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Weltrevolution - 2000

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Weltrevolution Nr. 102

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Das Erbe des Bolschewismus und des Linkskommunismus

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 Im Juni lud die Gruppe Aufbrechen zu einem Wochenende der öffentlichen Debatten nach Berlin ein. Das von den Genossen vorgeschlagene Thema war die Frage des „Leninismus“ und damit verbunden eine Bilanz der Russischen Revolution. Nach Ansicht der Genossen von Aufbrechen können weder das historische Beispiel der Bolschewiki noch die theoretische Arbeit Lenins heute als Leitbild für die Arbeit einer neuen Generation von revolutionären Marxisten dienen. Das Einladungsschreiben der Aufbrechen-Genossen bezieht sich ausdrücklich auf die Kommunistische Linke als Alternative zu Lenin und zu den Bolschewiki und als geeigneter Ausgangspunkt einer kritischen Wiederaneignung der Theorie und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Das Einladungsschreiben unterscheidet dabei zwischen zwei Hauptrichtungen innerhalb der Kommunistischen Linken, zwischen der italienischen Linken, welche vor allem die Bedeutung der Klassenpartei für den Sieg der proletarischen Revolution betonte, und der deutsch-holländischen Linken, welche mehr die entscheidende Bedeutung der Arbeiterräte als revolutionäre Machtorgane des Proletariats betonte.

Aufbrechen und die „rätistischen“ Thesen Helmut Wagners

Bereits dieses Schreiben machte deutlich, dass die Aufbrechen-Genossen sich selbst mehr in der Tradition der deutsch-holländischen Linken sehen. Dies machte das Einleitungsreferat der Genossen auf der Veranstaltung selbst erneut deutlich. Vor allem die Analyse der Russischen Revolution weist deutliche Ähnlichkeiten mit den rätekommunistischen „Thesen über den Bolschewismus“ auf, welche Helmut Wagner in den 30er Jahren veröffentlichte, und die später von bedeutenden marxistischen Theoretikern wie Anton Pannekoek mehr oder weniger unkritisch übernommen wurden. Die Kernidee dieser Thesen ist, dass aufgrund der Rückständigkeit Russlands 1917 im wesentlichen eine bürgerliche, antifeudale Revolution auf der Tagesordnung stand, und dass infolge der Schwächen der eigentlichen Bourgeoisie in Russland diese Revolution durch eine intellektuelle Kaderpartei - sprich durch die Bolschewiki - durchgeführt werden musste. In der Nachfolge Wagners suchte Pannekoek in seinem Buch „Lenin als Philosoph“ den Beweis dafür, dass Lenin kein proletarischer, sondern im wesentlichen ein bürgerlicher Revolutionär war, in den philosophischen Schwächen des Buches „Materialismus und Empiriokritizismus“. Dieser Auffassung zufolge, welche Aufbrechen sich zu eigen macht, waren die antiproletarischen Maßnahmen, welche die russische Staatsmacht nach 1917 unter bolschewistischer Leitung ergriff - von der schleichenden Entmachtung der Arbeiterräte und der Militarisierung der Arbeit bis hin zur blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes von 1921 - die logische Folge einer bürgerlichen, staatskapitalistischen Revolutionsauffassung. So gesehen ist es nur logisch, wenn die Genossen diese Tradition als Beispiel für proletarische Revolutionäre heute verwerfen wollen.

Sowohl das Einladungsschreiben als auch das Einleitungsreferat können von der Adresse der Aufbrechen-Redaktion angefordert werden.

Vielleicht aus der Sorge heraus, dass auch die Auffassung des „italienischen“ Linkskommunismus zu Lenin und zur Russischen Revolution bei der Veranstaltung ausreichend dargestellt werden sollte, wurde das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) eingeladen. Das Büro konnte ein zweites Einleitungsreferat halten. Vertreter der beiden Hauptbestandteile des IBRP, Battaglia Comunista (Italien) und Communist Workers Organisation (Großbritannien) hatten ihre Teilnahme zugesagt. Da aber der Vertreter von Battaglia krankheitsbedingt verhindert wurde, vertrat der Genosse der CWO die Auffassungen dieser gesamten Strömung auf der Veranstaltung. Er verteidigte den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution in Russland sowie den bedeutenden Beitrag zum Marxismus und zum historischen Befreiungskampfes der Arbeiterklasse, welchen Lenin und die Bolschewiki geleistet haben. Der Genosse kritisierte die Herangehensweise des Aufbrechen-Referates als ahistorisch und idealistisch. So gäbe es nicht einen über der Geschichte schwebenden Lenin, sondern verschiedene Lenins, entsprechend der verschiedenen Phasen des Klassenkampfes, die er durchlebte, und entsprechend des sich dabei verändernden Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Russische Revolution habe gezeigt, dass die Arbeiterklasse die Revolution machen kann. Heute gehe es darum, nicht Lenin die Schuld für den Verlauf der Weltgeschichte zu geben, sondern die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen. Zu diesen Lehren gehört es nach Auffassung der CWO, dass sich die Klassenpartei nicht um jeden Preis an der Macht festklammern darf, sondern bereit sein muss, in die Opposition zu gehen und die Räte gegen den Staat zu verteidigen.

Die Verteidigung der Oktoberrevolution

Es war ein besonderes Anliegen der IKS auf dieser Veranstaltung, den proletarischen Charakter der Russischen Revolution und der Bolschewistischen Partei zu verteidigen. In diesem Sinne richteten wir einige Fragen an die Genossen von Aufbrechen. So wollten wir wissen, wie die Genossen es erklären können, weshalb die Bolschewiki und mit ihnen Lenin, obwohl sie laut Aufbrechen bürgerliche Revolutionäre waren, gegenüber den entscheidenden Fragen der Geschichte an der Spitze des proletarischen revolutionären Kampfes gestanden haben. Wir gaben drei Beispiele:

- Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg

Bereits auf dem Stuttgarter Kongress der 2. Internationalen 1907 waren es im wesentlichen Lenin und Rosa Luxemburg, welche die proletarische Position gegen den herannahenden Weltkrieg gemeinsam formulierten. Und während des Weltkrieges nahm Lenin die entschiedenste, kompromissloseste Position aller Revolutionäre ein.

- Der Kampf für eine neue, kommunistische Internationale

Auch hier bildeten die Bolschewiki den wichtigsten Pol des Widerstandes gegen den Verrat der Arbeiterparteien und der Umgruppierung für eine neue Internationale, um den herum sich alle künftigen Vertreter des Linkskommunismus scharten.

- Der Kampf für eine proletarische Weltrevolution.

Während Aufbrechen die Russische Revolution im wesentlichen als Antwort auf ein national beschränktes Problem - auf die Rückständigkeit Russlands - auffasst, sahen die Bolschewiki selbst den Roten Oktober als Auftakt zur proletarischen Weltrevolution. Auch hier waren sie der konsequenteste Vertreter des proletarischen Internationalismus. Somit war es kein Zufall, dass Trotzki in seinem Kampf gegen Stalins konterrevolutionäre Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ sich zum bedeutenden Teil auf Schriften Lenins stützen konnte.

Unserer Meinung nach haben die Genossen von Aufbrechen diese Frage nicht befriedigend beantworten können. Sie bestritten nicht die Gültigkeit der Beispiele, die wir anführten, sondern machen geltend, dass die Bolschewiki zu verschiedenen Zeitpunkten der politische Ausdruck von unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft sein konnten. Diese Argumentation scheint uns wenig marxistisch zu sein. In einer Klassengesellschaft ist eine politische Organisation immer der Ausdruck der Interessen einer bestimmten Klasse der Gesellschaft. Eine proletarische Organisation kann verraten und auf die Seite der Bourgeoisie überwechseln, was mit den Parteien der 2. und später auch der 3. Internationalen (einschließlich der russischen Partei) auch geschah. Aber dann ist diese Partei für das Proletariat für immer verlorengegangen. Aber eine Partei kann nicht mal eine und mal eine andere Klasse der Gesellschaft vertreten. Wenn ein solches Wunder möglich wäre, könnte man genauso gut hoffen, dass die SPD plötzlich wieder die Interessen der Arbeiterklasse wahrzunehmen beginnen könnte - eine Illusion, welche der Trotzkismus täglich von neuem zu verbreiten versucht. Etwas anderes wäre es zu sagen, eine proletarische Partei kann unter dem Einfluss der Ideologie fremder Klassen Fehler begehen und sogar degenerieren und am Ende verraten. Und genau dies ist nach unserer Überzeugung mit den Bolschewiki auf dem tragischen Hintergrund der Isolation der russischen Revolution und des Sieges der weltweiten Konterrevolution auch geschehen. Weil die Genossen die Augen vor dieser gigantischen historischen Tragödie verschließen, befassen sie sich auch nicht mit den Lehren, welche die Kommunistische Linke aus den Fehlern von Lenin und der Bolschewiki gezogen haben. Schlimmer noch: als Genossen, welche sich immer noch nicht vollständig vom Erbe des „Marxismus-Leninismus“ sprich des Stalinismus gelöst haben, laufen sie Gefahr, mit ihrer Vorstellung von einer bürgerlichen Revolution in Russland, Tür und Tor zu öffnen für die Idee, dass der Stalinismus ein revolutionäres, fortschrittliches (wenn auch bürgerliches) Phänomen war. Keine gute Voraussetzung, meinen wir, um den zutiefst konterrevolutionären Charakter des Stalinismus wirklich zu verstehen.

Die Notwendigkeit einer offenen und ehrlichen Debatte

Weil der Vertreter von Battaglia fehlte, schlug ein Genosse der ex-GIK aus Österreich (der sich als Sympathisant des IBRP bezeichnete) vor, an seiner Stelle eine kurze Darstellung der Geschichte des italienischen Linkskommunismus zu geben.

Wir denken, es lohnt sich, die Rolle dieses Genossen auf dieser Veranstaltung zur Sprache zu bringen.

In seiner Einleitung, der der Genosse in eigener Verantwortung hielt, trug er zwar im wesentlichen die geschichtliche Einschätzung der Gruppe Battaglia Comunista vor, kritisierte aber die opportunistische Politik der Vorläuferorganisation von Battaglia (der Partito Comunista Internazionalista) während des 2.Weltkrieges gegenüber den Partisanen - ein Opportunismus, den Battaglia, so weit wir wissen, bis heute niemals öffentlich zugegeben hat. Auch hielt der Genosse aus Österreich an der Vorstellung eines internationalistischen, im wesentlichen aus der IBRP, der IKS und den „bordigistischen“ IKPs bestehenden proletarischen Lagers fest.

Und als am Anfang der Veranstaltung Aufbrechen es für nötig hielt, sich dagegen auszusprechen, dass eine der anwesenden Gruppen anschließend in ihrer Presse über diese Veranstaltung berichtet (nur unsere Organisation wurde dabei namentlich erwähnt), verteidigte der Genosse der ex-GIK die Notwendigkeit einer solchen Berichterstattung. Er bezeichnete die regelmäßige Berichterstattung über öffentliche Debatten in den Seiten der ‚Weltrevolution‘ als sehr nützlich und interessant und fragte, ob die Aufbrechen-Genossen in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hätten, dass die IKS solche Debatten verfälscht wiedergegeben hat - was Aufbrechen verneinte.

Wenn wir richtig verstanden haben, war es auch der Genosse aus Österreich, der ursprünglich der Aufbrechen-Gruppe den Vorschlag machte, diese Veranstaltung abzuhalten und die verschiedenen Gruppen des Linkskommunismus einzuladen.

Wir wollen somit an dieser Stelle seine Haltung ausdrücklich begrüßen, die öffentliche Debatte unter Revolutionären zu fördern und keine der ernstzunehmenden Gruppen des proletarischen Milieus dabei außen vorzulassen.

Die Notwendigkeit einer Synthese der historischen Beiträge

Da die IKS keine Gelegenheit erhielt, bei dieser Veranstaltung ein eigenes Referat zu halten, wollen wir uns hier abschließend ganz kurz zur Darstellung des Linkskommunismus im Einladungsschreiben von Aufbrechen äußern. Dies auch deshalb, weil einige Teilnehmer an der Veranstaltung ihr Interesse bekundeten, mehr über die Unterschiede zwischen der IKS und der IBRP zu erfahren. Es ist nicht ganz falsch, aber dennoch undifferenziert zu behaupten, dass von den beiden Hauptströmungen des Linkskommunismus die „Italienische“ mehr die Bedeutung der Klassenpartei und die „Deutsch-Holländische“ mehr die der Arbeiterräte betonte. Richtig jedenfalls ist, dass der „Rätekommunismus“ später unter dem Einfluss der stalinistischen Konterrevolution die Organisation der Revolutionäre verwarf oder deren Bedeutung unterschätzte sowie, damit zumeist einhergehend, den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution und der Bolschewiki leugnete. Richtig ist auch, dass die italienische Linke viel konsequenter an der Notwendigkeit der revolutionären Organisation und an der Verteidigung der Oktoberrevolution festhielt. Dass ist auch der Grund, weshalb alle Organisationen des heutigen proletarischen Milieus -einschließlich der IKS und des IBRP - aus der italienischen Linken hervorgegangen sind.

Aber im Gegensatz zum Einladungsschreiben von Aufbrechen erscheint es uns notwendig, in erster Linie die Gemeinsamkeiten der geschichtlichen Hauptströmungen des Linkskommunismus zu betonen. So haben während der Revolutionsjahre selbst alle die Notwendigkeit der revolutionären Organisation und der Verteidigung der Oktoberrevolution vertreten. Und auch später gab es innerhalb der deutsch-holländischen Linken - namentlich innerhalb der KAPD - immer eine Strömung, welche an diesen Grundfesten festhielt - bis sie Mitte der 30er Jahre in der Illegalität unter den Hammerschlägen der Repression des NS-Regimes in Deutschland zerschlagen wurde. Umgekehrt hieß bereits zur Zeit der Oktoberrevolution die erste bedeutende Oppositionszeitung der italienischen Kommunisten unter Bordiga „Il Soviet“ (Der Arbeiterrat). Und es war gerade die Auslandsfraktion der italienischen Linkskommunisten, welche später die Bilanz der russischen Revolution zog und dabei entscheidende Einsichten in die Rolle der Arbeiterräte gewann.

In dieser Hinsicht vertreten die IKS und das IBRP zwei unterschiedliche Traditionen innerhalb der italienischen Linken. Das IBPR (und auf viel karikaturalere Weise die „bordigistischen“ IKPs) sind der Ansicht, dass man nichts wesentliches von der deutsch-holländischen Linken zu lernen habe. Die IKS hingegen steht in der Tradition der Auslandsfraktion der 20er und 30er Jahre, insbesondere um die Zeitschrift Bilan, sowie in der Tradition der Kommunistischen Linken Frankreichs (GCF) nach dem 2. Weltkrieg, welche eine kritische Synthese der Beiträge aller Linkskommunisten vorgenommen haben. So gesehen halten wir die Gegenüberstellung der verschiedenen historischen Strömungen des Linkskommunismus für nicht hilfreich und auch nicht marxistisch. Aber wir werden in unserer Presse auf diese wichtige Frage bald zurückkommen.

Dieses Veranstaltungswochende war ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer proletarischen Diskussionskultur, die es ermöglichte, in der Öffentlichkeit offen und kontrovers über die wichtigen Fragen nicht nur der Geschichte sondern auch über die wichtigen Fragen von heute und von morgen auszutauschen.


Die Arbeiterklasse ist nicht verschwunden

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Beim Presseverkauf, in Diskussionen oder auf öffentlichen Veranstaltungen werden uns oft Fragen gestellt wie, ob die Arbeiterklasse überhaupt noch existiere, ob sie noch fähig sei zu kämpfen und ob sie noch über die Stärke verfüge, eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen. Es gibt auch Leute, die offen sagen: ”Das Proletariat ist eine überholte Idee, die Arbeiterklasse existiert nicht, und der Klassenkampf gehört der Geschichte an.” Andere anerkennen die Existenz der Arbeiterklasse und dass deren Ausbeutung immer schlimmer wird, doch sie sehen den Kampf der Arbeiter nicht und haben Zweifel daran, dass jene fähig sind, eine Antwort zu geben. Es gibt auch Leute, die zwar die unmittelbaren Kämpfe sehen, aber nicht an die Möglichkeit einer revolutionären Veränderung glauben. Und schlussendlich treffen wir immer wieder Leute, welche die Arbeiterkämpfe generell unterstützen und von der Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung überzeugt sind, doch aus verschiedensten Gründen davon ausgehen, dass eine Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und die Auswirkungen der sozialen Zersetzung auf die Arbeiter, vor allem auf die Arbeitslosen, zu einer Krise der Arbeiterklasse geführt hätten.

Wir stützen uns in der Antwort auf diese Anliegen auf einen Artikel, den wir in der Internationalen Revue Nr. 14 und 15 unter dem Titel ”Wer kann die Welt verändern?” veröffentlichten und aus dem wir lange Zitate entnommen haben. Wir werden mit den größten Zweifeln beginnen: dem Leugnen der Existenz der Arbeiterklasse und des Klassenkampfes.

Das angebliche Verschwinden der Arbeiterklasse

”Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.” (Marx/Engels, Die deutsche Ideologie) Die herrschende Ideologie der bürgerlichen Klasse besagt, ”dass soziale Klassen gar nicht existieren” und alle Individuen über gleiche Rechte und Möglichkeiten verfügten, und wenn jemand zur Arbeitslosigkeit und Armut verurteilt sei, so trage er selbst daran die Schuld. Im Rahmen des ”demokratischen” Staates wiederholen all die Institutionen zur ”Bildung der öffentlichen Meinung” (Fernsehen, Presse, Soziologen, Experten, Politiker und Gewerkschaften) bei jeder Gelegenheit, die Arbeiter seien reaktionär, verbürgerlicht, etc. Sie seien eine Masse von zur Gewalt neigenden Individuen, unfähig über etwas anderes als Fussball, Sex und Konsum nachzudenken. ”Den Ideologen der herrschenden Klasse kommt es darauf an, ja das Hauptstreben all ihres ‚Denkens‘ besteht darin aufzuzeigen, dass die marxistische Theorie verworfen werden müsse (obgleich der eine oder andere sich auf Beiträge Marxens beruft). Und der Eckpfeiler ihrer ‚Theorien‘ ist die Behauptung, dass der Klassenkampf keine Rolle mehr in der Geschichte spiele, ja manchmal wird ganz einfach das Vorhandensein von Kämpfen oder noch schlimmer gar die Existenz von gesellschaftlichen Klassen geleugnet.” (”Wer kann die Welt verändern?” in Internationale Revue Nr. 14)

Mittels einer endlosen Wiederholung der Lüge, die Arbeiterklasse existiere nicht und sei reaktionär, hofft die herrschende Klasse, sie als ”offensichtliche” Wahrheit darzustellen. Dazu benutzt sie die Methode von Hitlers Handlanger Goebbels, der sagte, dass ”eine tausendmal wiederholte Lüge zur Wahrheit wird”. Diese hartnäckigen Anstrengungen, die gesamte Gesellschaft, allen voran die Arbeiterklasse, zu überzeugen, dass das Proletariat gar nicht existiere und der Klassenkampf eine altmodische Idee sei, hat eine sehr wichtige politische Bedeutung: Die herrschende Klasse hat im Verlauf ihrer Geschichte verstanden, dass der Klassenkampf des Proletariates für ihre Herrschaft die grösste Gefahr darstellt.

1848 bewies das noch junge und im Entstehen begriffene Proletariat durch sein Kämpfe in Frankreich, Österreich und Deutschland, mit der Bildung des Bundes der Kommunisten und der Niederschrift des Kommunistischen Manifests, dass es eine selbständige Klasse bildet, welche fähig ist, ihre eigenen Kämpfe zu entwickeln und ihnen eine ganz andere Perspektive zu geben als es die Bourgeoisie vorsah, d.h. ihr Stosstrupp für die Beseitigung der feudalen Überreste zu sein. Die herrschende Klasse machte deshalb aus Angst vor dem Proletariat einen Pakt mit dem Feudalismus.

Mit der Pariser Kommune 1871, der Entstehung der Ersten Internationale und der Ausbreitung einer sozialen Bewegung in ganz Europa wurde die proletarische Gefahr unleugbar. Aus diesem Grund erreichte der Kampf gegen die Internationale und die Unterdrückung der Pariser Kommune ein Maß an Grausamkeit, wie es selten in der Geschichte gesehen worden war.

Konfrontiert mit dem Entstehen von Arbeiterräten 1905 in Russland (Sowjets) und der grossen revolutionären Bewegung, die sich in diesem Land entfaltete, zog es die Bourgeoisie vor, das selbstmörderische Regime des Zarismus gewähren zu lassen, aus Angst davor, von der proletarischen Revolution entmachtet zu werden.

1917 zeigte die Arbeiterklasse ihre Fähigkeit, den bürgerlichen Staat zu zerstören, ihre eigene Macht zu errichten – die Macht der Arbeiterräte – und eine internationale revolutionäre Bewegung in Gang zu bringen. Die systematische Verunglimpfung Lenins und der Bolschewiki, all die Verfälschungen und Entstellungen über das, was zwischen 1917 und 1921 wirklich geschah, zeigt einerseits den internationalen Hass der Bourgeoisie auf die proletarischen Erhebungen und andererseits ihre Angst, dass sich solche Ereignisse wiederholen.i [1]

Die revolutionäre Bewegung, welche in Russland ihren Anfang nahm, griff auf den Rest der Welt über und setzte der abscheulichen Schlächterei des Ersten Weltkrieges ein Ende. Die Revolution von 1918 in Deutschland zeigte der herrschende Klasse, dass sie den Krieg sofort beenden musste, um nicht einen Schlag zu erleiden, der viel grössere Auswirkungen gehabt hätte als in Russland: den Verlust der Macht in Deutschland.ii [1]

Ein weiterer Beweis für die Furcht innerhalb der herrschenden Klasse vor dem Proletariat sind die Schritte, die sie vor dem Auslösen des Zweiten Weltkrieges unternahm: die Massaker in Deutschland und Russland (wo das Proletariat am weitesten gegangen war), die Zerschlagung der kämpferischen Arbeiter in Spanien durch die Metzeleien des ”Bürgerkriegs”, die ideologische Mobilisierung des Proletariates in Frankreich, den USA und in anderen Ländern mit dem Gift des Antifaschismus.

Ebenso bewiesen die Aufstände in Norditalien 1943 und die anschliessenden Erhebungen in Polen, Ungarn und Deutschland von 1944 und 45 trotz ihrer Niederlage erneut das Potential der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie reagierte darauf mit brutalsten Mitteln, um alles im Keim zu ersticken. Dresden und viele andere deutsche Industriestädte, die keinerlei militärische Bedeutung hatten, wurden bombardiert mit der direkten politischen Absicht, das Proletariat zu dezimieren und mit einem Terror in Schach zu halten, um möglichen Aufständen zuvorzukommen.

Seit 1968 mit den Kämpfen im Mai 68 in Frankreich, dem ”heissen Herbst” 69 in Italien, Kämpfen in Argentinien, Spanien, Polen, Grossbritannien etc. kehrte das Proletariat auf die Bühne der Geschichte zurück und bewies, dass es trotz der grossen Schwächen, die noch auf ihm lasten, eine Kraft ist, die eine revolutionäre Bewegung entfalten kann.

Ein anderer Ausdruck für die Bedeutung, welche die herrschende Klasse der Gefahr durch das Proletariat zumisst, ist die Vielzahl politischer, ideologischer und gewerkschaftlicher Manöver in den vergangenen Jahren. Ihr grundlegendes Ziel war, die Arbeiterklasse zu verwirren, von ihrem Klassenterrain abzulenken, Ausbrüchen der Kampfbereitschaft zuvorzukommen und die Organe zu verstärken, welche die Arbeiterklasse spalten: die Gewerkschaften. In diesen Rahmen reihen sich auf politischer und ideologischer Ebene die Antiterrorismus-Demonstrationen 97 in Spanien, der ”Weisse Marsch” 96 in Belgien und auf der Ebene der gewerkschaftlichen Manöver Ereignisse wie der irreführende Streik im Dezember 95 in Frankreich oder die Instrumentalisierung des UPS-Streiks in den USA ein.

Wenn sie unermüdlich und penetrant wiederholen, die Arbeiterklasse existiere nicht mehr, dass sie verschwunden oder verbürgerlicht sei, dann weil sie sie wesentlich stärker fürchten, als sie zugeben. ”Die kommunistische Theorie besagt, dass der Zusammenstoss zwischen den Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft letzten Endes die Perspektive des Umsturzes der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse und die Errichtung der Macht der Arbeiterklasse über die gesamte Gesellschaft in sich birgt. Natürlich wurde diese These immer von den Verteidigern des kapitalistischen Systems verworfen.” (a.a.O.)


Die sogenannte Verbürgerlichung des Proletariates durch die Konsumgesellschaft

Dazu wird immer wieder folgendes Argument angeführt: ”Der Klassenkampf hatte im 19. Jahrhundert seine Berechtigung, doch heute hat sich die Situation vollständig verändert.” Weiter wird angeführt, die Arbeiter hätten heute ein Haus, ein Automobil, Fernseher, Ferien und eine ganze Serie von ”Konsumvergnügen”, von denen sie in der Vergangenheit nicht einmal hätten träumen können. Einen Fernseher zu besitzen, ein Haus mit fast lebenslangen Hypotheken, einen Wagen, der Geld verschlingt, um ihn zu warten, und die Möglichkeit, eine oder zwei Wochen Ferien in der Sonne zu verbringen, wird als Grund angeführt, um zu behaupten, die Arbeiterklasse sei auf magische Art und Weise verschwunden und der Klassenkampf sei keine Bedrohung mehr für die herrschende Klasse.

Wenn heute eine grosse Mehrheit der Arbeiter in den industrialisierten Ländern Zugriff auf diese Konsumgüter haben, dann vor allen aus zwei Gründen:

- wegen der starken Verbilligung dieser Produkte durch die unglaubliche Steigerung der Produktivität seit Beginn des 20. Jahrhunderts

- wegen der gesteigerten Ausbeutung, die durch die erhöhte Produktivität ermöglicht wurde; der Kapitalismus saugt heute nicht nur die letzten physischen Kräfte aus den Arbeitern heraus, sondern auch ihre intellektuellen Fähigkeiten.

Es ist diese höhere und intensivere Form der Ausbeutung die sich in den letzten hundert Jahren entwickelte, welche die sozialen Bedingungen veränderte: ”Das Auto ist unverzichtbar, um zur Arbeit zu gelangen oder Einkäufe zu machen, denn die öffentlichen Verkehrsmittel sind unzureichend und die zurückgelegten Distanzen immer größer. Auf einen Kühlschrank kann man nicht verzichten, da Nahrungsmittel zu günstigen Preisen oft nur in großen Mengen zu kaufen sind und man dies nicht täglich machen kann. Was den Fernseher betrifft, der dargestellt wurde als das Symbol für den Eintritt in die ‚Konsumgesellschaft‘, und der ausserdem vor allem ein Instrument der Propaganda und Verdummung in den Händen der Bourgeoisie ist (als ‚Opium für das Volk‘ hat er vortrefflich die Religion abgelöst), ihn findet man heute in vielen Wohnungen in den Slums der Dritten Welt, was genug besagt über den Wertverlust eines Artikels wie diesen. (...) Die Verlängerung der Dauer von bezahltem Urlaub ist absolut notwendig für die kolossale Steigerung der Arbeitsproduktivität und das Tempo, in dem dies geschieht, genauso wie die Gesamtheit der städtischen Lebensbedingungen.”

Diese Güter ”zu besitzen (heißt) noch lange nicht, dass man sich vom Arbeiterdasein befreien kann oder dass man weniger ausgebeutet ist. In Wirklichkeit ist der Grad der Ausbeutung der Arbeiterklasse nie bestimmt gewesen durch die Menge oder die Art der Konsumgüter, über die sie in einem bestimmten Moment verfügen konnte. (...) Die Kaufkraft der Lohnempfänger entspricht dem Wert ihrer Arbeitskraft. Mit anderen Worten: Sie entspricht der Menge der Güter, die notwendig sind, um diese Arbeitskraft wiederherzustellen. Wenn ein Kapitalist einen Arbeiter einstellt, dann will er damit möglichst viel aus dem Arbeiter im Produktionsprozess herausholen. Dies setzt voraus, dass der Arbeiter nicht nur Nahrung, Kleidung und Wohnung hat, sondern sich erholen und die notwendige Ausbildung aneignen kann, um die sich laufend entwickelnden Produktionsmittel in Bewegung zu halten.”

”Auch das (relative) Verschwinden der Kinderarbeit und die Verlängerung der Schulzeit (bevor dies ein Mittel zur Verschleierung der Arbeitslosigkeit geworden ist), die man uns als weiteres Geschenk der herrschenden Klasse darstellt, erwächst grundsätzlich aus der Notwendigkeit für das Kapital, über Arbeitskräfte verfügen zu können, welche an die Erfordernisse des unaufhörlich wachsenden Qualifizierungsprozesses der Arbeit infolge ständig komplexer werdender technischer Produktionsabläufe angepasst sind. (...) Als die Kinder mit 12 Jahren oder weniger arbeiten gingen, lieferten sie, bevor sie selbst eine Familie gründeten, während mehr als 10 Jahren ein zusätzliches Einkommen an die Familie ab. Mit der Schulpflicht bis hin zu 18 Jahren verschwindet dieser Zuschuss fast gänzlich. Anders ausgedrückt sind die ‚Lohnerhöhungen‘ auch (und zum grössten Teil) eines der Mittel, mit welchen der Kapitalismus die neuen Generationen von Arbeitern auf die neuen technologischen Produktionsbedingungen vorbereitet.” (a.a.O., Internationale Revue Nr. 15)

Diese Lebens- und Arbeitsbedingungen erreichten in den 70er Jahren einen Höhepunkt und haben sich seither systematisch verschlechtert. Die feste Anstellung, die mehr oder weniger garantiert war, ist abgelöst worden durch die temporäre Arbeit, die uns einer völligen Unsicherheit ausliefert. Die Nominallöhne sind derart gesunken, dass die ”Vergnügen” der ”Konsumgesellschaft” immer unerreichbarer werden. Die immer länger werdenden Arbeitstage widerlegen die Spekulationen der Soziologen über die ”Freizeitgesellschaft”. Die Arbeitslosigkeit ist eine traurige Tatsache für zahlreiche Jugendliche und für Arbeiter, die mit 40 oder 50 aus dem Berufsleben ausgeschlossen werden, nachdem sie bis zum letzten Tropfen ausgesaugt worden sind. Viel Elend, das der Vergangenheit anzugehören schien, taucht wieder auf und trifft die heutigen Arbeitergenerationen: Die Kinderarbeit tritt nicht nur in der Dritten Welt, sondern selbst in der EU wieder hervor; ebenso kehren Krankheiten wie die Tuberkulose, die ausgerottet schienen, in die grossen Metropolen zurück und fordern zusammen mit Krebs und andern Krankheiten der angeblich ”fortschrittlichen” Gesellschaft ihren verheerenden Tribut.

”Auch wenn der Kapitalismus der hochentwickelten Länder während einer gewissen Zeit Illusionen über die Reduzierung der Ausbeutung von Lohnabhängigen schüren konnte, so ist das nichts anderes als ein äusserer Schein. Tatsächlich ist der Grad der Ausbeutung, d.h. das Verhältnis zwischen dem durch den Arbeiter produzierten Mehrwert und dem Lohn, den er erhält, ständig gewachsen. Deshalb sprach schon Marx von einer ‚relativen‘ Verarmung der Arbeiterklasse als permanenter Tendenz im Kapitalismus.

Während die Bourgeoisie einiger europäischer Staaten von den ‚glorreichen 30 Jahren‘ sprach, womit sie die Jahre des relativen Aufschwungs in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg meinte, verstärkte sich die Ausbeutung der Arbeiter kontinuierlich, auch wenn sich dies nicht in einem Sinken ihres Lebensniveaus ausdrückte. Heute stehen wir nicht mehr nur vor einer Frage der relativen Verarmung. Die ‚Verbesserungen‘ der Gehälter der Arbeiter sind im Laufe der Zeit aufgefressen worden, und die absolute Verarmung, deren definitives Ende die Schreiberlinge der bürgerlichen Ökonomie angekündigt hatten, hat in den ‚reichen‘ Ländern stark zugenommen. Angesicht der Krise greift die herrschende Klasse in allen Ländern den Lebensstandard der Arbeiter massiv an. Durch die Arbeitslosigkeit, die drastische Kürzung der Sozialleistungen und auch durch die Senkung der Nominallöhne wird dem Gerede über die ‚Konsumgesellschaft‘ und die ‚Verbürgerlichung‘ der Arbeiterklasse der Boden entzogen.” (a.a.O.)

Die Ideologie vom ”Verschwinden des Klassenkampfes” und von der ”konsumistischen Verbürgerlichung der Arbeiterklasse” ist eine der schädlichsten Waffen der Bourgeoisie, denn sie zielt darauf ab, uns zu demoralisieren, uns die Klassenidentität vergessen zu lassen, uns als formlose Masse von atomisierten Individuen darzustellen, die unfähig seien, sich zu vereinigen und gemeinsam zu handeln. Deshalb ist es eine wesentliche Aufgabe der Revolutionäre und aller bewussten Arbeiter, diese Lügen zu bekämpfen. Adalen

  • i [1] Zur Analyse der Russischen Revolution siehe Internationale Revue Nr. 2, 5, 6, 14, 15, 16, 19, 20
  • ii [1] Zur Revolution in Deutschland siehe die Reihe in Internationale Revue Nr. 17 ff.

Weltrevolution Nr. 97

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Aufbrechen!‘ und die nationale Frage Rosa Luxemburg: Sprachrohr der marxistischen Linken

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 Im Oktober 1999 ist die dritte Ausgabe von „Aufbrechen!“ erschienen (Aufbrechen Nr. 2). Wie wir bereits an anderer Stelle (1) dargestellt haben, wird diese Zeitschrift von drei unterschiedlichen Gruppen herausgegeben - dem „Proletarischen Komitee“, der „Roten Antifaschistischen Initiative“ und der „Roten November Jugend“ - welche der autonom-antifaschistischen Szene Berlins bzw. dem Maoismus entstammen. Dementsprechend brachte diese Zeitung von Anfang an sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche politische Positionen und Herangehensweisen zum Ausdruck: Vom plattesten bürgerlichen Antifaschismus bis zu einem marxistisch argumentierten proletarisch-internationalistischen Standpunkt gegenüber dem Kosovokrieg; vom unkritischen Aktivismus des autonomen Ghettos bis hin zu einer ernsten Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Erbe der revolutionären Arbeiterbewegung und mit dem Arbeiterkampf von heute.

Obwohl „Aufbrechen!“ sich weiterhin eine „Zeitung für den revolutionären Aufbau“ nennt, und damit eher in alten K-Gruppenmanier den Anspruch erhebt, die sehr unterschiedlichen Bestandteile dieses Projekts zu einem „Bündnis“ zu sammeln, entspricht der zweite Beiname „zweimonatliche Zeitung aus Berlin für kommunistische Debatte und revolutionäre Praxis“ mittlerweile eher dem Charakter dieser Zeitung. Denn wie „Aufbrechen!“ Nr. 2 zeigt, wird diese Publikation zunehmend zu einem Organ politischer Debatte. Man täuscht nicht irgendwelche nicht vorhandene politische Grundübereinstimmung der verschiedenen Teilnehmer vor, sondern es gibt lebendige Stellungnahmen gegenüber der Weltlage und der Frage der Intervention, sowie unterschiedliche, oft individuelle Diskussionsbeiträge zu Fragen der marxistischen Theorie und der Geschichte unserer Klasse. Und tatsächlich: Um die politische Debatte voranzutreiben, um einen Bruch mit der autonomen bzw. linkskapitalistischen Vergangenheit der meisten Teilnehmer zu ermöglichen, ist die breiteste öffentliche Diskussion, die ernsthafteste Auseinandersetzung mit der marxistischen, antistalinistischen Tradition vornehmlich des Linkskommunismus erforderlich.

Somit wollen wir die Aufmerksamkeit unserer Leser vor allem auf die Artikelreihe zur geschichtlichen Auseinandersetzung der Arbeiterbewegung mit der nationalen Frage lenken, welche in „Aufbrechen!“ Nr. 1 und 2 erschienen ist (Teil 1: „Zur Haltung von Marx und Engels bezüglich der nationalen Frage“; Teil 2: „Das Historische in uns. Wie die II. und die III. Internationale dem Marxismus den antinationalen Geist ausgetrieben haben“).

Der erste Artikel ist eine ausgezeichnete Verteidigung der internationalistischen Methode von Marx und Engels gegen die nationalistische Entstellung des Marxismus durch die kapitalistische Linke. Der zweite Artikel bestätigt die Unterstützung der ablehnenden Haltung Rosa Luxemburgs gegenüber den sogenannten nationalen Befreiungsbewegungen seit dem 1. Weltkrieg, welche bereits der Leitartikel der Nullausgabe von „Aufbrechen!“ gegenüber dem Kosovokrieg verkündet hatte. Hier wird nicht nur eine internationalistische Grundhaltung sichtbar, sondern ebenfalls eine beginnende Aneignung des Marxismus als kritische, lebendige Methode und - damit verbunden - eine Infragestellung des rein bürgerlichen, polizeistaatlichen Dogmatismus des Stalinismus. Diese Herangehensweise erlaubt dem Verfasser, Rosa Luxemburg recht zu geben sowohl in der Frage des „Rechts auf nationale Selbstbestimmung“ gegenüber Lenin als auch in der polnischen Frage gegenüber Marx und Engels.

Als solche bedeutet diese Artikelreihe einen echten Fortschritt in der proletarisch-politischen Debatte in Deutschland, und zwar sowohl hinsichtlich der internationalistischen Schlussfolgerungen, die sie für heute zieht, als auch wegen der Ernsthaftigkeit, mit der hier an theoretische und historische Fragen herangegangen wird.


Die Schwierigkeit des historischen Zugangs

Wenn diese Reihe, vornehmlich der zweite Artikel, dennoch eine Schwäche aufweisen, dann liegt dies aus unserer Sicht in einer gewissen personenbezogenen Herangehensweise, die leicht die Tür öffnet zu einer akademischen Sicht im Stile der Gruppe ‚Bahamas‘. Dies zeigt sich z.B. darin, dass die verschiedenen Positionen in der Debatte über die nationale Frage als das Ergebnis des Nachdenkens einzelner Theoretiker dargestellt werden. „Die Entdeckung nationaler Befreiungsbewegungen als Partner durch Lenin und deren Ablehnung durch Rosa Luxemburg ist nur durch ihre unterschiedliche Imperialismusanalyse zu begründen,“ behauptet der zweite Artikel in „Aufbrechen!“ Nr. 2, und weist auf die „Akkumulation des Kapitals“ hin, welche Rosa Luxemburg am Vorabend des 1. Weltkriegs verfasste. Dass entspricht nicht den historischen Tatsachen. Weder ist die Ablehnung der nationalen Befreiungsbewegungen eine „Entdeckung“ Rosa Luxemburgs, noch ist sie notwendigerweise als das Ergebnis einer bestimmten Imperialismustheorie anzusehen. Luxemburg war lediglich das klarste Sprachrohr der marxistischen Position hierzu in einer Debatte, welche die gesamte internationale Arbeiterbewegung der damaligen Zeit erfasste. Weit entfernt, ihre besondere Entdeckung gewesen zu sein, war die Ablehnung beispielsweise der Forderung nach der Wiederherstellung eines polnischen Nationalstaates bereits die vorherrschende Position des linken Flügels der revolutionären Bewegung in Polen zu dem Zeitpunkt, als Rosa Luxemburg sich als junge Frau dieser Bewegung anschloss. Die Vorgeschichte der Debatte dazu in der polnischen Partei hat Luxemburg selbst niedergeschrieben in ihrer großartigen Artikelreihe „Dem Andenken des „Proletariat“ aus dem Jahre 1903 (2). Während des 1. Weltkriegs wiederum war die Ablehnung des nationalen Befreiungskampfes als notwendiger Bestandteil des Imperialismus nicht nur die Position von Luxemburg und ihrer „Anhänger“ in den deutschen und polnischen Bewegungen, sondern die Mehrheitsposition innerhalb der Bolschewistischen Partei. Sie wurde z.B. von Bucharin vertreten, einer der schärfsten Kritiker Rosa Luxemburgs „Akkumulation des Kapitals“. Und vor allem: nicht irgend eine Schrift Rosa Luxemburgs, sondern erst der Eintritt des Weltkapitalismus in seine Niedergangsphase mit dem 1.Weltkrieg machte eine endgültige Ablehnung aller nationaler Bewegungen möglich und notwendig. Davor hatte Luxemburg zwar eine fortschrittliche Nationalstaatenbildung für Polen und Mitteleuropa, nicht aber für Südosteuropa und andere Gebiete ausschließen wollen. Deshalb ist die Behauptung des Artikels falsch, demzufolge Luxemburg nationale Bewegungen sozusagen per se ablehnte, weil sie der Expansion des Kapitalismus und damit “der endgültigen Krise des Kapitalismus auf Weltebene“ „Steine in den Weg“ legen würden. Nein. Luxemburg hat stets die marxistische Auffassung geteilt, dass die Bildung von Nationalstaaten unter Umständen der Entwicklung des Kapitalismus förderlich sein könne, solange der Kapitalismus selbst ein fortschrittliches Gesellschaftssystem sei. Der Wendepunkt des 1. Weltkriegs und die Dekadenz des Kapitalismus, welche die Epoche der fortschrittlichen Nationalbewegungen endgültig beendete - wie Luxemburg in der Junius-Broschüre nachweist -, fehlt in dem „Aufbrechen!“ Artikel aber vollständig. Die Dekadenztheorie aber wurde zur eigentlichen theoretischen Grundlage der Ablehnung der nationalen Befreiungskämpfe sowohl durch die deutsch-holländischen als auch durch die italienischen Linkskommunisten (die Gruppe „Bilan“ der italienischen Auslandsfraktion).


Politische Klarheit heute setzt die kritische Wiederaneignung der Lehren der Vergangenheit voraus

Anstatt an die lebendige Tradition des Linkskommunismus anzuknüpfen, möchte der Artikel die Erklärung für das schwierige, nicht fehlerfreie, aber großartige Ringen der Arbeiterbewegung um Klarheit in der nationalen Frage als Ergebnis einer allgemeinen theoretischen Schwäche der damaligen Arbeiterbewegung ansehen: als Ausgeburten des „Geschichtsdeterminismus“ und der „Staatsfixierung“ der II. und III. Internationale. Auch Lenin und Rosa Luxemburg selbst wird - ohne Anführung von Beweisen - eine geschichtsdeterministische Herangehensweise in der nationalen Frage vorgeworfen. Wenn man aber die Geschichte von einem solch allzu hohen Podest aus betrachtet, verblassen die theoretischen Gegensätze, verschwindet der politische Kampf als Bestandteil des proletarischen Klassenkampfes. Was als Ergebnis dabei rauszukommen droht, ist die Erkenntnis, dass alle Positionen in der Debatte mehr oder weniger falsch oder unzureichend waren. So erfahren wir, dass am Ende der „Marxismus“ der II. Internationale sich auch in der III. Internationale durchsetzte. Ist das alles dasselbe?

Indem diese Debatte sehr abstrakt als rein theoretische ‚Schlacht der Ideen‘ – losgelöst von den konkreten historischen Gegebenheiten, insbesondere vom Anbruch der Dekadenz des Kapitalismus aufgefasst wird-, scheint die gleichwohl oft opportunistische Politik der Partei in der II. Internationale in der Nationalitätenpolitik als gleichwertig beurteilt zu werden wie die Nationalitätenpolitik Stalin-Russlands. Letztere aber war Wesensbestandteil der schlimmsten Konterrevolution der Weltgeschichte sowie eine ideologische Hauptwaffe des russischen Imperialismus. Damit läuft man Gefahr, zwei der herausragendsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zu verkennen: den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase und das Wesen der stalinistischen Konterrevolution.

Ebenso erfahren wir, dass in der nationalen Frage Lenin wie Luxemburg “deterministische Reste“ hatten. „Tragisch ist, dass eine Symbiose beider scheinbar niemandem einfiel,“ heisst es, und weiter: „Beide deterministischen Reste, Lenins Phasenmodell und Luxemburgs Crash-Hoffnung, hätte man so erledigen können.“ Hatte Rosa Luxemburg also doch nicht recht gegen Lenin in der nationalen Frage?


Die Schwierigkeiten des Bruchs mit dem Stalinismus

Diese Schwierigkeit des „Aufbrechen!“-Artikels, die Debatten in der Geschichte der Arbeiterbewegung als lebendige, vielseitige, kollektive, theoretische und praktische Auseinandersetzungen von ganzen Arbeiterorganisationen, von Tausenden von Mitgliedern und Sympathisanten der Arbeiterparteien mit der sich ändernden Wirklichkeit des Kapitalismus, ist nicht die Schuld der Verfasser des Artikels. Es ist ein allgemeines Problem aller Genossen, welche, vom Stalinismus kommend, sich revolutionären Positionen annähern, die Praxis proletarischer Debatten nicht kennen - nicht kennen können. Sie bewegen sich zunächst notwendigerweise noch in den linkskapitalistischen Denkkategorien der theoretischen „Arbeiterführer“, welche die „richtige Linie“ festlegen, und deren theoretische Fehler folglich für die Irrwege, ja für das eventuelle Scheitern der Arbeiterorganisationen verantwortlich gemacht werden müssen. Dieses bürgerliche Zerrbild der Arbeiterbewegung, mit dem der Stalinismus selbst die geistige Atmosphäre jahrzehntelang verpestet hat, wird heute an prominenter Stelle beispielsweise durch die Gruppe „Bahamas“ vertreten, die wie andere Möchtegern „Erneuerer“ des Marxismus die Ursache des Scheiterns der II. und III. Internationale in den schlechten Philosophiekenntnissen ihrer theoretischen Führer, in ihrem deterministischen Weltbild erblicken. Da sie nicht mal ahnen, dass die weltgeschichtliche Schlacht der marxistischen Linken um den proletarischen Charakter der II. und III. Internationale ein Kampf auf Leben und Tod war und dass Abertausende der besten Kämpfer unserer Klasse in diesem Klassenkrieg gegen die Eroberung der Arbeiterorganisationen durch die Bourgeoisie ihr Leben ließen, können die „Bahamas“ dieser Welt nicht begreifen, dass damals der Geschichtsdeterminismus mehr Symptom als Ursache der Degeneration dieser Organisationen war. Sie begreifen auch nicht, dass gerade die marxistische Linke - auch Lenin und Luxemburg - als Bestandteil ihres sehr praktischen Kampfes dagegen diesen Determinismus nicht abstrakt-philosophisch, sondern gegenüber den Erfordernissen des Klassenkampfes bekämpft hat (3).

Für die marxologischen Geschichtsprofessoren von „Bahamas“ ist eine solche Geschichtsauffassung selbstverständlich: als Bestätigung ihrer eigenen Größe und Einmaligkeit, die keine geschichtlichen Lehren nötig hat. Gegenüber solchen Bestrebungen gilt das Wort des Dichters:

Ein Quadam sagt:„Ich bin von keiner Schule! Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;

Auch bin ich weit davon entfernt,

Dass ich von Toten was gelernt.“

Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:

Ich bin ein Narr auf eigne Hand.(4).

Für den „Aufbrechen!“ Artikel gilt dies keineswegs. Die Artikelreihe zur nationalen Frage ist eine ernsthafte und mutige Auseinandersetzung mit dem Ziel, sich die klarsten theoretischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung kritisch anzueignen. Wir unterstützen dieses Bemühen ganz und gar wie auch sein Hauptergebnis: die Ablehnung jeglicher Formen des Nationalismus, auch und gerade in seiner linkskapitalistischen Form. Unsere Kritik soll dazu dienen, diese Aneignung der Lehren der Geschichte zu fördern, indem die Auswirkungen der stalinistischen Konterrevolution bloßgelegt werden, welche wie ein Alptraum auf dem Gehirn des Weltproletariats lasten und unsere Klasse von ihrer eigenen, lebendigen Geschichte abschneidet. L.


Adresse: Aufbrechen, c/o Lunte, Weisestr. 53, 12049 Berlin

  • (1) Weltrevolution 94: „Der Krieg: Das Ringen um eine proletarische Haltung“.
  • (2) Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Band 1-2 S. 306-362.
  • (3) Die Zeitschrift „Bahamas“ greift gern Lenin und Luxemburg wegen ihres angeblichen Geschichtsdeterminismus an und bezieht sich dabei am liebsten auf Lukacs und Korsch. Wir erlauben uns anzumerken, dass sowohl Lukacs wie Korsch ihre bedeutenden Schriften über Fragen der marxistischen Methode gerade zu der Zeit geschrieben haben, als sie mit der sich formierenden Kommunistischen Linken sympathisierten, und dass Anfang der 20er Jahre beide in Lenin und Rosa Luxemburg wegweisende Vorkämpfer gegen den Geschichtsdeterminismus sahen. Siehe dazu Weltrevolution Nr. 86:„Hände weg von Rosa Luxemburg“
  • (4) Goethe: „Den Originalen“.


Weltrevolution Nr. 98

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Diskussionsveranstaltung der FAU-Frankfurt: Anarcho-syndikalistischer und linkskommunistischer Standpunkt zur Gewerkschaftsfrage

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Unsere Organisation, die IKS, wurde am 16. Oktober 1999 von der Frankfurter Ortsgruppe der anarcho-syndikalistischen FAU-IAA zu einer öffentlichen Veranstaltung nach Frankfurt eingeladen. Das Thema der Veranstaltung war die Gewerkschaftsfrage. Die IKS wurde gebeten, zu diesem Thema ein kurzes Einleitungsreferat zu halten, welches im wesentlichen die Hauptaussagen unserer Broschüre "Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse" zusammenfasste.

 

Zuvor hielten die Genossen der FAU-Frankfurt zwei einleitende Vorträge, deren Hauptaussagen wir hier kurz wiedergeben wollen, weil dort Fragen berührt werden, welche für die aktuelle Debatte zwischen dem Linkskommunismus und den Teilen unter den Anarchisten, welche proletarische Klassenpositionen vertreten, sehr wesentlich sind,.

 

Eine Verteidigungsrede zugunsten proletarischer Klassenpositionen

 

Das erste Referat fasste die politischen Positionen zusammen, welche der erste Referent der FAU persönlich vertritt, wobei er erklärte, dass diese Positionen teilweise von anderen Genossen der Ortsgruppe geteilt werden.

 

Die reformistischen Gewerkschaften – so das Referat - entsprachen einer bestimmten Phase in der Geschichte der Arbeiterbewegung, während der die Arbeiterklasse bedeutende Reformen mittels ökonomischer Kämpfe, aber auch im Parlament erringen konnte.

 

Obwohl die Gewerkschaften bereits damals keine revolutionären Organe waren, und sich den Sozialismus, wenn überhaupt, als ein staatliches Projekt vorstellten, erwiesen sie sich in dieser Phase des Kampfes der Arbeiterklasse immerhin als nützlich. Dies änderte sich grundlegend mit dem 1. Weltkrieg, der zur Integration der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staatsapparat führte. Deshalb habe auch die 1919 in Deutschland gegründete, anarcho-syndika-listisch gefärbte FAUD fortan nicht allein das Kapital und den Staat, sondern ebenfalls die traditionellen Parteien und Gewerkschaften als Klassenfeinde betrachtet und stellte ihnen die Vollversammlungen und Arbeiterräte des Proletariats entgegen.

 

Dies bedeutet: Aus der Sicht des Referates ist nicht die Gewerkschaftsform als solche reaktionär geworden, sondern lediglich die staatlich organisierten Gewerkschaften, welche aufgrund ihrer hierarchischen Struktur und der neuen Wirtschaftslage am Anfang des 20. Jahrhunderts vom bürgerlichen Staat aufgesogen werden. Wirklich unabhängige, anti-staatliche, von den Arbeitern selbst kontrollierte Gewerkschaften hingegen können weiterhin Organe des Arbeiterkampfes sein. Der Genosse fügte allerdings hinzu: für manche von uns stellt die Gewerkschaftsform per se, die permanente Organisation des ökonomischen Abwehrkampfes, ein Problem dar.

 

Des weiteren hob das Referat die Abschaffung des Staatskapitalismus und der Lohnarbeit als Fernziele hervor sowie die Ablehnung jeglicher Parteidiktatur und die Bekämpfung des Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie, so wie die Ablehnung aller Formen des Nationalismus (so auch der "nationalen Befreiungskämpfe") und des imperialistischen Krieges (so auch des 2. Weltkrieg). Zwischen Faschismus, Stalinismus und bürgerlicher Demokratie bestehen keine Wesensunterschiede. Zwar kämpft man auch gegen den Faschismus als Fraktion des Kapitals, aber auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes, nicht im Bündnis mit „bürgerlichen Demokraten“ oder zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie.

 

Die Frage der permanenten Organisation des Klassenkampfes

 

Das zweite Referat befasste sich vornehmlich mit der Struktur und dem Organisationsverständnis der FAU, und vertrat hier eher die klassischen Konzepte des Anarchismus und Anarchosyndikalismus: die Zentralität des ökonomischen Kampfes, die Verwerfung des Zentralismus als Ausdruck der Machtkonzentration, den internationalen Zusammenschluss weitgehend autonomer Betriebs- und Ortsgruppen, die Befürwortung von Streiks, Betriebsbesetzungen, Boykotte usw. bis hin zum Generalstreik (aber "ohne Barrikadenromantik").

 

Auch dieses Referat verteidigte die Notwendigkeit von permanenten, kämpferischen Gewerkschaften als Gegengewicht zur Vereinzelung, als Vehikel der Beteiligung an den Tageskämpfen und als Schule der Selbstorganisation. Die internationale, anarchosyndikalistische IAA, deren Mitglied die FAU ist, stelle eine solche branchenübergreifende, permanente, gewerkschaftliche Kampforganisation der Arbeiterklasse dar. Somit sei die FAU keine "Ideengemeinschaft", sondern ein potentielles Einheitsorgan des gesamten Proletariats, welches für andere Denkrichtungen – auch die marxistische – offen bleibe, vorausgesetzt man respektiere die Satzungen der IAA.

 

Zwar erkannte das zweite Referent durchaus die Gefahr, dass eine permanente Gewerkschaftsorganisation ins "reformistische Fahrwasser" gerate. Es sei aber möglich, diese Gefahr zu bekämpfen, indem man jegliche Stellvertreterpolitik, und sei es auch aus den eigenen Reihen, konsequent bekämpfe.

 

Ein hohes Niveau der politischen Debatte

 

Bereits diese Einleitungen lassen erkennen, welches hohe Niveau der politischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den programmatischen Positionen des Proletariats innerhalb der Frankfurter Ortsgruppe der FAU anzutreffen ist. Aber auch die anschließende Diskussion entsprach durchaus diesen Vorgaben. Anstatt die üblichen Vorwürfe zu hören, welche immer wieder erhoben werden, sobald Anarchosyndikalisten und Marxisten zusammentreffen (beispielsweise dass der Marxismus zwangsweise zum Stalinismus führen müsse), erlebten wir hier eine sehr ernste Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Herangehensweisen unserer jeweiligen politischen Traditionen.

 

Diese fruchtbare Debatte hängt unsere Überzeugung nach auch damit zusammen, dass diese Genossen sich z.T. seit geraumer Zeit mit den Positionen und Traditionen des Linkskommunismus auseinandersetzen. So luden die Genossen den letzten grossen, noch lebenden Vertreter des "deutsch-holländischen" Linkskommunismus, Cajo Brendel nach Frankfurt ein, um dort eine Veranstaltung abzuhalten.

 

Diese Offenheit innerhalb Teile des anarchistischen Lagers gegenüber dem Linkskommunismus ist unserer Meinung nach kein Zufall. In Anbetracht der bürgerlichen Gleichsetzung des Kommunismus und des Marxismus mit dem Stalinismus, welche vor allem durch die Ereignisse seit 1989 noch immer einen großen Widerhall in der Klasse findet, schließen sich heute viele nach politischer Klarheit Ringende dem Anarchismus an, um sich deutlicher vom Stalinismus abgrenzen zu können. Dieses rein negative Abgrenzungsbedürfnis führt solche Genossen also dazu, sich außerhalb der Tradition des Marxismus zu stellen. Andererseits fühlen sie sich nicht unbedingt positiv zu den klassischen, oft stark kleinbürgerlich geprägten Thesen des Anarchismus hingezogen, dessen Ideale von absoluter Autonomie der lokalen Gruppen und absoluten  Freiheit des Einzelnen eher wie eine Karikatur der heutigen Gesellschaft erscheinen. Vor allem spüren solche Genossen, dass der Anarchismus keine wirkliche Orientierung für den proletarischen Klassenkampf von heute bieten kann, dass die anarchistischen Alternativen wie genossenschaftliche Wirtschaftsweise oder gewerkschaftlicher Zusammenschluss längst überholt sind.

 

Solche Genossen sind positiv überrascht zu entdecken, dass es innerhalb der Geschichte der marxistischen Strömung eine Tradition gibt, welche von Anfang an und mit nicht zu überbietender Entschlossenheit gegen die Degeneration der Russischen Revolution und gegen den Stalinismus gekämpft hat und dabei programmatische Thesen formulierte, welche dem heutigen Klassenkampf eine wirkliche Orientierung zu geben imstande sind: der Linkskommunismus.

 

Eine widersprüchliche Annäherung an die programmatischen Ergebnisse des Linkskommunismus

 

Da diese Genossen aber - unter dem Eindruck der Propaganda der Bourgeoisie - den Marxismus sprichwörtlich fürchten wie der Teufel das Weihwasser, versuchen sie, die programmatischen Positionen des Linkskommunismus in das anarchistische Weltbild zu integrieren. Wir stoßen heutzutage immer häufiger auf solche Versuche, eine anarchistische Weltauffassung und marxistische Klassenpositionen miteinander zu vermählen: nicht nur bei der FAU in Frankfurt, sondern ebenso bei den Genossen der KRAS-IAA in Moskau oder den "Gravediggers" ("Totengräber") des Kapitalismus in Budapest.

 

Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen dieser Genossen, sich proletarische Klassenpositionen anzueignen und kämpferisch zu verteidigen. Dass sie sich dabei an die Traditionen des Linkskommunismus anlehnen, bewerten wir nicht als negativ sondern durchaus als positiv. Es handelt sich hierbei um Genossen, welche gegenüber der Frage des imperialistischen Krieges eine proletarisch-internationalistische Position eingenommen haben. Wir rufen diese Genossen vielmehr dazu auf, nicht umzukehren oder auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern den begonnenen Prozess der programmatischen Klärung konsequent zu vollenden.

 

Wir sind unsererseits fest davon überzeugt, dass der Versuch, anarchistische Weltauffassung und programmatische Ergebnisse des Marxismus miteinander zu vermählen, zu einer Reihe unlösbarer Widersprüche führen wird. Einige dieser Widersprüche kamen auch bei der Diskussion auf der Veranstaltung in Frankfurt zur Sprache. Es ging hierbei vor allem darum, dass die Genossen der FAU sich eindrucksvoll für die Selbstorganisierung des Arbeiterkampfes durch Vollversammlung und gewählte, jederzeit abwählbare Streikkomitees ausgesprochen haben - also eine außergewerkschaftliche, ja antigewerkschaftliche Kampfführung -, während andererseits  die FAU sich selbst als eine Gewerkschaft, als bereitstehende Kampforganisation der Arbeiter betrachtet. Wozu brauchen die Arbeiter aber noch Gewerkschaften, wenn sie sich selbst, und zwar im Kampf, organisieren müssen? Darauf antworteten die Genossen: unsere Organisation – die FAU-  wird genau dazu benötigt, um diese Selbstorganisierung zu propagieren. Das ist natürlich richtig. Aber es handelt sich in dem Fall doch eher um eine politische Gruppe, um eine politische Überzeugungsgemeinschaft Gleichgesinnter, welche jeglicher "Stellvertreterpolitik" im Klassenkampf den Krieg erklärt, und nicht um eine Gewerkschaft, welche vom Prinzip her allen Arbeitern, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung offensteht. Wir sind jedenfalls der Meinung, dass das Festhalten an der Gewerkschaftsform unweigerlich zur "Stellvertreterpolitik" führen muss. Weil eine Gewerkschaft eine permanente Struktur darstellt, welche auch außerhalb des Kampfes weiterbesteht, während die Arbeiterklasse sich nur noch im Kampf mobilisieren und selbst organisieren kann, stellt eine Gewerkschaft eine Organisationsform dar, welche für die Arbeiterklasse nicht mehr beherrschbar ist. Weil Gewerkschaften eine bürgerliche Organisationsform geworden sind, und weil der Anarchismus theoretisch-programmatisch nicht imstande ist, dem Druck der bürgerlichen Ideologie standzuhalten, konnte es dazu kommen, dass die CNT während des Spanischen Bürgerkriegs der bürgerlichen Regierung beitrat, wo sie neben den Stalinisten im Kabinett saß und damit in den bürgerlichen Staatsapparat integriert wurde. Wenn die Linkskommunisten hingegen schon damals in der Lage waren, den Verlockungen des bürgerlichen Antifaschismus in Spanien und im darauffolgenden 2.imperialistischen Weltkrieg zu widerstehen, dann, weil sie kleine, dafür programmatisch befestigte, auf theoretischer Klarheit basierende Gruppen bildeten, welche keinen Anspruch mehr erhoben, eine Massenorganisation zu sein oder den Klassenkampf zu organisieren.

 

Wir wissen, dass wir die Genossen der FAU-Frankfurt mit unseren Argumenten keinesfalls überzeugt haben. Viel wichtiger erscheint uns aber die Tatsache, dass wir uns darüber einig waren, eine proletarische Diskussionskultur miteinander zu pflegen. Dies bedeutet, dass wir die Debatte miteinander fortsetzen wollen, einander zuhören, anregen und ehrlich kritisieren wollen, als Bestandteil einer öffentlichen Debatte einer Klasse, welche nichts zu verlieren und damit auch nichts zu verbergen hat oder vor etwas ausweichen müsste. Die Frankfurter Genossen nahmen sich vor, weitere Veranstaltungen dieser Art abzuhalten, und dafür auch Anhänger der IWW-Tradition oder Leute aus dem Umfeld von Wildcat dafür zu gewinnen.

 

Wir begrüßen diese Einstellung. Weil sie die öffentliche politische Debatte in einer Zeit des gesellschaftlichen und politischen Autismus fördert, dient dies der Sache des proletarischen Klassenkampfes. Wir unsererseits werden diese Bemühungen weiterhin unterstützen.                                     IKS

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Revolutionärer Syndikalismus [2]

‚Manifest gegen die Arbeit‘ -Es geht nicht um Abschaffung der Arbeit, sondern um Abschaffung der Lohnarbeit

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Das von der Gruppe KRISIS im September 1999 herausgegebene „Manifest gegen die Arbeit"(1) hat bundesweit in politisierten Kreisen z.T. kontroverse Diskussionen ausgelöst. Dabei sind die Thesen des Manifests keineswegs neu. Es handelt sich um eine „Cover Version" der alten, beispielsweise von den Operaisten oder den Situationisten Ende der 60er Jahre wiederbelebten Grundvorstellung, dass der Klassenkampf gegen den Kapitalismus nicht der Kampf des Proletariats für die Überwindung der Lohnarbeit, sondern eine Art individueller oder kollektiver „Arbeitsverweigerung" sei. Damals blühten solche Vorstellungen gegen Ende der Nachkriegswiederaufbauphase auf, weil damals die klassische marxistische Vorstellung von der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und der Unvermeidbarkeit des proletarischen Klassenkampfes an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Als aber ab 1968 die weltweite Wiederbelebung des Arbeiterkampfes unübersehbar wurde, und ab Mitte der 70er Jahre die Wirtschaftskrise sich auch nicht mehr leugnen ließ, gerieten die modernistischen „Erneuerer" und „Überwinder" des Marxismus wieder ins Abseits. In der heutigen Zeit hingegen gedeiht die Vorstellung der Ablösung des „traditionellen" Klassenkampfes durch die Arbeitsverweigerung aufgrund des großen Erfolgs der bürgerlichen „der Kommunismus ist tot" Propaganda sowie aufgrund des heutzutage allgemein vorherrschenden mangelnden Selbstvertrauens der Arbeiterklasse. Der von Robert Kurz und seinen Jüngern um die Zeitschrift KRISIS neuaufgelegte „Kampf gegen die Arbeit" verneint im Gegensatz zu seinen Vorläufern aus den 60er Jahren keineswegs die Krise des Kapitalismus. Im Gegenteil: der Kapitalismus sei laut Kurz an seine „absolute Schranke" gestoßen. Und tatsächlich: Zu einem Zeitpunkt, wo selbst die eingefleischtesten Operaisten sich gezwungen sehen, die Wirklichkeit der Wirtschaftskrise anzuerkennen, rührt ein Teil des Einflusses und der „Glaubwürdigkeit" des „Manifestes gegen die Arbeit" daher, dass es die Krise des Kapitalismus voll berücksichtigt, dies aber außerhalb des Rahmens des aus der Mode geratenen Marxismus als „Krise der Arbeitsgesellschaft" umdeutet. Dennoch: die Kernaussage ist identisch mit der der „modernistischen" Totengräber des Marxismus aus der Nachkriegszeit. Diese Kernaussage lautet: die Arbeiterklasse ist keine revolutionäre Klasse, wie der Marxismus stets behauptet hat, sondern sie ist im System integriert. Während die „Frankfurter Schule" vor 40 Jahren den angeblich wachsenden Wohlstand für die „Verbürgerlichung" des Proletariats verantwortlich machte, sehen Kurz und Freunde heute im Proletariat nichts als arbeitsbesessene „Zombies der Warengesellschaft", im Klassenkampf nichts als die „Austragungsform gegensätzlicher Interessen auf dem gemeinsamen Boden des warenproduzierenden Systems".

Zwei lesenswerte Antworten auf das „Manifest gegen die Arbeit"

Positiv an der öffentlichen Debatte über das von KRISIS als Antwort auf Schröders „Bündnis für Arbeit" vorgeschlagene „Bündnis gegen die Arbeit" ist, dass sich mitunter proletarische Stimmen erhoben haben, um den Marxismus gegen die Thesen von Kurz zu verteidigen. Die bisher beste Antwort darauf haben wir im „Wildcat-Zirkular" Nr. 54 gelesen, der „Kritik am Manifest gegen die Arbeit", gez. H/Leipzig (2). Auch der Artikel „Das Manifest gegen die Arbeit: Eine Diskussionsgrundlage, die der radikalen Linken zur Muße verhelfen kann" in „Aufbrechen!" Nr. 3 verteidigt zentrale Eckpunkte des Marxismus. (3)

Zu recht weist die Wildcat Replik auf das fehlende materialistische Geschichtsverständnis des KRISIS Manifests hin: „Die Arbeit, die bei KRISIS als die massenhafte Anerkennung einer absurden Idee erscheint, sei mit Gewalt von oben durchgesetzt worden, um dem Geldhunger der absolutistischen Militärmaschinen Genüge zu tun [..] Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint bei KRISIS wie bei den deutschen Philosophen, mit denen Marx sich auseinandersetzt, als ein Kampf der Ideen, gesellschaftliche Prozesse oder Verhältnisse werden verdinglicht und gewinnen eine eigene Subjektivität."

Ebenso deutlich widerlegt H/Leipzig die Illusion des Manifests, dass die Reichtumsproduktion sich im Gefolge der mikroelektonischen Revolution „immer weiter von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt." H. schreibt: „Das aber ist grundsätzlich in Frage zu stellen. Generell kann die Reichtumsproduktion im Kapitalismus nicht von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt werden, das ist einer der Widersprüche, in denen sich das Kapital bewegen muss: während es fortwährend versucht ist, die menschliche Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess zu entfernen, setzt es die Anwendung derselben zum einzigen Maßstab des Wertes [...] Der Kapitalismus schafft nicht die Arbeit ab, in dem er die technische Möglichkeit produziert, CDs zu kopieren. Er schafft die Möglichkeit, gesellschaftlich zu produzieren, bewusst und kollektiv – aber es bedarf der Umwälzung der Verhältnisse und die Entscheidung darüber können nur die Produzenten selbst fällen."

Das zeigt, dass sowohl der WILDCAT- als auch der AUFBRECHEN-Artikel die Vorstellung von einer „absoluten Schranke des Kapitalismus" ablehnen, und den Irrglauben verwerfen, dass der Kapitalismus sich quasi von selbst abschaffen könne. Sie wiederholen damit eine alte Kernaussage des Marxismus, welche beispielsweise Trotzki und Lenin auf dem 3. Weltkongress der Komintern gegen die Vorstellung einer „Todeskrise des Kapitalismus" vertraten, indem sie darauf hinwiesen, dass es rein wirtschaftlich betrachtet niemals eine absolut ausweglose Lage des Kapitalismus geben wird, somit einzig die proletarische Weltrevolution der kapitalistischen Barbarei ein Ende setzen kann. Es gibt zwar keine Todeskrise des Kapitals, sehr wohl aber, wie auch die Komintern damals wusste, einen letztendlich wirtschaftlich bedingten Niedergang des Kapitalismus.

Beide Artikel verteidigen den revolutionären Charakter des proletarischen Klassenkampfes gegen die Angriffe der KRISIS Gruppe auf den Marxismus und die Arbeiterklasse.

AUFBRECHEN schreibt: „Der Klassencharakter des Kapitalismus löst sich nicht in Krisen auf, sondern muss aktiv beseitigt werden. In diesem Sinne irrt KRISIS, wenn die Genossen einschätzen ‚Der Klassenkampf ist zu Ende, weil die Arbeitsgesellschaft am Ende ist.‘" Der WILDCAT-Artikel geht weiter, indem er KRISIS zitiert - "Das Weltdeutungsmonopol des Arbeits-Lagers ist aufzubrechen. Der theoretischen Kritik der Arbeit kommt dabei die Rolle des Katalysators zu." Und darauf antwortet: „Hier finden die Intellektuellen einen Platz, die angesichts fehlender massenhafter praktischer Kritik der Arbeit meinen, es fehle an theoretischer Kritik. Besonders in Zeiten ausbleibender Kämpfe erlangt die Vorstellung Verbreitung, es ginge darum, die richtigen Ideen in die Köpfe zu pflanzen, statt den Kommunismus in der vor unseren Augen ablaufenden Bewegung zu suchen. [...] Sie sehen im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken. [...] In bester anarchistischer Manier gelingt es KRISIS, die Entscheidung für oder gegen die Arbeit zur individuellen Privatsache zu erklären."

Eine noch nicht zu Ende geführte marxistische Kritik

Wir begrüßen diese Antworten und unterstützen im großen und ganzen die hier vorgebrachten Argumentationslinien. Wir wollen dennoch in aller Kürze auf eine der Schwächen dieser Antworten hinweisen, die wir nicht verschweigen wollen.

Diese Schwäche äußert sich in der Schwierigkeit, die klassische marxistische Position zur Frage des „Kampfes gegen die Arbeit" anzueignen, welche der entschieden marxistische Flügel stets vertreten hat. Dies zeigt sich z.B. in einem undifferenzierten "Anti-Leninismus", welcher im übrigen wie ein roter Faden durch AUFBRECHEN Nr. 3 verläuft, und der dazu führt, dass man der historischen Arbeiterbewegung insgesamt unterstellt, stets einen unkritischen Arbeitsethos vertreten zu haben. Unserer Meinung nach muss man das differenzierter sehen.

Der Arbeitspathos der frühen Arbeiterbewegung war vor allem ein Produkt ihrer Unreife, d. h, der Tatsache, dass das Proletariat sich noch nicht vollständig von der Bourgeoisie gelöst hatte. So sah es Marx, der die Forderung der kämpfenden Arbeiter von Paris 1848 eines „Rechts auf Arbeit" verwarf, aber dahinter das noch sehr unsichere Herantasten an die eigenen Klassenziele erblicken konnte. „Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Rechte auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der Lohnarbeit, des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses."(2)

Der Arbeitsethos der späteren Phase der Arbeiterbewegung hingegen war vor allem das Produkt der Degeneration der 2. und dann der 3. Internationalen bzw. der russischen Revolution. Auch die Befürwortung der Einführung kapitalistischer Ausbeutungsmethoden in den Fabriken der belagerten Festung Sowjetrusslands durch Lenin war das Produkt dieser Degeneration – vornehmlich der Isolation Russlands durch das Ausbleiben der Weltrevolution sowie der tragischen Fusion der bolschewistischen Partei mit dem russischen Regierungs- und Staatsapparat. Und trotzdem war es Lenin, der in der Debatte mit Trotzki Anfang der 20er Jahre die allgemeine Militarisierung der Arbeit ablehnte und darauf bestand, dass die Arbeiter das Recht haben müssen, ihre Interessen auch gegenüber dem angeblich „eigenen" Staat zu verteidigen.

Worauf es uns hier ankommt ist vor allem der Hinweis, dass der revolutionäre, marxistische Flügel der Arbeiterbewegung die Verherrlichung der Arbeit stets abgelehnt und bekämpft hat. Hier eine Kostprobe von Rosa Luxemburg.

„Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z.B. der Vergleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Arbeit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal erhebt, wofür er bei manchen hervorragenden französischen und anderen Sozialdemokraten in den Geruch eines Sozialisten von reinstem Wasser gekommen ist, bemerkt Tolstoi ruhig, indem er mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf trifft. ‚Herr Zola sagt, dass die Arbeit den Menschen gut mache; ich habe immer das Gegenteil bemerkt: die Arbeit macht nicht nur die Ameise, sondern auch die Menschen grausam – Aber wenn sogar die Arbeitsamkeit kein erklärtes Laster ist, so kann sie in keinem Fall eine Tugend sein [...[ Die Erhebung der Arbeit zu einer Tugend ist ebenso verkehrt wie die Erhebung des sich Ernährens des Menschen zu einer Würde und Tugend. Die Arbeit konnte die Bedeutung, die man ihr in unserer Gesellschaft zuschreibt, nur als eine Reaktion gegen den Müßiggang gewinnen, den man zum Merkmal des Adels erhoben hat [...] Die Arbeit ist nicht bloß keine Tugend, sondern sie ist in unserer falsch geordneten Gesellschaft zum größten Teil ein das sittliche Empfindungsvermögen ertötendes Mittel.‘

Wozu zwei Worte aus dem „Kapital" das knappe Gegenstück bilden: ‚Das Leben des Proletariers beginnt, wo seine Arbeit aufhört.‘"(3)

Diese Scheu, sich klar mit dieser großartigen marxistischen Tradition zu identifizieren, zeigt sich darin, dass beispielsweise der AUFBRECHEN-Artikel die Parole der „Abschaffung der Arbeit" mit dem Hinweis auf den doppelten Charakter der heutigen Arbeit als wertschaffende Lohnarbeit und als ewige Auseinandersetzung der Menschheit mit der Natur verwirft, und dennoch beide Artikel sich nicht durchringen können, die Parole vom „Kampf gegen die Arbeit", diese heilige Kuh aller Modernisten und Operaisten, in Frage zu stellen. Denn ebenso wie die Verherrlichung der Arbeit stellt die Parole „Kampf gegen die Arbeit" einen Bruch mit dem Marxismus dar. Und zwar deshalb, weil es eine klassenübergreifende oder „inter-klassistische" Parole ist, welche Arbeiter, Kleinbürger und Unternehmer gleichermaßen anspricht, die „Ekel vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt" empfindet, wie KRISIS es formuliert. Außerdem kämpft das Proletariat nicht gegen die Arbeit „an sich", sondern gegen die entfremdete Arbeit, spezifisch gegen die Lohnarbeit. Das Merkmal der Lohnarbeit allerdings ist die radikale und vollständige Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, was dazu führt, dass die Produzenten „arbeiten wollen müssen" und einen Arbeitslohn „wollen müssen", um auf einem gegebenen Kulturniveau überleben zu können. Der Motor des Klassenkampfes ist somit nicht das „nicht arbeiten wollen", sondern der Verteidigungskampf der Arbeiterklasse. Die Theoretiker von KRISIS haben sehr unrecht, wenn sie glauben, dass dieser Kampf, weil es auch ein Verteidigungskampf um Lohn und Arbeit sein wird, ein Kampf für die entfremdete Arbeit, für das Lohnsystem sei. Denn dieser Kampf kann nur erfolgreich geführt werden, wenn er bis zur letzten Konsequenz, bis zu Aufhebung der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, bis zur Abschaffung der Lohnarbeit, wenn er bis zum Kommunismus geführt wird. Kr.

„Manifest gegen die Arbeit", Zeitschrift Krisis – Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Erlangen 1999.

Die Veröffentlichung dieser Antwort durch Wildcat, dem Sprachrohr des Operaismus in Deutschland, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Allerdings sind die „Wildcat-Zikulare" immer mehr zu einem Diskussionsbulletin geworden, worin Auffassungen veröffentlicht werden, welche mit dem traditionellen Operaismus nichts mehr zu tun haben.

Aufbrechen, c/o Lunte, Weisestr. 53, 12049 Berlin

Karl Marx. „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. MEW Bd. 7, S. 42.

Rosa Luxemburg Werke, Bd.2, Seite 249f, "Über Tolstoi"

 

 

Weltrevolution Nr. 99

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Aufbrechen: Welche Aufarbeitung der Geschichte?

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Anfang des Jahres erschien die neueste Nummer von Aufbrechen, der „Zweimonatlichen Zeitung aus Berlin für kommunistische Debatte und revolutionäre Praxis“ Nr. 3. Schwerpunkt dieser Nummer ist das Thema „Lenin/Leninismus“. So findet man dort auf 10 Seiten 6 Artikel, die sich alle kritisch mit der russischen Revolution, der Rolle der Bolschewiki und Lenins auseinandersetzen. (1)

Im Vergleich zu früheren Ausgaben der Zeitung spiegelt diese Ausgabe einen begrüßenswerten Schritt zu mehr programmatischen Diskussionen wieder. Gerade bei Gruppierungen, die aus linkskapitalistischen politischen Zusammenhängen wie dem Maoismus & Stalinismus  stammen, bei denen die Geschichte der Arbeiterbewegung kaum bekannt ist und deren Geschichtsbild von stalinistischen Verfälschungen geprägt war, ist es unabdingbar, einen programmatischen Bruch mit dieser linkskapitalistischen Vergangenheit herbeizuführen. Dieser Bruch kann nur über die Aneignung der wirklichen Geschichte erfolgen.

Allein die Tatsache, dass sich die GenossInnen des Aufbrechen mit diesem Themenkatalog befassen und sich nicht mehr  aktionistisch zu verausgaben scheinen, ist ein Schritt vorwärts. In der Debatte zwischen Lenin und Gorter im Jahre 1920 beziehen die GenossInnen für Gorter Stellung, leugnen aber andererseits im Gegensatz zu vielen anderen nicht, dass Lenin einen wichtigen Beitrag zur russischen Revolution geleistet hat. Auch verwerfen sie im Gegensatz etwa zu den Rätekommunisten oder anderen „Anti-Leninisten“ nicht die Notwendigkeit einer Partei. In allen Artikeln gibt es wertvolle Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Gang der Ereignisse in Russland.

 

Welche Methode zur Aufarbeitung der Geschichte?

Gleichzeitig wird jedoch spürbar, wenn man diese Ausgabe mit etwas mehr Abstand betrachtet, dass die Genossen einen besonderen Zugang zur Geschichte suchen. So wird nach  der Gesamtlektüre ihrer Artikel ein idealistischer Einschlag deutlich, der sich darin äußert, dass sich die Artikel vor allem danach ausrichten, welche Ideen und Konzepte die einzelnen Führerpersönlichkeiten in den Kämpfen gehabt hätten. Die Betonung liegt eher auf den Vorstellungen der Vordenker, der Gedankenwelt einzelner Persönlichkeiten als auf der Vermittlung der wirklichen Abläufe und des kollektiven Prozesses. Diese Tendenz ist zunächst einmal nicht verwunderlich, sondern ist eigentlich nur eine besondere Form der Darstellung der Geschichte, wie sie seit 1989 verstärkt zu finden ist. Denn unter dem Gewicht der bürgerlichen Kampagnen, die die russische Revolution als einen Putsch darstellen und eine Kontinuität zwischen Lenin und Stalin aufzeigen wollen, die überhaupt keine Unterscheidung zwischen Revolution und Konterrevolution machen, kämpfen alle suchenden Leute, die sich heute mit der Geschichte befassen, um so schwerer beim Zugang zur Geschichte.

 

So banal das auch klingen mag, aber man tut sich sehr schwer, so fundamentale Ereignisse wie die  Oktoberrevolution als einen Zusammenprall von Klassen zu sehen. Im Mittelpunkt steht nicht so sehr das kollektive Leben, der Kampf einer Klasse gegen die andere, statt dessen befasst man sich eher mit der Rolle und den Plänen einzelner Persönlichkeiten. Große Schwierigkeiten treten auf, wenn es um die Einschätzung der Dynamik einer Bewegung geht, das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, die Erschütterungen der ganzen Welt durch die internationale revolutionäre Welle von Kämpfen und die Ausstrahlung der Oktoberrevolution auf die Arbeiterklasse zu analysieren, vor allem den damaligen Stand der Debatten und Erkenntnisse in der Arbeiterbewegung und unter den Revolutionären nachzuvollziehen – und das nicht nur aus heutiger, sondern auch aus damaliger Sicht. Tatsächlich erfordert all das die Überwindung einer Sichtweise, die die Welt von „oben“, sozusagen vom „Balkon der Geschichte“ aus betrachtet, statt dessen muss man sich mit der wirklichen Geschichte, ihrer Dynamik, den Prozessen und Umwälzungen befassen. So wird Persönlichkeiten wie Karl Korsch oder Georg Lukacs in der historischen Auseinandersetzung ein Platz eingeräumt, den sie zu keiner Zeit eingenommen haben. Ein anderes Beispiel: als historische Erklärung für den Opportunismus in der III. Internationale wird die angebliche „philosophische Unzulänglichkeit“ der II. Internationale angeführt (siehe dazu den Artikel zu Aufbrechen und die nationale Frage in Weltrevolution Nr. 97).

 

Im Falle der Aufbrechen-Artikel wird dies anhand der Einschätzung der russischen Revolution bemerkbar. So wird in dem Artikel „Der ‚linke Radikalismus‘ – und die internationale Arbeiterbewegung – Die Kontroverse zwischen Lenin und der ‚deutsch-holländischen Linken‘“ auf der einen Seite Lenin im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Behauptungen keineswegs als ‚bürgerlicher Revolutionär‘ dargestellt. Auch beziehen die Genossen anerkennenswerterweise Stellung für Gorter. Andererseits ist ihre Argumentation und Herangehensweise nicht wirklich historisch eingebettet, sie wird nicht eingeordnet in den welt-historischen Kontext, sondern sie sucht auf ‚modernistische‘ (d.h. eine ahistorische) Weise die Welt zu interpretieren und zu beurteilen. So werfen die GenossInnen Lenin vor, dass „Lenin (...) mit dem Verweis auf die Erfahrungen der Bolschewiki die kommunistischen Parteien Westeuropas auf die bürgerlichen Parlamente zu orientieren [versuchte], die es auf revolutionäre Art als Tribüne auszunutzen gälte.“ (S. 3). Hier wird die Position Lenins des Jahres 1920 sozusagen „zeitlos“ verabsolutiert, und mit keiner Zeile Bezug genommen auf den Lenin des Jahres 1914 oder 1917 oder 1919, d.h. dem Wandel seiner Positionen wird nicht Rechnung getragen. Statt dessen soll man glauben, „in der Parlaments- wie in der Gewerkschaftsfrage kapitulierte das Verständnis des ‚großen Strategen Lenin‘ vor den Verhältnissen des entwickelten Kapitalismus und den Anforderungen der proletarischen Revolution. Insofern war es fatal, dass er seine – unter russischen Bedingungen so erfolgreiche – revolutionäre Politik zum Leitstern der weltweiten kommunistischen Bewegung machen wollte. Den Höhepunkt erreichte die Tragödie, als unter der ideologischen Konstruktion des „Leninismus, als Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution‘ (Stalin) ein – noch weiter verflachtes – bürgerliches Revolutionsverständnis zur Generallinie der Kommunistischen Internationale wurde.“ (S. 3)

 

Anstatt auf die Dynamik der revolutionären Welle von Kämpfen zu sprechen zu kommen, als nach der Niederschlagung der Kämpfe in Deutschland der internationalen Ausdehnung der Revolution die Spitze gebrochen wurde, der Höhepunkt der Bewegung ab 1919/1920 überschritten war, und die Kommunisten in Russland händeringend nach einem Ausweg aus der Isolierung suchten, die ganze Debatte auf dem II. Kongress der Komintern auf diesem Hintergrund stattfand, wird die oben erwähnte Position Lenins sozusagen zeitlich „verabsolutiert“. Man erfährt bei der Lektüre der Aufbrechen-Artikel nichts davon, dass Lenins gefährliche und opportunistische Position, die einen Rückfall in Methoden des 19. Jahrhunderts (Parlamentsbeteiligung, Gewerkschaftsarbeit) beinhaltete und keineswegs ein Mittel sein konnte, um die „ins Stocken geratenen und zögernden Massen“ weiter zur Revolution vorwärtszutreiben, im Widerspruch stand zu dem ganzen Wirken Lenins selber vor 1919. Es wird nicht erwähnt, dass Lenin als einer der Führer des nach der Revolution entstandenen russischen Staates Stellung bezog. Anstatt der Isolierung der Revolution in Russland entsprechendes Gewicht einzuräumen und zu erklären, dass dieser „Kurswechsel“ nicht nur ein Kurswechsel Lenins, sondern des Großteils der Komintern vom II. zum III. Kongress als Reaktion auf den Rückfluss der Kämpfe war,  wird Lenin z.B. im Artikel „Staat statt Revolution“ dem Vorwurf ausgesetzt: „Ein im Kampf um Befreiung und um den Kommunismus selbständig handelnde Klasse, die mehr ist als eine Manövriermasse ihrer ‚revolutionären Führer‘ passte auch so gar nicht recht ins Weltbild Lenins.“  (S. 6)

 

Durch solche Aussagen kann der Eindruck aufkommen, Lenin sei von Anfang an auf Entmündigung und Entmachtung der Arbeiterräte aus gewesen. In den Artikeln erfährt man nichts darüber, dass Lenin bei der Vorbereitung der Revolution eine Hauptrolle beim Vorwärtstreiben der Massen war und die Speerspitze bis 1919 gegen den Opportunismus blieb. Man bleibt dem Leser eine Erklärung für das Entstehen der Position Lenins schuldig. Auf das Dilemma der Bolschewiki - als Speerspitze der Arbeiterklasse in einem zunehmend isolierten Land handeln zu müssen, aber an der Spitze eines Staates zu stehen, der sich immer mehr den Bedürfnissen der Revolution widersetzte - wird in dem Aufbrechen-Artikel unzureichend eingegangen.

 

Des weiteren wird in mehreren Artikeln, insbesondere aber im Artikel „Staat statt Revolution“ und „Entfremdung minus Sow-jetmacht“ mit Lenins Ideen zum Staat und Sozialismus abgerechnet. Auch hier kann der Leser leicht den Eindruck erhalten, Lenins konfuse und widersprüchliche Ideen zum Sozialismus seien Wegbereiter für die spätere staatskapitalistische Entwicklung gewesen.

Zwar wird an mehreren Stellen eher im Vorbeigehen auf die Tatsache hingewiesen, dass „...der erste Weltkrieg, der Bürgerkrieg und die Intervention der Entente weite Teile des Landes in eine Wüste verwandelten“,[...]  „der Weg in eine revolutionäre Gesellschaft schien wegen des drohenden ökonomischen Zusammenbruchs und der deutschen Offensiven nicht mehr möglich“ (ausgehend von der Lage im Frühjahr 1918), und die Frage wird aufgeworfen, „in wie weit die Ausschaltung des kollektiven Prozesses zum Wesen des Bolschewismus gehörte oder durch die Sachzwänge der Situation in Russland geschuldet war, kann hier jedoch nicht geklärt werden“.

 

Aber es herrscht eher ein merkwürdiges Schweigen über die Gründe für das Entstehen dieses neuen staatskapitalistischen Gebildes, das aufgrund der verhinderten Ausdehnung der Revolution schnell monströse Ausmaße annahm anstatt  - durch die internationale Revolution begünstigt - abzusterben. Man vermisst eine klare Aussage, dass der Sozialismus in einem Land unmöglich ist, und dass jedes Staatsgebilde wie das in Russland nach der Revolution notwendigerweise zu einer konterrevolutionären Kraft werden muss, solange die Revolution nicht international siegt.

 

Die Genossen scheinen nicht zu merken, dass die Tragödie des Niedergangs der russischen Revolution zuallererst eine Bestätigung der klassischen marxistischen Lehre von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Land

 

war. Sie begreifen nicht, dass der Kampf der revolutionären Elemente in der Bolschewistischen Partei - mit Trotzki an der Spitze - gegen die stalinistische Theorie des Sozialismus in einem Land die unabdingbare Verteidigung des Marxismus gegen die stalinistische Konterrevolution darstellte.(2) Dies erfüllt uns umso mehr mit Sorgen, da es sich bei den Aufbrechen GenossInnen zum Teil um Genoss-Innen handelt, die unter dem Einfluss des Stalinismus politisiert wurden, so dass der Bruch mit dieser Weltsicht die unabdingbare Voraussetzung für eine Hinwendung zu einer proletarischen Theorie und Praxis bedeutet.

 

Nicht nur, dass es keine Aussage zur Frage „Sozialismus in einem Land“ in dieser Schwerpunktnummer zu Lenin/Leninismus gibt: darüber hinaus wird in dem oben erwähnten Zitat der Stalinismus als ‚bürgerliches Revolutionsverständnis‘ bezeichnet, während der Stalinismus in Wahrheit die Ideologie der kapitalistischen Konterrevolution war.

 

Die Bilanz der Russischen Revolution – eine Frage von Leben und Tod jeder politischen Gruppe

Die Geschichte seit den 20er Jahren hat bewiesen: Beim Kampf gegen die stalinistische Konterrevolution leisteten nur diejenigen einen wirkungsvollen Beitrag, die am proletarischen Klassencharakter des Oktober 1917 festgehalten haben, und die auch die Rolle der Bolschewiki bei der Revolution entsprechend würdigten. Diejenigen, die den proletarischen Charakter des Oktober 1917 geleugnet und den Beitrag der Bolschewiki zur Revolution über Bord geschmissen und nicht den wirklichen Hintergrund des Niedergangs der Revolution und die verheerende Rolle der Bolschewiki bei dieser Entartung (von der Speerspitze der Revolution zur konterrevolutionären Kraft) berücksichtigt haben, waren nicht in der Lage, einen organisierten, kontinuierlichen Abwehrkampf gegen den Stalinismus aufrechtzuerhalten.

 

Neben einem kleinen Haufen versprengter Genossen um die Berliner KAPD, die zumindest bis Mitte 30er Jahre überleben konnten und den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution verteidigten und zu einer wirklichen Aufarbeitung beitrugen, ist es das Hauptverdienst der ‚Italienischen‘ Auslandsfraktion um die Zeitschrift ‚Bilan‘ und der Gauche Communiste de France (GCF), die Lehren aus Russland  gezogen zu haben. Nur durch eine Verteidigung des proletarischen Charakters des Oktobers, nur durch eine Bejahung des Verteidigungskampfes der revolutionären Organisationen gegen den Opportunismus konnten sie eine organisatorische Kontinuität bewahren.  Auch wenn die IKS viele Positionen von der deutsch-holländischen Linken übernommen hat, so hätte unsere Organisation nie aufgebaut werden und überleben können, ohne uns auf den Beitrag der Italienischen Linken hinsichtlich der Organisationsfrage und des Zugangs zur Geschichte zu stützen.

 

Das gesamte Wirken Bilan‘s und der Gruppe GCF (Internationalisme) bestand darin, eine wirklich kritische Bilanz der russischen Revolution aus einer militanten Warte zu ziehen und nicht in den „Gehirnen der Vordenker“ nach den Ursachen des Niedergangs zu suchen (d.h. die Erklärung durch angeblich vorgefertigte Konzepte).

 

Eine Aufarbeitung der Gründe für das Scheitern der Revolution ist nur möglich, indem man sich die Methode der Kommunistischen Linken aneignet.

 

Die Erfahrung aus der Entwicklung gerade seit 68 zeigt, wenn die Leute, die aus K-Gruppen kommen, es nicht schaffen, die wirkliche Geschichte aufzuarbeiten, laufen sie Gefahr, in die alten Muster linkskapitalistischer Auffassungen und Praktiken zurückzuverfallen oder sie verschwinden einfach vom Erdboden.

 

Vor dieser Weichenstellung stehen die Genoss-Innen um die Zeitschrift Aufbrechen. Wir finden, es gibt positive Ansätze in der bisherigen Arbeit der Zeitschrift. Diese Ansätze müssen nun vorangetrieben werden. Die programmatische Auseinandersetzung muss einen wirklichen Anschluss an die Geschichte finden. Die Schatzkammer an Erfahrung und Lehren aus der revolutionären Welle lässt sich nicht öffnen, indem man sozusagen bei der Lektüre von Texten von Korsch, Lukacs oder auch Lenin stehenbleibt und von der wirklichen Entwicklung und den Anstrengungen um Klarheit innerhalb der revolutionären Bewegung absieht.

 

Die revolutionären Organisationen, die die Tradition der Kommunistischen Linken fortsetzen, welche im Abwehrkampf gegen die Entartung der russischen Revolution geboren wurden, bieten einen unerläßlichen Anknüpfungspunkt. Diesen Faden gilt es für die GenossInnen von Aufbrechen aufzugreifen.                                         Weltrevolution

 

(1) „Über die Notwendigkeit, Lenin zu relativieren, um den Leninismus loszuwerden“,

 

-„Bürgerliche oder proletarische Revolution? Klassenkampf- und Organisationsverständnis bei Rosa Luxemburg und W.I. Lenin“,

 

-„Der Verteidigung der philosophischen Thesen von Korschs Lenin-Kritik“,

 

-„Der ‚linke Radikalismus‘ und die internationale Arbeiterbewegung - Die Kontroverse zwischen Lenin und den ‚deutsch-holländischen‘ Linken“,

 

-„Entfremdung minus Sowjetmacht – Die Bolschewiki und Taylor“,

 

-„Staat statt Revolution – Lenins Erziehungsdiktatur....“.

 

(2) Man sollte nicht vergessen, dass Trotzki den aus unserer Sicht berechtigten Verdacht äußerte, dass Stalin Lenin umgebracht hat, weil Lenin einen furchterregender Gegner der stalinistischen Konterrevolution dargestellt hätte. Die Proklamierung des Sozialismus in einem Lande als Position der Komintern konnte wahrscheinlich nur über Lenins Leiche gehen. Und so sehr Lenins Auffassungen zum Staat sich auch im Laufe der Jahre wandelten, gehörte er doch zu denjenigen, die  (viel früher und entschlossener als Trotzki) dem ständigen Wuchern des Staatsapparates entgegentreten wollten und der neuen Bürokratie ihren Kampf angesagt hatten.

 

Öffentliche Debatte in Amsterdam: Der Rätekommunismus ist keine Brücke zwischen Marxismus und Anarchismus

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Am 21. November haben wir in Amsterdam eine öffentliche Diskussion mit reger Publikumsbeteiligung zum Thema „Die Holländische Linke – eine Brücke zwischen Anarchismus und Marxismus?" abgehalten. Unser Ziel bestand darin, gegenüber dem Versuch der Vereinnahmung dieser linkskommunistischen Strömung – und insbesondere der Rätekommunisten – durch den Anarchismus zu reagieren. Weil wir eine öffentliche Debatte dazu anstrebten, haben wir den anarchistischen Autor Ton Geurtsen, der einer der Hauptverfechter dieser These ist, und den letzten lebenden Vertreter der holländischen Linken, Cajo Brendel, eingeladen, auf dieser Diskussion ihren Standpunkt zu vertreten.

Nachfolgend veröffentlichen wir das Einleitungsreferat der IKS in dieser Debatte, das unsere Position zu dieser Frage zusammenfasst. Es befasst sich vor allem mit unserer Einschätzung des Verhältnisses zwischen Marxismus und Anarchismus, das wesentlich ist für die Einordnung des Kampfes der Linkskommunisten im allgemeinen und den der deutsch-holländischen Linken im besonderen. Darüber hinaus geben wir einige Informationen zum Hintergrund der Debatte sowie einen kurzen Überblick über die Debatte selbst, damit unsere Leser sich einen Eindruck über die Wichtigkeit dieser Diskussion verschaffen können.

Seit dem Zusammenbruch der Berliner Mauer 1989 ist der Marxismus mehr als je zuvor diskreditiert worden: Die Bourgeoisie hat gewaltige Kampagnen gestartet, um den ökonomischen und imperialistischen Bankrott des Stalinismus, seinen Terror und seine Konzentrationslager mit dem Marxismus gleichzusetzen und in unseren Köpfen einzumeißeln, dass der Klassenkampf nur zur Diktatur führt und letzten Endes scheitern muss; es gäbe zum „liberalen" Kapitalismus keine Alternative, da er das „am wenigsten schlechte" aller Systeme sei. Wer immer gegen diese Propaganda, gegen die - barbarischen Kriege und die Ausbeutung sowie gegen die Zerstörung unserer Umwelt ankämpft, nach Alternativen und revolutionären Positionen sucht, stößt sehr schnell auf den Anarchismus, der scheinbar „saubere Hände" hat. Jedoch können diejenigen, die sich ernsthaft für eine Klassenanalyse interessieren, nur sehr schwer dem Marxismus ausweichen.

Der „Rätekommunismus", der immer wieder als „anarchistisch" bezeichnet wurde, scheint eine Brücke zwischen Marxismus und Anarchismus zu schlagen. Er hat eindeutig nie etwas mit dem Stalinismus zu tun gehabt; von Anfang an hat er dessen „Parteipraxis" als im Widerspruch zum Marxismus stehend verurteilt. Er scheint auch die anti-autoritären anarchistischen Prinzipien der Freiheit, der Autonomie und der Demokratie zu verkörpern. Auf der Suche nach revolutionären Positionen stößt man deshalb schnell auf die Positionen der holländischen „Rätekommunisten", die unter anderem von Anton Pannekoek und der GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten – 1927-1940) und nach dem 2. Weltkrieg von dem Communistenbond Spartacus und der Gruppe Daad en Gedachte vertreten wurden. Deren Positionen wiederum stützen sich auf die Positionen der Linkskommunisten während des 1. Weltkriegs (Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Herman Gorter). Haben sich die „Rätekommunisten" getäuscht, und gehören sie nicht eher dem anarchistischen Lager an? Waren sie im Begriff, mit dem Marxismus zu brechen?

Als Gegenpol zum Stalinismus haben die „Rätekommunisten" immer die grundlegenden Prinzipien des Marxismus verteidigt. Im Rahmen dieses Einleitungsreferates können wir nicht im Einzelnen auf ihre Positionen und deren Entwicklung eingehen. Das soll in der Diskussion geschehen; deshalb hier nur einige Kernaussagen. Der Marxismus analysiert die Entwicklung der Gesellschaft vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus. Die Geschichte ist geprägt von Widersprüchen zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen. In der Geschichte der Klassenkämpfe ging es im Wesentlichen darum, dass neue ausbeutende Klassen die alten ablösten und die ausgebeuteten Klassen gegen ihre Ausbeuter kämpften. Wichtig ist hier, dass die Arbeiterklasse die erste Klasse ist, die ausgebeutet und revolutionär ist. Durch die Arbeiterrevolution kann die Klassengesellschaft insgesamt überwunden werden. Die „Diktatur der Arbeiterklasse" wird die erste Klassendiktatur einer Mehrheit über eine Minderheit sein und damit die größte Demokratie der Menschheitsgeschichte. Erst dann wird eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden können, das „Reich der Freiheit", wo die Klassengegensätze schrittweise verschwinden. Der Marxismus interveniert im Klassenkampf auf der Grundlage der aus dem Klassenkampf hervorgegangen Lehren, um für die Zerstörung des bürgerlichen Staates und die Abschaffung der Lohnarbeit einzutreten; die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, das Ziel ist die freie Vereinigung aller Produzenten.

Dagegen geht der Anarchismus nicht in erster Linie von den Widersprüchen und bestehenden Gesellschaftsverhältnissen aus, ebensowenig stützt er sich auf eine historische Analyse und Perspektive, in der der Klassenkampf überwunden wird, sondern auf abstrakte, „ewig" gültige Prinzipien wie „gegen jede Autorität, für den Föderalismus, für die Freiheit des Einzelnen, die Ablehnung aller Macht" im allgemeinen, die unabhängig von den jeweiligen historischen Bedingungen einfach umgesetzt werden sollen, um eine gesellschaftliche Alternative zu verwirklichen.

Wir werden zunächst die Folgen dieser Divergenzen zwischen Marxismus und Anarchismus hinsichtlich der wichtigsten Phasen in der Geschichte beleuchten. Wir können hier keinen vollständigen historischen Überblick liefern, sondern nur einige Eckpunkte aufgreifen.

Anarchismus und Marxismus im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert unterstützten die Marxisten den Kampf um Reformen und Sozialgesetzgebung mittels der Gewerkschaften und der Wahlbeteiligung. Der Kapitalismus befand sich noch im industriellen -Aufstieg, - die proletarische Revolution stand daher noch nicht auf der Tagesordnung. Die Arbeiterklasse kämpfte nicht für irgendwelche schönen Ideale, sondern die immer wiederkehrende und sich verschärfende Wirtschaftskrise trieb sie ständig zum Kampf an und lieferte jeweils neue Lehren für denselben. Der Kampf um Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus bot gleichzeitig eine Grundlage für die Organisierung und Bildung der Arbeiterklasse im Hinblick auf den Endkampf gegen den Kapitalismus. Er wies auf das Ziel und die Mittel. So bildeten die ökonomischen und politischen Kämpfe ein Ganzes.

Demgegenüber gab es für den Anarchismus einen Gegensatz zwischen ökonomischem und politischem Kampf, da sie entgegengesetzte Mittel seien; er ging nicht so sehr von der Arbeiterklasse, sondern vom „Volk" oder den „Massen" aus. Allgemein gesehen kann man zwei Strömungen unterscheiden:

- ein anarchistischer utopischer Sozialismus (Proudhonisten, Genossenschaften usw.), der sich von der wirklichen Entwicklung der Industrialisierung abwandte und den Staat einfach abschaffen wollte, um föderative Beziehungen zwischen unabhängigen, isolierten Kleinproduzenten aufzubauen, so wie sie in der Zeit vor der Industrialisierung bestanden. Er wandte sich gegen jeden Lohnkampf, weil er die Anerkennung der Lohnarbeit beinhalte;

- ein putschistischer Anarchismus (Bakunin), der eine „Elite" von Verschwörern an die Macht bringen wollte, indem man sich auf eine Masse von Lumpenproletariern stützte, während die Arbeiterklasse sich auf den gewerkschaftlichen Kampf begrenzen und jeden politischen Kampf ablehnen sollte (d.h. Wahlbeteiligung), da dieser per Definition bürgerlich sei.

Der Anarchismus hat so die Arbeiter in gefährliche politische Abenteuer gestürzt und verschwommene Weltbilder sowie Illusionen über die Möglichkeit sozialistischer Inseln inmitten des Kapitalismus verbreitet, die es aber nicht geben kann.

Anarchismus und Marxismus in der Zeit der „Krieg und Revolution"

Während des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert kämpfte der marxistische Flügel innerhalb der Sozialdemokratie nicht nur gegen den Anarchismus, sondern auch gegen die Revisionisten und Reformisten Diese leugneten nämlich die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution. Sie verbreiteten Illusionen über die Möglichkeit eines „krisenfreien" Kapitalismus und eines ständig wachsenden Wohlstandes, an dem alle teilhätten. Die Arbeiterklasse sollte sich dieser Strömung zufolge auf den Kampf um schrittweise und permanente Reformen beschränken; dabei wurden gerade Reformen just zu diesem Zeitpunkt immer weniger möglich.

Der marxistische Flügel, der weiterhin für die Notwendigkeit der proletarischen Revolution eintrat, wurde regelmäßig als „anarchistisch" bezeichnet. In Wirklichkeit erarbeitete der marxistische Flügel eine Analyse der neuen Periode in der Entwicklung des Kapitalismus, des Imperialismus, in dem sich die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse geändert hatten und die Revolution nunmehr auf der Tagesordnung stand: die neue Epoche von Krieg und Revolution, der Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei.

1909 fasste Pannekoek diesen Kampf gegen die beiden Strömungen folgendermaßen zusammen: „Anarchismus und Revisionismus sind jeweils bürgerliche Orientierungen innerhalb der Arbeiterbewegung; sie wollen eine bürgerliche Weltauffassung mit proletarischen Sympathien unter einen Hut bringen", und dies sei möglich, weil sie sich zwischen beiden befänden: „Der Anarchismus ist die Ideologie der entfesselten Kleinbourgeoisie und der Revisionismus die Ideologie der gehorsamen Kleinbourgeoisie."

[...] Seitdem ist die Einschätzung des Anarchismus durch die Marxisten in den entscheidenden Momenten, sowohl im Krieg als auch in der Revolution, vollauf bestätigt worden:

- die Linkskommunisten bezogen eine konsequent internationalistische Position gegenüber dem Krieg: massiver Arbeiterkampf gegen die internationale Bourgeoisie und Umwandlung des imperialistischen Weltkrieges in eine proletarische Weltrevolution. Der offizielle Anarchismus unterstützte Hand in Hand mit der Sozialdemokratie den Krieg (z.B. die CNT, NAS); damit wurde die erste Klassengrenze zwischen Proletariat und Bourgeoisie überschritten. Wenn trotzdem einige Anarchisten vereinzelt gegen den Krieg und auch gegen ihre eigenen Organisationen ankämpften (was sehr lobenswert ist), dann geschah das nicht, weil sie die Lage begriffen hätten, sondern weil sie sich moralisch über die Angriffe gegen die Menschheit entrüsteten. So veröffentlichten 1915 35 Libertäre (u.a. Alexander Berkman, Emma Goldman, Enrico Malatesta, Ferdinand Domela Nieuwenhuis), ohne irgendeine Organisation zu repräsentieren, ein Manifest gegen den Krieg. Diesem Manifest zufolge sei der Krieg einfach eine Folge der Existenz von militaristischen Staaten und der ideologischen Unterwerfung unter sie; die Lösung bestünde in einer Revolte „aller Unterdrückten" gegen diese Staaten.

- die Linkskommunisten verteidigten die Oktoberrevolution als den Beginn der proletarischen Weltrevolution gegen den imperialistischen Weltkrieg. Die offiziellen anarchistischen Organisationen (Kropotkin) wandten sich gerade gegen die Diktatur des Proletariats, da sie aus ihrer Sicht nur eine Machtverschiebung auf Staats- ebene und vor allem nicht den Anfang der internationalen Arbeiterrätemacht darstellte. Die Revolution ist die zweite Klassengrenze zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Erneut begrüßten einige wenige Anarchisten die Revolution (u.a. Voline, Victor Serge, Domela Nieuwenhuis), ohne aber die Lage zu begreifen oder sie richtig einzuschätzen. Einige traten auch der III. Internationalen bei (z.B. Victor Serge). Die Anarchisten begriffen auch den Prozess des Niedergangs der Revolution aufgrund ihrer Isolierung nach ihrer Niederlage in Deutschland nicht. Stattdessen wurden in abstrakter Weise angebliche Prinzipien der offiziellen Staatspolitik der Bolschewiki an den Pranger gestellt.

So sind die offiziellen Organisationen des Anarchismus zum gleichen Zeitpunkt wie die Sozialdemokratie endgültig in das Lager der Bourgeoisie übergelaufen. Sie traten 1914 (wie übrigens auch 1939) als Kriegsbefürworter auf und wandten sich gegen die proletarische Revolution.

[....]

Diese Analyse wurde in Spanien 1936 erneut bestätigt. Der Anarchismus unterstützte die „demokratische" Regierung in einem Bürgerkrieg gegen Franco, der nur das Vorspiel für den 2. Weltkrieg und keineswegs eine soziale Revolution war. Der Anarchismus stürzte sich auf die „Kollektivierung" in der Industrie und in der Landwirtschaft, ohne dass vorher überhaupt die Frage der politischen Macht gestellt wurde, denn die Bourgeoisie hielt weiterhin die Macht in ihren Händen. So verbreitete er die Illusion über die Möglichkeit von „sozialistischen Inseln", obwohl diese in Wirklichkeit in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf auf einem kapitalistischen Weltmarkt standen und die Lohnarbeit unangetastet ließen. Darüber hinaus beteiligten sich die Anarchisten bedingungslos an den arbeiterfeindlichen bürgerlichen Regierungen, weil diese unter „antifaschistischer" Flagge auftraten, mit der später der 2. Weltkrieg ideologisch verbrämt wurde. Deshalb tragen die Anarchisten eine große Verantwortung bei der Vorbereitung des 2. Weltkrieges. Allerdings blieben auch hier einige Anarchisten (wie die „Freunde Durrutis") im Gegensatz zu den anarchistischen Organisationen und trotz ihrer eigenen Konfusionen auf dem Boden der Arbeiterklasse. [...]

Einige Schlussfolgerungen

Der Anarchismus vertritt alte abstrakte und „ewige" Ideale, die den liberalen und humanitären Traditionen der Bourgeoisie aus einer Zeit entstammen, als diese noch revolutionär war. Aber obgleich die Wurzeln dieser Ideale eindeutig dem Bürgertum entstammen, haben sie nicht notwendigerweise eine feste Klassenbasis. Denn anarchistische Prinzipien können völlig unterschiedliche und widersprüchliche Klasseninteressen zum Ausdruck bringen; so kann der Anarchismus in den unterschiedlichsten Formen auftreten – vom Terrorismus und Putschismus über den Syndikalismus und Pazifismus bis zum Antimilitarismus und zur Philanthropie. Er kann Bündnisse schließen mit Fraktionen der Bourgeoisie und soweit gehen, imperialistische Weltkriege zu unterstützen und sich der proletarischen Revolution entgegenstellen.

In den entscheidenden Momenten der Geschichte, in Zeiten von Krieg und Revolution, gelingt es der Bourgeoisie ziemlich leicht, die abstrakten anarchistischen Ideale für ihre Zwecke einzusetzen. Und da der Anarchismus der Klassen-analyse abstrakte Ideale gegenüberstellt, trägt er ständig zur Verwirrung innerhalb der Arbeiterklasse bei. Wenn einzelne Anarchisten zufällig das richtige Lager wählen, geschieht dies eher aus Klasseninstinkt als aufgrund eines wirklichen Verständnisses der Lage. Genauer gesagt, ist der Anarchismus vor allem der politische Ausdruck eines revoltierenden Kleinbürgertums, das als solches selbst keine Perspektiven anzubieten hat, das aber einen großen Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse haben kann, gegenüber der das Kleinbürgertum selbst sehr misstrauisch ist.

Es gibt sicherlich Punkte, wo die Abgrenzung zwischen „Rätekommunismus" und Anarchismus äußerst schwach ist. Aber der „Rätekommunismus" kann nur denjenigen als eine Brücke zwischen Anarchismus und Marxismus erscheinen, die die Augen vor der Geschichte verschließen. Versuche der Anarchisten, den „Rätekommunismus" für sich zu vereinnahmen, laufen darauf hinaus, die wesentlichen Beiträge des Rätekommunismus über Bord zu schmeißen, indem man abstrakte Forderungen vertritt. Das kann nur für noch mehr Verwirrung in der Arbeiterklasse sorgen und dazu beitragen, die Arbeiterklasse für das bürgerliche Lager einzuspannen. Denn der Anarchismus hat weder eine wirkliche Alternative gegenüber dem Marxismus anzubieten, noch hat er „saubere Hände", wie die beiden Weltkriege und die revolutionäre Welle von Kämpfen 1917-23 belegen.

Die IKS beruft sich kritisch auf zahlreiche Beiträge des „Rätekommunismus", wobei wir aber gleichzeitig zahlreiche Divergenzen mit ihm haben. Das ändert aber nichts am marxistischen Charakter des „Rätekommunismus", der mit dem Anarchismus nichts gemeinsam hat. Aus: Internationalisme, Zeitung der IKS in Belgien

Eine lebhafte Diskussion

Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich, in der die IKS stets auf den grundlegenden Widerspruch zwischen der anarchistischen und der linkskommunistischen Haltung hinwies. So wurden insbesondere die Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg und den sogenannten „Befreiungsbewegungen", die Einschätzung des spanischen Bürgerkrieges 1936-37 und des Niedergangs der russischen Revolution sowie die Einschätzung der jetzigen Periode debattiert. All diese Fragen belegten aus unserer Sicht die Gültigkeit der Positionen der Holländischen Linken, insbesondere ihres proletarischen Internationalismus gegenüber den beiden Weltkriegen, ihrer unbeirrbaren Ablehnung des Stalinismus, der Betonung der Rolle der Arbeiterräte im revolutionären Prozess.

Trotz der deutlichen Meinungsverschiedenheiten, die während der Diskussion zu Tage traten, haben alle Teilnehmer die Nützlichkeit und Lebendigkeit dieser Diskussion hervorgehoben, und auch wenn es nicht in allen Punkten Übereinstimmung mit unseren Analysen gab, brachten viele Teilnehmer ihre Übereinstimmung mit der Richtigkeit einer historischen und theoretisch-programmatischen Herangehensweise zum Ausdruck, so wie sie von der IKS vertreten wurde. Denn gegenüber der allgemeinen Atmosphäre der Verwirrung und um den Medienkampagnen der Bourgeoisie gegen den Kommunismus entgegenzutreten, ist es unerlässlich, die theoretischen Grundsatzfragen wieder aufzugreifen und zu vertiefen, die marxistische Methode anzuwenden und sie lebendig auszugestalten. Wir wollen auf einige der Diskussionspunkte in unserer Presse und in späteren Diskussionsveranstaltungen zurückkommen.

Der Hintergrund der Debatte

Einige Tage vor der Debatte haben die beiden Eingeladenen uns eine Absage ihrer Teilnahme geschickt. Wir haben dies zu Beginn der Veranstaltung mitgeteilt und dazu Stellung bezogen. Der Anarchist T. Geurtsen, der uns zwar eine „lebhafte Debatte" wünschte, wollte die Gründe für sein Fernbleiben nicht mitteilen. Cajo Brendel schrieb, er wollte an der Diskussion nicht teilnehmen, und er sei auch nicht mit unseren Auffassungen einverstanden, aber er bezog gleichzeitig politisch Stellung zum Diskussionsthema. Er erklärte unmissverständlich, dass er „überhaupt kein Anarchist" sei, und dass er „nicht damit einverstanden" sei , dass der „‚Rätekommunismus‘ eine ‚Brücke zwischen Marxismus und Anarchismus‘" sei. Wir begrüßen diese Stellungnahme und teilen sie. Wir wollen auf seine Stellungnahme in unserer Presse zurückkommen.

Wir bedauern unsererseits außerordentlich, dass die Eingeladenen nicht zur Diskussion kommen konnten oder wollten, da wir ihnen angeboten hatten, ihren Standpunkt persönlich und öffentlich zu vertreten. Dies trifft insbesondere für Cajo Brendel und die Rätisten der Gruppe „Daad en Gedachte" zu, die immer wieder von einer angeblichen Verfälschung ihrer Positionen durch die IKS sprechen. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, öffentlich und ausführlich auf die angeblichen Lügen und Verzerrungen der IKS einzugehen, um zur Kernfrage – dem Beitrag der Holländischen Linken zum heutigen Arbeiterkampf – zu kommen. In diesem Zusammenhang möchten wir die Anwesenheit von Leuten aus dem anarchistischen Milieu begrüßen, die sich aktiv an der Debatte beteiligt haben, um zur Klärung der revolutionären Perspektiven für den Arbeiterkampf beizutragen. Aber die Abwesenheit von „Vertretern" des „offiziellen Anarchismus" hat uns nicht besonders überrascht. Ihre Haltung, die sie vor kurzem noch bekräftigten, als sie uns vor einigen Wochen noch anlässlich der anarchistischen Buchmesse in Utrecht sehr „anti-autoritär" eine Teilnahme an den Debatten verboten, ist Teil ihrer systematischen Sabotage jedes politischen Klärungsprozesses gegenüber dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Kampagne über den „Tod des Kommunismus".

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Rätismus [3]

Weltrevolution Nr.100

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Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) - Organisationen im Dienste des Krieges

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Letztes Jahr wurde die humanitäre Organisation "Ärzte ohne Grenzen" mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Zwanzig Jahre vorher hatte bereits Amnesty International (AI), dieser glorreiche Vorreiter der Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs, non-governmental organisations) diese hohe Auszeichnung erhalten. Wenn die Weltbourgeoisie solche Belohnungen verteilt, dann erkennt sie damit ihre treuesten Diener an, wie man aus der langen Liste von Kriegstreibern ersehen kann, die durch den Nobelpreis als Friedenstauben geehrt wurden, wie Begin und Sadat.

Vom sogenannten Humanisieren des Krieges zum offenen Aufrufen für den Krieg

Während AI hauptsächlich im Kalten Krieg wirkte, entwickelten sich die anderen NGOs in den letzten beiden Jahrzehnten mit den gleichen Zielen. Dies ist besonders der Fall bei den NGOs, die unter dem Etikett „ohne Grenzen" laufen. Diese NGOs geben als ihr erstes Ziel an, den Krieg zu humanisieren. Das im 19. Jahrhundert gegründete Rote Kreuz setzte sich als Ziel, Regeln für die Kriegsführung aufzustellen, die der Barbarei Grenzen setzen sollten. Von Anfang an hat das Rote Kreuz beansprucht neutral zu sein. Nie in der Geschichte der Menschheit sind so viele humanitäre Abkommen unterzeichnet worden und nie hat es so viel Barbarei gegeben. Vorkapitalistische Gesellschaften sahen Grausamkeit und Bestialität in den menschlichen Verhältnissen als eine schwere Prüfung an, die die Götter den Menschen auferlegten. Die Bourgeoisie sieht diese als zur menschlichen Natur gehörig an, als eine Tatsache, die nun mal zum Leben und zum Krieg insbesondere dazugehört. Das bürgerliche Recht vollzieht eine Trennung. Der Krieg ist eine politische Sache und eine Sache von Profis. Die Bestrafung des Feindes muss getrennt werden vom Akt des Krieges. Der Feind muss human behandelt werden. Je mehr diese Scheidung vollzogen wurde, desto mehr ergänzten sich Humanität und Barbarei. Das wurde zur richtigen Karikatur bei den NGOs, die wie ihr Name suggeriert, keinem besonderem Lager anhängen. Um ihre Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen, sind z.B. die „Ärzte ohne Grenzen" (MSF, Médecins sans Frontières) durch eine Spaltung hindurchgegangen. Es ist kein Zufall, dass MSF aus einem Zerwürfnis gegen den „neutralen" Stil des Roten Kreuzes während des Biafrakrieges 1968 stammt. Dieser sehr blutige Krieg der Bundesregierung von Nigeria gegen die Separatisten von Biafra war nicht Teil der weltweiten Konfrontation der beiden Blöcke. Die USA und Russland waren beide für die Einheit von Nigeria. Dieser Konflikt drückte den Versuch einer zweitrangigen Macht aus, dem Griff der jeweiligen Schutzmacht zu entkommen. Biafra wurde kräftig vom gaullistischen Frankreich unterstützt, das versuchte sich unabhängig von der NATO zu machen. Gleichzeitig warf es seinem britischen Verbündeten Knüppel zwischen die Beine. Biafra wurde auch unterstützt von China, das versuchte eine unabhängige Rolle in Afrika zu spielen. MSF brachte ohne Zweifel einige Linderung für die Leiden in Biafra, aber ihre wesentliche Aufgabe war, Frankreich ideologisch zu unterstützen. Die Bevölkerung Nigerias wurde in eine wahre Hölle hineingerissen, und dieses Elend ausnützend entstand eine neue Form von „Humanität". Hinter vorgetäuschter Autonomie und Notfallhilfe verbirgt sich ein neuer ideologischer Schlachtruf für den imperialistischen Krieg. Sein Evangelium ist das „Recht zu intervenieren". Die Heldentaten dieser neuen Humanität spielten sich vor den Fernsehkameras ab.

Ende der 70er Jahre machte MSF ganz deutlich, dass sie ein Instrument des westlichen Blocks war, als sie die höchst symbolischen Aktionen um die vietnamesischen Flüchtlinge ausführte. In dieser Kampagne „ein Boot für Vietnam" befand sich neben dem Amerika freundlichen Raymond Aron auch der stalinistische Intellektuelle Jean Paul Sartre, der sich zuerst in einen Maoisten gewandelt hatte, und sich schließlich zu einem Anhänger des „Humanitären" bekehrte. In den 80er Jahren lieferten diese „Menschenfreunde ohne Grenzen" wertvolle ideologische Schützenhilfe für Amerika in Afghanistan gegen Russland. Die Bestien, die nun in Afghanistan herrschen, die Taliban, haben sich allerdings nicht sehr dankbar gezeigt und MSF hinausgeworfen.

Die „Menschenfreunde" im Dienst des Militarismus

Die Menschenrechtsideologie, wie sie vom Westen entwickelt wurde, und die modernere Form „des Rechts auf humanitäre Intervention", die unter anderen ausgearbeitet wurde von einem der zynischsten bürgerlichen Politiker, von Francois Mitterand, sollte all die imperialistischen Kriege der Großmächte nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Blocks rechtfertigen. Ob mit oder ohne UNO, ob mit den USA allein oder im Bündnis mit anderen (wenigstens zum Schein), immer wurden die militärischen Einsätze gerechtfertigt mit angeblich humanitären Zielen. Wer wäre geeigneter diese Kriege zu fördern als die NGOs, die ihre „Menschlichkeit" schon bewiesen und ihre „Unabhängigkeit" schon gezeigt haben.

Die von den USA im Irak gegen die Kurden gerichteten Operationen sind ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit der „Menschenfreunde" mit den Militaristen. Bei der Operation „Trost spenden" 1991 in Kurdistan wurde der Höhepunkt der Heuchelei erreicht. Saddam Hussein hatte brutal die kurdische Opposition unterdrückt, die sich am Ende des Golfkrieges dazu hatte verleiten lassen zu glauben, sie würde von den Großmächten unterstützt werden. Die USA wiederholten den Coup aus dem Jahr vorher, sie verstärkten die Sicherheitszonen im Norden des Iraks; die anderen Mächte folgten ihnen; die NGOs fingen mit ihrer Propaganda gegen den Bösen, gegen Saddam, an; und all dies auf dem Rücken der kurdischen Bevölkerung, die gezwungen war, in die Berge zu fliehen. Saddam ermordete einen Teil von ihnen, indem er auf die Flüchtlinge Bomben abwarf; andere kamen zu Tode, weil sie von den Hilfspaketen, die die „humanitären" militärischen Kräfte abwarfen, getroffen wurden.

Seitdem fordern die verschiedenen „humanitären" Organisationen ein regelrechtes Arsenal an Vorbereitungen für die militärischen Aktionen von den demokratischen Regierungen. Bei dieser Schau verhalten sich die demokratischen Großmächte, die Verteidiger der „Menschenrechte" zu zögerlich und müssen vom Mediendruck, der von den NGOs betrieben wird, diesen Hütern des Guten im Menschen, gezwungen werden zu intervenieren. In Wirklichkeit kündigen die NGOs, oft Vertreter des aggressivsten Militarismus, nur neue bevorstehende Kriege an. Dies kann sogar zu Maskeraden wie der „Operation neue Hoffnung" in Somalia führen, wo unter großem Medienspektakel Reissäcke, von französischen Schulkindern gespendet, unter dem Kommando von dem unvermeidlichen Kouchner (später Generalverwalter im Kosovo) an die Front geschafft wurden. Diese Operation endete in einem Fiasko. Somalia ist jetzt vergessen. Manchmal und immer öfter kommen die NGOs sich gegenseitig in die Quere, da sie ja von verschiedenen imperialistischen Staaten abhängen. Das war der Fall in Ruanda, wo die französische Bourgeoisie, direkt verantwortlich für den Völkermord, die „Humanitären" der NGOs benutzte, um ihre Schützlinge vor dem Krieg zu beschützen, also die, die die Massaker organisiert hatten. Diese Operation war eine Karikatur des „humanitären Militarismus". MSF stand Seite an Seite mit den französischen Fremdenlegionären. Die neuen pro-amerikanischen Herrscher von Ruanda ließen sich offensichtlich nicht täuschen über die wahren Absichten Frankreichs. Deshalb haben die USA eine parallele „humanitäre" Operation aufgezogen. Die humanitäre Maske ist zu einer unverzichtbaren Waffe im Krieg geworden.

Der Krieg in Jugoslawien hat mit aller Deutlichkeit die Komplizenschaft zwischen den NGOs und den Militärs aufgezeigt.

Die NGOs waren direkt beteiligt an all den Kriegshandlungen in Ex-Jugoslawien, so z.B. als die USA 1993 sich in den Bosnienkonflikt einschalteten. Dem ging vorher die Forderung der NGOs, Nahrungs- und Arzneimittel im östlichen Bosnien abzuwerfen. Die NGOs schrieen am lautesten nach einem militärischen Eingreifen der Großmächte, um dem zweieinhalb Millionen Volk zu helfen, das vom Krieg vertrieben wurde. Die NGOs lieferten die Rechtfertigung für den Einsatz der französisch-britischen Schnellen Eingreiftruppe im Frühjahr 1995, und der SFOR unter Schirmherrschaft der UNO. Im Kosovo nahm die Kriegspropaganda der NGOs mit der Kampagne gegen Milosevic’s Behandlung der albanischen Bevölkerung noch zu. Es waren besonders sie, die die Medienaufmerksamkeit auf Massaker wie das von Racak im Januar 1999 zogen. Dies war ein Schlüsselelement bei der Vorbereitung der NATO-Bombardierungen von Serbien. Die NGOs waren also aktiv an den kriegsvorbereitenden Ereignissen beteiligt, die zum Militärschlag der NATO im März 1999 führten.

Um die Rolle zu verstehen, die die NGOs in der Kriegspropaganda spielen, lassen wir sie am besten selbst sprechen. Der Bericht von Human Rights Watch über die NATO-Aktion in Ex-Jugoslawien ist aufschlussreich: Dort heißt es: Die Alliierten „verletzten die Kriegsrechte" (indem sie Zivilisten töteten), aber „sie begingen keine Kriegsverbrechen." (Le Monde vom 10.2.00) Der ganze jesuitische Zynismus der „Humanitären" findet sich in diesem Bericht. Eine NGO wie Human Rights Watch kann nicht sagen: „Die Alliierten taten einen wirklich guten Job als sie 500 Leute der Zivilbevölkerung ermordeten." Nein: „Sie verletzten Kriegsrechte". Aber: „Sie begingen keine Kriegsverbrechen."

Mit dieser Art von Argumentation können die NGOs anständige Leute anlocken, die der üblichen Propaganda nicht mehr auf den Leim gehen. Nachdem die NGOs jede Art Missstand aufzeigen, wo immer er auch auftritt, unterscheiden sie dann zwischen Missständen, die verständlich sind, die in die Kategorie der unvermeidlichen negativen Begleiterscheinungen fallen, die zwar auch Kriegsrechte verletzen mögen, und dann gibt es die wirklichen Kriegsverbrecher, die Völkermord-Tyrannen wie Milosevic. Alle Rechtfertigungen der Kriegsverbrechen der Großmächte in den letzten zehn Jahren folgen diesem Argumentationsmuster. Die NGOs prangern Ungerechtigkeiten an, kommen den Unglücklichen zu Hilfe, sind wachsam gegenüber allen Missständen und Missbräuchen - je mehr desto besser spielen sie ihre Rolle als Kriegstreiber. Der gegenwärtige Krieg in Tschetschenien ist die neueste Episode in diesem Teufelstanz. Wieder hören wir hier die NGOs und die anderen „Menschenfreunde", die Verbrechen der russischen Armee anklagen. Aber lange nicht in dem Ausmaß und der Schärfe wie im Kosovo. Damals war der Ton triumphierend und großspurig, jetzt gibt sich die Anklage eher ohnmächtig. Wohlwissend, dass die Westmächte Russland ruhig sein Werk tun lassen, verlegen sie sich jetzt darauf, die Rolle zu spielen, Energie in nutzlosen Protestaktionen verpuffen zu lassen und machtlose Verzweiflungsstimmung zu verbreiten.

Unser Anliegen ist es hier nicht, mit dem Finger auf die Leute zu zeigen, die sich in solche Abenteuer haben hineinziehen lassen, oft mit ganz beträchtlichem Risiko für sich selbst. Was wir wollen, ist die tatsächliche Funktion der NGOs, der sogenannten humanitären Organisationen ohne Grenzen aufzuzeigen. Diese Gruppen verleiten viele Menschen zu sagen: "Gut, diese Organisationen haben auch ihre Fehler, aber sie tun wenigstens etwas." Wir sagen diesen Leuten, was diese Organisationen tun, dient vollkommen den Interessen des Imperialismus.

Kouchner schrieb irgendwo: „Das größte Abenteuer des 20. Jahrhunderts wurde Marxismus genannt. Das größte Abenteuer des 21. Jahrhunderts beginnt und wird humanitäre Bewegung genannt." Wir sagen: Wenn der Marxismus aufhört das größte Abenteuer der Menschheit zu sein, dann wird das ein Triumph des „humanitären" Militarismus sein, den Untergang der Menschheit bedeuten. Pto

 

Der Exodus der Kosovo-Albaner, der auf das Konto sowohl der Soldaten Milosevic’s als auch der der Westmächte und deren Verbündeten in der KLA geht, wurde voll und ganz ausgeschlachtet, um die NATO-Aktion zu rechtfertigen. Hier zeigte sich am scheußlichsten, wie die menschlichen Gefühle des Mitleids missbraucht werden, um den Krieg zu rechtfertigen. Halfen die Taten der NGOs und der Militärs, das Los der Flüchtlinge zu verbessern? Sicher ist, dass die Leiden der Bevölkerung im Kosovo missbraucht wurden zur Rechtfertigung des Militarismus.

Die NGOs waren ursprünglich eine ideologische Antwort des Westens gegenüber dem Ostblock mit dem Aufhänger Menschenrechte, die während der Präsidentschaft Carter’s initiiert wurde. Obgleich einige von ihnen schon vor 1970 gegründet worden waren, fiel ihre Blüte doch mit dem beginnenden Zerfall des stalinistischen Blocks zusammen. Die NGOs dienten als ideologische Waffe des Westens gegen seinen östlichen Rivalen, und sie waren während des letzten Jahrzehnts eine wichtige Waffe im imperialistischen Krieg.

Die erste NGO, die in ihren Platz im ideologischen Kampf des amerikanischen Blocks fand, war AI. Gegründet worden war AI 1961. Paradoxer Weise wurde es aufgebaut aus den Resten der Friedensbewegung, die, von den verschiedenen stalinistischen Parteien initiiert und finanziert, in den 50er Jahren im Dienste der russischen Propaganda standen. AI sollte das Modell für die NGOs in den folgenden Jahrzehnten werden. AI behauptete unabhängig zu sein. AI arbeitete dagegen, dass Leute willkürlich eingesperrt und gefoltert werden. AI setzte sich ein für politische Gefangene. AI startete eine Kampagne gegen Folter und zweifellos half es einigen wenigen Unglücklichen. Aber vor allem sollte AI in den 80er Jahren beim Wettrüsten Präsident Reagan’s mit seiner Kampagne gegen das Reich des Bösen ein sehr wichtiges Werkzeug werden. Natürlich denunzierte AI auch die Auswüchse im Westen und seine Jahresberichte stellten immer ein gewisses Ärgernis für die westlichen Großmächte dar. Aber das war nur notwendig, um die Effektivität seiner Hauptaufgabe sicher zu stellen, nämlich mit dem Finger auf den Ostblock zu zeigen, die Repression und die Gefangenenlager in der UdSSR, in der Tschechoslowakei und Polen zu verurteilen. Was bei den Berichten von AI am Ende immer herauskam, war die Idee, es gibt Rechtsstaaten, die, wenn auch nicht immer vollkommen, den richtigen Weg zeigen. Zusammen mit anderen Organisationen trug AI dazu bei, einzutrichtern, die Schreckenstaten auf der Welt seien den Diktatoren der verschiedensten Art zuzuschreiben und keinesfalls einem dekadenten System, das nur noch durch Kriege und Militarismus überleben kann.

Ein Beispiel für die Funktionsweise von AI ist die Bokassa Affäre. In den 70er Jahren war Frankreich direkt verwickelt in den Aufstieg zur Macht von Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik, wie es damals die Praxis Frankreichs auch in anderen Ländern seines Einflussbereiches war. Giscard’s Frankreich bezahlte sogar die Farce von Bokassa’s Kaiserkrönung. Bokassa vermischte aber zu sehr seine persönlichen Interessen mit denen seines Sponsors. Und er machte Fehler bei der Niederschlagung der rebellischen Schüler in seinem Land. Die Unterdrückung der Revolte war blutig, wie sein Regime im Allgemeinen. Frankreich passte das nicht und organisierte mittels seines Geheimdienstes und des Botschafters der Zentralafrikanischen Republik in Frankreich den Sturz des Kaisers. Es war der Botschafter, der davon AI informierte. Die nun einsetzende Kampagne dieser NGO rechtfertigte eine Intervention Frankreichs, das seine Fallschirmjäger mit einem neuen Präsidenten im Gepäck schickte. AI bestand darauf, dass es ihm zu verdanken sei, wenn Afrika einen blutigen Diktator los geworden ist. In Wirklichkeit ist Frankreich einen unangenehmen Clown los geworden und hat ihn durch einen anderen Regierungschef ersetzt. Die Bevölkerung hat natürlich nichts dabei gewonnen.

Unterdrückung anzuprangern, ihre Solidarität mit den Unterdrückten zu zeigen, ist eine Grundaufgabe der Revolutionäre. Und die IKS hat damals auch die afrikanische Bourgeoisie verurteilt, die erfolgreich die Brutalität ihres Beschützers Frankreich imitiert hat. Die Kampagnen AI’s hatten dagegen ein ganz anderes Ziel: nämlich Frankreich zu befähigen, ein strategisch so wichtiges Land wieder besser in den Griff zu bekommen und mit einem Monster wie Bokassa, seinem eigenen Machwerk, fertig zu werden. AI kann gar nichts Anderes tun. AI berichtet über viele Schreckenstaten auf der Welt. Auch wenn diese Arbeit oft von Leuten gemacht wird, die ehrlich empört darüber sind, so ist doch das Endergebnis, den demokratischen Ländern einen ideologischen Deckmantel liefern, ihre bewaffneten Interventionen zu rechtfertigen.

Weltrevolution Nr.101

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Aufbrechen: Welche Debatte unter Revolutionären?

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 Wieder einmal wollen wir unseren Lesern die Lektüre der neulich erschienenen fünften Ausgabe der Zeitschrift „Aufbrechen“ ans Herz legen (Aufbrechen 4, Mai 2000). Besonders empfehlenswert sind darin aus unserer Sicht die Artikel, welche den bürgerlichen Charakter der Rot-Grünen Regierung und des demokratischen Antifaschismus aufzeigen („Grüne Karte für die Elite, Rot für den `Mob´“; „Antifa im Haider-Wahn: Joseph Fischers Praktikanten bei der Arbeit“; „Über Sauberkeit und Modernisierung“). Diese Zeitschrift zeichnet sich weiterhin durch eine schrittweise Annäherung an proletarische Positionen, an das politische Erbe des Linkskommunismus aus. Diese Entwicklung muss weiterhin von allen revolutionär Gesinnten begrüßt und unterstützt werden.

Die Notwendigkeit Bilanz zu ziehen.

Wir wollen aber an dieser Stelle unsere Aufmerksamkeit auf zwei andere Artikel der neuen Ausgabe richten. Der erste, unter dem Titel „Alles Neue macht (nicht nur) der Mai“ befasst sich mit der eigenen Entwicklung und dem eigenen Selbstverständnis; der zweite, „Kronstadt und die Kommunisten“ wieder einmal mit der Einschätzung der Russischen Revolution. Der erste Artikel fasst zum einem die programmatische Entwicklung der Genossen zusammen, seitdem sie begonnen haben, die bürgerliche Ideologie des Stalinismus ernsthaft in Frage zu stellen: die Verwerfung insbesondere des „Befreiungsnationalismus“ und der antifaschistischen „Verteidigung der Demokratie“. Zum anderen werden die ursprünglichen Organisationsansätze der Genossen kritisch bilanziert. „Das in der Null-Nummer erklärte Ziel, Ausdruck eines gemeinsamen politischen Aufbaus dreier Gruppen zu sein, der ihre Praxis widerspiegelt und deren theoretischen Diskussionsprozess dokumentiert, hat sich schlicht überlebt.“

Tatsächlich konnte der Versuch, mit den typisch maoistischen Mitteln einer prinzipienlosen Bündnispolitik sich vom Maoismus zu lösen, nicht von Erfolg gekrönt werden. Das sogenannte „Aufbau-Projekt“ zwischen drei völlig unterschiedlichen Gruppen war von vorn herein dazu verdammt in die Brüche zu gehen. Bereits in unserer ersten öffentlichen Stellungnahme gegenüber der Zeitschrift Aufbrechen in Weltrevolution 94 („Der Kosovokrieg: Das Ringen um eine proletarische Haltung“) schrieben wir: „Es scheint ein Grundgedanke des Aufbrechen-Projektes zu sein, dass man dem autonomen Ghetto entrinnen kann, indem man sich bei den Arbeitern in den Betrieben verankert und das Trauma der K-Gruppen hinter sich lasse, indem unter Hintansetzung programmatischer Klärung organisatorisch sowie in der Intervention im Klassenkampf mit Anderen zusammengearbeitet wird.

Diese Grundannahme ist aber aus unserer Sicht ein Irrglaube. Der Bruch mit dem linken Flügel des Kapitals erfordert zuallererst eine radikale Verwerfung der programmatischen Positionen und des Politikverständnisses des Klassenfeindes.“

In diesem Sinne begrüßen wir ausdrücklich die Schlussfolgerung, welche der obengenannte Aufbrechen-Artikel aus dieser Erfahrung zieht. „Eine kommunistische Perspektive kann nicht durch oberflächliche, kurzfristige Mobilisierungen innerhalb der existierenden Linken eröffnet werden, deren Einheit in der Beliebigkeit ihrer Positionen und deren Differenzen in variierendem taktischen Geschick bestehen. Es hat für uns keinen Wert, pressewirksam an der Spitze beliebig mobilisierter „Massen“ zu stehen. Nicht am 1. Mai und nicht an anderen Tagen. Eine kommunistische Perspektive kann nur entstehen in der nachhaltigen Vermittlung eines theoretischen Verständnisses der gesellschaftlichen Verhältnisse, in Selbstorganisierungen entlang gemeinsamer sozialer Realitäten in konkreten Kämpfen, in einer kommunistischen Organisierung, die den begrenzten sozialen Kämpfen eine politische Kontinuität gibt. Diese kommunistische Organisierung braucht aber gerade ein Maximum an theoretischer Klarheit. Diese zu entwickeln und zu vermitteln ist ihre entscheidende Aufgabe und Existenzberechtigung. Dies erfordert die offene Diskussion und ehrliche Auseinandersetzung und keine PR-Agenturen bürgerlicher Nachwuchspolitiker.“

Diese Einsichten stellen nach unserer Auffassung einen wichtigen Schritt nach vorne dar. Dies trifft ebenso für die öffentliche Veranstaltung zu, welche die „Aufbrechen“ Redaktion (auf einen Vorschlag eines Genossen der GIK aus Österreich hin) zum Thema „Leninismus“ Ende Juni in Berlin organisierte, an der linkskommunistische Gruppen wie die Communist Workers Organisation (CWO) und die IKS, aber auch mit dem Linkskommunismus sympathisierende Kreise wie die eben genannte GIK teilnehmen konnten.

Die Notwendigkeit der offenen und ehrlichen Debatte unter Revolutionären

Dies bedeutet aber unseres Erachtens keineswegs, dass damit sämtliche Herangehensweisen des Maoismus unter diesen Genossen überwundenn worden sind. Wie die Genossen selbst schreiben: „Allerdings mussten wir feststellen, dass die Entwicklung einer kommunistischen Perspektive, das Brechen mit falschen, aus der bürgerlichen Tradition des „Marxismus-Leninismus“ stammenden Theorie- und Praxisvorstellungen doch ungleich schwerer ist, als wir ursprünglich annahmen. Und damit eben auch die theoretische, oder wenn man so will programmatische Klärung.“

Ein Ausdruck einer solchen bürgerlichen Praxisvorstellung, welche man seit Jahrzehnten beispielsweise in maoistischen Kreisen unablässig beobachten kann, besteht darin, unbedingt eine „eigene“ Organisation „aufbauen“ zu wollen, sobald man sich von der „Muttergruppe“ gelöst hat. Es gibt noch keine Hinweise darauf, dass die Aufbrechen-GenossInnen sich von dieser Lieblingspraxis der Maoisten gelöst haben. Dabei zeigt gerade die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass ausgerechnet für Genossen, welche mit einer bürgerlichen Vergangenheit brechen müssen, die „eigene Organisation“ der denkbar größte Stolperstein auf dem Weg zur proletarischen Klarheit darstellt, und dass ein allen politisch Suchenden offenstehender Diskussionszirkel ein ungleich besser geeignetes Mittel hierfür darstellt. Die Vorteile eines solchen Diskussionskreises gerade für solche Genossen haben wir in unserem Artikel „Wie heute die politische Klärung und den Zusammenschluss der Revolutionäre vorantreiben?“ in Weltrevolution 100 thematisiert.

Denn der Bruch mit der bürgerlichen Linken muss nicht nur theoretisch vollzogen werden, sondern ebenso durch eine radikal veränderte Haltung und Praxis konkretisiert werden. Dies erfordert unserer Auffassung nach eine offene und ehrliche Einstellung gegenüber anderen Revolutionären. In dem von uns zitierten Artikel aus Aufbrechen Nr. 4 sprechen sich die Genossen zurecht für „die offene Diskussion und ehrliche Auseinandersetzung aus“ - völlig zu recht. Aber dies erfordert nicht nur schöne Erklärungen, sondern eine entsprechende Praxis, indem man die öffentliche Debatte mit den bestehenden revolutionären Gruppen ohne wenn und aber sucht und nicht scheut. Ob die Aufbrechen-GenossInnen dies in der Praxis verstanden haben, muss sich noch zeigen. Wir wollen hier lediglich auf einen Aspekt der Praxis der GenossInnen hinweisen, welcher stutzig macht: ihre Einstellung gegenüber der IKS. Die Aufbrechen-GenossInnen haben sich zum Ziel gesetzt, sich mit dem Erbe des Linkskommunismus auseinanderzusetzen. Die IKS ist die größte, international am stärksten vertretene Organisation des Linkskommunismus heute und zudem die einzige, welche regelmäßig eine Presse in deutscher Sprache herausgibt. Seit dem obenerwähnten Artikel in Weltrevolution Nr. 94 und bis zur jetzigen Ausgabe Nr. 101 gab es nur eine einzige Nummer unseres deutschen Presseorgans, welche keinen Diskussionsbeitrag gegenüber Aufbrechen brachte. Während dieser Zeit veröffentlichten wir folgende Artikel gegenüber Aufbrechen:

Weltrevolution 95: „Konferenz in Berlin: Programmatische Klärung - Unverzichtbarer Bestandteil des Klassenkampfes.“

Weltrevolution 97: „Aufbrechen und die nationale Frage: Rosa Luxemburg - Sprachrohr der marxistischen Linken“.

Weltrevolution 98: „Manifest gegen die Arbeit: Nicht Abschaffung der Arbeit, sondern Abschaffung der Lohnarbeit.“

Weltrevolution 99: „Aufbrechen: Welche Aufarbeitung der Geschichte?“

Die Artikel in Weltrevolution Nr. 94 und 100 haben wir bereits erwähnt. In der Nr. 100 gibt es auch eine Besprechung der Aufbrechen-Position zur Russischen Revolution im Rahmen eines Berichts über eine öffentliche Veranstaltung der IKS in Berlin. Die Zeitschrift Aufbrechen hat auf keinen einzigen dieser Beiträge bisher geantwortet. Sie haben es in den bisher fünf Nummern ihrer Zeitschrift sogar fertiggebracht, den Namen unserer Organisation nicht ein einziges Mal erwähnt zu haben. Und dies obwohl die IKS die einzige Organisation ist, welche regelmäßig und öffentlich mit den Genossen in ihrer Presse debattiert. Genossen von Aufbrechen! Ihr schreibt, dass ihr „das ernsthafte in Gang bringen einer kommunistischen Debatte zwischen diesen“ (also revolutionären - IKS) „Kräften für dringend notwendig“ erachtet. Ist das eure Vorstellung von einer solchen Haltung?

Die Notwendigkeit eines proletarischen Zugangs zur Geschichte

Auch die Frage der Methode, mit der die Genossen geschichtliche Fragen behandeln, haben wir mehrmals behandelt, vor allem in Weltrevolution 99. Tatsächlich hat sich diese Frage immer wieder gestellt, insbesondere im Zusammenhang mit der Russischen Revolution. Auch diese Frage ist sehr wichtig, wenn es darum geht, den Einfluss des Stalinismus abzuschütteln. Seit Monaten befassen sich die Genossen von Aufbrechen mit der Frage des ‚Leninismus‘. Aus ihrer Zeit als Maoisten daran gewöhnt, Lenin als eine Art übermenschliches „Argument“ behandelt zu erleben, der manipulativ eingesetzt wird, um als „Autorität“ den Kampf zwischen bürgerlichen Cliquen zu entscheiden, sind die Genossen jetzt geneigt, die Auffassungen Lenins als eine Hauptquelle des Unheils anzusehen, welches die Russische Revolution heimsuchte. Sie merken dabei nicht, dass es den „Leninismus“, den sie bekämpfen wollen, gar nicht gibt, weil der „Leninismus“ bzw. der „Marxismus-Leninismus“ eine schlichte Erfindung der stalinistischen Konterrevolution ist. Dagegen gibt es einen Revolutionär Lenin, der kämpfend Position bezieht, in Debatten gegenüber den unterschiedlichsten Fragen Position ergreift, oft klarsichtig ist, manchmal falsch liegt, in der Polemik oft übertreibt, in der Partei manchmal mitreißt, sich aber oft genug auch in der Minderheit befindet. Der „Leninismus“ hingegen ist die Kanonisierung und Dogmatisierung jeden Fehlers und jeder Übertreibung, welche Lenin jemals beging, die Erhebung seiner Lesenotizen über Hegel zu einer Art „Philosophie“ u.s.w, m.a.W. ein konterrevolutionärer Anschlag des Stalinismus auf den lebendigen Geist des Marxismus. Übrigens: Auch der „Luxemburgismus“, von dem heute noch mancherorts die Rede ist, ist eine Erfindung Stalins gewesen.

Der Stalinismus, die bürgerliche Konterrevolution also, hat gelehrt, dass es geniale und charismatische Führer gibt, welche über ein Monopol an marxistischer Weisheit verfügen, und dem Proletariat im Stil eines biblischen Propheten den Weg ins gelobte Land weisen. Es ist oft so, dass mit der kapitalistischen Linken brechende Genossen, nachdem sie entdeckt haben, dass Revolutionäre wie Lenin (oder Trotzki) keineswegs unfehlbar waren, einfach den Spieß umdrehen und anstelle der alten Götter neue, ebenso unfehlbare Führer oder Autoritätsquellen suchen. So wird oft eine „anti-lenistisch“ erdichtete Rosa Luxemburg als neuer, alternativer „Guru“ zu Lenin auf einen Sockel gehoben. Auf der obenerwähnten Aufbrechen Veranstaltung in Berlin gab es unseres Erachtens eine gewisse Neigung der Aufbrechen-GenossInnen, die Kommunistische Linke als „Alternative zum Leninismus“ lobzupreisen, ohne zu erkennen, dass die Linkskommunisten der ersten Stunde alle bei Lenin und den Bolschewiki in die Schule gegangen und glühende Verehrer der russischen Parteitradition waren.

Diese Neigung, das Ringen des Proletariats um Klarheit als einen Kampf zwischen einer richtigen und falschen „Linie“ zu betrachten, zieht sich wie ein roter Faden durch die historischen Abhandlungen der Zeitschrift Aufbrechen. Es schwächt folglich die Argumentationslinie der GenossInnen selbst dort, wo sie im wesentlichen recht haben. So z.B. in dem jüngsten Artikel über Kronstadt. Dort wird völlig zurecht der proletarische Charakter sowohl des Kronstädter Aufstandes als der vorangehenden Streikbewegungen in den russischen Großstädten verteidigt. Ebenso richtig ist die Feststellung, dass der proletarische Kern dieses Aufstands in der Forderung nach Wiederherstellung der Macht der Arbeiterräte bestand. Und die Fehler und auch Verbrechen der noch mehr oder weniger in den Händen der Bolschewiki befindlichen russischen Staatsmacht werden ganz zu recht heftig angeprangert.

Zwar ist auch der Kronstädter Aufstand und seine Niederschlagung letztendlich ein tragisches Ergebnis des Scheiterns der Weltrevolution und der daraus folgenden Isolierung und Ausblutung der russischen Arbeiterbastion. Dennoch ist es notwendig, die Fehler der Bolschewiki zu kritisieren, welche zum Niedergang der Revolution beigetragen haben. Worin bestanden nun diese Fehler? Bestanden sie etwa darin, dass Lenin oder die russische Partei insgesamt die „falsche Linie“ vertrat (etwa ein „rein taktisches Verhältnis zu den Räten“ hatten, wie die GenossInnen sagen) oder gar eine bürgerliche Revolution in Russland durchführen wollten, wie der Artikel in Anlehnung an Cajo Brendel auch noch behauptet? Und waren das Fehler, welche von anderen „politischen Linien“, etwa der von Rosa Luxemburg, der KAPD oder der Italienischen Linken sicher hätten vermieden werden können? Und wenn die Politik der Bolschewiki durch die kapitalistische Rückständigkeit Russlands mitbestimmt wurde, wie Aufbrechen glaubt, bedeutet dies, dass es in einem hochentwickelten Land wie Deutschland kein Kronstadt hätte geben können?

Wir glauben, dass Lenin und die Bolschewiken im wesentlichen zwei Hauptfehler begangen haben. Zum einem glaubten sie, dass die proletarische Diktatur, von den Räten delegiert, im wesentlichen von der politischen Klassenpartei ausgeübt werden müsste. Zum anderen glaubten sie, dass diese Diktatur identisch sei mit der neuen Staatsmacht, und dass die Arbeiter folglich kein Recht haben dürften, gegen diese Staatsmacht zu streiken oder zu den Waffen zu greifen. Diese Vorstellungen wurden damals von der gesamten marxistischen Bewegung geteilt, von Marx und Engels bis zu Lenin und Trotzki, aber auch Luxemburg und Liebknecht. Wir erinnern beispielsweise an den Ausspruch Rosa Luxemburgs während der Deutschen Revolution, dass die Spartakisten erst dann die Macht übernehmen werden, wenn die Mehrheit der in den Räten organisierten Arbeiter dafür sein sollten (also haargenau dieselbe Haltung wie die der Bolschewiki). Auch die Erfahrungen der Pariser Kommune und der russischen Massenstreiks von 1905, so lehrreich sie auch waren, reichten noch nicht aus, um diese Fragen zu klären. Erst die Degenerierung der Oktoberrevolution und nicht zuletzt die Tragödie von Kronstadt befähigten die Revolutionäre erst Jahre später, ein weitergehendes Verständnis dieser Fragen zu erlangen. Denn die Tragödie von Kronstadt bestand gerade darin, dass ein proletarischer Aufstand von einer Arbeiterpartei niedergeschlagen wurde.

Der Blutzoll von Kronstadt war also nicht das Ergebnis der Auffassung Lenins von der Revolution oder einer der russischen Partei spezifischen Auffassung, sondern dies folgte aus der unzureichenden Klarheit und Erfahrung der gesamten damaligen Arbeiterbewegung. So erklärt sich eine Tatsache, welche der Aufbrechen-Artikel gar nicht zur Kenntnis nimmt: Dass bekannte Vertreter des Linkskommunismus die Niederschlagung von Kronstadt damals unterstützt haben. Dies trifft sogar für bedeutende Teile der „deutsch-holländischen“ Linken zu. So z.B. für Hermann Gorter, der ohnehin stets die Hauptgefahr einer Konterrevolution von Seiten der Bauern ausgehend erblickte und nicht von Seite der wuchernden Staatsmacht selbst. Selbst die KAPD akzeptierte zunächst die offizielle russische Version der Kronstädter Ereignisse.

Erst viel später haben die Linkskommunisten - am klarsten die „italienische“ Auslandsfraktion um die Zeitschrift Bilan in den 30er Jahren - mehr oder weniger vollständig die Lehren daraus gezogen:

- dass die Klasse insgesamt ihre Diktatur ausüben muss und nicht die Partei stellvertretend für die Klasse

- dass die Klasse eine eigene, autonome Organisation und Bewaffnung behalten muss, und die eigenen Interessen, wenn nötig mit der Waffe in der Hand, auch gegen die neue Staatsmacht, gegen Rotarmisten, Tschekisten und Staatsfunktionäre durchsetzen muss.

- dass Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Klasse niemals mit Gewalt gelöst werden dürfen (eine Lehre, welche bereits die Aufständischen von Kronstadt vertraten).

Weit entfernt also, ein ewiges Ringen zwischen einer bürgerlichen und einen proletarischen „Linie“ zu sein, wie es in der Gedankenwelt des Steuermanns Mao erschien, ist die Debatte im Lager des Proletariats ein gemeinsames Ringen aller Beteiligten um Klarheit, wobei alle Beiträge und Bemühungen ihren Wert besitzen als Teil eines Gesamtbestrebens.

Fassen wir abschließend zusammen: Wir begrüßen die Fortschritte, die in dieser Ausgabe von Aufbrechen zum Ausdruck kommen, wie die Absichtserklärung, eine offene und ehrliche Debatte unter den Revolutionären zu suchen. Aber wir sagen mit Friedrich Engels: „The proof of the pudding is in the eating“. Weltrevolution

Internationalisme 1947: Wie die Trotzkisten die Arbeiter in ein imperialistisches Massaker schickten

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Die Position politischer Gruppen gegenüber dem Krieg ist ein grundlegendes Kriterium, das uns erlaubt, eine klare Trennungslinie zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Lager zu ziehen. Wir veröffentlichen untenstehend Auszüge eines Artikels aus der Zeitschrift INTERNATIONALISME, dem Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs (GCF), aus dem Jahre 1947. Dieser Artikel entblößt die konterrevolutionäre Einstellung der trotzkistischen Gruppen während des 2. Weltkrieges und der "Befreiung" Frankreichs: Ihre Preisgabe des proletarischen internationalistischen Klassenstandpunktes zugunsten der Verteidigung des einen imperialistischen Lagers gegenüber dem anderen. Die Position, die sie in der Vergangenheit einnahmen, zeigt, dass sie nie von dieser Position abgewichen sind. Ihr so genanntes "antiimperialistisches" Geschwätz in den gegenwärtigen Kriegen ist nichts anderes als eine leere Worthülse, um zu verdecken, dass die Trotzkisten dem kapitalistischen Lager angehören.

Internationalisme 1947:

Es ist ein schwerer und weit verbreiteter Irrtum zu glauben, dass das, was die Trotzkisten von revolutionären Kräften unterscheidet, ihre vormalige Verteidigung der Sowjet-union sei. Dies ist sicher eine Position, die am besten und klarsten die Blindheit des Trotzkismus zeigt, aber es wäre sicher ein schwerwiegender Fehler, nur diesen Aspekt zu sehen. Es handelt sich sicher um den typischsten und umfassendsten Ausdruck ihrer Position. Wenn wir soviel Gewicht auf diesen Punkt legen, dann deshalb, weil es viele Menschen gibt, die zwar erschrocken sind über sichtbare Symptome einer Krankheit, kaum sind diese scheinbar verschwunden, sind sie jedoch wieder beruhigt. Sie vergessen, dass das Verschwinden der Symptome nicht zwangsläufig eine Heilung von der Krankheit bedeutet. Um dieses zu beweisen, müssen wir nur die brennendste Frage nehmen, die keine Fluchtmöglichkeit offenlässt, und die gnadenlos die Positionen des Proletariats denen der Bourgeoisie gegenüberstellt: Welche Haltung gilt es gegenüber dem imperialistischen Krieg einzunehmen? Was sehen wir? Alle trotzkistischen Gruppen haben unter dieser oder jener Losung im imperialistischen Krieg für eine Seite Partei ergriffen.

Die Verteidigung der Sowjetunion ist nicht das Hauptmerkmal dafür, dass der Trotzkismus zum Lager der Bourgeoisie gehört

Es hilft nicht, uns mit den verschiedenen Antikriegserklärungen der Trotzkisten zu widersprechen. Wir kennen sie alle zur Genüge. Aber entscheidend sind nicht die theoretischen Erklärungen sondern die wirkliche politische Praxis, die den theoretischen Positionen entspringt, und die sich konkretisiert in der ideologischen und praktischen Unterstützung der Kriegsparteien. Die Verteidigung der UdSSR ist sicher eines der Hauptglieder in der Kette, die das Proletariat an den imperialistischen Krieg fesselt, aber nicht das einzige. Diejenigen trotzkistischen Minderheiten, die die Verteidigung der UdSSR ablehnten, sowie die linken Sozialisten und Anarchisten, fanden andere, nicht weniger gewichtige Gründe (und nicht weniger durch die bürgerliche Ideologie vergiftete), um ihre Teilnahme am imperialistischen Krieg zu rechtfertigen. Für die Einen war es die "Verteidigung der Demokratie", für andere der "Kampf gegen den Faschismus" oder die "nationale Befreiung", oder eben das "Recht der Völker auf Selbstbestimmung". Für alle von ihnen war es eine Frage des "kleineren Übels", das sie Partei nehmen ließ im Krieg, oder in der "Résistance" für den einen imperialistischen Block gegen den anderen. Wie wir sehen, benötigt der Trotzkismus nicht die Position der Verteidigung der UdSSR, um das Wesen seiner Ideologie zu offenbaren. Offensichtlich jedoch macht die Verteidigung der UdSSR eine Parteinahme im Krieg, getarnt unter pseudorevolutionären Phrasen, einfacher. Aber gleichzeitig verschleiert diese Verteidigung das grundsätzliche Wesen des Trotzkismus und macht es schwieriger, dieses Wesen ans Tageslicht zu bringen. Wer immer etwas mit dem trotzkistischen Milieu zwischen 1939-1945 zu tun hatte, wird zustimmen, dass ihre Hauptsorge nicht geprägt war nicht von der Verteidigung der UdSSR, sondern von der Wahl des "kleineren Übels", vom Kampf gegen die "fremde Besatzung" und "gegen den Faschismus" bestimmt war. Dies erklärt ihre Teilnahme an der "Résistance" der FFI (Forces Francaises de l'Intérieur") und an der "Befreiung" erklärt. Und als der (trotzkistischen) PCI in Frankreich von ausländischen Sektionen zu ihrer Rolle, die sie im "Volksaufstand der Befreiung" gespielt hat, gratuliert wurde, da konnten wir ihr gut und gerne jede Form von Genugtuung lassen, die sie empfinden mag über ihre Täuschung bezüglich der "Wichtigkeit" ihrer Rolle. Wir wollen uns an die politische Bedeutung solcher Glückwünsche zu gegebener Zeit erinnern.

Die Haltung des Trotzkismus gegenüber dem Imperialismus

Was ist das Kriterium für eine revolutionäre Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg? Revolutionäre nehmen als Wendepunkt jenes imperialistische Stadium, das die Weltwirtschaft als Ganzes erreicht hat. Der Imperialismus ist kein nationales Phänomen. In diesem Stadium kann es keine nationalen Kriege geben. Die Struktur jedes Krieges ist durch das Gefüge des Weltimperialismus bestimmt. In dieser Epoche gibt es keine "fortschrittlichen" Kriege, alleine die soziale Revolution ist fortschrittlich. Die historische Alternative, die sich für die Menschheit stellt lautet: sozialistische Revolution oder Dekadenz, das heißt Abstieg in die Barbarei durch die Vernichtung all des Wohlstandes, der von der Menschheit geschaffen wurde, die Zerstörung der Produktivkräfte und die permanenten Massaker des Proletariats in einer endlosen Reihe von lokalen und übergreifenden Kriegen. Deswegen stellen Revolutionäre dieses Klassenkriterium in Zusammenhang mit ihrer Analyse der historischen Evolution der Gesellschaft. Lasst uns sehen, wie der Trotzkismus diese Frage theoretisch stellt: "Aber nicht jedes Land auf der Welt ist imperialistisch. Im Gegenteil, die meisten Länder sind Opfer des Imperialismus. Einige koloniale oder halbkoloniale Länder werden sicher versuchen den Krieg dazu zu benutzen, das Joch der Sklaverei abzuschütteln. Es wird die Pflicht des internationalen Proletariats sein, den unterdrückten Ländern im Krieg gegen die Unterdrücker zu helfen. (Das Übergangsprogramm, aus dem Kapitel "Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg")

Die konterrevolutionäre Rolle des Trotzkismus im 2. Weltkrieg

Die Kriterien der Trotzkisten beziehen sich nicht auf die historische Periode, in der wir leben, sondern sie vertreten einen Begriff des Imperialismus, der abstrakt und falsch ist. Demnach ist nur die Bourgeoisie eines dominanten Landes imperialistisch. Imperialismus ist also nicht ein politisches und ökonomisches Stadium des Weltimperialismus, sondern nur in bestimmten Ländern anzutreffen, währenddessen die anderen kapitalistischen Länder ("die Mehrheit") nicht imperialistisch sind. Wenn wir nicht bedeutungslose, formale Unterschiede machen wollen, dann ist gegenwärtig jedes Land auf der Welt, zumindest ökonomisch, von einem der beiden folgenden Länder beherrscht: entweder von den USA oder der UdSSR. Sollen wir daraus schlussfolgern, dass nur die Bourgeoisie dieser beiden Länder imperialistisch ist, und dass die Feindschaft der Arbeiterklasse gegenüber dem Krieg nur in diesen Ländern zum Ausdruck kommen sollte? Noch besser, folgen wir den Trotzkisten und nehmen noch Russland, da es nach ihrer Definition nicht imperialistisch ist, heraus, dann landen wir bei einer unglaublichen Absurdität: das einzige imperialistische Land dieser Welt sind demnach die USA. Das wiederum führt uns zu einer sehr bequemen Lösung, nämlich dass es die Aufgabe des Proletariats sei, allen anderen Nationen der Welt zu helfen, da sie ja "nicht imperialistisch" und "unterdrückt" seien. Lasst uns sehen, wie sich diese spitzfindige, trotzkistische Unterscheidung in der Praxis zeigt:

1939 gilt Frankreich als ein imperialistisches Land und der Trotzkismus ruft zum "revolutionären Defätismus" auf.

1940-1945 ist Frankreich besetzt. Nun ist es in ihren Augen nicht länger ein imperialistisches, sondern ein unterdrücktes Land. Frankreichs Krieg ist nun Befreiung; es sei die Pflicht des Proletariats, diesen Kampf zu unterstützen. Und schlussendlich ist 1945 plötzlich Deutschland ein "besetztes und unterdrücktes" Land. Es sei nun die Aufgabe des Proletariats, den deutschen "Befreiungskampf" gegen Frankreich zu unterstützen. Und was für Frankreich gilt, das gilt natürlich auch für jedes andere Land, für Japan, Italien, Belgien usw. Kommt nicht und erzählt uns etwas über koloniale und halbkoloniale Länder. Im imperialistischen Stadium wurde demnach jedes Land, das im brutalen imperialistischen Wettstreit weder das Glück noch die Kraft hatte, Sieger zu sein, ein "unterdrücktes" Land (Ausnahmen sind Deutschland und Japan oder auf der anderen Seite China). Die Aufgabe des Proletariats würde demnach darin bestehen, im Rhythmus der trotzkistischen Gebote, von einer Seite der imperialistischen Waagschale zur anderen zu springen und sich selbst bei der "Hilfe in einem gerechten und fortschrittlichen Krieg", wie die Trotzkisten es nennen würden, abzuschlachten zu lassen (aus: Das Übergangsprogamm, selbes Kapitel).

Generell besteht das grundlegende Charakteristikum des Trotzkismus darin, das Proletariat aufzufordern, in keiner Situation den Widerstand und eine Klassenlösung gegenüber der Bourgeoisie zu praktizieren, sondern die Wahl zwischen jeweils zwei imperialistischen Ausprägungen zu treffen: zwischen faschistischer und antifaschistischer Bourgeoisie, zwischen "Reaktion" und "Demokratie", zwischen "Monarchie" und "Republik", zwischen dem imperialistischen Krieg und dem "gerechten und fortschrittlichen" Krieg. Genau mit dieser ständigen Wahl des "kleineren Übels" ergriffen die Trotzkisten Partei im imperialistischen Krieg, und nicht etwa als Resultat der Notwendigkeit die UdSSR zu verteidigen. Vor dem 2.Weltkrieg ergriffen sie im Spanischen Bürgerkrieg 1936-38 Partei, indem sie die spanische Republik gegen Frankreich verteidigten. Dann verteidigten sie das China Chiang-Kai-Tscheks gegen Japan. Folglich erscheint die Verteidigung der UdSSR nicht als Wendepunkt ihrer Positionen, sondern als deren Höhepunkt. Sie ist Ausdruck ihrer grundlegenden Plattform. Einer Plattform, wonach das Proletariat keine eigene Klassenposition in einem imperialistischen Krieg hat, sondern die von ihm verlangt, einen Unterschied zwischen verschiedenen antagonistischen, nationalen kapitalistischen Formationen zu machen und schließlich eine davon zu finden, die man als fortschrittlich bezeichnen kann. Als generelle Regel der Trotzkisten gilt, dass das Proletariat dem schwächsten und rückschrittlichsten Teil helfen sollte: der "unterdrückten" Bourgeoisie. Diese Position, gerade in einer so entscheidenden und zentralen Frage wie der des Krieges, stellt den Trotzkismus als politische Strömung außerhalb des proletarischen Lagers und rechtfertigt und erfordert selbstredend, dass jedes proletarische revolutionäre Element einen klaren und kompletten Bruch mit dieser Strömung vollzieht. Marc

(aus: INTERNATIONALISME Nr. 26, dem Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs , 15. September 1947)

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Trotzkismus [4]

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [5]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [6]

Massenstreik in Polen 1980

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Iim Sommer 1980 hielt die Arbeiterklasse in Polen die ganze Welt in Atem. Eine riesige Massenstreikbewegung entfaltete sich: mehrere Hunderttausend Arbeiter streikten ‘wild’ in verschiedenen Städten und brachten die herrschende Klasse in Polen aber auch in den anderen Ländern ans Zittern.

Was war passiert?

Nach der Ankündigung von Fleischpreiserhöhungen reagierten die Arbeiter in vielen Betrieben prompt mit Arbeitsniederlegungen. Am 1. Juli 1980 streikten in Tczew bei Danzig und in dem Warschauer Vorort Ursus Arbeiter. In Ursus wurden Vollversammlungen abgehalten, ein Streikkomitee, gemeinsame Forderungen aufgestellt. In den Tagen danach weitere Ausdehnung der Streiks. Warschau, Lodz, Danzig.... Die Regierung versuchte mit schnellen Konzessionen in Form von Lohnerhöhungen eine weitere Ausdehnung einzudämmen. Mitte Juli traten die Arbeiter der verkehrsmäßig zentral gelegenen Stadt Lublin in den Streik. Diese Stadt liegt an der Strecke UdSSR - DDR, wo die Versorgungslinie der sowjetischen Truppen in die DDR hindurchführte. Ihre Forderungen lauteten: keine Repression gegen die Streikenden, Abzug der Polizei aus den Fabriken, Lohnerhöhungen und freie Gewerkschaftswahlen.

An einigen Orten wurde die Arbeit wieder aufgenommen, in anderen schlossen sich zusätzlich Arbeiter der Bewegung an. Ende Juli hoffte die Regierung, durch ihre Taktik, von Betrieb zu Betrieb zu verhandeln, hätte sie die Flamme der Streiks ausgelöscht. Aber am 14. August erhielt die Bewegung wieder Auftrieb: Die Bediensteten der Verkehrsbetriebe von Warschau und die Werftarbeiter von Danzig traten in den Streik. Und wieder aus immer mehr Orten neue Streikmeldungen.

Was die Arbeiter stark machte

Die Arbeiter hatten aus den Kämpfen von 1970 und 1976 die Lehren gezogen. Sie hatten gesehen, daß die offiziellen Gewerkschaften Teil des stalinistischen Staatsapparates waren und bei jeder Forderung der Arbeiter auf Seiten der Regierung standen. Deshalb war ein ausschlaggebendes Moment bei der Streikbewegung von 1980: die Arbeiter ergriffen selbst die Initiative; sie warteten auf die Anweisung von niemanden, sondern kamen selber zusammen, um über Zeitpunkt und Schwerpunkt ihrer Kämpfe selbst zu bestimmen. Am deutlichsten wurde dies in der Region Danzig-Gdynia-Zopot, dem Industriegürtel an der Ostsee. Die Lenin-Werft in Danzig beschäftigte allein ca. 20.000 Arbeiter.

In einer Massenversammlung wurden gemeinsam Forderungen aufgestellt. Ein Streikkomitee wurde gebildet, anfänglich standen ökonomische Forderungen im Vordergrund.

Die Arbeiter waren entschlossen: eine blutige Niederschlagung der Kämpfe, wie es sie 1970 und 1976 gegeben hatte, wollten sie nicht wiederholen. Gerade in einer Industriehochburg wie Danzig-Gdynia-Zopot war es so offensichtlich, daß sich alle Arbeiter zusammenschließen müßten, um ein entsprechendes Kräfteverhältnis gegenüber der Regierung aufzubauen. Ein überbetriebliches Streikkomitee (MKS) wurde gebildet. Ihm gehörten 400 Mitglieder an, 2 Vertreter je Fabrik. In der 2. Augusthälfte gab es ca. 800-1000 Delegierte. Durch die Bildung eines überbetrieblichen Streikkomitees wurde die Zersplitterung in verschiedene Betriebe und Industriebranchen überwunden. Die Arbeiter konnten dem Kapital in geschlossener Front entgegengetreten. Die Arbeiter versammelten sich täglich auf dem Gelände der Lenin-Werft.

Lautsprecher wurden angebracht, damit die Diskussionen des Streikkomitees von allen mitgehört werden könnten. Kurze Zeit später wurden Mikrofone außerhalb des Versammlungsraumes des Streikkomitees installiert, damit die Arbeiter aus den Versammlungen heraus direkt in die Diskussion per Mikrofon eingreifen konnten. Abends fuhren die Delegierten - meist mit Kassetten über die Verhandlungen ausgerüstet - in ihre Betriebe zurück und stellten sich den Vollversammlungen.

Durch diese Vorgehensweise wurde ein Großteil der Arbeiter direkt an den Kämpfen beteiligt, die Delegierten mußten Rechenschaft ablegen, waren abwählbar und die Vollversammlungen in den jeweiligen Betrieben konnten nicht hinters Licht geführt werden, wie es die Gewerkschaften üblicherweise tun. In den einzelnen Betrieben wurden zusätzliche Forderungen aufgestellt.

Unterdessen breitete sich nach Eintritt der Arbeiter von Danzig-Gdynia und Zopot die Bewegung auf andere Städte weiter aus. Um den Kontakt der Arbeiter untereinander zu blockieren, unterbrach die Regierung am 16. August die Telefonleitungen. Die Arbeiter drohten sofort mit einer weiteren rapiden Ausdehnung der Streiks, falls die Regierung nicht wieder die Telefonleitung herstelle. Die Regierung gab nach!

Die Vollversammlung der Arbeiter beschloß die Bildung einer Arbeitermiliz. Während vorher der Alkoholkonsum gerade auch in den Reihen der Arbeiter sehr stark war, beschloß man gemeinsam, Alkoholkonsum zu verbieten. Die Arbeiter wußten, sie brauchen einen klaren Kopf, um der Regierung entgegenzutreten!

Eine Regierungsdelegation kam zu Verhandlungen mit den Arbeitern - vor versammelter Belegschaft, nicht hinter verschlossenen Türen. Die Arbeiter verlangten die Neuzusammensetzung der Regierungsdelegation, weil deren Anführer nur eine Marionette war. Die Regierung gab nach.

Als die Regierung mit dem Einsatz von Militär gegen die Arbeiter in Danzig drohte, reagierten die Eisenbahner von Lublin: ‘Wenn den Arbeitern in Danzig auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann legen wir die strategisch wichtige Eisenbahnverbindung von der UdSSR in die DDR lahm’. Die Regierung hatte verstanden! Zur Zeit des kalten Krieges wäre ihre Kriegswirtschaft, wären ihre Truppen am lebenswichtigen Nerv getroffen gewesen.

In nahezu allen Großstädten waren die Arbeiter mobilisiert.

Über eine halbe Million Arbeiter hatten gemerkt, daß sie die entscheidende Kraft im Lande waren, die direkt der Regierung gegenübertrat. Sie hatten gespürt, was sie stark machte:

- die schnelle Ausdehnung des Kampfes anstatt sich in gewaltsamen Konfrontationen wie 1970 und 1976 aufzureiben,

- die Selbstorganisierung ihrer Kämpfe, anstatt sich den Gewerkschaften anzuvertrauen, selbst die Initiative ergreifen.

- durch Vollversammlungen, in denen das überbetriebliche Streikkomitee mit der Regierung vor den Augen der Arbeiter verhandelte, die Kontrolle über die Bewegung ausüben, größte Massenaktivität vor Ort.

Kurzum- Ausdehnung der Bewegung war die beste Waffe der Solidarität. Hilfe nicht nur durch Deklaration, sondern indem man selber in den Kampf trat. Das ließ ein ganz anderes Kräfteverhältnis entstehen. Und weil die Arbeiter so massiv auf den Plan traten, konnte die Regierung keine Repression ausüben. Während der Sommerstreiks, als die Arbeiter in einer Front geschlossen dem Kapital gegenübertraten, gab es keinen einzigen Verletzten oder Toten. Die polnische Bourgeoisie wußte, daß sie diesen Fehler nicht begehen durfte, sondern daß sie erst die Arbeiter von Innen her schwächen mußte.

- und die Arbeiter in Danzig, denen die Regierung nachgegeben hatte, forderten, die gemachten Konzessionen auf die anderen Städte anzuwenden. Sie wollten sich nicht spalten lassen, sondern boten ihre Solidarität den Arbeitern in den anderen Städten an.

Die Arbeiterklasse war der Anziehungspunkt:

Arbeiter aus verschiedenen Städten reisten nach Danzig, um direkt mit den Streikenden dort Kontakt aufzunehmen. Aber auch Bauern und Studenten kamen zu den Fabriktoren, um die Streikbulletins, die Informationen selbst entgegenzunehmen. Die Arbeiterklasse war die führende Kraft.

 

Die Reaktion der Bourgeoisie: Isolierung

Welche Gefahr von den Kämpfen in Polen ausging, konnte man anhand der Reaktion der herrschenden Klasse in den Nachbarländern erkennen.

Sofort wurde die Grenze zur DDR, zur CSSR und zur Sowjetunion dicht gemacht. Während zuvor Tag für Tag polnische Arbeiter in die DDR, vor allem nach Berlin zum Kaufen fuhren, da es in den leeren Regalen in Polen noch weniger Erzeugnisse als in der DDR gab, wollte die osteuropäische Bourgeoisie sofort die Arbeiterklasse isolieren. Eine direkte Kontaktaufnahme zu den Arbeitern in den andern Ländern sollte mit allen Mitteln verhindert werden! Und zu dieser Maßnahme gab es allen Anlaß. Denn in der

benachbarten CSSR streikten im Kohlerevier um Ostrau - dem polnischen Beispiel folgend, die Kumpel. Im rumänischen Bergbaurevier, im russischen Togliattigrad griffen die Arbeiter jeweils das Beispiel der polnischen Arbeiter auf. Auch wenn es im Westen aus Reaktion auf die Streiks in Polen nicht zu Solidaritätsstreiks kam, so griffen die Arbeiter an vielen Orten die Losungen ihrer Klassenbrüder- und schwestern in Polen auf. In Turin skandierten im September 1980 die Arbeiter ‘Machen wir es wie in Danzig’.

Aufgrund seines Ausmaßes sollte der Massenstreik in Polen eine gewaltige Ausstrahlung auf die Arbeiter in anderen Ländern haben. Mit ihrem Massenstreik zeigten die Arbeiter genauso schon wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1970 und 1976 wiederum in Polen, daß die sich ‘sozialistisch’ schimpfenden Regime staatskapitalistische, arbeiterfeindliche Regierungen waren. Wenn die Arbeiterklasse in einem Land so massiv in Wallung geriet, stellte sie trotz des Sperringes, der um Polen gelegt worden war, trotz des Eisernen Vorhangs, einen weltweiten Bezugspol dar. Es war die Zeit des Kalten Krieges, des Afghanistankrieges; die Arbeiter hatten ein Zeichen gesetzt: der kriegerischen Aufrüstung, der Kriegswirtschaft traten die Arbeiter mit ihrem Klassenkampf entgegen. Die Frage der Verbindung der Arbeiter zwischen Ost und West, auch wenn sie noch nicht konkret gestellt wurde, tauchte zumindest wieder als Perspektive auf.

Jeder mußte die Kraft und die Ausstrahlung der Arbeiterklasse anerkennen.

Wie die Bewegung untergraben wurde

Die Bewegung konnte solch eine Kraft entfalten, weil sie sich schnell ausgedehnt hatte und die Arbeiter selbst die Initiative ergriffen hatten. Ausdehnung über alle Fabriktore hinweg, Abwählbarkeit der Delegierten, Vollversammlungen usw., all das hatte die Stärke ermöglicht. Am Anfang der Bewegung gab es keine Fessel der Gewerkschaft.

Im Laufe der Bewegung jedoch schafften es die aufgetauchten Mitglieder der frisch gegründeten ‘freien Gewerkschaft’ Solidarnosc, der Bewegung ihre Fesseln anzulegen.

Während anfänglich die Verhandlungen offen geführt wurden, wurde schließlich die Meinung verbreitet, ‘Experten seien notwendig, um Details mit der Regierung auszuhandeln’. Immer mehr wurden die Verhandlungen geheim weitergeführt, die Lautsprecheranlagen auf den Werften, die vorher die Verhandlungen übertrugen, funktionierten plötzlich immer weniger ‘aus technischen Gründen’. Lech Walesa, von dem später bekannt wurde, daß er ein Spitzel der polnischen Geheimpolizei war, wurde zum Anführer der neuen Gewerkschaftsbewegung erkoren (1) . Der neue Feind der Arbeiter, die frisch entstandene Gewerkschaft ‘Solidarnosc’ hatte sich eingeschlichen und ihre Sabotagearbeit begonnen. So schafften es die Gewerkschaftsanhänger um Walesa, die Forderungen umzukrempeln. Während anfänglich ökonomische und politische Forderungen an oberster Stelle standen, rückte jetzt die Anerkennung der Gewerkschaften an die erste Stelle: Billigung von freien Gewerkschaften, erst danach folgten ökonomische und politische Forderungen (2). Die altbekannte Taktik: Verteidigung der Gewerkschaften statt Verteidigung der Arbeiterinteressen.

Mit dem Ende der Bewegung war eine neue Gewerkschaft aus der Taufe gehoben worden, die die Schwächen der Arbeiterklasse voll auszuschlachten wußte.

Denn war es vorher eine Stärke der Arbeiter in Polen gewesen, sich der Tatsache bewußt gewesen zu sein, daß die offiziellen Gewerkschaften auf Staatsseite standen, meinten viele Arbeiter jetzt: die neu gegründete, 10 Mio. Mitglieder starke Gewerkschaft Solidarnosc ist nicht korrupt, verteidigt unsere Interessen. Die Arbeiter in Polen hatten noch nicht die Erfahrung der Arbeiter im Westen mit ‘freien Gewerkschaften’.

Während Walesa zum damaligen Zeitpunkt schon predigte, ‘wir wollen ein 2. Japan aufbauen, Wohlstand für alle’, und viele Arbeiter in Polen aus Unerfahrenheit mit den kapitalistischen Verhältnissen im Westen an solche Illusionen glaubten, übernahm Solidarnosc und Walesa an dessen Spitze sehr schnell die Feuerwehrrolle. Denn als im Herbst 1980 unter anderem aus Protest über den Abschluß des Abkommens Arbeiter wieder in den Streik traten, als sie gespürt hatten, daß man jetzt zwar eine neue Gewerkschaft ‘Solidarnosc’ hatte, aber die wirtschaftliche Situation noch schlechter war als zuvor, da fing die neue Gewerkschaft Solidarnosc schon an ihr wahres Gesicht zu zeigen. Lech Walesa wurde schon wenige Wochen nach Streikende von der stalinistischen Armee im Lande im Hubschrauber rumgeflogen, um die streikenden Arbeiter zur Aufgabe zu bewegen. ‘Wir wollen keine weiteren Streiks, weil sie das Land in den Abgrund führen, wir brauchen Ruhe’.

Von Anfang an betrieb die Gewerkschaft Solidarnosc eine systematische Untergrabungsarbeit. Immer wieder entriß sie den Arbeitern die Initiative, hinderte sie daran, neue Streiks auszulösen. Die Massenstreikbewegung hatte im Sommer 1980 dieses ungeheure Ausmaß annehmen können, weil die polnische Bourgeoisie wie die stalinistische Regierungen im Ostblock überhaupt politisch schlecht ausgerüstet waren, um der Arbeiterklasse anders als mit Repression entgegenzutreten. Im Westen erledigen die Gewerkschaften und die bürgerliche Demokratie diese Arbeit eines Auffangbeckens. Auf dem Hintergrund dieser politischen Rückständigkeit der dortigen Kapitalistenklasse sowie dem Hintergrund des kalten Krieges kam der polnischen Bourgeoisie die neue Gewerkschaft äußerst suspekt vor. Aber nicht das subjektive Empfinden sollte ausschlaggebend sein, sondern die objektive Rolle, die Solidarnosc gegen die Arbeiter spielte. So hatte 1981 die stalinistische Regierung auch angefangen zu merken, daß, trotzdem daß Solidarnosc im stalinistischen Herrschaftssystem ein ‘Fremdkörper’ war, sie nützliche Dienste leistet. Das Kräfteverhältnis begann sich zu wandeln.

Im Dez. 1981 konnte die polnische Bourgeoisie dann die von ihr solange vorbereitete Repression durchführen. Die Gewerkschaft Solidarnosc hatte die Arbeiter politisch entwaffnet, ihre Niederlage möglich gemacht. Während im Sommer 1980 dank der Eigeninitiative der Arbeiter, der Ausdehnung ihrer Kämpfe - ohne eine Gewerkschaft ‘an ihrer Seite’ keinem Arbeiter ein Haar gekrümmt wurde, wurden im Dez. 1981 über 1200 Arbeiter ermordet, Tausende ins Gefängnis gesteckt und in die Flucht getrieben. Diese Repression im Dez. 1981 fand statt nach intensiven Absprachen zwischen den Herrschenden in Ost und West.

Nach den Streiks im Sommer 1980 gewährte die westliche Bourgeoisie Solidarnosc nur alle mögliche ‘Aufbauhilfe’, um die Gewerkschaft gegen die Arbeiter zu stärken. Kampagnen wie ‘Pakete für Polen’, ‘Kredithilfen im Rahmen des Währungsfonds’ wurden durchgeführt, um nur ja nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, daß die Arbeiter im Westen dem Weg der Arbeiter in Polen folgen sollten - den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. Vor der Repression im Dez. 1981 wurden die Pläne der Niederschlagung zwischen den Regierungschef direkt abgesprochen. Am 13. Dez. 1981, Tag des Beginns der Repression, saßen Helmut Schmidt (Sozialdemokrat) und Altstalinist Erich Honecker unweit von Berlin zusammen und ‘wuschen ihre Hände in Unschuld’. Dabei hatten sie nicht nur grünes Licht für die Repression gegeben, sondern auch ihre Erfahrung in diesen Fragen weitergegeben.

Im Sommer 1980 war es wegen des Absperringes nicht möglich, daß die IKS in Polen selbst intervenierte. Ab Sept. 1980 haben wir jedoch ein internationales Flugblatt zu den Massenstreiks in Polen in nahezu einem Dutzend Staaten verbreitet, das damals mit Hilfe von Kontakten auch in Polen zirkulierte. Bei nachfolgenden Interventionen der IKS in Polen kritisierten wir immer wieder die Illusionen der polnischen Arbeiter. Für uns als Revolutionäre galt es, sich nicht den Illusionen der Arbeiter zu beugen, sondern durch das Aufzeigen ihrer mangelnden Erfahrung mit den ‘radikalen’ Gewerkschaften, wie sie die Arbeiter im Westen gemacht hatten, die Arbeiter zu warnen. Auch wenn unsere Position zu den Gewerkschaften anfänglich in Polen unpopulär war, wir in dieser Frage ‘gegen den Strom schwammen’, gab uns die Erfahrung recht.

Ein Jahr später, im Dez. 1981, zeigte die Gewerkschaft Solidarnosc, welche Niederlage der Arbeiter sie ermöglicht hatte! Nach dem Streikende 1980 war kein Winter vergangen, und schon war Solidarnosc zu einem staatstragenden Element geworden. Daß der ehemalige Führer Lech Walesa inzwischen Staatspräsident ist, ist sicherlich nicht nur darauf zurückzuführen, daß er das Vertrauen von Kirche und westlichen Regierungen besitzt, sondern weil er als Gewerkschaftsvertreter ein ausgezeichneter Verteidiger des Staates ist. Mittlerweile ist er genauso verhaßt wie seinerzeit der stalinistische Oberhenker Gierek.

Wenn wir die positiven Lehren - Selbstausdehnung, Selbstorgansierung des Massenstreiks vom Sommer 1980 heute in Erinnerung rufen, dann weil wir auf deren Gültigkeit auch heute hinweisen wollen. Auch wenn heute durch die Änderung der internationalen Lage ähnliche selbständige Massenstreiks in nächster Zeit nicht zu erwarten sind, müssen die Lehren aus dieser Bewegung der Arbeiterklasse wieder aufgegriffen werden und in die nächsten Kämpfe mit einfließen. Dav.

(

(2) ‘Sicherheit der Streikenden, Freilassung aller politischen Häftlinge und der Arbeiter, die in Streiks von 1970/76 verurteilt worden waren, Veröffentlichung der Informationen des Streikkomitees, Zahlung der Löhne während des Streiks, Lohnerhöhungen, Inflationsausgleich, bessere Lebensmittelversorgung, Abschaffung der Privilegien für die Staatsbonzen, Herabsetzung des Rentenalters, Verbesserung der medizinischen Versorgung und mehr Kindergartenplätze, mehr Wohnungen, der Samstag soll arbeitsfrei werden, mehr Urlaub für Schichtdienstler’.

1) Auch wenn die Gründung einer ‘freien Gewerkschaft’ nur durch die Illusionen und Unerfahrenheit der Arbeiter in Polen selbst erklärt werden kann, steht außer Zweifel, daß organisierte Bestrebungen seitens des KOR (eine teilweise pro-westliche Oppositionsgruppe) nur möglich waren wegen Hilfestellung aus dem Westen für den systematischen Aufbau von Solidarnosc. Trotz der Gegnerschaft zwischen zwei imperialistischen Blöcken gab es eine Einheit gegen die Arbeiterklasse.

 

Geographisch: 

  • Polen [7]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [8]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Dritte Internationale [9]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [10]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [11]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/content/1221/die-arbeiterklasse-ist-nicht-verschwunden [2] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/revolutionarer-syndikalismus [3] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/ratismus [4] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/trotzkismus [5] https://de.internationalism.org/tag/historische-ereignisse/zweiter-weltkrieg [6] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke [7] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/polen [8] https://de.internationalism.org/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1980-massenstreik-polen [9] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/dritte-internationale [10] https://de.internationalism.org/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [11] https://de.internationalism.org/tag/2/28/stalinismus-der-ostblock