie mit dem Stalinismus gemeinsame Sache machte, hat sie mit der nationalistischen Methode des Stalinismus eine Gemeinsamkeit: Wenn die Losung "Sozialismus in einem Land" die schamlose Lüge in sich trug, dass der Sozialismus in einem Nationalstaat möglich sei, so war die Methode der GIK mit der Behauptung, dass die nationalen Bedingungen für eine proletarische Revolution in Russland nicht gegeben waren, ignorant gegenüber den wirklichen internationalen Bedingungen . Nicht Russland war "reif oder unreif" für eine proletarische Revolution, sondern der Weltkapitalismus war dafür reif, denn er begann die Menschheit auf internationaler Ebene mit den Weltkriegen zugrunde zu richten! Gerade aufgrund der oben geschilderten Methode, einen Schuldigen für die Niederlage der weltrevolutionären Welle von 1917-23 dingfest zu machen, gelangten die Rätekommunisten zur Verwerfung der proletarischen Partei, einer ihrer tragischsten Fehler. Sie entwickelten eine offen organisationsfeindliche Haltung. Eine Auffassung, die zum Selbstmord der eigenen politischen Organisationen führte und zur Vision von "tausenden von kleinen Arbeitsgruppen deren Aufgabe sehr bescheiden ist" (Canne-Meijer: "Das Werden einer neuen Arbeiterbewegung"). Der Rätekommunismus verfiel auf dieser schwachen Grundlage später zunehmend einer passiven und unklaren Haltung, die im Referat richtigerweise als ein "blosses Archivieren des Klassenkampfes" beschrieben wurde. Die rätekommunistische Bewegung löste sich in den Jahren nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges langsam auf, und ab den 70er Jahren kann man nicht mehr von einer organisierten rätekommunistischen Strömung sprechen. Organisationen wie Daad en Gedachte oder der Spartacusbond übernahmen auch Positionen, welche die alten rätekommunistischen Organisationen nie vertreten hätten und die linksbürgerlichen oder anarchistischen Ideen nahe kommen, wie Teilbereichskämpfe oder die Geldkollekten von Daad en Gedachte 1988 für den nationalistischen ANC in Südafrika...!
Auf den ersten unserer Diskussionsbeiträge wurde vom Referenten zwar bestätigt, dass die Isolierung ein vorhandener Faktor zur Degenerierung der Russischen Revolution war, der von ihm nicht erwähnt wurde. Doch vertrat er die Meinung, dass weitergehende Diskussionen über so lange zurückliegende Ereignisse heute wohl kaum mehr von Belang seien. Wir versuchten daraufhin in einem zweiten Beitrag, die Wichtigkeit der Debatte über die Klassenkämpfe der Arbeiterklasse in der Geschichte aufzuzeigen, um aus ihnen gerade für heute Lehren zu ziehen. Diese Lehren sind mitnichten ein "Luxus der Historiker": Wenn man wie die GIK damals, und das Referat heute, aufgrund einer unzureichenden Methode, die das Kind mit dem Bade ausschüttet, zu einer organisationsfeindlichen Haltung gelangt, raubt man der Arbeiterklasse ein unabdingbares politisches Werkzeug zur Überwindung des Kapitalismus!                         

Operaismus: Arbeiterkult und gleichzeitig Misstrauen gegenüber der Arbeiterklasse

Auch hier wollen wir erst einige Gedanken des Referates zitieren:
- "Dem aus Italien kommenden Operaismus, der Arbeiteruntersuchung, ging es um den Kampf gegen die Arbeit in der Arbeit durch die ArbeiterInnen."
- "Die kopernikanische Wende im Marxismus, für die der Operaismus sorgte, waren: zum einen wurde der subjektive Faktor wiederentdeckt - Arbeiterklasse war nicht mehr eine abgeleitete Grösse, sondern eine agierende Grösse. Diese Grösse war keine nebulöse, sondern eine konkrete Erscheinung, die man befragen und mit der man etwas organisieren konnte, die Fragebögen boten hierfür ein geeignetes Mittel."
- "Die Kritik des bolschewistischen Staatskapitalismus ist nach wie vor notwendig, um überhaupt historisch eine Perspektive zu eröffnen, was Kommunismus hiess und heissen könnte. Eine Beschäftigung mit dem Operaismus eröffnet die Möglichkeit der Kritik der jeweils konkreten Arbeitssituationen durch uns selbst mit Arbeitskollegen, die zu Arbeiter/innengenossen/innen werden könnten. Fragebögen und die Untersuchungsidee ist dabei eine konkrete Alternative zum blossen Archivieren des Klassenkampfes wie es heutige Rätekommunisten auf sehr verdienstvolle Art betreiben und zum Avantgardegedanken des ML."             
Im Gegensatz zu einigen Gedanken des Referates zur rätekommunistischen Strömung  teilen wir diese Sichtweise nicht.
Wie wir im ersten Teil zeigten, hatte der Rätekommunismus Wurzeln gelegt zu einer parteifeindlichen Haltung und einer lokalistischen Sichtweise. Auch wenn wir beim Operaismus ähnliche Argumente vorfinden, ist dieser keinesfalls als ein "Nachfolger" des Rätekommunismus zu betrachten, zu welcher Überlegung das Referat verleitete. Der Operaismus versuchte sich aber auf der Suche nach einer historischen Legitimation für seine eingefleischte Parteifeindlichkeit gerade in Deutschland oft auf Cajo Brendel (Daad en Gedachte) zu berufen. Schon die Begründer des Operaismus im Italien der 60er Jahre hatten, in ihrem Versuch, sich die Niederlage der Russischen Revolution zu erklären, ganz simpel den Bolschewiki die Schuld zugewiesen, wie das folgende Zitat zeigt: "Der auf dieser Grundlage entstandene Arbeiterstaat durfte so nicht über die Aufgaben der Partei hinausgehen. Aber die Taktik Lenins wurde zur stalinistischen Strategie, und mit dieser Entwicklung ist die sowjetische Erfahrung vom Arbeiterstandpunkt aus gescheitert. Für uns bleibt jetzt die Lehre, diese beiden Momente der revolutionären Aktivität in unserem Kopf organisch vereint, in der Praxis aber streng getrennt zu halten: Klassenstrategie und Parteitaktik."   Die Niederlage der Russischen Revolution wird den Ideen Lenins zugeschrieben, die Partei verworfen und sogar eine angebliche Kontinuität zwischen Lenin und dem Stalinismus hergestellt! Wenn also im Referat behauptet wurde, der Operaismus verkörpere eine "kopernikanische Wende im Marxismus", so möchten wir entgegnen, dass er in seiner Bilanz über die Niederlage der bedeutendsten Arbeiterkämpfe des 20. Jahrhunderts (1917-23) vor allem kläglich versagte. Die Notwendigkeit einer klaren politischen Organisation der Arbeiterklasse hat der Operaismus durch seine "exzellente" Bilanz der Russischen Revolution seit seiner Geburt bekämpft - was eher an den Anarchismus erinnert. Wenn schon Bezug zur Astronomie genommen wird, müsste man den Operaismus bezüglich politischer Klarheit über die Geschichte wohl eher als eine Sonnenfinsternis für die Arbeiterklasse bezeichnen! Vielversprechend klingende Thesen der Operaisten wie die "Neuzusammensetzung der  Arbeiterklasse" (immer wieder historisch begründet durch das Scheitern der sog. "alten Arbeiterbewegung", die schon im Keime den Stalinismus in sich getragen habe), endeten vor allem in absolut konfusen Konzepten wie der "militanten Untersuchung", mit der auch das Referat endete. Dieses soziologistische Schnüffeln mit Fragebögen erinnert an universitäre Studien, aber kaum mehr an eine Arbeit von proletarischen Revolutionären innerhalb ihrer Klasse. Wenn die Rätekommunisten wenigstens noch den Willen zeigten, innerhalb der Arbeiterklasse mit ihrer Intervention die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Bildung von Arbeiterräten zu verteidigen, so betreibt der Operaismus eine Jagd nach dem kämpferischsten Sektor des Proletariates, in den es sich dann lohnt "hineinzugehen". Mit welchem Resultat? Nicht mit einer Verteidigung klarer Orientierungspunkte für den Klassenkampf (wie der Vereinigung und Ausdehnung des Arbeiterkampfes), sondern in der Propaganda für individuelle "Sabotage und Krankfeiern". Die Stärke der Arbeiterklasse ist aber im Gegenteil ein kollektives Handeln. Wir denken, dass der Wert einer politischen Strömung daran gemessen werden soll, inwieweit sie zum Kampf der Arbeiterklasse beitragen kann. In diesem Zusammenhang scheint es uns auch nicht richtig, den Operaismus im selben Atemzug mit dem Rätekommunismus zu erwähnen. Denn dieser unterscheidet sich vom Operaismus in einem entscheidenden Punkt: Die rätekommunistische Strömung war noch ein proletarischer Versuch von Teilen der lebendigen Arbeiterbewegung, sich die stalinistische Konterrevolution in Russland zu erklären und gegen den Opportunismus der degenerierten Dritten Internationalen zu kämpfen. Der Rätekommunismus drückt aber im wesentlichen eine Schwäche der damaligen Arbeiterbewegung aus. Der Operaismus hingegen ist keine politische Strömungen, die der lebendigen Tradition der Arbeiterklasse entstammt. Er ist im wesentlichen ein Versuch, das Misstrauen und gleichzeitig die Glorifizierung gegenüber dem Proletariat zu theoretisieren, auch wenn immer wieder die berechtigte Sorge "irgendwie gegen den Stalinismus zu sein" sichtbar wurde. Auf seiner Suche nach den "Kämpferischsten" und "Ausgebeutetsten" entwickelte der Operaismus vor allem in den 80er Jahren Thesen wie die Existenz einer "Facharbeiter-Aristokratie", welche durch ihre bessere Entlohnung vom Kapital korrumpiert sei und damit eher der herrschenden Klasse nahe stünde. Der Operaismus hat Theorien entfaltet, die lediglich zur Zersplitterung der Arbeiterklasse aufrufen und eine Hierarchie unter den Ausgebeuteten predigen: Der Facharbeiter profitiere von den Teilzeitjobbern, der Teilzeitjobber von den Ausländern, der Ausländer von den Frauen...(der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt!) Ins Auge springt auch der nur auf den Moment ausgerichtete Aktionismus im operaistischen Milieu. Sich erst euphorisch auf die Fabriken stürzen und sich dann, wenn es nicht gelungen ist Arbeiterkämpfe zu entfachen, entweder enttäuscht zurückzuziehen, oder interklassistische Bewegungen wie Quartier-Aufstände mit Plünderungen zu verherrlichen, welche nichts mehr mit dem Kampf der Arbeiterklasse zu tun haben. Diese Vorgehensweise drückt lediglich das erwähnte Misstrauen (jedoch überdeckt mit einem Arbeiterkult) gegenüber der Arbeiterklasse aus. Einerseits steht dahinter die Auffassung, dass die Arbeiter auf "Spezialisten des Klassenkampfes" angewiesen sind, welche sie am Arbeitsplatz wachrütteln, eine im Keim bürgerliche, basisgewerkschaftliche Idee, die der Operaismus nie überwunden hat. Andererseits zeigte die operaistsiche Strömung mit ihrer unkritischen Verherrlichung von Quartierrevolten des "Volkes", dass sie nicht wirklich vom revolutionären Charakter der Arbeiterklasse überzeugt ist.

Die Notwendigkeit, sich mit dem linkskommunistischen Erbe insgesamt auseinanderzusetzen  

Wir haben zu Beginn des Artikels Zweifel formuliert, ob die präsentierten politischen Strömungen wirklich den reifsten Ausdruck der Arbeiterklasse seit den 20er Jahren repräsentieren (oder überhaupt Ausdruck der Arbeiterklasse sind!). Bezüglich des Rätekommunismus und des Operaismus haben wir versucht die Frage zu beantworten. Das Referat und die getroffene Auswahl der politischen Strömungen kann aber auch fälschlicherweise dazu zu verleiten, eine politische Kontinuität zwischen Rätekommunismus und Operaismus zu sehen, welche in Wirklichkeit nicht existiert.
Außerdem macht es wenig Sinn, auf den sog. Rätekommunismus Bezug zu nehmen, ohne von der Kommunistischen Linken insgesamt zu sprechen, aus der der Rätekommunismus hervorging und von dem er nur ein politisch sehr geschwächter Ausläufer war.  
Ab den 20er Jahren hatten vor allem die deutsch-holländische, die italienische, aber auch die russische linkskommunistische Bewegung eine Antwort auf die Niederlage der Russischen Revolution und die Kampfformen des Proletariates im dekadenten Kapitalismus geben können, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Gorter und auch Pannekoek waren vor allem lebendiger Teil dieser linkskommunistischen Opposition, die sich innerhalb der Dritten Internationale bildete. Dass z.B. Pannekoek in den 30er Jahren seine Auffassungen zur Parteifrage und zum Charakter der Russischen Revolution hin zu einer rätekommunistischen Sichtweise veränderte, ist bedauernswert, es darf aber keinesfalls dazu führen, außer Acht zu lassen, dass auch Pannekoek ein Ausdruck der internationalen kommunistischen Linken war.  Das Erbe der internationalen linkskommunistischen Opposition der 20er Jahre wurde später in den 30er Jahren bis durch die Zeit des Zweiten Weltkrieges von den Genossen um die Zeitschrift BILAN weitergeführt, welche eine Synthese der theoretischen Beiträge sowohl der deutsch-holländischen als auch der italienischen Linken erstellten. MT 26. 5. 2005    
 Eine offenbar überarbeitete Version ist auf www.eiszeit.tk [8] nachzulesen.    
  Siehe: GIK "Das werden einer neuen Arbeiterbewegung", Rätekorrespondenz Nr. 8/9, 1935  
  Siehe dazu: GIK:" Thesen über den Bolschewismus"  (Thesen 4-9) und Cajo Brendel: "Thesen über die chinesische Revolution", (Thesen 2-11)  
  Mario Tronti, "Erste Thesen". Aus der stalinistischen KPI kommend kehrte Tronti nach seinem "intellektuellen Seitensprung" als grosser Theoretiker des Operaismus bezeichnenderweise schlussendlich wieder in die KPI zurück!    
  siehe dazu "Die andere Arbeiterbewegung" von Karl-Heinz Roth, einem deutschen operaistischen Theoretiker  
 
 

Geographisch: 

  • Schweiz [9]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Operaismus [10]

Ein Ort der offenen Debatte – der Politische Diskussionszirkel Rheinland

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Ein Ort der offenen Debatte – der Politische Diskussionszirkel Rheinland

Engels hat stets gesagt, dass der Kampf des Proletariats auf drei Ebenen stattfinden muss, um das Ziel der klassenlosen Gesellschaft erreichen zu können: der Kampf auf der politischen,  ökonomischen und theoretischen Ebene. Diese drei Ebenen sind nicht voneinander zu trennen. Doch gerade Letztere wird von aktivistischen Gruppen, die den Kommunismus sofort erreichen wollen,  (oder aber - noch häufiger - das Endziel der proletarischen Bewegung gänzlich vernachlässigen) und den Arbeitern ohnehin nicht die theoretische Auseinandersetzung mit der Welt mittels der Waffe des Marxismus zutrauen, nur müde belächelt. Doch nur wenn die Arbeiterklasse die Welt versteht, kann sie diese auch ändern.
    Dass die Arbeiter aber keineswegs unfähig sind, sich mit der "Theorie", d.h. dem Marxismus auseinanderzusetzen, zeigen nicht nur zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, sondern wird auch durch die Entstehung von politisierten Minderheiten heute bestätigt. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Entstehung des Politischen Diskussionszirkels Rheinland als ein Ausdruck einer zur Zeit wieder international verstärkt zu beobachtenden Anstrengung der politisierten Teile der Arbeiterklasse, zu politischem Bewusstsein zu gelangen.
Ein entscheidender Grund, warum sich dort die Fähigkeit entwickelte, politische Themen und Fragen vertieft zu diskutieren, war die Tatsache, dass der Zirkel sich von Anfang an nicht als ein  einheitliches Gebilde, als politische Gruppe verstand (weil schließlich die verschiedensten Ansichten im Zirkel anzutreffen sind), sondern als einen "... Ort, an dem politisch Interessierte zusammenkommen, um zu diskutieren." (1) Da das oberste Ziel des Zirkels die gemeinsame Klärung mittels der Diskussion ist, steht er grundsätzlich "... jedem offen, der politische Themen aus der Sicht des Proletariats vertieft diskutieren möchte." (2)
   Dieses alte proletarische Prinzip der offenen und fairen Diskussion macht sich auch im Ablauf dieser Treffen deutlich. Die Diskussionen werden solidarisch geführt, d.h. man lässt den anderen ausreden, hört einander zu und versucht, seinen Teil zum gemeinsamen Klärungs- und Vertiefungsprozess beizutragen. Manch einer könnte einwenden, dass dies doch selbstverständlich ist. Doch leider sieht die Realität anders aus. Gerade in Zeiten des gesellschaftlichen Verfalls und inmitten der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft müssen solch proletarische Prinzipien bewusst gepflegt werden. Andere könnten argumentieren, dass diese Fragen des Verhaltens und des gegenseitigen Umgangs miteinander im Vergleich zu "wirklich" politischen Fragen doch bedeutungslos seien. In Wirklichkeit aber müssen Ziel und Mittel miteinander in Einklang stehen. Wie will man denn die erste wirklich menschliche Gesellschaft errichten, wenn die Arbeiter sich die bürgerlichen Vorstellungen der Konkurrenz in ihrem Kampf zu Eigen machen?
   Im deutschsprachigen Raum findet man auch andere Initiativen, die sich Diskussionszirkel nennen. Doch muss man sich fragen, inwieweit es sich hier tatsächlich um Orte der offenen Debatte handelt, wenn z.T. selektiert wird, wer nun an den Treffen teilnehmen darf und wer nicht, und wenn über die eigentlichen Diskussionen kaum etwas nach außen dringt. Hier herrscht nicht der Geist der offenen Diskussion. Vielmehr bekommt man den Eindruck von einer kleinen, geschlossenen Gesellschaft, ja einer bürgerlichen Familie, die nach außen die Fassade der harmonischen Einheit präsentiert, während in Wahrheit in ihrem Innern die Messer gewetzt werden. Doch die Arbeiterklasse als Ganzes kann ihren Kampf nur gewinnen, wenn sie sich ohne Scheuklappen mit der Wirklichkeit auseinandersetzt - und zwar mit der Realität der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Was könnte da förderlicher sein als eine ernsthafte und solidarisch geführte Debatte?

Die Funktionsweise des Rheinischen Zirkels

   Genau hierzu leistet der Politische Diskussionszirkel Rheinland einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Und mit dem Aufbau einer Homepage, die regelmäßig aktualisiert wird, hat der Diskussionszirkel Rheinland noch einen weiteren Schritt unternommen, um die offenen Debatten auch all denen in der Welt zugänglich zu machen, die nicht an den eigentlichen Treffen teilnehmen können. Es werden nämlich seit einigen Monaten nicht nur die Referate ins Netz gestellt, die ja zunächst nur die Meinung eines Teilnehmers  geben; darüber hinaus werden nun auch Synthesen der Diskussion veröffentlicht. Diese Möglichkeit, die Debatten des Diskussionszirkels mitzuverfolgen, sind unseres Wissens im deutschsprachigen Raum einzigartig und daher um so bedeutsamer. So können politisch Interessierte nicht nur einen Einblick in die verschiedenen Argumentationslinien und politischen Positionen gewinnen, sondern auch einen Einblick in die Entwicklung und die Führung einer lebendigen Debatte bekommen. Hier geht es also - im Vergleich zu zahlreichen anderen Diskussionszirkeln - nicht nur um eine andere Funktionsweise. Nein, dahinter verbirgt sich eine ganz andere Betrachtungsweise der Welt. Die Teilnehmer des Zirkels waren sich nämlich schon sehr früh einig, dass die im Zirkel besprochenen Fragen nicht nur sie, sondern die gesamte Arbeiterklasse angehen. Daher muss ein solcher Ort der Klärung und der Vertiefung auch der gesamten Klasse zugänglich sein, sowohl durch die offenen Treffen als auch durch Diskussionszusammenfassungen, die im Internet veröffentlicht werden. Dies ist ein wahrlich proletarischer Standpunkt.
   Gegründet wurde der Politische Diskussionszirkel Rheinland bereits im Dezember 2002. Er entstand in Opladen als Eigeninitiative politisch interessierter Menschen (Sympathisanten der IKS und Mitglieder der inzwischen aufgelösten "Initiative Linkskommunismus"). Ziel war es, all jenen ein Forum für politische Diskussionen anzubieten, denen die weitere Entwicklung der Welt nicht gleichgültig ist und die mit anderen Menschen darüber in Kontakt treten wollen. Anfangs war die Teilnehmerzahl des Diskussionszirkels Rheinland größer. Doch es zeigte sich sehr bald, wer wirklich gemeinsam diskutieren und wer sich möglicherweise profilieren wollte. So kamen bald beispielsweise Leute aus dem Operaismus nicht mehr, weil sie die Bedeutung des Zirkels als Ort der Klärung unterschätzten, und eher den Eindruck vermittelten, Anhänger gewinnen zu wollen.  Denn hier entwickelte sich, ganz nach dem proletarischen Prinzip, eine offene und solidarische Diskussionsatmosphäre, die vom Bemühen gekennzeichnet war, gemeinsam die Klärung voranzutreiben. So wurde der Zirkel zwar kleiner, gewann aber an Diskussionsqualität dazu. Es folgten Treffen, die sehr lebhaft und durchaus kontrovers waren.
   Dennoch ergaben sich Probleme, deren Tragweite der Zirkel zunächst nicht erkannte. Es kam die Zeit, wo das Stattfinden des Zirkels von der Teilnahme gewisser Leute abhing. Schließlich fanden dann keine Treffen mehr statt. Daraufhin befreiten sich Teile der Zirkelteilnehmer von einer gewissen Abwartehaltung und verhalfen dem Zirkel zu neuem Leben.
  Der Zirkel findet nun im leichter erreichbaren Köln statt. Noch viel wichtiger aber waren die Lehren, die nun im Zirkel aus den eigenen Erfahrungen gezogen wurden. Zum einen wurde festgestellt, dass der Zirkel nicht mehr von  der Teilnahme einzelner Personen abhängen sollte. Zum anderen beschloss man aus den eigenen Fehlern zu lernen und sich vor allem durch den Aufbau einer eigenen Homepage allen politisch Interessierten zu öffnen und dieses Diskussionsforum weithin bekannt zu machen. An dieser Stelle möchten wir die Entwicklung und das rege Leben des Diskussionszirkels Rheinland aufs Wärmste begrüßen. (3) Das Proletariat braucht solche Orte der offenen politischen Klärung und Diskussion, um sich für die zukünftigen Kämpfe zu rüsten. 14.5.2005
(1) Siehe die Homepage des Zirkels, s.u.
(2) Ebenda
(3) Die Homepage lautet https://de.geocities.com/zirkelrunde [11] Die E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme lautet: [email protected] [12]. Wir empfehlen allen unseren interessierten Lesern, die Homepage des Politischen Diskussionszirkels Rheinland aufzusuchen. Die Teilnehmer des Diskussionszirkels haben uns wissen lassen, dass sie sich über weitere neue Teilnehmer sehr freuen würden.
 

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Von der Kommunistischen Linken beeinflusst [13]

Massenarbeitslosigkeit - Neuwahlen

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Die Herrschenden wollen den Bankrott des Kapitalismus vertuschen  


 Nachdem am 21. Mai in Nordrhein-Westfalen - im vielgepriesenen "Stammland der Sozialdemokratie" - die SPD bei den Landtagswahlen eine bittere Niederlage erlitten hatte, antworteten Bundeskanzler Schröder und SPD-Parteivorsitzender Müntefering mit einem politischen Paukenschlag: Die Ankündigung von -um ein Jahr - vorgezogenen Bundestagswahlen für den Herbst 2005. Nachdem das "politische Deutschland" sich von dieser Überrumpelung erholt hatte, stieß der Überraschungscoup rasch allerorts auf Gegenliebe. Ja, es war sogar von einem Befreiungsschlag die Rede. Im Präsidium der SPD blieb der von den Medien vorhergesagte Aufstand gegen die Parteiführung aus. Statt Kritik bekam der Kanzler von den Parteilinken Schwüre der Nibelungentreue zu hören. Auch der grüne Koalitionspartner stellte sich, ohne zu murren, sofort der "neuen Aufgabe". Die christdemokratische und liberale parteipolitische Opposition begrüßte sofort und einhellig die Entscheidung Schröders. Von dort hieß es siegessicher: Jeder Tag weniger, an dem das Land noch von Rot-Grün regiert werde, sei ein guter Tag für Deutschland. Auch die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften zeigten sich froh und erleichtert darüber, dass "die Deutschen" nun an den Wahlurnen "selbst" darüber Auskunft geben sollten, ob sie "weiterhin" hinter den "schmerzhaften, aber notwendigen Wirtschaftsreformen" stehen oder nicht. An der Frankfurter Börse war von einem "neuen Optimismus" die Rede, welcher die Bundestagswahlen im Herbst voraussichtlich auslösen werde - und zwar unabhängig von ihrem Ausgang. Auch die ehrwürdigen Gottesdiener ließen es nicht an demokratischer Gesinnung fehlen: Die Evangelischen beispielsweise "öffneten" den wenige Tage später in Hannover stattfindenden Kirchentag ausdrücklich für den bereits einsetzenden Wahlkampf.
Wie erklärt sich diese einhellige Begeisterung der herrschenden Klasse für vorgezogene Bundestagswahlen? Hat, aus der Sicht der Bourgeoisie, Rot-Grün so schlecht regiert, dass man gar nicht mehr bis zum Ende der Legislaturperiode 2006 abwarten möchte, um sie abzulösen? Wird die wahrscheinlich erscheinende Ablösung der jetzigen Regierung zu einer Kursänderung, etwa in der Wirtschafts- und Sozialpolitik führen, wie die Opposition vollmundig ankündigt?

Schröders Flucht nach vorne

Weshalb der Bundeskanzler sich für vorgezogene Neuwahlen stark macht, ist nicht schwer zu erraten. Bereits in der letzten Ausgabe der Weltrevolution stellten wir fest: "So schauen momentan die Medien "gebannt" nach den kommenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, welche bereits als Vorentscheidung für 2006 bezeichnet werden. Und tatsächlich: Da die Zugänge zu den staatlichen Quellen von Macht, Einfluss und Reichtum nicht allein auf Bundesebene zu finden sind, sondern in den Städten und v.a. auf Länderebene ebenfalls sprudeln, könnte Teilen der SPD die Lust auf das Regieren auf Bundesebene vergehen, wenn der Preis dafür der Verlust der Vorherrschaft über das bevölkerungsreichste Bundesland wäre."  (Weltrevolution 129: "Visa-Affäre, Jobgipfel, Kieler Abstimmung: Die Ausbeuter streiten um die beste Regierungsmannschaft").
Die SPD hat jetzt in NRW die Macht in einem Bundesland verloren, das sie zuvor 39 Jahre ununterbrochen regiert hat. Sie hat damit die neunte Landtagswahl in Folge verloren. In Düsseldorf wurde gerade die letzte rot-grüne Regierungskoalition auf Länderebene abgelöst. Angesichts eines solchen, in der jüngsten deutschen Geschichte beispiellosen wahlpolitischen Niedergangs der Sozialdemokratie boten sich dem Kanzler Neuwahlen im Bund noch als letztes Mittel an, um offenen Machkämpfen innerhalb der Partei vorzubeugen. Dieses Mittel erweist sich derzeit als derart wirksames Disziplinierungsmittel, dass sich innerhalb der Bundestagsfraktion der SPD bis jetzt nicht mal die Parteilinken bereit erklärt haben, auch nur pro forma dem Kanzler im Bundestag das Vertrauen zu entziehen, damit Neuwahlen ermöglicht werden. Denn auch die Abgeordneten, die sich sonst medienwirksam von bestimmten "Härten" der "Hartzreformen" der eigenen Regierung distanzieren, bangen nun um ihre eigene Wiederwahl, um ihren eigenen Platz am Futtertrog der Herrschenden.
Tatsächlich sieht Schröder in einem vorgezogenen Wahltermin die letzte Möglichkeit an der Macht zu bleiben. Sollten die Christdemokraten die nächste Landtagswahl in Rheinland-Pfalz gewinnen, hätten sie eine Zweidrittelmehrheit - also die "Blockierungsmehrheit" - im Bundesrat erringen, wäre die Bundesregierung spätestens dann dazu verdammt, in ihren letzten Monaten den fatalen Eindruck des tatenlosen Dahindümpelns zu hinterlassen. Außerdem zwingt Schröder durch Neuwahlen die Union dazu, sich rasch auf CDU-Chefin Angela Merkel als Kanzlerkandidatin zu einigen. Merkel gilt ja als Wunschgegnerin des Kanzlers. Denn er weiß, dass es innerhalb der deutschen Bourgeoisie Vorbehalte gegen Merkel gibt in Bezug auf die Außenpolitik aufgrund ihrer fehlenden Entschiedenheit gegenüber den USA zur Zeit des Irakkrieges.
Da aber auch ein leidenschaftlicher und gewiefter "Wahlkämpfer" wie Schröder, der nicht kampflos seine Stellung räumen wird, Realist genug ist, um zu wissen, dass seine Chancen auf eine erneute Wiederwahl gering sind, macht der sich natürlich auch Gedanken darüber, auf welche Weise er letztendlich von Bord gehen möchte. Als die SPD Anfang der 80er Jahre angesichts eines sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit und eines wachsenden Unmuts der Arbeiterklasse ihr Heil in der Opposition suchte, war es damals die SPD-Linke gewesen, die den Dolchstoß ausführte. Die Art und Weise, wie der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt sozusagen von den eigenen Leuten aus seinem Amt gejagt wurde, ist als unehrenhafter Abgang in die Geschichte eingegangen. Wenn er schon gehen muss, dann möchte Schröder, wie sein Vorgänger Kohl, lieber demokratisch "würdevoll" abgewählt werden.

Schwarz-Gelb in den Startlöchern, um Rot-Grün abzulösen

Weshalb die parlamentarische Opposition sich auf Neuwahlen freut, liegt ebenfalls auf der Hand. Denn die Aussichten von Union und FDP, die jetzige Regierung abzulösen, sind denkbar günstig. Vor allem die wachsende Unbeliebtheit der linken Regierung beim Wahlvolk - und nicht zuletzt beim bisherigen sozialdemokratischen Stammwähler  unter den Arbeitern - stimmt optimistisch. Zwar weiß auch die Opposition von den vorhandenen Vorbehalten im außenpolitischen Bereich, nicht nur gegenüber Merkel, sondern auch gegenüber FDP-Chef Westerwelle. Denn ein eventueller Außenminister Westerwelle wäre ein rotes Tuch für die israelische Regierung (und damit eine ideologische Belastung für die deutsche Außenpolitik) aufgrund des populistischen, israelfeindlichen, mit dem Namen Jürgen Möllemann verknüpften Wahlkampfes der FDP 2002.
Doch diese Schwierigkeiten scheinen alles andere als unüberwindbar zu sein. So wird derzeit darüber verhandelt, ob nicht eventuell ein Oppositionspolitiker, der den aktuellen außenpolitischen Kurs besser verkörpern könnte - etwa der CSU-Chef Stoiber oder der FDP-Fraktionsvorsitzende Gerhardt - das Außenministeramt übernehmen könnte.
Die Vorfreude von Union und FDP speist sich nicht allein aus dem wahlpolitischen Niedergang der SPD. Die Herausforderer Schröders wissen, dass mächtige Teile der deutschen Bourgeoisie in letzter Zeit bei diesem Niedergang bewusst nachgeholfen haben, indem sie dafür gesorgt haben, dass auch die Grünen und ihre Galionsfigur Außenminister Fischer in diesen Strudel mit hineingerissen wurden. Die "Visa-Affäre" zeigt auf, dass es in der Außenpolitik nicht nur Vorbehalte gegenüber den Parteispitzen der Opposition, sondern auch ein Unbehagen der Bourgeoisie über die in letzter Zeit ausgebliebenen Erfolge der Bundesregierung gibt. Es ist kein Zufall, dass der Auslöser dieser Affäre die Politik gegenüber der Ukraine war. Denn der dortige Machtkampf, welcher sich "orangene Revolution" schimpft, und vorläufig mit der Loslösung der Ukraine aus dem Einflussbereich Rußlands endete, ging zu Gunsten der USA, nicht aber Deutschlands aus. Es gibt mächtige Stimmen innerhalb der Union und v.a. der FDP (als traditionsreichen Vertreter der deutschen Außenpolitik), welche Schröder zu viel Rücksicht auf die Interessen Rußlands vorhalten. Sie werfen ihm vor, zu starr an der Bündniskonstellation festzuhalten, die zur Zeit des Irakkriegs mit Frankreich und Rußland entstand, und fordern eine pragmatischere, mehr von Fall zu Fall sich neu ausrichtende Politik des deutschen Imperialismus.
Es wird immer deutlicher, dass die Außenpolitik heute weder bei der Entscheidung die Bundestagswahlen vorzuziehen, noch bei der Bestimmung der daraus hervorzugehenden Wunschregierung der deutschen Bourgeoisie, ausschlaggebend ist. Auch die Visa-Affäre hat v.a. eine wahlpolitische Dimension. Beispielsweise hat sie der Union ermöglicht, sich als wachsamen Behüter des Landes vor Kriminellen aus dem Ausland zu präsentieren, um damit Stimmen am rechten Rand auf Kosten der Neonazis zu gewinnen. Zum anderen hat diese Affäre nicht nur der SPD zusätzlich geschadet, sondern v.a. ihrem grünen Koalitionspartner. Damit hat man die vernichtende Niederlage von Rot-Grün in NRW mitbesiegelt, und darüber hinaus politische Signale gegeben, um Schröder die Option von Neuwahlen im Bund nah zu legen.

Die Rückkehr der sozialen Frage

Wir haben es bereits eingangs erwähnt: Auffällig ist heute, dass nicht nur die beteiligten politischen Parteien, sondern auch die große Mehrheit der wichtigsten Stimmen innerhalb der herrschenden Klasse Deutschlands ausdrücklich die Perspektive von vorgezogenen Bundestagswahlen begrüßen. Und während man das Verhalten der direkt beteiligten, politischen Akteure aus ihren machtpolitischen Interessen heraus leicht erklären kann, trifft dies kaum zu für die Führung von Industrie und Finanz, für die Gewerkschaftsbosse oder die Kirchenfürsten, und auch nicht für die Börsenjongleure. Denn die Macht dieser Führungseliten im Staate wird kaum davon berührt, ob die Regierung in Berlin von Rot-Grün oder von Schwarz-Gelb gestellt wird (ganz zu schweigen von der Macht bestimmter Eliten wie den Spitzen des Militärs oder der Nachrichtendienste, die sich von Berufs wegen in der Öffentlichkeit nicht äußern). Es ist also klar, dass Neuwahlen eine Herzensangelegenheit zentraler Teile der deutschen Bourgeoisie geworden sind, und sich keineswegs allein durch parteipolitische Interessen erklären lassen.
Natürlich hat dieser Schachzug der Neuwahlen etwas zu tun mit der wirtschaftlichen Lage, mit der weiteren Verschärfung der kapitalistischen Krise. Es geht u.a. darum das Vertrauen der Investoren zu bewahren oder zu gewinnen. Die deutsche Bourgeoisie will aller Welt beweisen, dass die "Wirtschaftsreformen" (sprich: die massiven Angriffe gegen die Arbeiterklasse) unvermindert, ja beschleunigt fortgesetzt werden; dass es kein "verlorenes Jahr" und keine "gegenseitige Blockade" der politischen Kräfte bis 2006 geben wird. Doch gerade die Tatsache, dass kein Zweifel daran gelassen wird, dass der "Reformkurs" fortgesetzt wird - und zwar unabhängig vom Ausgang der Wahlen - weist darauf hin, dass es sich gar nicht darum handelt, einen politischen Kurswechsel einzuleiten. Falls Rot-Grün tatsächlich auch auf Bundesebene aus dem Amt verjagt wird, dann jedenfalls nicht, weil die Bourgeoisie mit ihrer Wirtschaftspolitik unzufrieden wäre, oder, weil Schwarz-Gelb eine andere Wirtschaftspolitik anzubieten hätte! Was Union und FDP anzubieten haben, ist wirklich nichts anders als die Fortsetzung von dem, was die Regierung Schröder-Fischer seit 7 Jahren, was jede Regierung heute weltweit praktiziert.
Weshalb also jetzt die Aufregung und die plötzliche Eile? Die deutsche Bourgeoisie reagiert heute in der Tat auf einen bedeutsamen neuen Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieser neue Faktor ist nicht die Wirtschaftskrise als solche, welche manche heute als ein Ergebnis der "Mißwirtschaft unter Rot-Grün", und andere als einen Auswuchs einer angeblich neu einsetzenden "Globalisierung" hinstellen wollen. Denn diese chronische, im Rahmen des Systems unlösbare, sich stets vertiefende Krise des Kapitalismus greift seit Jahrzehnten weltweit um sich. Neu ist, dass die soziale Frage, dass die Frage der Folgen dieser Krise für die Lohnabhängigen, für die produzierende und ausgebeutete Klasse des Kapitalismus, in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zurückkehrt. Diese folgenschwere soziale Frage wurde an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins verdrängt durch die Ereignisse von 1989, als mit dem Untergang des Stalinismus zunächst glaubhaft die Lüge in der Welt verbreitet werden konnte, der Kapitalismus habe einen entgültigen Sieg errungen, und damit den Klassenkampf für immer zu Grabe getragen. Der schöne Schein der 1990er - New Economy, Börsenhausse, Informationsrevolution - trugen dazu bei, das Leben dieser schaumartigen Illusionen zu verlängern. Aber das wachsende Leid der arbeitenden Bevölkerung, insbesondere aber die stetige Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit, räumten immer mehr mit diesen Illusionen auf. Heute, nicht nur an der Peripherie des kapitalistischen Systems, sondern in den Kernländern des Kapitalismus, in angeblichen Festungen des "Sozialstaates" wie Deutschland, Frankreich oder Italien, fühlen sich immer breitere Kreise der arbeitenden Bevölkerung unmittelbar bedroht durch Arbeitslosigkeit und Mittellosigkeit. In Deutschland hat diese Arbeitslosigkeit offiziell die 5 Millionen Marke überschritten. Das sind Scharen der Erwerbslosen, welche Erinnerungen an die Wirtschaftskrise von 1929 wieder wach rufen. Dabei geraten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in Gärung, welche bislang zu den besser bezahlten und  höchst qualifizierten gezählt wurden. Wenn, wie in den letzten Wochen, die Klinikärzte auf der Strasse gehen, und die Mitarbeiter von Agfa erfahren, dass die Firma über Nacht ihre Zahlungsunfähigkeit feststellen musste, so bekommt man eine Ahnung davon, wie sehr das Proletariat sich heute konfrontiert sieht mit der Unsicherheit des Daseins als Lohnarbeiter, mit den Gefahren, der Erniedrigung und der Misere der Abhängigkeit vom Kapital. In aller Öffentlichkeit, unübersehbar, im Bewusstsein der Proletarier selbst, kehrt die soziale Frage wieder zurück. Sie zwingt die herrschende Klasse, darauf zu reagieren.

Die Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit

In einem Land wie Deutschland, wo sich gerade eine besonders brutale Zunahme der Massenarbeitslosigkeit vollzieht, darf die herrschende Klasse den Eindruck erst gar nicht aufkommen lassen, dass es im heutigen Kapitalismus gar keine Lösung für die Erwerbslosigkeit gibt. Sie muss alles tun, um den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Sie muss so tun, als ob es eine andere Partei gäbe, die bessere Rezepte weiß, um dem Problem Heer zu werden.
Neuwahlen: Das gehört zur Antwort der Bourgeoisie auf die Gefahr, dass die Massenarbeitslosigkeit die Lohnabhängigen den Bankrott des Systems erkennen oder auch nur erahnen läßt. Denn das Wesen der kapitalistischen Lohnarbeit - welche sie von allen bisherigen Formen der Ausbeutung radikal unterscheidet - liegt darin, dass den Ausgebeuteten nur so lange ihre Lebensmittel gewährt werden, wie sie sich profitabel ausbeuten lassen. Die Lohnarbeiter werden nicht gewaltsam zur Arbeit gezwungen, sondern müssen sich selbst darum kümmern, einen Ausbeuter zu finden, damit sie überhaupt überleben können. Freilich: Die Bourgeoisie hat es im Verlauf des 20. Jahrhunderts  -angesichts einer immer mehr zum Dauerzustand werdenden Massenarbeitslosigkeit -verstanden, staatlich gelenkte Sicherungssysteme aufzubauen, um die aufkeimende Selbsterkenntnis der Lohnabhängigen über ihre Klassenlage auszulöschen. Aber heute sieht sich die Bourgeoisie unter dem Druck der Krise gezwungen, just zu der Zeit diese Sicherungssysteme immer massiver einzuschränken, wo die Arbeitslosigkeit immer massiver und dauerhafter wird. So droht die Krise, den Ausgebeuteten für die Realitäten der Klassengesellschaft die Augen wieder zu öffnen.
Jedoch darf man nicht übersehen, dass die Ausbeuter mit ihrem Wahlmanöver wertvolle Zeit gewinnen, um das aufkeimende Klassenbewusstsein der anderen Hauptklasse der kapitalistischen Gesellschaft unter Beschuss zu nehmen. Sollte wider Erwarten Rot-Grün doch wieder gewählt werden, wird man immerhin behaupten können, die Bevölkerungsmehrheit habe die Notwendigkeit der Reformen "eingestanden". Sollte die Regierung abgewählt werden, so kann zunächst für ein Abwarten plädiert werden, damit die "konsequenteren" Reformen der neuen Regierung "greifen". Und währenddessen könnte die Sozialdemokratie (SPD wie Gewerkschaften) - glaubwürdiger denn als Regierungspartei - die "Kapitalismusdebatte" Franz Münteferings aufgreifen und erneute Illusionen über eine Einschränkung der Arbeitslosigkeit mittels der staatlichen Einschränkung der "Globalisierung" (d.h. mittels einer Autarkiepolitik wie vor dem 2. Weltkrieg) verbreiten. Bis man aber soweit ist, kann man heute schon auf einen Oskar Lafontaine zurückgreifen, der ehemalige SPD-Vorsitzende, der sich derzeit bemüht, eine Wahlliste links von der SPD zustande zu bringen, dabei PDS und WASG auf ein Antiglobalisierungsbündnis einschwörend.

Die Demokratie als Hauptwaffe des Kapitals

Doch Neuwahlen bedeuten darüber hinaus das volle Ausspielen der Waffe der Demokratie gegen das Bewusstsein, aber auch gegen die Entwicklung der Kampfkraft und das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie weiß von der zunehmenden Unzufriedenheit der Arbeiter, Angestellten und Erwerbslosen. Sie weiß aber auch, dass die Lohnabhängigen - ohne ein klares Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Klasse; ohne Vertrauen in die eigene, lange nicht mehr zur Geltung gebrachte Kraft; erpressbar und oft eingeschüchtert noch durch das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit - erhebliche Schwierigkeiten haben, in den Kampf zu treten.
Da bietet die Bourgeoisie gerne die Wahlen als scheinbar wirkungsvollere und einfacher zu betretende Bühne an, um die Wut und Unzufriedenheit der Ausgebeuteten ausdrücken zu können. Anstatt Versammlungen abzuhalten, die Arbeit niederzulegen oder auf die Strasse zu gehen, sollen die Proletarier zur Wahlurne gehen, um dort der Regierung "eins auszuwischen:" So funktioniert die Demokratie: Die Regierung oder bestimmte Parteien fungieren als Blitzableiter, welche die Wut der Bevölkerung auf sich ziehen. Indem sie auf diese Weise "abgestraft" werden, wird ein unabhängiger Arbeiterkampf verhindert. Anstatt, dass aus Sorge und Empörung Klassenbewusstsein und Solidarität erwachsen, wird blinder Schadenfreude Vorschub geleistet, indem das Gefühl vermittelt wird, als ob so eine ‚Abstrafung' vorgenommen werde.  Anstatt die eigene Kraft als Klasse zu spüren, werden die Arbeiter in der Wahlkabine vereinzelt, wo sie sich als Staatsbürger fühlen und benehmen. Diese Funktion der ‚Abstrafung' erfüllte soeben in Frankreich das Referendum vom 29. Mai über die EU-Verfassung. Allein, das französische Referendum wurde keineswegs mit der Absicht angesetzt, eine solche Wirkung, die Arbeiter von ihrem Klassenterrain wegzulocken, zu erzielen. Dies wird vielmehr als angenehme Nebenwirkung sozusagen gerne mitgenommen. Die Ablehnung der Verfassung als Ergebnis des Referendums passt der französischen Bourgeoisie auch gar nicht in den Kram. In Deutschland hingegen, wo die Bourgeoisie in der Regel politisch organisierter und wirkungsvoller agiert, ist diese Wirkung gewollt. Die Herrschenden wollen uns glauben lassen, dass es uns was bringt, der SPD oder der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Doch die Demokratie als stärkstes Mittel der Bourgeoisie dient nicht zuletzt dazu, um mittels der periodischen Ablösung von Regierung und Opposition dafür zu sorgen, dass dieses "Abstrafen" die Interessen der Bourgeoisie, die Interessen des Staates keineswegs juckt. Wen betrifft es schon, wenn Schröder und Fischer abgewählt werden? Beiden ist ihr Platz in der Geschichte sicher, ihre Privilegien ebenso. Auch die Pensionen und Vorzüge des Fußvolks der SPD, der abgewählten Bundes- und Landtagsabgeordneten, sind gesichert. Denn ihre Politik der Verteidigung der Interessen einer winzigen Minderheit gegen die Interessen der lohnarbeitenden Bevölkerung werden von anderen, ebensolchen wie sie selbst, fortgesetzt. Außerdem kann es für die Arbeiterklasse nicht darum gehen, Personen oder Gruppen "abzustrafen", sondern die Wurzeln der eigenen Ausbeutung, die Ursachen des Leids und der Perspektivlosigkeit der gesamten Menschheit zu erkennen und zu überwinden. Nicht ein Kampf gegen Windmühlen, gegen einzelne Vertreter oder Symptome des Systems tut not, sondern ein bewusster Kampf gegen den Kapitalismus.                             31.5.05
 
 

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Massenarbeitslosigkeit: Wegbereiter des Faschismus oder Stachel der Revolution?

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Massenarbeitslosigkeit: Wegbereiter des Faschismus oder Stachel der Revolution?


Nachfolgend veröffentlichen wir, leicht gekürzt, das Einleitungsreferat zum Thema Massenarbeitslosigkeit, das am 7. Mai 2005 in Köln auf der öffentlichen Veranstaltung der IKS gehalten wurde.

Bis Anfang der 90er Jahre galt die Arbeitslosigkeit oftmals noch als das spezifische Problem von Branchen (Werft-, Stahl- und Textilindustrie), Regionen, Ländern oder wurde gar als selbstverschuldetes Ergebnis arbeitsunwilliger Menschen betrachtet. Doch heute, mit dem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit in den letzten 15 Jahren, wird immer mehr Menschen bewusst, dass das Problem der Arbeitslosigkeit beileibe kein marginales Problem ist. Selbst die offiziellen Arbeitslosenzahlen spiegeln dies deutlich wider. Im Februar 2005 verkündete die Bundesagentur für Arbeit den seit dem 2.Weltkrieg höchsten Stand der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik: Erstmals wurde nämlich wieder die 5-Millionen-Marke überschritten, doch damit nicht genug - in ihrem angeblichen Bemühen, "sich ehrlich zu machen", räumten die Behörden weit mehr Arbeitslose ein, als die offizielle Statistik ausweist. So ist die Rede von 6-7 oder gar 8 Millionen Menschen ohne Arbeit.
Es stellt sich nun die Frage, wie dieses Phänomen zu erklären ist. Handelt es sich hierbei um einen Ausdruck der sog. deutschen Krankheit oder sind die Arbeiter selbst Schuld, weil sie zu hohe Löhne erhalten? Ist die Arbeitslosigkeit genauso wie die Wirtschaftskrise eine vorübergehende Erscheinung, die sich wieder in Luft auflöst, sobald die Krise überwunden ist? Oder liegt es an den "profitgeilen, unpatriotischen" Unternehmern, die sich erdreisten, Beschäftigte zu entlassen, selbst wenn sie hohe Gewinne erzielt haben?
Ginge es nach den Gewerkschaften oder den Antiglobalisierern, dann wäre die Lösung dieses Problems ein Leichtes: Man gewähre den noch beschäftigten Arbeitern höhere Löhne, womit sie mehr konsumieren und damit die Binnennachfrage erhöhen könnten. Eine Nachfrage, die sich dann ummünzen ließe zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Unternehmer dagegen meinen, dass erst durch Lohnverzicht und unbezahlte Mehrarbeit der noch beschäftigten Arbeiter neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Tatsache, dass die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ständig mit neuen Konzepten zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit hausieren gehen, während derweil diese unaufhaltsam in schwindelnde Höhen steigt, zeigt letztlich nur eins: die Ratlosigkeit der Herrschenden.

Die Rolle der Arbeitslosigkeit im Kapitalismus

Um aber den angeblichen Erklärungen der Herrschenden und Linken nicht auf den Leim zu gehen, müssen wir das wirkliche Verhältnis zwischen Arbeitslosigkeit und Kapitalismus begreifen. Die Arbeitslosigkeit ist im Kapitalismus unabdingbar. Man kann sogar so weit gehen und sagen: ohne die Arbeitslosigkeit keinen gut funktionierenden Kapitalismus. Marx sprach im Kapital explizit davon, dass die industrielle Reservearmee eine "Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise ist." Wie kann das sein? Hier kann uns ein Vergleich des Kapitalismus mit den vorkapitalistischen Produktionsformen helfen. In der antiken Sklavengesellschaft oder in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft bestand in der Produktion die Tendenz, dass jeder so viel produzierte, bis er für sich und seine Familie genug zum Leben hatte; dann hörte er auf. Die Herrschenden in diesen vorkapitalistischen Epochen konnten also nur mittels der nackten Gewalt die Sklaven oder Leibeigenen zur Mehrarbeit zwingen. Darüber hinaus wurde der antike Sklave als ganze Person als Ware verkauft. Der ganze Mensch gehörte also dem Sklavenhalter. Wenn er möglichst viel von seinem Sklaven an Arbeit herauspressen wollte, dann musste er ihn aber auch mit dem Nötigsten zum Leben versorgen, also Nahrung und Obdach gewähren. Im Kapitalismus ist dies völlig anders. Erstens braucht der Kapitalist den Arbeiter nicht mit roher Gewalt zur Arbeit zwingen, obwohl der Grad der Ausbeutung und die Arbeitshetze auf einem viel höheren Niveau stattfinden. Wie kann das aber sein? Tatsächlich hat das kapitalistische System ein viel wirksameres Mittel, um den Arbeiter "freiwillig" mehr arbeiten zu lassen: die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit bedeutet nämlich eine ständige Konkurrenz unter den Arbeitern, die ja, um ihr Überleben zu sichern, gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit lässt die Arbeiter oft schlimme Arbeitsbedingungen hinnehmen, eben weil die Konkurrenz der Arbeitslosen allgegenwärtig ist. Der permanente Druck der Arbeitslosen senkt die Löhne auf ein Minimum herab. Daher darf, um das Funktionieren des Kapitalismus auf ökonomischer Ebene zu gewährleisten, nie die Situation eintreten, wo es keine Arbeitslosigkeit gibt, denn sonst gäbe es kein Erpressungsmittel, um die Arbeiterklasse zur Mehrarbeit zu zwingen.
Zweitens kauft der Kapitalist bei der Einstellung eines Arbeiters nicht mehr einen ganzen Menschen, wie in der Sklavengesellschaft, sondern nur noch dessen Arbeitskraft, und diese auch nur für eine bestimmte Zeit. Sobald der Unternehmer den Arbeiter nicht mehr braucht, entlässt er diesen. "Die nichtbeschäftigten Arbeiter kriegen als solchen keinen Lohn, ihre Arbeitskraft wird ja nicht gekauft, sie liegt nur auf Lager; die Nichtkonsumption eines Teils der Arbeiterklasse gehört also als wesentlicher Bestandteil zum Lohngesetz der kapitalistischen Produktion. Wie diese Arbeitslosen ihr Leben fristen, geht das Kapital nichts an ..." (Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Ges. Werke, Bd. 5, S. 751f). Somit aber ist der Kapitalismus die schlimmste Form der Knechtschaft, da man nur Mittel zum Überleben hat, solange man im Produktionsprozess gebraucht wird.
Mit anderen Worten: Die Arbeitslosigkeit ist im Kapitalismus unabdingbar, weil die Kapitalisten ohne die permanente Arbeitslosigkeit die Arbeiter nicht wirksam dazu bringen könnten, so viel zu arbeiten. Hier könnte der Einwand erhoben werden, dass man doch lediglich zurück zur Gewalt greifen müsse, wie in der antiken Sklavengesellschaft, um die Arbeiter zur Arbeit zu zwingen. Doch dies geht eben genau nicht. Das Grundproblem mit den Sklaven war ja eben, dass diese ihre Arbeit hassten. Daher konnte man ihnen nur primitive Arbeitsinstrumente geben und sehr schnell arbeiteten sie deshalb auch nicht. Der Kapitalismus aber produziert für einen weltweiten Markt und funktioniert nach dem anarchischen Prinzip der Konkurrenz. Hier muss die Produktion im höchsten Maße effektiv und produktiv sein, hier braucht man also Arbeiter, die, um das eigene Dasein zu gewährleisten, scheinbar freiwillig Mehrarbeit leisten. Schließlich bildet die Mehrarbeit der Arbeiterklasse die Grundlage des Profits der Kapitalisten. Wie wenig produktiv und konkurrenzfähig im Kapitalismus die mit Gewalt erzwungene Mehrarbeit ist, zeigt der Niedergang und schließliche Untergang der stalinistischen Spielart des Kapitalismus. .
Um in Konkurrenz mit den anderen Kapitalisten überleben zu können, muss der einzelne Kapitalist danach trachten, so billig und effektiv wie möglich zu produzieren. Das heißt, er ist darüber hinaus gezwungen, den Anteil der Maschinen und Anlagen (d.h. das konstante Kapital) ständig  zu Ungunsten des Anteils der menschlichen Arbeitskraft (sprich: des variablen Kapitals) zu vergrößern. Die Konsequenz daraus ist, dass der Kapitalist permanent darum bemüht sein muss, die Kosten für das variable Kapital zu drücken, sei es durch die Verlängerung des Arbeitstages, sei es durch die Kürzung des Lohnes oder, in letzter Konsequenz, durch die Entlassung von überflüssigen Arbeitskräften. Oder kurz gesagt, durch den tendenziellen Fall der Profitrate werden ständig Arbeiter im Produktionsprozess überflüssig, was somit ein weiterer entscheidender Grund für die Arbeitslosigkeit ist.
Obwohl aber ständig überflüssig gewordene Arbeitskräfte entlassen und in das Elend der Arbeitslosigkeit gestoßen werden, hat der Kapitalismus noch immer die Tendenz, mit Gewalt neue Arbeitskräfte aus nicht-kapitalistischen Gebieten von ihrem Land bzw. von ihrem Handwerk zu trennen, weil diese billiger sind. So strömen Millionen von mittellos gewordenen Bauern auf der Suche nach Arbeit in die Metropolen der 3.Welt, da ihnen nichts als der Verkauf ihrer Arbeitskraft geblieben ist. Somit wird auf weltweiter Ebene der Druck von Arbeitssuchenden auf die Beschäftigten noch weiter erhöht.
Auf den diesjährigen 1.Mai-Demonstrationen kamen zahlreiche politisch Interessierte, um die IKS-Presse zu kaufen. Oftmals ergab sich wegen des Titels zur Massenarbeitslosigkeit die Diskussion, wieso das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit heute eine Bankrotterklärung des Kapitalismus sein sollte, wo es doch auch im 19.Jh. Arbeitslosigkeit gegeben habe. Natürlich gab es auch in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus Arbeitslosigkeit. Doch der Kapitalismus im 19. Jahrhundert war in der Lage, durch die Eroberung neuer, außerkapitalistischer Märkte nicht nur die Entstehung einer Massenarbeitslosigkeit daheim zu vermeiden, sondern im Gegenteil immer mehr Schichten der Bevölkerung im In- und Ausland in den kapitalistischen Produktionsprozess zu integrieren. Darüber hinaus gab es damals noch ein Ventil, um die hiesigen überflüssigen Arbeitskräfte zu absorbieren, nämlich die Migration von Millionen von Arbeitern in die aufstrebenden neuen kapitalistischen Nationen in Nordamerika oder Australien.

Arbeitslosigkeit und Niedergang des Kapitalismus

Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase jedoch fielen diese Möglichkeiten schrittweise weg. Der Kapitalismus hat mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts seine Grenzen erreicht. Die Krisen, von denen der Kapitalismus von nun an erschüttert wurde, waren keine Wachstumskrisen mehr, an deren Ende ein erhöhter Bedarf an Arbeitskräften stand, sondern sie waren ein Ausdruck der Unfähigkeit des dekadenten Kapitalismus, ausreichend neue Märkte zu schaffen. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert kann der einzelne Kapitalist seine Märkte nur noch auf Kosten der Konkurrenz erweitern. Und dies heißt letztendlich, dass er gezwungen ist, den Anteil des variablen Kapitals noch weiter zu reduzieren.  
Mit anderen Worten: Die historisch fortschrittliche Rolle, die der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase durch die Einbindung von immer mehr Bevölkerungsteilen in die gesellschaftlich assoziierte Arbeit gespielt hat, hat er nun weitgehend verloren. Denn mit der Verschärfung der Überproduktionskrise werden immer mehr Teile der arbeitenden Bevölkerung aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen. Die Massenarbeitslosigkeit ist bereits im 20. Jahrhundert immer mehr zu einem permanenten Phänomen geworden. So ist also jeder Versuch, das Problem der Arbeitslosigkeit innerhalb der Logik des kapitalistischen Systems zu lösen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Weder die Verteuerung der Arbeitskraft, wie von den Basisgewerkschaftlern und Linksextremisten gefordert, noch ihre Verbilligung, wie es die Unternehmer wünschen, ist geeignet, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu weisen. Die Arbeitslosigkeit ist eine wesentliche Existenzbedingung des Kapitalismus, und wenn die Arbeiterklasse gegen die Arbeitslosigkeit ankämpfen will, so kann sie dies nur, indem sie dem Kapitalismus als Ganzem den Kampf ansagt.

Massenarbeitslosigkeit und Klassenkampf

Die Frage, die im Raum steht, ist, wie sich die Massenarbeitslosigkeit im dekadenten Kapitalismus auf den Klassenkampf des Proletariats ausgewirkt hat. War die Massenarbeitslosigkeit in den 30er Jahren ein Wegbereiter des Faschismus in Deutschland und Italien? Sicherlich war die Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit durch Autobahnbau und Ausweitung der Rüstungsindustrie ein wichtiger Faktor, um die Arbeiterklasse für den Krieg mobilisieren zu können. Doch der Hauptgrund und entscheidende Unterschied zu heute war: Die Arbeiterklasse war in den 30er Jahren eine geschlagene und enthauptete Klasse, deren revolutionäres Aufbegehren in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg gerade in Deutschland eine besonders heftige Reaktion der Bourgeoisie in Gestalt des Nationalsozialismus nach sich zog. Und dennoch war das Hitler-Regime aus Angst vor einem neuen November 1918 darauf bedacht, vorbeugend die so genannte staatliche Wohlfahrt auszubauen. Zunächst gilt es also festzuhalten, dass solche "sozialstaatlichen" Maßnahmen wie die Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe rein politischer Natur sind. Es ist der bürgerliche Staat, der als Vertreter der Gesamtinteressen des Kapitals über Jahrzehnte aus Gründen des "sozialen Friedens" diese überflüssig gewordenen Arbeitskräfte durch soziale Alimentierung ruhig stellte.
Mittlerweile hat jedoch die Weltwirtschaftskrise ein solches Ausmaß erreicht, dass es dem bürgerlichen Staat immer unmöglicher wird, den riesigen sozialstaatlichen Apparat weiterhin aufrechtzuerhalten. Denn die Notwendigkeit, angesichts eines sich verschärfenden Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt immer billiger zu produzieren, wird durch die Tatsache konterkariert, dass die sozialstaatlichen Ausgaben einen erheblichen Effekt auf die Lohnnebenkosten haben, d.h. die Kosten für das variable Kapital in die Höhe treiben. Somit ist der Staat immer weniger in der Lage, sich den Klassenfrieden mittels der Wohlfahrt zu erkaufen. Dieser Abbau des Wohlfahrtsstaates bedeutet jedoch sozialen Sprengstoff. Denn mit den massiven Angriffen auf die beschäftigten wie nichtbeschäftigten Arbeiter werden die Illusionen ins System peu à peu untergraben.
Doch zunächst macht sich angesichts der massiven Arbeitslosigkeit allgemeine Perspektivlosigkeit unter den Arbeitern breit. Schließlich macht es nur begrenzt Sinn für die Arbeiter eines ohnehin von der Schließung bedrohten Betriebes, in den Ausstand zu treten. Da ein solcher Streik als Mittel der Einschüchterung des Kapitalisten viel von seiner Wirksamkeit verliert, stellt sich für die Arbeiter die Frage, wie man sich wehren soll. Es darf nicht mehr bei solchen Kampfformen der Arbeiter wie lokalen und ökonomischen Streiks bleiben. Angesichts der Tiefe der Krise scheuen viele Arbeiter noch davor zurück, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen, da die Aufgabe, vor der die Klasse steht, so gewaltig ist. Die heute vorherrschende Perspektivlosigkeit wirkt sich vorerst lähmend auf den Widerstand der Arbeiter aus. Doch je offensichtlicher die Unfähigkeit der Herrschenden wird, das Problem der Arbeitslosigkeit und der Krise insgesamt einzudämmen, desto stärker werden die Arbeiter gezwungen, grundsätzlich über eine Alternative außerhalb des Kapitalismus nachzudenken. Die praktische Konsequenz daraus wird sein, dass die Arbeiter die politische Dimension ihres Kampfes bejahen. Eine politische Dimension, die in den Kämpfen der Klasse in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu schwach entwickelt war.
Anders als in den Jahrzehnten nach 1968, als die Arbeitslosigkeit vielen Arbeitern noch als selbstverschuldetes persönliches Problem galt, ist die Massenarbeitslosigkeit mittlerweile so weit gediehen, dass sich heute das Bewusstsein unter den Arbeitern verbreitet, dass wir alle im gleichen Boot sitzen - dass Jeder von uns der Nächste sein könnte! Mehr denn je stellt sich die Frage der Klassensolidarität zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Diese Klassensolidarität ist es, die die Bourgeoisie wie der Teufel das Weihwasser fürchtet.

Das Paradoxe an der modernen Arbeitslosigkeit

Das Referat ist bereits darauf eingegangen, dass der Kapitalismus auf ökonomischer Ebene nicht reibungslos ohne die Arbeitslosigkeit funktionieren kann, da man ohne die Arbeitslosigkeit das Proletariat sonst nur durch Gewalt zur Mehrarbeit zwingen kann, was deutlich weniger produktiv ist. Daher ist die Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus ein unersetzliches Lebenselixier. Doch das Paradoxe an der Situation heute ist, dass die Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus einerseits wie eh und je die Rolle übernimmt, die Verelendung des Proletariats durchzusetzen, andererseits aber auf Grund politischer Erwägungen eine finanzielle Unterstützung der Erwerbslosen erforderlich macht, welche die Ware Arbeitskraft nicht verbilligt (wie dies bei der klassischen Reservearmee der Fall wäre), sondern verteuert. Das ist der Preis (ca. 100 Milliarden Euro im jährlichen Staatshaushalt), welche z.B. die deutsche Bourgeoisie in den letzten Jahren bezahlen musste, um den sogenannten sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Das Dramatische an der historischen Situation heute liegt darin, dass die Bourgeoisie auf Grund des Drucks der Zuspitzung der Krise diese Maßnahmen immer weniger zu leisten imstande ist und somit gezwungen ist, selbst die Axt anzulegen an seinem hochgelobten sogenannten sozialen Frieden. Damit aber nähern sie sich unaufhaltsam politisch einer Grenze, an der das Elend für das Proletariat so allgemein und so unerträglich wird, dass die Arbeiter dem kapitalistischen System mit massivem Klassenkampf, dem Bürgerkrieg, antworten werden. Hier liegt der wahre Zündstoff der Frage der Massenarbeitslosigkeit. Anders als in den 30er Jahren ist die heutige Generation der Arbeiterklasse noch ungeschlagen. Und anders als in den 30er Jahren ist die Bourgeoisie heute nicht mehr in der Lage, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Anstatt wie damals mit dem Ausbau des Sozialstaates auf die politische Gefahr der Arbeitslosigkeit zu antworten, sieht die herrschende Klasse sich gezwungen, mit dem Abbau eben dieser Sozialleistungen zu reagieren. Somit kann die Unmöglichkeit, dieses Problem innerhalb des Kapitalismus zu lösen, zu einer Infragestellung des ganzen Systems führen und damit eine revolutionäre Perspektive für die Beschäftigten wie Arbeitslosen eröffnen, vereint und solidarisch zu kämpfen.
Von daher kann man sagen, dass die Massenarbeitslosigkeit heute noch wie ein Alptraum auf der gesamten Arbeiterklasse lastet, doch sollte es der Arbeiterklasse gelingen, den immer deutlicher werdenden Bankrott des gesamten Systems zu erkennen und eine eigenständige Klassenperspektive zu entwickeln, dann wird das Pulverfass der Massenarbeitslosigkeit zum Alptraum für die Bourgeoisie.
 

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [16]

Münteferings "Kapitalismusdebatte"

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Münteferings “Kapitalismusdebatte”: Nicht der “böse” Kapitalist, das kapitalistische System ist die “Plage”

Münteferings "Anti-Kapitalismus"-Tiraden, die er Mitte April gegen die "international forcierten Profitmaximierungsstrategien" und gegen die "Heuschreckenschwärme" der Finanzmärkte richtete, haben viel Staub aufgewirbelt. Dabei ist er auf ein geteiltes Echo gestoßen. Während aus dem Unternehmerlager und der Finanzwelt heftige Kritik kam, teilten Regierung, Gewerkschaften und - da und dort - auch die Opposition seine "Kritik". Vor allem aber stießen seine rhetorischen Attacken in der Bevölkerung auf offene Ohren: In Meinungsumfragen bekundeten mehr als 70% der Befragten ihre Zustimmung. Was ist von dem ganzen Theater zu halten? Ist die SPD, deren Vorsitzender er ist und die für die schlimmsten Angriffe gegen die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten mitverantwortlich ist, nun etwa im Begriff, vom Saulus zum Paulus zu werden? Oder handelt es sich hier um ganz banale wahlkampf- bzw. parteitaktische Gründe?

"Anti-Kapitalismus" gegen Klassenbewusstsein

Um sich ein Bild von den Hintergründen dieser Kampagne machen zu können, ist es notwendig, einen Blick zurückzuwerfen. Wie wir in dem Editorial dieser Zeitung bereits dargelegt haben, sind die nach 1989 ausgelösten Illusionen über den endgültigen Sieg des Kapitalismus und über das Verschwinden des Klassenkampfes der rauhen Wirklichkeit der sich zuspitzenden kapitalistischen Krise gewichen. Dass dies nicht ohne Spuren in der Arbeiterklasse bleibt, liegt auf der Hand. In der Tat geht mit diesen Angriffen auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse eine allmähliche Desillusionierung derselben über die Perspektiven einher, die ihr der Kapitalismus anbietet. Vorbei sind die Illusionen, dass die Arbeitslosigkeit ein Problem bestimmter Branchen und Regionen oder gar selbst verschuldet ist (s. dazu auch den Artikel über die Massenarbeitslosigkeit in dieser Ausgabe). Und auch die Hoffnung, nach einem Leben voller Plackerei wenigstens in einen auskömmlichen Ruhestand zu treten,  zerplatzt wie eine Seifenblase. Dieser Prozess des Verlustes der Illusionen über ein Auskommen in der kapitalistischen Gesellschaft wirkt wie ein Katalysator für das unter der Oberfläche heranreifende Klassenbewusstsein. Denn hat die Arbeiterklasse erst einmal ihr Vertrauen in den Kapitalismus verloren, wird sie sich, angeführt von ihren revolutionären Minderheiten, auf ihre eigenen Stärken und Perspektiven besinnen müssen. Angesichts dieser brisanten Mixtur aus dem Reputationsverlust des Kapitalismus einerseits und einem ganz allmählich wiedererwachenden Klassenbewusstsein andererseits schickt die Bourgeoisie nun ihr bestes Pferd ins Rennen - die SPD. Keine andere bürgerliche Partei kann auf eine derart lange Erfahrung darin, "dem Volk aufs Maul zu schauen", zurückblicken wie die Sozialdemokraten. Ihr Gesellenstück haben sie bei der Niederschlagung der deutschen Revolution 1918-23 abgelegt, als sie es verstanden, die revolutionären Kämpfe in Deutschland abzuwürgen. Und so wie damals die Mehrheitssozialdemokraten  mit Erfolg danach strebten, sich an die Spitze der revolutionären Erhebung zu stellen, um sie auszuhöhlen und ins Leere laufen zu lassen, so versucht auch heute die SPD mit ihrer aktuellen anti-kapitalistischen Terminologie, die wachsende, aber immer noch diffuse Kritik in der Klasse gegen den Kapitalismus für sich vereinnahmen und zu entschärfen.

In ihrem Bemühen, die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse über die Ausweglosigkeit des Kapitalismus als solchen zu verhindern, greift die SPD zusehends auf das Programm der Antiglobalisierungsbewegung zurück. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Es war die europäische Sozialdemokratie, die - mit ihrem französischen Organ Le Monde Diplomatique als Geburtshelfer - der Antiglobalisierungsbewegung ans Tageslicht verhalf und ihr seitdem auch finanziell zur Seite stand (1). Dass sich zumindest die führenden Kreise der SPD bisher zurückhaltend gegenüber dieser Bewegung verhalten hatten, lässt sich mit ihrer Sorge erklären, nicht zur Unzeit ihr Pulver zu verschießen. Dass aber nun die Klassen übergreifende Ideologie der Antiglobalisierer zunehmend auch Einzug in die offizielle Politik der SPD hält, lässt erahnen, wie ernst die Bourgeoisie das derzeitige Rumoren in der Arbeiterklasse mittlerweile nimmt.

Antiglobalisierung im Fokus von Imperialismus und Nationalstaat

Die Hinwendung von Müntefering & Co. zur Antiglobalisierung besitzt jedoch noch weitere Facetten. Die Antiglobalisierungsbewegung ist nicht nur ein Instrument der Herrschenden gegen das aufkeimende Klassenbewusstsein; sie ist darüber hinaus ein immer wichtigeres Vehikel zum Transport eigener imperialistischer Interessen. Denn als Produkt bestimmter europäischer Bourgeoisien besitzt die Ideologie der Antiglobalisierung einen deutlich anti-amerikanischen Touch. Sie ist die Antwort auf die besonders vom US-Imperialismus propagierte Ideologie der Globalisierung, d.h. des "freien Handels" über alle Grenzen hinweg, des Neoliberalismus und des "schlanken Staats".
   Nicht dass das europäische Kapital grundsätzlich gegen die Globalisierung ist - nichts wäre abwegiger. Wie Marx und Engels bereits 1848 im "Kommunistischen Manifest" festgestellt hatten, ist die globale Ausweitung des Kapitals ein Lebensprinzip des Kapitalismus, gleich welcher Couleur. Auch geht es ihm nicht darum, das internationale Handels- und Finanzsystem prinzipiell in Frage zu stellen, dessen Hauptnutznießer die USA sind, da ihr riesiger Markt Hauptanziehungspunkt von internationalem Kapital ist - Kapital, das die US-Bourgeoisie dazu benutzt, ihre gigantische Kriegswirtschaft zu finanzieren.
   Es sind lediglich bestimmte Aspekte in der aktuellen Globalisierungswelle, die den Herrschenden im "alten Europa" nicht in den Kram passen, weil diese derzeit mehr den USA als den europäischen Staaten zugute kommen. Auch möchten sie gerne einen Teil der internationalen Kapitalströme, die zum Großteil nach Amerika fließen, nach Europa abzweigen.
Während allen Orts über den drohenden oder vermeintlichen Ausverkaufs "deutscher Interessen" geredet wird, stimmen Müntefering und, mit ihm, die SPD nun verstärkt in das Loblied der Antiglobalisierung mit ein, dessen Refrain lautet: Für einen "sozialen" Kapitalismus, gegen Neoliberalismus und Shareholder Value! Als hätte es in den letzten Jahren keinen Abbau des sog. Wohlfahrtsstaates gegeben, tönen sie nun plötzlich wieder über die angeblichen Vorzüge des "rheinischen Kapitalismus" gegenüber dem schrankenlosen "Manchesterkapitalismus" der USA, preisen sein "sozialpartnerschaftliches" Prinzip im Gegensatz zum "Hire and fire" in den Vereinigten Staaten und plädieren für die "gestalterische Kraft" des Staates, denn: "Die Staatsskepsis ist ein Irrweg" (Müntefering).
   Hinter diesen Beschwörungsformeln, die einzig den Zweck haben, die Bevölkerung ideologisch an den eigenen Nationalstaat zu binden, steckt eine - aus der Sicht der Herrschenden hierzulande - berechtigte Sorge. Wie wir bereits in unserem Artikel "Beschäftigungspakte: Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse" (2) ausgeführt haben, könnte der Handlungsspielraum eines  Nationalstaates durch eine unbeschränkte Fortsetzung der Tendenz der Verlagerung der Produktionsstätten ins Ausland auf Dauer ernsthaft beeinträchtigt werden, da eine solche Auslagerung "die Finanzquellen des Staates untergraben und damit seine politische und militärische, sprich seine imperialistische Handlungsfähigkeit gefährden" würde. Gleiches gilt für das Treiben der internationalen Finanzfonds.
Einerseits muss das deutsche Kapital dafür sorgen, dass mehr ausländisches Kapital ins Land gelockt wird. Dabei muss es andererseits aber darauf achten, dass infolgedessen Schlüsselbereiche der deutschen Wirtschaft nicht unter ausländische Kontrolle geraten, wie z.B. Deutsche Bank, Volkswagen oder die Frankfurter Börse.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, ist dem deutschen Staat fast jedes Mittel recht. Dabei kann er sich wie stets auf die Sozialdemokratie als treue Stütze des staatskapitalistischen Regimes verlassen. So wie die Gewerkschaften die Beschäftigten zahlreicher Betriebe zu unbezahlter Mehrarbeit pressten, um den Exodus deutscher Firmen ins Ausland zu bremsen, ohne größeren Widerstand zu provozieren (siehe o.g. Artikel), so ruft heute die SPD nach dem Gesetzgeber, um z. B. dem Wirken der Hedgefonds Einhalt zu gebieten.

Anti-Kapitalismus und Antiglobalisierung - ein Kampf gegen die Symptome, nicht gegen die Ursachen

Ob Anti-Kapitalismus-Tiraden à la Müntefering oder die ihnen Pate stehende Antiglobalisierungsbewegung - beide verfolgen den Zweck, die Arbeiterklasse in ihrem Widerstand gegen die immer massiveren Angriffe auf die falsche Fährte zu schicken. Sie leugnen den Klassenkampf und propagieren den Klassen übergreifenden Widerstand gegen die Multis. Sie rufen nach dem starken Staat und versprechen, mit Gesetzen und Steuern (Tobin-Steuer) das Problem aus dem Weg zu räumen. Sie prangern die "unpatriotischen" Spitzenmanager und die nimmersatten Finanzfonds an und rühmen den bodenständigen Mittelstand. Kurz: Sie doktern an den Symptomen eines todkranken Systems herum, das nicht mehr therapierbar ist.
   Weder die "kaltherzigen" Manager noch die renditegeilen Investmentfonds sind der Kern des Problems. Wie Engels sagt, beherrscht nicht der Kapitalist das Produkt, sondern umgekehrt das Produkt den Kapitalisten. Er ist nur Getriebener, Gefangener der Logik der kapitalistischen Produktionsweise, die kurz und bündig heißt: Wachse oder stirb! Dieselbe Logik, die in der Aufstiegsperiode des Kapitalismus dazu führte, dass Abermillionen von Menschen in die gesellschaftliche Arbeit der kapitalistischen Warenproduktion integriert wurden, hat sich im Zeitalter des dekadenten Kapitalismus in ihr Gegenteil verkehrt. Um in der unerbittlichen Konkurrenz auf einem gesättigten Weltmarkt zu überleben, muss - bei Strafe des eigenen Ruins - der einzelne Kapitalist, ob Großbanker oder mittelständischer Unternehmer, den Faktor Arbeit verbilligen, sei es durch eine Steigerung der Ausbeutung oder durch die Verlagerung bzw. Vernichtung von Arbeitsplätzen.
   Dieser Logik kann man nicht durch die Anprangerung "seelenloser" oder "unpatriotischer" Manager oder durch die Stärkung des ideellen Gesamtkapitalisten, des Staates, begegnen. Sie kann nur durchbrochen werden, indem der Kapitalismus an sich, als Produktionsweise abgeschafft wird.
                                                     16.5.2005
(1) Siehe auch unseren Artikel "Nur eine andere Welt ist möglich: Der Kommunismus!" in der Internationalen Revue, Nr. 33, Mai 2004. 
(2) Weltrevolution, Nr. 128, Febr./März 2005
 
 

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