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Internationale Revue 34

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"Volksaufstände" in Lateinamerika:

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Der Ausbruch von massiven Klassenkämpfen im Mai 1968 in Frankreich und in der Folge auch in Italien, Grossbritannien, Spanien, Polen und anderswo setzte der konterrevolutionären Periode ein Ende, die seit der Niederschlagung der revolutionären Welle 1917–23 so schwer auf der internationalen Arbeiterklasse gelastet hatte. Der proletarische Riese ist auf der historischen Szene wieder aufgestanden. Diese Kämpfe hatten auch in Lateinamerika ein grosses Echo, zuerst 1969 im „Cordobaza“ in Argentinien. Zwischen 1969 und 1975 führten die Arbeiter in der ganzen Region, vom Süden Chiles bis nach Mexiko an der Grenze zu den USA, einen erbitterten Kampf gegen die Versuche der Bourgeoisie, die Kosten der Wirtschaftskrise auf sie abzuwälzen. Und in den folgenden Kampfwellen, von denen jene von 1977–80 im polnischen Massenstreik kulminierte und jene von 1983–89 von umfangreichen Bewegungen in Belgien, Dänemark und bedeutenden Kämpfen in zahlreichen anderen Ländern gekennzeichnet war, setzte auch das Proletariat Lateinamerikas den Kampf fort, wenn auch nicht auf dieselbe spektakuläre Weise. Es zeigte, dass die Arbeiterklasse einen einzigen und gleichen Kampf gegen den Kapitalismus führt, dass sie eine einzige und gleiche internationale Klasse ist, was auch immer die Unterschiede in den Bedingungen seien.

Heute erscheinen diese Kämpfe in Lateinamerika wie ein ferner Traum. Die aktuelle gesellschaftliche Situation in der Region kennt keine massiven Kämpfe und ähnliche Manifestationen oder gar bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und den Repressionskräften. Sie ist von einer allgemeinen gesellschaftlichen Instabilität gekennzeichnet. Der „Aufstand“ in Bolivien im Oktober 2003, die massiven Strassendemonstrationen, die im Dezember innert weniger Tage fünf argentinische Präsidenten aus dem Amt spülten, die venezolanische „Volksrevolution“ von Chavez, der in den Medien breitgetretene Kampf der Zapatistas in Mexiko, all diese und ähnliche Ereignisse haben die gesellschaftliche Bühne dominiert. In diesem Mahlstrom allgemeiner Unzufriedenheit, der sozialen Revolte gegen die sich ausbreitende Verarmung und Verelendung erscheint die Arbeiterklasse als eine unzufriedene Schicht unter anderen, die zu ihrer Verteidigung gegen die Verschlechterung ihrer Lage an der Revolte der anderen unterdrückten und verarmten Schichten der Gesellschaft teilnimmt und in ihnen aufgeht. Angesichts dieser Schwierigkeiten der Arbeiterklasse dürfen die Revolutionäre nicht einfach die Arme verschränken, sondern sie müssen unbeugsam die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verteidigen.

„Die Autonomie des Proletariats gegenüber allen Klassen der Gesellschaft ist die erste Vorbedingung für die Entwicklung des Klassenkampfs hin zur Revolution. Alle Bündnisse mit anderen Klassen oder Schichten und insbesondere jene Bündnisse mit Fraktionen der Bourgeoisie können nur zur Entwaffnung des Proletariats gegenüber seinen Feinden führen, da diese Bündnisse die Arbeiterklasse zur Aufgabe der einzigen Grundlage führen, wo das Proletariat seine Kräfte stärken kann: auf der Grundlage seines Kampfes als Klasse.“(1)

Da einzig die Arbeiterklasse eine revolutionäre Klasse ist, trägt auch nur sie eine Perspektive für die gesamte Menschheit in sich. Doch heute ist sie von Manifestationen des anwachsenden gesellschaftlichen Zerfalls des dahinsiechenden Kapitalismus umzingelt und hat grosse Schwierigkeiten, den Kampf als autonome Klasse mit eigenständigen Interessen aufzunehmen. Mehr denn je muss man in dieser Zeit an Marx erinnern, der schrieb: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (2)

Der Klassenkampf in Lateinamerika von 1969 bis 1989

Die Geschichte des Klassenkampfes in Lateinamerika in den letzten 35 Jahren ist Teil des internationalen Klassenkampfes. Sie ist eine Geschichte harter Kämpfe, gewaltsamer Zusammenstösse mit dem Staatsapparat, zeitweiliger Siege und bitterer Niederlagen. Die spektakulären Bewegungen vom Ende der 60er und dem Beginn der 70er-Jahre haben eine Phase von schwierigeren und schmerzhafteren Kämpfen eröffnet. In dieser Phase stellte sich die fundamentale Frage, wie die Klassenautonomie zu verteidigen und zu entwickeln sei, mit noch grösserer Schärfe.

Der Kampf der Arbeiter 1969 in der Industriestadt Cordoba war besonders wichtig. Er manifestierte sich in einer einwöchigen bewaffneten Auseinandersetzung zwischen dem Proletariat und der argentinischen Armee. Die Kämpfe in ganz Argentinien, in Lateinamerika, ja der ganzen Welt sind dadurch stimuliert worden. Es handelte sich um den Beginn einer Kampfwelle, die in Argentinien 1975 mit dem Kampf der Metallarbeiter von Villa Constitución, dem bedeutendsten Zentrum der Stahlproduktion des ganzen Landes, den Höhepunkt erreichte. Die Arbeiter von Villa Constitución waren mit der gesamten Macht des Staatsapparates konfrontiert; denn die herrschende Klasse wollte mit der Niederschlagung dieses Kampfes ein Exempel statuieren. Daraus ergab sich ein sehr hohes Niveau der Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat: „Die Stadt wurde unter militärische Besetzung durch 4.000 Mann gestellt (...) Jedes Viertel wurde systematisch durchkämmt und es wurden Verhaftungen vorgenommen, was aber nur die Wut der Arbeiter provozierte: 20.000 Arbeiter sind in den Streik getreten und haben Fabriken besetzt. Trotz Mordanschlägen und Bombardierungen von Arbeiterhäusern hat sich sofort ein aussergewerkschaftliches Kampfkomitee gebildet. Viermal wurde die Streikführung eingekerkert, aber jedes Mal entstand sofort ein neues Komitee. Wie in Cordoba 1969 haben bewaffnete Arbeitergruppen die Verteidigung der Arbeiterquartiere übernommen und haben den Aktivitäten der paramilitärischen Banden ein Ende bereitet.

Die Aktion der Stahl- und Metallarbeiter, die eine Lohnsteigerung um 70 Prozent forderten, hat sehr schnell von der Solidarität der Arbeiter in anderen Betrieben des Landes – in Rosario, in Cordoba und Buenos Aires – profitiert. In Buenos Aires haben beispielsweise die Arbeiter von Propulsora, die aus Solidarität in einen Streik getreten waren und die ihre ganzen Lohnforderungen (130.000 Pesos monatlich) durchsetzen konnten, entschieden, die Hälfte ihres Lohnes den Arbeitern von Villa Constitución zu spenden.“ (3)

Aus dem gleichen Grund haben die Arbeiter in Chile zu Beginn der 70er-Jahre ihre Klasseninteressen verteidigt und es abgelehnt, sie zugunsten der Volksfront-Regierung Allendes zu opfern: „Der Widerstand der Arbeiter gegen Allende begann 1970. Im Dezember 1970 traten 4.000 Minenarbeiter in Chuquicamata in den Streik und forderten höhere Löhne. Im Juli 1971 legten 10.000 Minenarbeiter in Lota Schwager ihre Arbeit nieder. Beinahe zur gleichen Zeit breitete sich eine Streikwelle in den Minen von El Salvador, El Teniente, Chuquicamata, La Exotica und Rio Blanco aus. Überall wurden höhere Löhne gefordert (...) Im Mai/Juni 1973 setzten sich die Minenarbeiter erneut in Bewegung. In den Minen von El Teniente und Chuquicamata traten 10.000 Arbeiter in den Streik. Die Minenarbeiter von El Teniente forderten eine Lohnerhöhung um 40 Prozent. Allende setzte die Provinzen O’Higgins und Santiago unter Militärkontrolle, weil die von El Teniente ausgehende Lähmung eine ernsthafte Bedrohung für die Wirtschaft darstellte.“ (4)

Wichtige Arbeiterkämpfe haben sich auch in anderen bedeutenden Arbeiterkonzentrationen Lateinamerikas zugetragen. In Lima, Peru, brachen 1976 aufstandsartige Streiks aus. Sie wurden blutig unterdrückt. Einige Monate später traten die Minenarbeiter von Centramin in den Streik. In Riobamba, Ecuador, fand ein Generalstreik statt. Im Januar des gleichen Jahres brach in Mexiko eine Streikwelle aus. 1978 gab es erneut Generalstreiks in Peru. Nach zehn ruhigen Jahren setzten sich 200.000 Metallarbeiter in Brasilien an die Spitze einer Streikbewegung, die von Mai bis Oktober dauerte. In Chile kam es 1976 zu Streiks der Metro-Angestellten von Santiago und der Minenarbeiter. In Argentinien brachen trotz des Terrors der Militärjunta 1976 Streiks in den Elektrizitätswerken und in der Automobilindustrie aus, die in gewaltsame Zusammenstösse zwischen Arbeitern und der Armee mündeten. Die 70er-Jahre waren auch von wichtigen Kampfepisoden in Bolivien, Guatemala und Uruguay gekennzeichnet.

Auch in den 80er-Jahren hat das Proletariat Lateinamerikas an der internationalen Kampfwelle teilgenommen, die 1983 in Belgien begonnen hatte. Die entwickeltsten dieser Kämpfe waren von den entschiedenen Anstrengungen seitens der Arbeiter gekennzeichnet, die Bewegung auszuweiten. So kämpften beispielsweise die Angestellten des Bildungssektors in Mexiko für eine Erhöhung der Gehälter: „Die Forderung der Arbeiter des Erziehungswesens stellte bereits von Beginn an die Frage nach der Ausweitung der Kämpfe, denn es herrschte eine allgemeine Unzufriedenheit gegenüber den Austeritätsplänen. Auch wenn die Bewegung gerade schwächer wurde, als jene im Erziehungswesen begann, streikten und demonstrierten doch 30.000 Angestellte des öffentlichen Sektors ausserhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle. Sie erkannten, dass die Ausdehnung und Einheit des Kampfes notwendig waren: Zu Beginn haben die Arbeiter aus dem Süden von Mexiko City Delegierte zu anderen Beschäftigten des Bildungssektors entsandt und sie dazu aufgerufen, sich dem Kampf anzuschliessen. Sie sind auch auf die Strassen gegangen und haben Kundgebungen durchgeführt. Sie haben sich dagegen gewehrt, den Kampf einzig auf die Lehrer einzugrenzen, und haben alle Arbeiter des Erziehungswesens (Lehrer, Verwaltungsangestellte, Handarbeiter) in den Massenversammlungen zusammengerufen, um den Kampf zu kontrollieren.“ (5)

Die gleichen Tendenzen haben sich auch in anderen Teilen Lateinamerikas gezeigt: „Selbst die bürgerlichen Medien haben von einer ‚Streikwelle’ in Lateinamerika gesprochen, mit Kämpfen in Chile, Peru, Mexiko (...) und auch in Brasilien, wo Arbeiter aus Banken, von den Docks, aus dem Gesundheits- und Bildungssektor gleichzeitig gegen das Einfrieren der Löhne protestierten.“ (6)

Die Arbeiterklasse Lateinamerikas hat von 1969 bis 1989 trotz aller Rückschläge, Schwierigkeiten und Schwächen gezeigt, dass sie vollumfänglich am historischen Wiederaufschwung der internationalen Arbeiterklasse teilnahm.

Der Fall der Berliner Mauer und die darauf folgende Propagandaflut der Bourgeoisie über den „Tod des Kommunismus“ haben einen tiefgreifenden Einbruch in den Klassenkämpfen auf internationaler Ebene herbeigeführt. Das hat sich vor allem im Verlust der Klassenidentität des Proletariats gezeigt. Dieser Rückschlag zeitigte bei den Arbeitern Südamerikas weit schädlichere Auswirkungen, da die Entwicklung der Krise und des gesellschaftlichen Zerfalls die verarmten, unterdrückten und verelendeten Massen in den Strudel der interklassistischen Revolten zogen. Das erschwert die schwierige Aufgabe, sich als autonome Klasse zu behaupten und die Distanz gegenüber der „Volksmacht“ und den Volksaufständen zu wahren.

Die schädlichen Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls und der interklassistischen Revolten

Der Zusammenbruch des Ostblocks war sowohl Produkt als auch Beschleunigungsfaktor des Zerfalls des Kapitalismus vor dem Hintergrund einer sich vertiefenden Wirtschaftskrise. Lateinamerika wurde davon mit voller Wucht getroffen. Millionen von Menschen wurden dazu gezwungen, ihr Dorf zu verlassen und sich auf der verzweifelten Suche nach inexistenten Arbeitsplätzen in die Slumsiedlungen der grossen Städte zu begeben, während gleichzeitig Millionen von jungen Arbeitern aus dem Lohnarbeitsprozess ausgeschlossen wurden. Dieses Phänomen ist seit 35 Jahren wirksam und erfuhr in den letzten zehn Jahren eine brutale Verschärfung. Es hat zu einem massiven Wachstum jener Gesellschaftsschichten geführt, die zur nichtausbeutenden und keinen Lohn empfangenden Schichten der Bevölkerung gehören. Diese dem Verhungern nah überlassenen Teile der Gesellschaft, die um ihr tagtägliches Brot kämpfen müssen, nehmen ständig zu.

In Lateinamerika leben 221 Millionen Menschen (41 Prozent der Bevölkerung) in Armut. Diese Zahl ist allein im letzten Jahr um sieben Millionen (von denen sechs Millionen in eine extreme Armut absanken) und in den letzten zehn Jahren um 21 Millionen angestiegen. Gegenwärtig leben 20 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in äusserster Armut. (7)

Die Verschärfung des gesellschaftlichen Zerfalls zeigt sich im Wachstum der informellen, scheinselbstständigen Wirtschaft des Strassenverkaufs. Das Ausmass dieses Sektors variiert entsprechend der Wirtschaftskraft eines Landes. In Bolivien übertraf im Jahr 2000 die Zahl der Scheinselbstständigen die der Lohnempfänger (47,8 zu 44,5 Prozent der aktiven Bevölkerung), während in Mexiko das Verhältnis noch 21:74,4 beträgt.

Auf dem ganzen Kontinent leben 128 Millionen Menschen oder 33 Prozent der städtischen Bevölkerung in Elendsquartieren. Diese Millionenmassen leben beinahe ohne jegliche sanitäre Installationen und elektrischen Strom. Ihr Leben ist geprägt von Kriminalität, von Drogen und vom Bandenwesen. In den Elendsvierteln von Rio finden seit Jahren Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs statt, eine Situation, die im Film La Ciudade de Deus anschaulich porträtiert wurde. Die Arbeiter Lateinamerikas und insbesondere jene in den Elendsquartieren sind mit den weltweit höchsten Kriminalitätsraten konfrontiert. Die Zerstörung der familiären Bindungen hat zu einer massiven Zunahme von ihrem Schicksal überlassenen Strassenkindern geführt.

Millionen von Bauern haben immer grössere Schwierigkeiten, dem Boden auch nur die miserabelsten Subsistenzmittel zu entreissen. In einigen tropischen Gebieten hat, neben der Holzindustrie, dies zu einer Beschleunigung der Umweltzerstörung geführt, da die landhungrigen Bauern dazu gezwungen sind, auf den Boden des Regenwaldes vorzudringen. Diese Lösung bringt jedoch nur eine kurze Atempause, da die dünne Humusschicht des Regenwaldes schnell ausgelaugt ist, und endet in einer Spirale der Entwaldung.

Die Zunahme der Schicht der Verelendeten hatte eine bedeutende Auswirkung auf die Fähigkeit des Proletariats, die eigene Klassenautonomie zu verteidigen. Das hat sich ganz klar Ende der 80er-Jahre gezeigt, als in Venezuela, Argentinien und Brasilien Hungerrevolten ausbrachen. Mit Hinweis auf den Aufstand in Venezuela, in dem mehr als Tausend Menschen umkamen und ebenso viele verletzt wurden, warnten wir damals vor den Gefahren solcher Aufstände für das Proletariat: „Die treibende Kraft dieser gesellschaftlichen Tumulte war eine blinde, perspektivlose Wut, die sich über lange Jahre systematischer Angriffe gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener, die noch eine Arbeit hatten, aufgestaut hatte. In ihnen entluden sich die Frustrationen von Millionen von Arbeitslosen, von Jungen, die nie gearbeitet haben und die von der Gesellschaft gnadenlos in den Sumpf der Verelendung getrieben wurden. Die Länder der Peripherie des Kapitalismus sind unfähig, diesen Menschen auch nur die geringste Lebensperspektive aufzuzeigen (...)Aufgrund des Mangels einer politischen Orientierung auf eine proletarische Perspektive sind diese Strassenunruhen mit den Brandschatzungen von Autos, den ohnmächtigen Konfrontationen mit der Polizei und später mit den Plünderungen von Lebensmittel- und Elektrowarengeschäften einzig von der Wut und der Frustration angetrieben worden. Die Bewegung, die als Protest gegen die wirtschaftlichen Massnahmen entstanden war, hat sich also sehr rasch in Plünderungen und perspektivlosen Zerstörungen aufgelöst.“ (8)

In den 90er-Jahren wurde die Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten in zunehmendem Masse von Teilen des Bürgertums und des Kleinbürgertums ausgenutzt. In Mexiko haben sich die Zapatistas mit ihren Ideen über die „Volksmacht“ und ihrer Eigendarstellung als Repräsentant eben dieser Macht anfangs als Meister darin ausgewiesen. In Venezuela hat Chavez die nicht-ausbeutenden Schichten, vor allem die Bewohner der Elendsviertel, hinter der Idee einer „Volksrevolution“ gegen das alte, korrumpierte System mobilisiert.

Diese Volksbewegungen hatten reale Auswirkungen auf das Proletariat, insbesondere in Venezuela, wo nach wie vor die Gefahr einer teilweisen Verstrickung in einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie besteht.

Die Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts hat keine Verminderung der zerstörerischen Auswirkungen der Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten mit sich gebracht. Im Dezember 2001 ist das argentinische Proletariat – es ist eines der ältesten und erfahrensten der lateinamerikanischen Arbeiterklasse – in einen Volksaufstand gerissen worden, der in einem Zeitraum von 15 Tagen fünf Präsidenten hintereinander von der Macht weggeputzt hatte. Im Oktober 2003 ist der Hauptsektor der bolivianischen Arbeiterklasse, die Minenarbeiter, ebenfalls in einen blutigen, vom Kleinbürgertum und den Bauern angeführten Volksaufstand verstrickt worden, in dem es zahlreiche Tote und Verletzte gab – und dies alles im Namen der Verteidigung der bolivianischen Gasreserven und der Legalisierung der Koka-Produktion!

Die Tatsache, dass bedeutende Teile des Proletariats von diesen Revolten erfasst worden sind, ist von grosser Bedeutung, weil dies offenbart, dass die Arbeiterklasse die Klassenautonomie weitgehend verloren hat. Anstatt sich als Proletarier mit eigenen Interessen zu verstehen, haben sich die Arbeiter Boliviens und Argentiniens als Bürger verstanden, die gemeinsame Interessen mit den kleinbürgerlichen und nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft teilen.

Die absolute Notwendigkeit einer revolutionären Klarheit

Mit der Verschärfung der Lage wird es weitere Aufstände dieses Typs geben, in denen es, wie das bereits in Venezuela der Fall war, auch blutige Bürgerkriege und Massaker geben kann, die bedeutende Teile der internationalen Arbeiterklasse physisch und ideologisch vernichten können. Angesichts dieser düsteren Perspektive ist es die Pflicht der Revolutionäre, ihre Intervention auf die Notwendigkeit auszurichten, dass das Proletariat einen Kampf zur Verteidigung der eigenen, spezifischen Klasseninteressen führen muss. Unglücklicherweise befinden sich nicht alle revolutionären Organisationen diesbezüglich auf der Höhe der eigenen Verantwortung. Das Internationale Büro der revolutionären Partei (IBRP) verlor gegenüber dem Gewaltausbruch der argentinischen Bevölkerung jeglichen politischen Kompass und schätzte die Lage völlig falsch ein: „Spontan sind die Arbeiter auf die Strassen gegangen und haben die Jungen, Studenten und bedeutende Teile des proletarisierten und wie sie selber verarmten Kleinbürgertums mit sich gezogen. Gemeinsam haben sie ihre Wut gegen die heiligen Stätten des Kapitalismus gerichtet: gegen Banken, Büros, aber hauptsächlich gegen Kaufhäuser und allgemein gegen Geschäfte, die ebenso angegriffen wurden wie die Bäckereien in den mittelalterlichen Brotaufständen. Die Regierung entfesselte eine blutige Repression mit Dutzenden von Toten und Tausenden Verletzten und hoffte so, die Rebellen einzuschüchtern. Das hat aber kein Ende der Revolte herbeigeführt, sondern sie ist im Gegenteil auf den Rest des Landes ausgedehnt worden und nahm immer mehr einen Klassencharakter an. Selbst die Regierungsgebäude, Symbole der Ausbeutung und der finanziellen Plünderung, sind angegriffen worden.“ (9)

Erst kürzlich hat Battaglia Comunista angesichts des sozialen Aufruhrs in Bolivien, der in den blutigen Ereignissen vom Oktober 2003 kulminierte, einen Artikel veröffentlicht, der die indianischen Ayllu (Gemeinderäte) pries: „Die Ayllu hätten nur eine Rolle in der revolutionären Strategie spielen können, wenn sie den gegenwärtigen Institutionen den proletarischen Inhalt der Bewegung entgegengestellt und die archaischen und lokalistischen Aspekte überwunden hätten, d.h. also nur, wenn sie als wirksamer Mechanismus für eine Einheit zwischen Indianern, weissen und farbigen Proletariern zur Errichtung einer Front gegen die Bourgeoisie und jenseits jeglicher rassischer Rivalitäten gewirkt hätten (...) Die Ayllu hätten ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und Mobilisierung des indianischen Proletariats sein können, aber das ist noch unzureichend als Grundlage für die Errichtung einer vom Kapitalismus emanzipierten Gesellschaft.“ Dieser Artikel von Battaglia Comunista wurde im November 2003 veröffentlicht, also nachdem sich die blutigen Ereignisse vom Oktober zugetragen hatten, in denen just das indianische Kleinbürgertum das Proletariat und insbesondere die Minenarbeiter zu einer hoffnungslosen Auseinandersetzung mit den Armeekräften verleitete. Ein Massaker, in dem Proletarier geopfert wurden, damit die indianische Bourgeoisie und das indianische Kleinbürgertum ein grösseres „Stück vom Kuchen“ ergattern konnten bei der Neuverteilung von Macht und Profiten, die aus der Ausbeutung der Bergarbeiter und Landarbeiter stammen. Wie einer ihrer Führer, Alvero Garcia, freimütig zugab, haben die Indianer keine verschwommenen Träume über die Ayllu als Ausgangspunkt für eine bessere Gesellschaft.

Der Enthusiasmus des IBRP bezüglich der Ereignisse in Argentinien ist die logische Folge seiner Analyse über die „Radikalisierung des Bewusstseins“ der nicht-ausbeutenden Schichten in den peripheren Ländern: „Die Diversität der sozialen Strukturen, die Tatsache, dass das Aufzwingen der kapitalistischen Produktionsweise das alte Gleichgewicht umkippt und dass die Aufrechterhaltung ihrer Existenz auf die Grundlage und Ausweitung der Verelendung von immer grösseren Massen von Proletarisierten und Enterbten fusst, die politische Unterdrückung und Repression, die notwendig zur Unterjochung der Massen sind, all das führt zu einem grösseren Potenzial für die Radikalisierung des Bewusstseins in den peripheren Ländern als in den Metropolen (...) In vielen dieser (peripheren) Länder ist die ideologische und politische Integration des Individuums in die kapitalistische Gesellschaft noch kein Massenphänomen wie in den Ländern der Metropolen.“ (10)

Gemäss diesem Standpunkt sind diese massiven und gewaltsamen Volksaufstände positiv. In der Vorstellung des IBRP ist das Untertauchen des Proletariats in der Welle des Interklassismus nicht der Ausdruck einer sterilen und zukunftslosen Revolte, sondern die Konkretisierung „einer Radikalisierung des Bewusstseins“. Infolgedessen hat sich das IBRP als völlig unfähig erwiesen, die wirklichen Lehren aus Ereignissen wie die des Dezembers 2001 in Argentinien zu ziehen.

Sowohl in den „Thesen“ als auch in den Analysen der konkreten Situationen begeht das IBRP zwei Fehler, die gewisse Allgemeinplätze der Linken und der Antiglobalisierungsbewegung widerspiegeln. Der erste Fehler ist die theoretische Ansicht, dass die Bewegungen zur Verteidigung nationaler, bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Interessen, die mit denen des Proletariats unvereinbar sind (wie die Ereignisse in Bolivien oder der Aufstand vom Dezember 2001 in Argentinien), in Arbeiterkämpfe umgewandelt werden könnten. Der zweite, eher empirische Fehler besteht in der Einbildung, dass diese wundersame Umwandlung auch tatsächlich stattgefunden hat und dass Bewegungen, die vom Kleinbürgertum und von nationalistischen Sprüchen dominiert werden, wirkliche Arbeiterkämpfe sind.

Wir sind bereits in einem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 30 („Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden“) mit dem IBRP bezüglich seiner politischen Desorientierung angesichts der Ereignisse in Argentinien ins Gericht gegangen. Am Ende dieses Artikels fassen wir unseren Standpunkt zusammen: „Unsere Analyse bedeutet absolut nicht, dass wir die Kämpfe des Proletariats in Argentinien und in anderen Zonen, wo der Kapitalismus schwächer ist, mit Verachtung strafen oder unterschätzen. Sie bedeutet einfach, dass Revolutionäre, als die Vorposten des Proletariats und mit einer klaren Vision von der Marschrichtung der proletarischen Bewegung als Ganzes ausgestattet, die Verantwortung haben, deutlich und exakt auf die Stärken und Grenzen des Arbeiterkampfes hinzuweisen, darauf, wer die Verbündeten sind und welche Richtung sein Kampf einschlagen sollte. Um dem gerecht zu werden, müssen sich Revolutionäre mit all ihrer Kraft der opportunistischen Versuchung – durch Ungeduld, Immediatismus oder einen historischen Mangel an Vertrauen in das Proletariat – entgegenstemmen und dürfen nicht eine Klassen übergreifende Revolte (wie wir sie in Argentinien gesehen haben) mit einer Klassenbewegung verwechseln.“ (11)

Das IBRP hat auf unsere Kritik geantwortet (12) und die Position, wonach das Proletariat diese Bewegung angeführt hatte, verteidigt und gleichzeitig die Auffassung der IKS verurteilt: „Die IKS unterstreicht die Schwächen des Kampfes und weist auf die interklassistische und heterogene Natur und die linksbürgerliche Führung hin. Sie beklagt sich über die Gewalt innerhalb der Klasse und über die vorherrschenden bürgerlichen Ideologien wie den Nationalismus. Für die IKS macht der Mangel an kommunistischem Bewusstsein aus dieser Bewegung eine ‚sterile Revolte ohne Zukunft’.“Es ist klar, dass das IBRP unsere Analyse nicht verstanden hat, oder besser: sie ziehen es vor, sie als das zu betrachten, als was sie sie betrachten wollen. Wir können die Leser nur dazu ermutigen, unseren Artikel zu lesen.

Im Gegensatz zu diesem Standpunkt analysiert der Nucleo Comunista Internationalista (NCI) – eine Gruppe, die sich in Argentinien Ende des Jahres 2003 gebildet hat – diese Ereignisse ganz anders und zieht entsprechend auch andere Schlussfolgerungen. In der zweiten Nummer seines Bulletins führte der NCI eine Polemik mit dem IBRP über die Natur der Ereignisse in Argentinien: „Das IBRP sagt fälschlicherweise, dass das Proletariat Studenten und andere soziale Schichten hinter sich gerissen habe. Das ist ein grosser Irrtum, den es mit den Genossen der GCI12 teilt. Tatsache ist, dass die Arbeiterkämpfe, die während des Jahres 2001 stattgefunden haben, die Unfähigkeit des argentinischen Proletariats aufgezeigt haben, nicht nur die Führung der Gesamtheit der Arbeiterklasse, sondern auch der auf den Strassen protestierenden sozialen Bewegung zu übernehmen und alle nicht ausbeutenden Schichten hinter sich zu scharen. Im Gegenteil waren es nicht-proletarische Schichten, die sich in den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember an die Spitze stellten. Also können wir sagen, dass die Entwicklung dieser Bewegungen keine historische Zukunft aufwiesen, was sich auch im darauf folgenden Jahr bestätigt hat.“ (13)

Die GCI sagt bezüglich der Verstrickung von Proletariern in Plünderungen Folgendes: „Es gab mehr als nur den Willen, den Unternehmen und Banken soviel Geld wie möglich zu klauen. Es handelte sich um einen allgemeinen Angriff auf die Welt des Geldes, des Privateigentums, der Banken und des Staates, gegen diese Welt, die eine Beleidigung für das menschliche Leben ist. Das ist nicht nur eine Frage der Enteignung, sondern auch eine Behauptung des revolutionären Potenzials, des Potenzials zur Zerstörung einer Gesellschaft, die die Menschen zerstört.“ (14)

Der NCI stellt sich gegen eine solche Sichtweise und präsentiert eine ganz andere Analyse über die Beziehung zwischen diesen Ereignissen und der Entwicklung des Klassenkampfes:

„Die Kämpfe in Argentinien in der Periode 2001–2002 sind kein isoliertes Ereignis, sie waren das Produkt einer längeren Entwicklung, die wir in drei Teile aufteilen können:

a) Erstes Element 2001: Wie wir bereits weiter oben gesagt haben, war 2001 von einer Serie von Kämpfen für typische Arbeiterforderungen geprägt. Ihr gemeinsamer Nenner war die Isolierung gegenüber anderen Abteilungen des Proletariats und die Prägung der Konterrevolution: die Vermittlung, die von der Hegemonie der politischen Führung der Gewerkschaftsbürokratie gesichert war.

Trotz dieser Begrenztheit konnte man bedeutende Manifestationen von Arbeiterselbstorganisation erkennen wie beispielsweise der Minenarbeiter von Rio Turbio im Süden des Landes, in Zanon und in Norte de Salta (zusammen mit den Bauarbeitern und arbeitslosen, ehemaligen Erdölarbeitern). Diese kleinen Arbeiterabteilungen bildeten die Avantgarde, die die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse und der streikenden Proletarier zur Debatte stellten.

b) Zweitens die zwei Tage vom 19. und 20. Dezember: Wir wiederholen, dass dies weder eine von Teilen der Arbeiterklasse noch eine von Arbeitslosen angeführte Revolte war, sondern ein interklassistischer Aufstand. Das Kleinbürgertum war darin das zentrale Element, denn die ökonomischen Angriffe der Regierung De La Rua waren direkt gegen seine Interessen und auch, mit dem Dekret vom Dezember 2001 zur Einfrierung der Bankguthaben, gegen ihre Wählerbasis und politische Unterstützung gerichtet ( ...)

c) Drittens muss man vorsichtig sein und sich davor hüten, die so genannten Volksversammlungen zu verherrlichen, die sich in den kleinbürgerlichen Vierteln von Buenos Aires, weit ab von den Arbeitervierteln, an die Spitze der Bewegung stellten. Dennoch gab es in dieser Zeit eine Entwicklung von sehr bescheidenen Kämpfen auf dem Terrain der Arbeiterklasse, die im Begriff waren zu wachsen: Gemeindearbeiter und Lehrer demonstrierten, forderten die Auszahlung ihrer Löhne; Industriearbeiter kämpften gegen die Entlassungen durch die Unternehmerorganisationen (z.B. die Lastwagenfahrer).

Damals besassen die beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter die Möglichkeit nicht nur einer wahren Einheit, sondern auch der Aussaat einer späteren autonomen Klassenorganisation. Dagegen hat die Bourgeoisie versucht, die Arbeiterklasse mit Hilfe der neuen Bürokratie der Piqueteros zu spalten und irrezuführen. Damit ist die Erfahrung, die eine bedeutende Waffe in den Händen der Arbeiter war, verschmäht worden, wie im Fall der so genannten Nationalversammlung der beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter.

Aus diesen Gründen denken wir, dass es ein Fehler ist, die Kämpfe, die sich 2001 und 2002 hindurch ereigneten, mit den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember 2001 zu identifizieren, denn sie unterscheiden sich und das eine ist nicht die Konsequenz des anderen.

Die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember hatten absolut keinen proletarischen Charakter, da sie weder von Arbeitenden noch von Arbeitslosen angeführt worden waren. Letztere lieferten die Munition für die Slogans und Interessen des Kleinbürgertums von Buenos Aires, die vollständig verschieden sind von den Zielen des Proletariats ( ...)

Dies zu erwähnen ist sehr wichtig, weil in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus das Proletariat Gefahr läuft, die Klassenidentität und das Vertrauen in die eigene Rolle als Subjekt der Geschichte und entscheidende Kraft der gesellschaftlichen Umwandlung zu verlieren. Das ist ein Ergebnis des Rückflusses des Klassenbewusstseins, der wiederum das Resultat des Zusammenbruchs des stalinistischen Blocks und des Gewichts der kapitalistischen Propaganda über die Niederlage des Klassenkampfs auf das Denken der Arbeiter ist. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie den Arbeitern eingeredet, dass es keinen Klassengegensatz gebe, dass die Leute vielmehr durch die Beteiligung am bzw. den Ausschluss vom Markt vereint oder getrennt würden. Sie versucht also, den blutigen Graben zwischen Proletariat und Bourgeoisie einzuebnen.

Diese Gefahr hat man in Argentinien während der Ereignisse vom 19. und 20. Dezember 2001 gesehen, in denen die Arbeiterklasse nicht fähig war, sich in eine autonome Kraft im Kampf für die eigenen Interessen zu verwandeln. Sie ist vielmehr in den Strudel der interklassistischen Revolte unter der Führung von nicht-proletarischen Schichten gerissen worden ...“ (s.o.)

Der NCI stellt die Ereignisse in Bolivien in denselben Rahmen: „Natürlich muss man den kämpfenden bolivianischen Arbeitern Respekt zollen und sie voll und ganz unterstützen, dennoch ist es notwendig, die Tatsache klarzustellen, dass die Kampfbereitschaft der Klasse nicht das einzige Kriterium zur Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist, da die Arbeiterklasse in Bolivien nicht fähig war, eine massive und vereinte Bewegung zu entwickeln, die hinter sich den Rest der nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hätte vereinigen können. Das Gegenteil hat sich zugetragen: Die Bauern und die Kleinbürger haben diese Revolte angeführt.

Das bedeutet, dass die bolivianische Arbeiterklasse sich in einer interklassistischen ‚Volksbewegung’ aufgelöst hat. Wir behaupten dies aus verschiedenen Gründen:

a) Die Bauernschaft hat diese Revolte mit zwei Zielsetzungen angeführt: die Legalisierung des Kokaanbaus und die Verweigerung des Verkaufs von Erdgas an die USA.

b) Es wurde die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung als Mittel erhoben, um aus der Krise herauszukommen und ‚die Nation wieder aufzubauen’.

c) Nirgendwo hat diese Bewegung den Kampf gegen den Kapitalismus zuvorderst gestellt.

Die Ereignisse in Bolivien weisen eine grosse Ähnlichkeit mit denen in Argentinien 2001 auf, wo das Proletariat ebenfalls durch die Slogans des Kleinbürgertums aufgerieben worden ist. Diese ‚Volksbewegungen’ enthielten tatsächlich einen ziemlich reaktionären Aspekt, indem sie den Wiederaufbau der Nation oder den Rauswurf der ‚Gringos’ und die Rückgabe der Rohstoffe an den bolivianischen Staat propagierten (...) Die Revolutionäre müssen Klartext sprechen und sich illusionslos und ohne Selbsttäuschung auf die Tatsachen des Klassenkampfs stützen. Es ist notwendig, eine proletarische, revolutionäre Position einzunehmen, denn es wäre ein ernster Fehler, eine soziale Revolte mit einem engen politischen Horizont mit einem proletarischen antikapitalistischen Kampf zu verwechseln.“ (15)

Diese Analyse des NCI stützt sich auf die wirklichen Tatsachen und zeigt ganz klar auf, dass das IBRP die eigenen Wünsche zur Realität erhebt, wenn es die Idee der „Radikalisierung des Bewusstseins“ unter den nicht-ausbeutenden Schichten propagiert. Die konkrete Situation in der Peripherie ist die wachsende Zerstörung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Propagierung des Nationalismus, des Populismus und anderer ähnlich reaktionärer Ideologien, die alle sehr ernste Folgen für die Fähigkeit des Proletariats haben, die eigenen Klasseninteressen zu verteidigen.

Glücklicherweise scheint diese Tatsache doch nicht vollständig unbemerkt von gewissen Publikationen des IBRP zu bleiben. Die Nummer 30 der Revolutionary Perspectives (Organ der Communist Workers Organisation, der Gruppe des IBRP in Grossbritannien) präsentiert im Editorial „Die imperialistischen Rivalitäten spitzen sich zu, der Klassenkampf muss sich zuspitzen“ ein der Realität viel näheres Bild der Ereignisse in Argentinien und in Bolivien: „Wie in Argentinien waren diese Proteste interklassistisch und ohne klare soziale Zielsetzung. Wir haben dies im Fall Argentiniens gesehen, wo die gewaltsame Agitation vor zwei Jahren den Weg für die Austerität und Verarmung geebnet hatte (...) Während der Ausbruch der Revolte die Wut und die Verzweiflung der Bevölkerung in vielen peripheren Ländern aufzeigt, können solche Ausbrüche gleichwohl keinen Ausweg aus der dort existierenden katastrophalen gesellschaftlichen Lage finden. Der einzige Weg nach vorn ist der Klassenkampf und seine Verbindung mit den Arbeiterkämpfen der Metropolen.“

Der Artikel denunziert indessen unglücklicherweise nicht die Rolle des Nationalismus oder der indianischen Kleinbourgeoisie in Bolivien. So bleibt die offizielle Position des IBRP bezüglich dieser Frage notwendigerweise jene, die von Battaglia Comunista vertreten wird, wonach „die Ayllu ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und die Mobilisierung des indianischen Proletariats sein könnten“. Die Realität ist, dass die Ayllu der Ausgangspunkt für die Mobilisierung des indianischen Proletariats hinter dem indianischen Kleinbürgertum, den Bauern und Kokapflanzern in ihrem Kampf gegen die regierende Fraktion der Bourgeoisie waren.

Diese Verirrung von Battaglia Comunista, den „indianischen Gemeinderäten“ ein Potenzial bei der Entwicklung des Klassenkampfes zuzuschreiben, ist vom NCI nicht unbemerkt geblieben. Er sah es als notwendig an, Battaglia zu dieser Frage zu schreiben. Nachdem er betont hatte, was die Ayllu tatsächlich sind, nämlich „ein Kastensystem zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der Bourgeoisie, gleich, ob weiss, mestizisch oder eingeboren, und dem Proletariat“, richtet der NCI in seinem Brief (datiert vom 14. November 2003) folgende Kritik an Battaglia: „Unserer Ansicht nach handelt es sich bei dieser Position um einen schwerwiegenden Irrtum, da sie dieser traditionellen eingeborenen Institution die Fähigkeit zuspricht, Ausgangspunkt für die Arbeiterkämpfe in Bolivien zu sein, auch wenn sie in der Folge ihre Grenzen aufzeigt. Wir betrachten die Aufrufe der Anführer der Volksrevolte zur Wiederherstellung der mythischen Ayllu als Spaltung zwischen den weissen und den indianischstämmigen Arbeitern. Dies ist auch der Fall bei der Forderung an die herrschende Klasse nach einem grösseren Anteil am Kuchen, der vom Mehrwert, das aus dem bolivianischen Proletariat, gleich, welcher Herkunft, herausgepresst wurde, produziert wird.

Jedoch glauben wir fest daran, dass im Gegensatz zu eurer Erklärung der ‚Ayllu’ niemals als ‚ein Beschleuniger und Integrator in einem einzigen und gemeinsamen Kampf’ wird wirken können, da er von reaktionärer Natur ist und die ‚eingeborene’ Annäherung eine Idealisierung (eine Verfälschung) der Geschichte dieser Gemeinden darstellt, da ‚im Inkasystem die Gemeindeelemente des Ayllu in ein unterdrückerisches Kastensystem im Dienste der Oberschicht, der Inkas, eingebunden waren’ (Osvaldo Coggiola, „L’indigénisme bolivarien“). Aus diesem Grund ist es ein schwerwiegender Fehler zu meinen, dass der Ayllu als Beschleuniger und Integrator der Kämpfe wirken könnte.

Es ist wahr, dass die bolivianische Rebellion von eingeborenen Gemeinschaften von Bauern und Kokapflanzern angeführt worden ist, aber gerade hier liegt auch der grosse Schwachpunkt und nicht etwa die Stärke, da es sich um eine einfache und simple Volksrebellion handelt, in der die Arbeiter nur eine zweitrangige Rolle spielen. Die bolivianische interklassistische Revolte leidet also an der Abwesenheit einer revolutionären Arbeiterperspektive. Im Gegensatz zu den Gedanken gewisser Strömungen des trotzkistischen und guevaristischen Lagers kann man diese Revolte keinesfalls als ‚Revolution’ bezeichnen. Die eingeborenen Bauernmassen setzten sich in keinem Augenblick den Umsturz des kapitalistischen Systems in Bolivien zum Ziel. Im Gegenteil: Wir haben bereits gesagt, dass die Ereignisse in Bolivien sehr stark vom Chauvinismus geprägt sind: Verteidigung der nationalen Würde, Verweigerung des Erdgasverkaufs an Chile, Widerstand gegen die Ausmerzung der Kokapflanze.“

Die Rolle der Ayllu in Bolivien findet in der mexikanischen AZLN (Zapatistische Armee der nationalen Befreiung) ein Ebenbild: Sie hat die eingeborenen Gemeindeorganisationen zur Mobilisierung der indianischen Kleinbourgeoisie, der Bauern und Proletarier von Chiapas und anderen Regionen Mexikos im Kampf gegen die Hauptfraktion der mexikanischen Bourgeoisie gebraucht. Dieser Kampf stand auch im interimperialistischen Spannungsfeld zwischen den USA und gewissen europäischen Mächten.

Diese Sektoren der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas sind weder ins Proletariat noch in die Bourgeoisie integriert worden und sind einer extremen Armut und Marginalisierung ausgeliefert. Diese Situation „hat Intellektuelle und gewisse Strömungen des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie dazu veranlasst, nach Argumenten zu suchen, weshalb die Indianer ein gesellschaftlicher Körper mit einer historischen Alternative seien und wie sie als Kanonenfutter für den so genannten Kampf für die ethnische Verteidigung zu gebrauchen seien. Tatsächlich befinden sich hinter diesen Kämpfen aber die Interessen der Bourgeoisie. Man hat das nicht nur in Chiapas, sondern auch in Ex-Jugoslawien gesehen, wo die ethnischen Fragen von der Bourgeoisie manipuliert wurden, um einen formellen Vorwand für den Kampf der imperialistischen Mächte zu liefern.“ (16)

Die vitale Rolle der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern des Kapitalismus

Das Proletariat ist mit einer sehr ernsthaften Verschlechterung der gesellschaftlichen Umwelt konfrontiert, in der es leben und kämpfen muss. Seine Fähigkeit, ein Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, ist vom zunehmenden Gewicht der Hoffnungslosigkeit der nicht-ausbeutenden Schichten bedroht. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte nutzen diese Situation für ihre eigenen Zwecke aus. Es wäre eine sehr schwerwiegende Vernachlässigung unserer Verantwortung, wenn wir diese Gefahr unterschätzen würden.

Nur durch die Entwicklung der Unabhängigkeit als Klasse und die Behauptung der Klassenidentität, durch die Stärkung des Vertrauens in die Fähigkeiten zur Verteidigung der eigenen Interessen wird das Proletariat zu einer Kraft werden, der es möglich ist, die anderen nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hinter sich zu scharen.

Die Geschichte des Arbeiterkampfes in Lateinamerika zeigt, dass die Arbeiterklasse eine lange und reiche Erfahrung aufweist. Die Anstrengungen der argentinischen Arbeiter 2001 und 2002 zur Wiederaufnahme von unabhängigen Klassenkämpfen (beschrieben in den Zitaten vom NCI (17)) zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse intakt ist. Sie trifft jedoch auf grosse Schwierigkeiten, die Ausdruck von bereits langanhaltenden Schwächen des Proletariats in der Peripherie des Kapitalismus und der enormen materiellen und ideologischen Kraft des Zerfallsprozesses in diesen Regionen sind. Es ist kein Zufall, wenn die bedeutendsten Ausdrücke der Klassenautonomie in Lateinamerika in den 60er- und 70er-Jahren liegen, mit anderen Worten: vor dem Prozess des Zerfalls und seiner negativen Auswirkungen auf die Klassenidentität des Proletariats. Eine solche Situation verstärkt nur die historische Verantwortung des Proletariats in den industriellen Konzentrationen im Herzen des Kapitalismus. Dort befinden sich die am weitesten vorangeschrittenen und die gegenüber den zersetzenden Auswirkungen des Zerfalls widerstandsfähigsten Teile der Arbeiterklasse. Das Signal zur Beendigung der fünfzigjährigen konterrevolutionären Phase Ende der 60er-Jahre war in Europa ertönt und das Echo hallte in Lateinamerika wider. Aus demselben Grunde wird die Rekonstituierung der Arbeiterklasse als historisches Gegengift zum kapitalistischen Verfall notwendigerweise von den konzentriertesten und politisch erfahrensten Bataillonen der Arbeiterklasse ausgehen, an erster Stelle von jenen in Westeuropa. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiter Lateinamerikas keine vitale Rolle in der zukünftigen Generalisierung und Internationalisierung der Kämpfe spielen werden. Von allen Sektoren der Arbeiterklasse in der Peripherie des Systems sind sie gewiss die politisch am fortgeschrittensten. Das beweist die Existenz einer revolutionären Tradition in diesem Teil der Welt und auch das gegenwärtige Auftauchen von neuen Gruppen auf der Suche einer revolutionären Klarheit. Diese Minoritäten sind der Gipfel eines proletarischen Eisbergs, der die unsinkbare Titanic des Kapitals zum Sinken bringt.

Phil

Fußnoten:

1 s. Punkt 9 der Plattform der IKS.

2 Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, S. 38.

3 s. Argentinien sechs Jahre nach Cordoba“, in: World Revolution, Nr. 1, 1975, S. 15f.

4 s. Der unaufhaltsame Fall von Allende, in: World Revolution Nr. 268.

5 s. Mexiko: Arbeiterkämpfe und revolutionäre Intervention, in: World Revolution, Nr. 124, Mai 1989.

6 Der schwierige Weg zur Vereinheitlichung des Klassenkampfes, in: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.

7 nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC).

8 s. Kommuniqué an die gesamte Arbeiterklasse, in: Internacionalismo, Organ der IKS in Venezuela, zit. nach: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.

9 s. Lektionen aus Argentinien: Positionsbezug des IBRP: Entweder die revolutionäre Partei und der Sozialismus oder die verallgemeinerte Armut und der Krieg, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.

10 s. Thesen über die kommunistischen Taktiken für die Peripherie des Kapitalismus, siehe: www.ibrp.org [1]. Die IKS kritisiert diese Thesen in: Der Kampf der Arbeiterklasse in den peripheren Ländern des Kapitalismus, in: Revue Internationale Nr. 100.

11 s. Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden, in: Internationale Revue, Nr. 30, November 2002.

12 s. Arbeiterkämpfe in Argentinien: Polemik mit der IKS“, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.

13 s. Zwei Jahre nach dem 19. und 20. Dezember, in: Revolucion Comunista, Nr. 2.

14 s. A propos Klassenkampf in Argentinien, in: Communismo, Nr. 49.

15 Die bolivianische Revolte, in: Revolucion Comunista, Nr. 1.

16 s. Einzig die proletarische Revolution kann die Indianer befreien, in: Revolucion Mundial, Nr. 64, September/Oktober 2001. Organ der IKS in Mexiko.

17 s. Révolution Internationale, Nr. 315, September 2001.

Geographisch: 

  • Süd- und Mittelamerika [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [3]

Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte

  • 1912 Aufrufe

Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil I)

Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war der Nahe Osten oft Schauplatz imperialistischer Kriege.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten drei offene Kriege zwischen Israel und seinen feindlichen Nachbarn (1949, 1967, 1973), ein permanenter Kriegszustand zwischen Israel und den bewaffneten palästinensischen Kämpfern (mit den bewaffneten Terroristenbanden und Selbstmordattentätern auf der einen und dem israelischen Staatsterror auf der anderen Seite), ein acht Jahre langer Krieg zwischen Iran und Irak, unablässige Scharmützel zwischen kurdischen Nationalisten und dem türkischen Staat, 20 Jahre Krieg in Afghanistan, der Golfkrieg 1991 und die Besetzung des Iraks 2003, die nur eine Verschlimmerung des Kriegszustandes zur Folge hatte.

Kein anderer Teil der Erde zeigt deutlicher, dass der Kapitalismus nur durch Krieg und Zerstörung überleben kann, dass alle Länder – ob gross oder klein – imperialistisch sind, dass keine systemimmanente Auflösung der kapitalistischen Widersprüche möglich ist, dass der Krieg seine eigene Dynamik geschaffen hat und die Arbeiter sich auf dem internationalistischen Terrain vereinigen und gemeinsam jeden Nationalismus bekämpfen müssen.

Diese kurze Geschichte des Nahen Ostens hat zum Ziel aufzuzeigen, dass die Vielzahl der regionalen und lokalen Konflikte in dieser Region nur im Zusammenhang mit dem weltweiten Imperialismus verstanden werden kann.

Der Nahe Osten: Schnittpunkt der imperialistischen Interessen aller kapitalistischer Mächte

Zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer, zwischen Asien, Europa und Afrika gelegen, war der Nahe Osten schon lange bevor seine Erdölvorkommen entdeckt wurden ein umstrittenes Gebiet.

Seit dem Beginn der Expansion des kapitalistischen Europas in diese Region haben die globalen strategischen Interessen die Politik der verschiedenen Mächte bestimmt. Diese haben sich nie nur wegen der Nachfrage nach diesem oder jenem Rohstoff die Stirn geboten.

Schon in seiner frühen Expansionsphase, noch bevor die industrielle Revolution voll in Schwung kam, beeilte sich der britische Kapitalismus, in Indien Fuss zu fassen und seinen französischen Rivalen von dort zu vertreiben. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde Grossbritannien zur vorherrschenden Macht. Systematisch bemühte sich Grossbritannien darum, strategisch wichtige Stellungen auf dem Weg nach Indien zu besetzen. 1839 wurde Aden (im heutigen Yemen) besetzt und die Briten übernahmen die Polizeifunktion an der Golfküste, wo Piraten die Handelsentwicklung beeinträchtigt hatten.

Aber der Nahe Osten entwickelte sich schnell auch zu einem Expansionsziel des russischen Kapitalismus. Nach den Zusammenstössen mit Persien (1828) und seinen wiederholten Kriegen gegen das osmanische Reich – allein im 19. Jahrhundert führten Russland und die Türkei dreimal Krieg gegeneinander (1828, 1855 und 1877); im Krimkrieg von 1853–56 stiess Russland mit der Türkei, mit Grossbritannien, Frankreich und Italien am Schwarzen Meer zusammen – Russland versuchte, in Richtung Kaukasusregion, Kaspisches Meer und in Richtung der heute unter den Namen Kasachstan und Tadschikistan geläufigen Region zu expandieren. Sein Hauptziel war der Zugang zum Indischen Ozean via Afghanistan und Indien.

Um die russische Expansion in diese Gegend abzuwehren, nahm Grossbritannien zweimal Afghanistan ein (1839–1842 und 1878–1880). Nach seinem Sieg im zweiten Afghanistankrieg errichtete Grossbritannien ein Marionettenregime in diesem Land.[1]

Als sich Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Imperialismus in Richtung Balkan und Naher Osten ausbreitete, beschlossen Grossbritannien und Russland, ihren Konflikt über die Vorherrschaft in Asien beizulegen. Sie einigten sich darauf, das Gebiet rund um Afghanistan aufzuteilen, um dem deutschen Vorrücken Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig installierte Grossbritannien 1893 in Afghanistan die „Durand-Linie“. Durand weitete entgegen den Absichten des afghanischen Königs die Grenze gen Osten durch einen schmalen Landstreifen, den Wakhan, aus, der sich durch das Pamirgebirge bis nach China erstreckt, um eine Pufferzone zwischen Russland und Indien zu installieren. 1907 unterzeichneten Grossbritannien und Russland einen Vertrag, der die Gebiete rund um den Iran aufteilte.

Ausserdem erzielte Grossbritannien 1882 einen strategisch bedeutenden Sieg, indem es Ägypten militärisch besetzte und seinen französischen Widersacher, der den 1869 eröffneten Suez-Kanal gebaut hatte, verdrängte. Der Suez-Kanal wurde zum Dreh- und Angelpunkt der britischen Vorherrschaft im Nahen Osten und war von allerhöchster Bedeutung für die britische Herrschaft in Indien und anderen Teilen Asiens und Afrikas. Noch 1956 entsandten Grossbritannien und Frankreich Truppen, um die Kontrolle über den Kanal zu verteidigen, und widersetzten sich damit den USA.

Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hatte Grossbritannien die bestimmende Position im Nahen Osten inne und hielt damit seine europäischen Widersacher Russland und Frankreich in Schach.

Wie oben erwähnt, betrachteten die europäischen Kolonialmächte, als sie ihre Kolonien „einsammelten“ und ihre imperialistischen Ziele definierten, die Frage der Rohstoffe, ob Erdöl oder andere, nicht als vorrangig. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Erdölvorkommen des Nahen Ostens von geringer Bedeutung, und auch andere Rohstoffe spielten keine entscheidende Rolle.[2] Schon damals spielten eher strategische und militärische Erwägungen die Hauptrolle.

Die Natur der imperialistischen Konflikte entwickelte jedoch einen qualitativ neuen Charakter, als die Erdkugel Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen den europäischen Grossmächten aufgeteilt war.

Sobald die europäischen Mächte bei dem Versuch, die Welt unter sich und weiteren aufzuteilen (Nordafrika unter Italien und Frankreich, Ägypten und Fachoda/Sudan unter Frankreich und Grossbritannien, Zentralasien unter Grossbritannien und Russland, der Ferne Osten zwischen Russland und Japan, China unter Japan und Grossbritannien, der Pazifik-

raum unter den USA und Japan, Marokko unter Deutschland und Frankreich), aneinander gerieten, nahmen auch die Spannungen im Nahen Osten stark zu.

Deutschland, das verspätet auf dem Weltmarkt erschienen war und verzweifelt versuchte, sich Kolonien anzueignen, konnte diese bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch Ländern entreissen, die sich bereits „etabliert“ hatten. Das hatte zur Folge, dass Deutschland vor allem versuchte, die Positionen der alleinigen Weltmacht, nämlich Grossbritanniens, zu untergraben. Schon Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich Deutschland darum, eine militärische Präsenz zu errichten. Doch wie wir gesehen haben, war der deutsche Imperialismus zwar in der Lage, die britischen Interessen in dieser Region zu bedrohen und zu untergraben, aber er war unfähig, die britische Herrschaft zu stürzen. Auch wenn er ein ständiger Herausforderer und „Unruhestifter“ besonders der britischen Interessen war, besass er, anders als der britische Imperialismus, nicht die Mittel, um seine Präsenz in der Region zu erzwingen.

Deutschland versuchte also, sich weiter östlich auf dem Balkan auszuweiten (es ist kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg dort ausgelöst wurde, nachdem sich die imperialistischen Gegensätze in zwei Balkankriegen 1912–1913 zugespitzt hatten, während denen das osmanische Reich seine europäischen Gebiete an Bulgarien, Serbien, Griechenland und Albanien verlor). Das sich auflösende osmanische Reich wurde zum Angelpunkt der deutschen imperialistischen Ansprüche im Nahen Osten.

Während Marx noch die territoriale Einheit der Türkei als Barriere gegen die russischen Ambitionen im Nahen Osten unterstützt hatte, erkannte Rosa Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sich die Weltlage verändert hatte und die Unterstützung der Türkei ein reaktionäres Projekt geworden war. „Dass bei der Vielfältigkeit der nationalen Fragen, welche den türkischen Staat zersprengen: der armenischen, kurdischen, syrischen, arabischen, griechischen (bis vor kurzem noch der albanischen und makedonischen), bei der Mannigfaltigkeit der ökonomisch-sozialen Probleme in den verschiedenen Teilen des Reiches (…) war für jedermann und namentlich für die deutsche Sozialdemokratie seit langem ganz klar, dass eine wirkliche Regeneration des türkischen Staates eine vollständige Utopie ist, und dass jede Anstrengung, diese verfaulten und zusammenbrechenden Ruinen aufrechtzuerhalten, nur ein reaktionäres Unternehmen darstellen kann.“[3]

Für den deutschen Imperialismus war die Türkei das Schlüsselland für seine Ambitionen.[4] Deutschland unterstützte die Türkei militärisch (es bildete den türkischen Generalstab aus, lieferte Waffen und unterzeichnete 1914 einen Beistandspakt für den Kriegsfall); es wurde auch zum wichtigsten Zulieferer finanzieller und technischer Hilfe. Darum hat „die Position des deutschen Imperialismus ihn in Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten im Nahen Osten gebracht. Vor allem zu Grossbritannien. Die Errichtung strategischer Bahnen und die Stärkung des türkischen Imperialismus unter deutschem Einfluss wurden aber hier an einem der weltpolitisch empfindlichsten Punkte für Grossbritannien vorgenommen: in einem Kreuzungspunkt zwischen Zentralasien, Persien, Indien einerseits und Ägypten andererseits.“[5]

Eine weitere Ambition des deutschen Imperialismus zu jener Zeit war der Bau der Bagdadbahn, die den deutschen Truppen als elementarer logistischer Hebel dienen sollte.[6]

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches war entscheidend für die Ausbreitung der imperialistischen Konflikte sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen Osten.

Bis zum Ersten Weltkrieg war der grösste Teil des Nahen Ostens unter der Kontrolle des osmanischen Reiches. In Asien kontrollierte die Türkei Syrien (einschliesslich Palästina), einen Teil der arabischen Halbinsel (die damals noch keine festen Grenzen hatte), einen Teil der Kaukasusregion und Mesopotamiens (bis nach Bassorah).

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches führte weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten zur Bildung einer grossen Industrienation, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig gewesen wäre. Im Gegenteil, der imperialistische Druck führte zu einer Aufsplitterung, zur Bildung einer Reihe von „verkrüppelten Kleinstaaten“. Diese Kleinstaaten auf dem Balkan waren während des gesamten 20. Jahrhunderts und bis in unsere Tage ebenso Objekt der imperialistischen Rivalitäten zwischen den Grossmächten, wie der asiatische Teil der Trümmer des osmanischen Reiches, der Nahe Osten, Schauplatz andauernder imperialistischer Konflikte blieb.

Der Ferne Osten blieb, abgesehen von einigen weniger wichtigen Konflikten, abseits des Ersten Weltkrieges. Im Gegensatz dazu war der Nahe Osten schon immer Schlachtfeld konkurrierender Parteien gewesen.[7] Schon in der Zeit des Ersten Weltkrieges, lange bevor die Palästinafrage und die Frage eines jüdischen Staates gestellt wurde, war die Region ein imperialistisches Minenfeld gewesen. Wie wir aber sehen werden, trugen die Konflikte um Palästina und einen zionistischen Staat zu einer weiteren Verschärfung in einer Region bei, die ohnehin Brennpunkt imperialistischer Konflikte ist.

Der Fall des osmanischen Reiches und die imperialistischen Konstellationen am Ende des Ersten Weltkrieges

Während des Ersten Weltkrieges versuchten die europäischen Länder, ihre „Verbündeten“ in der Region für ihre Kriegsanstrengungen zu mobilisieren.

Grossbritannien, das zusammen mit Russland Deutschland und die Türkei bekämpfte, versuchte, die arabische Bourgeoisie für ein Bündnis gegen die osmanischen Herrscher zu gewinnen. Es ermutigte alle Unabhängigkeitsbestrebungen gegen die türkischen Herrscher, stachelte Stämme der Hedjas (im westlichen Teil der arabischen Halbinsel) auf und unterstützte Sherif Hussein aus Mekka.

Bereits im Ersten Weltkrieg dienten die lokalen Führer als Schachfiguren in den Machtkämpfen der europäischen Mächte. Die Briten konnten sich mit Hilfe von Lawrence von Arabien, der eine wichtige Rolle als Verbindungsoffizier zu den arabischen Rebellen spielte, deren Kampf gegen die Türken zunutze machen. Auch die jüdischen Einwanderer wurden als Kanonenfutter für den englischen Imperialismus rekrutiert.

Nachdem Deutschland die Türkei im Februar 1915 dazu gedrängt hatte, eine Offensive gegen die englischen Stellungen in Ägypten zu führen, um sich des Suez-Kanals zu bemächtigen (eine Offensive, die bereits nach wenigen Tagen aus Mangel an logistischer Unterstützung und an Waffenlieferungen scheiterte), erwies sich die Türkei als die grosse Verliererin des Krieges.

Dies entfachte umgekehrt die imperialistischen Gelüste sowohl der europäischen Mächte als auch der lokalen arabischen Herrscher. In der Hoffnung, von der Gelegenheit zu profitieren, lieferten sich im Sommer 1917 die von Sherif Hussein kommandierten arabischen Truppen ein richtiggehendes Wettrennen mit der englischen Armee, um sich Teile des türkischen Gebietes zu schnappen. Dieselben Truppen marschierten im Oktober 1918 in Damaskus ein und riefen ein arabisches Königreich aus. So zeigten die arabischen Führer ihre eigenen imperialistischen Ambitionen, nachdem sie als Kanonenfutter für die englischen imperialistischen Interessen in der Türkei gedient hatten. Sie wollten ein „panarabisches Reich“ mit Damaskus als Hauptstadt errichten. Doch diese nationalistischen Ambitionen stiessen sofort mit den englischen und französischen Interessen zusammen: Es gab keinen Raum für die arabischen imperialistischen Ansprüche.

Als das osmanische Reich auseinanderbrach und die deutsch-türkische Niederlage sich abzeichnete, begannen Frankreich und Grossbritannien Pläne zu schmieden, um den Nahen Osten unter sich aufzuteilen.

Die arabischen Staaten wurden von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen. Die Bildung einer grossen arabischen Nation, die die Überbleibsel des kollabierten osmanischen Reiches umfassen würde, war historisch unmöglich geworden. Die Hoffnungen der herrschenden Klasse Arabiens, eine grosse arabische Nation aufzubauen, waren zum Scheitern verurteilt, weil die europäischen imperialistischen Haie keinen lokalen Widersacher dulden konnten.

Im Frühjahr 1915 teilten die europäischen Mächte Grossbritannien, Frankreich, Russland, Italien und Griechenland nach Geheimverhandlungen den Nahen Osten unter sich auf. Grossbritannien und Frankreich unterzeichneten im Mai 1916 ein Geheimabkommen (Sykes-Picot-Vertrag), demzufolge

– Grossbritannien die Kontrolle über Haifa, Acca, die Negev-Wüste, Südpalästina, den Irak, die arabische Halbinsel, sowie Transjordanien (heute: Jordanien),

– Frankreich den Libanon und Syrien bekommen erhalten sollte.

Im April 1920 erhielt Grossbritannien das Mandat des Völkerbundes für Palästina, Jordanien, Iran, Irak; Frankreich erhielt das Mandat für Syrien und Libanon und trat die Kontrolle über Mossul (mit seinen reichen Ölquellen) gegen englische Zugeständnisse in Elsass-Lothringen und Syrien ab.

Von da an waren Deutschland als geschlagenes Land und Russland nach der Oktoberrevolution 1917 für eine lange Zeit auf der imperialistischen Bühne im Nahen Osten nicht mehr präsent. Die Zahl der Widersacher in der Gegend sank beträchtlich. Grossbritannien und Frankreich wurden die herrschenden Kräfte, wobei Grossbritannien klar die stärkste Stellung innehielt. Die bestimmenden Kräfte waren während des Krieges und bis in die 30er-Jahre europäisch, die USA spielten noch keine bedeutende Rolle.

Um sein Kolonialreich zu verteidigen, das von anderen Mächten untergraben wurde, musste Grossbritannien ein besonderes Augenmerk auf die strategisch hoch bedeutende Region von Palästina legen. Palästina bedeutete für Grossbritannien die Verbindung zwischen dem Suez-Kanal und dem zukünftigen britischen Mesopotamien. Keiner anderen Macht, weder einer europäischen noch einer arabischen, sollte es erlaubt werden, einen Keil zwischen Mesopotamien und den Suez-Kanal zu treiben. 1916 erklärte Grossbritannien die Kontrolle über Palästina zum ausschliesslichen Ziel seiner Politik.

Bis zum Ersten Weltkrieg, solange das osmanische Reich Bestand hatte, wurde Palästina stets als Teil Syriens angesehen. Aber mit dem Mandat Grossbritanniens für Palästina hatten die imperialistischen Mächte eine neue „Einheit“ geschaffen. Wie alle im Laufe der Dekadenz des Kapitalismus neu geschaffenen „Einheiten“ war auch sie dazu bestimmt, zum permanenten Schauplatz von Konflikten und Kriegen zu werden.

Die lokalen palästinensischen Herrscher waren noch schwächer als die anderen arabischen Herrscher. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit verfügten sie weder über eine industrielle Basis noch über Finanzkapital, sie hatten keinerlei wirtschaftliches Potenzial und konnten sich nur auf militärische Mittel stützen, um ihre Interessen zu verteidigen.

1919 wurde der erste palästinensische Nationalkongress einberufen und Amin al-Hussein wurde zum Mufti von Jerusalem ernannt. Die palästinensischen Nationalisten nahmen Kontakt mit Frankreich auf, um die englische Herrschaft in Palästina ins Wanken zu bringen. Mit der Hilfe Syriens und der französischen Besatzungstruppen in Syrien wurde ein militärischer Aufstand gegen die Briten organisiert, der indes von der britischen Armee schnell niedergeschlagen wurde.

Gleichzeitig wurden die palästinensischen Herrscher, die ihre Unabhängigkeit in einer Welt beanspruchten, die keinen Raum für einen neuen Nationalstaat bot, mit einem neuen, vom Ausland kommenden „Widersacher“ konfrontiert.

Nach der Balfour-Erklärung von Grossbritannien im November 1917, die Unterstützung bei der Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina versprach, nahm die Zahl der jüdischen Einwanderer beständig zu. Die Zionisten begannen einen blutigen Überlebenskampf gegen die palästinensischen Herrscher.

Grossbritannien nutzte die jüdischen Siedler an zwei Fronten. Nachdem es während des Krieges im Kampf gegen den türkischen Rivalen das „Zion Mule Corps“ seiner Armee angegliedert hatte, benutzte Grossbritannien nun die jüdischen Nationalisten gleichzeitig gegen seinen Hauptgegner Frankreich und gegen die arabischen Nationalisten. So stiftete Grossbritannien die Zionisten dazu an, vor dem Völkerbund zu erklären, dass die Juden in Palästina weder französischen noch internationalen, sondern nur britischen Schutz wünschten.

Obwohl in Rivalität miteinander verbunden, handelten Frankreich und Grossbritannien resolut und gemeinsam gegen lokale arabische Nationalisten, sobald sich deren Ruf nach nationaler Unabhängigkeit erhob. So setzten sie nun militärische Mittel ein, um ihre Unabhängigkeitsansprüche der arabischen Nationalisten zu unterdrücken, nachdem sie sich noch während des 1. Weltkrieges gegen die Türken ihrer bedient hatten. Kaum hatte Scheich Feisal im Oktober 1918 in Damaskus ein „unabhängiges arabisches Reich“ proklamiert, das Palästina umfassen sollte, unterwarfen ihn im Juli 1920 französische Truppen – wobei sie Bombenflugzeuge gegen die arabischen Nationalisten einsetzten.

Im März 1918 fanden in Ägypten eine Reihe von Protesten von ägyptischen Nationalisten, Arbeitern und Bauern statt, die soziale Reformen forderten. Sie wurden von der britischen und ägyptischen Armee gemeinsam niedergeworfen, wobei mehr als 3.000 Ägypter getötet wurden. Auch 1920 wurde eine Protestbewegung im irakischen Mossul von Grossbritannien niedergeschlagen.

Die lokale Bourgeoisie hatte in keinem der arabischen Länder oder Protektorate die Mittel, unabhängige, vom kolonialen Zugriff und den „Schutzmächten“ befreite Staaten zu errichten.

Die Forderung nach nationaler Befreiung war nichts anderes als eine reaktionäre Forderung. Während Marx und Engels einige nationalistische Bewegungen unter der einzigen Bedingung unterstützt hatten, dass die Bildung der Nationalstaaten das Wachstum und die Verstärkung der Arbeiterklasse beschleunigen würde, damit Letztere als Totengräber des Kapitalismus handeln konnte, zeigten die Entwicklungen im Nahen Osten dagegen, dass es keinen Raum für die Bildung einer neuen arabischen oder palästinensischen Nation gab. Nachdem der Kapitalismus in die Phase seines Niederganges eingetreten war, konnten – wie auch überall sonst auf der Welt – keine nationale Fraktion des Kapitals eine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Unfähig, neue kapitalistische Absatzmärkte zu erobern, konnten die Widersacher nur militärisch reagieren: Die Kolonialmächte verhinderten im Nahen Osten die Bildung einer neuen arabischen Nation, und die lokalen arabischen Bourgeoisien widersetzten sich den Versuchen, einen neuen palästinensischen Nationalstaat zu errichten.

Um die Situation im Nahen Osten nach dem Niedergang des osmanischen Reiches und dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenzufassen, möchten wir folgende Punkte hervorheben:

– Die beiden europäischen Mächte Frankreich und Grossbritannien, die in Rivalität zueinander standen und ihre „Protégés“ gewählt hatten, beherrschten die Region.

– Deutschland und Russland mit ihren starken imperialistischen Ambitionen in der Region wurden zurückgedrängt.

– Die arabische Bourgeoisie war nicht in der Lage, einen lebensfähigen panarabischen Nationalstaat zu schaffen.

– Die neu geschaffene Einheit, das Protektorat Palästina, mit einer verkrüppelten, rückständigen herrschenden Klasse Palästinas an der Spitze, geriet in Konflikt mit einer „Schutz“macht (Grossbritannien), die dazu nicht in der Lage war, und mit dem neuen zionistischen Rivalen, der von aussen einsickerte.

Die arabische Bourgeoisie, die mit den Kolonialmächten aneinander geriet, die sie daran hindern wollten, einen neuen, lebensfähigen Staat zu bilden, widersetzte sich ihrerseits der Bildung einer neuen palästinensischen „Einheit“.

Die USA, Hauptnutzniesser des Ersten Weltkrieges, waren noch nicht bereit. Im Zentrum der imperialistischen Rivalitäten stand nicht die Eroberung von bestimmten Rohstoffen, sondern die Eroberung strategischer Positionen.

Wir sehen, dass die Situation im Nahen Osten die von Rosa Luxemburg während des Ersten Weltkrieges entwickelte Analyse voll und ganz bestätigte: „Der Nationalstaat, die nationale Unabhängigkeit und Einheit, das war das ideologische Banner, unter dem sich im letzten Jahrhundert die grossen bürgerlichen Staaten Zentraleuropas bildeten. Der Kapitalismus ist nicht vereinbar mit dem Partikularismus der Kleinstaaten, mit einem politischen und wirtschaftlichen Zerbröckeln; er braucht ein grösstmögliches zusammenhängendes Gebiet mit einem einheitlichen Zivilisationsniveau, um sich auszubreiten; ohne diese Voraussetzung könnte man weder die gesellschaftlichen Bedürfnisse auf die von der kapitalistischen Warenproduktion erzielte Ebene heben, noch würde der Mechanismus der modernen bürgerlichen Herrschaft funktionieren. Vor ihrer Ausbreitung über die ganze Erdkugel hat die kapitalistische Wirtschaftsweise versucht, sich ein zusammenhängendes Gebiet in den nationalen Grenzen eines Staates zu schaffen (…) Die nationale Phrase dient heute nur dazu, mehr schlecht als recht imperialistische Ansprüche zu maskieren, wenn sie nicht als Kriegsruf in den imperialistischen Konflikten verwendet wird, als einziges und letztes ideologisches Mittel, um die Zustimmung der Volksmassen zu fangen und sie die Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen spielen zu lassen.“[8]

DE

Fußnoten:

1. Friedrich Engels, Angriff“, in: MEW Bd. 14, S. 68

2. 1900 betrug der Erdölverbrauch etwa 20 Millionen Tonnen und diese Nachfrage wurde durch die amerikanischen und russischen Quellen abgedeckt (Hauptförderregion war der Golf von Mexiko). Die verschärfte Militarisierung und die Ablösung der Kohle durch Öl in der Industrie und als Treibstoff für Lokomotiven erhöhten die Nachfrage stark. Zwischen 1900 und 1910 hat sich die Erdölproduktion mehr als verdoppelt und erreichte 43.8 Millionen Tonnen. Die Erfindung des Dieselmotors für den Lokomotivantrieb und die Dampfschiffe schufen die technische Grundlage, aber erst die Erfordernisse einer militarisierten Wirtschaft führten zur Verdoppelung der Rohölproduktion. Vor dem I. Weltkrieg spielte der Nahe Osten lediglich eine zweitrangige Rolle in der Erdölversorgung des Weltmarktes. Erst nach dem I. Weltkrieg stieg die Ölförderung im Nahen Osten beträchtlich an.

3. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

4. Der deutsche Imperialismus schwankte zwischen der Unterstützung für die Türkei und für die nationalistischen jüdischen Siedler. Wenn die Zionisten mit deutscher Unterstützung eine jüdische Heimstatt in Palästina eingerichtet hätten, hätte dies einen Konflikt mit dem osmanischen Reich hervorgerufen. Doch Deutschland wollte es nicht riskieren, seine Verbindung mit der Türkei zu lösen, weil diese sein wichtigster Verbündeter im weltweiten Machtkampf mit Grossbritannien war.

5. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff. Rosa Luxemburg war eine der Ersten, die die historischen Folgen der neuen Bedingungen, die der Anfang der Dekadenz mit sich brachte, erfasste. Schon in ihrem Buch über Die wirtschaftliche Entwicklung Polens 1898 zeigte sie, dass die Kommunisten die Bildung eines polnischen Staates nicht mehr unterstützen konnten. In dem Text Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie 1896 und in Die nationale Frage und die Autonomie 1908 zeigte sie den historischen Wandel auf, der zwischen dem Aufstieg und dem Niedergang eingetreten war und jede Unterstützung für die Türkei verunmöglichte.

6. Rohrbach schrieb in seinem Buch Die Bagdadbahn“: „Grossbritannien kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: von Ägypten (…) Die Türkei kann aber nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, dass sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt. Die Bagdadbahn war von Anfang an dazu bestimmt, Konstantinopel und die militärischen Kerngebiete des türkischen Reiches in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen. Natürlich war in diesem Plan das Projekt inbegriffen, türkische Truppen nach Ägypten zu transportieren.“ (Paul Rohrbach, zitiert nach Rosa Luxemburg, in: Der Krieg und die deutsche Politik).

7. Obwohl der Nahe Osten ein Nebenkriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges war, liessen von den 20 Millionen Opfern etwa 350.000 aus dem Nahen Osten ihr Leben in diesem Krieg. Die türkische und alliierte Seeblockade der arabischen Häfen sowie Epidemien und Hungersnöte erforderten zahlreiche Tote. 30 Prozent der ägyptischen Männer wurden von der britischen und australischen Armee eingezogen, um als Handlanger zu dienen.

8. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

Den Zerfall des Kapitalismus verstehen (Teil I)

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Die marxistischen Wurzeln des Begriffs „Zerfall“

In den „Thesen über den Zerfall“ (Erstpublikation in der International Review Nr. 62 und in Deutsch in: Internationale Revue Nr. 13) sowie im Artikel „Der Zerfall des Kapitalismus“ (Internationale Review Nr. 57, engl., franz., span. Ausgabe) haben wir gezeigt, dass der Kapitalismus in eine neue und letzte Phase seiner Dekadenz eingetreten ist, in die des Zerfalls. Sie wird charakterisiert durch die Verstärkung und Zuspitzung aller Widersprüche des System.

Leider sah sich unsere Organisation mit dem Bemühen, diese wichtige Entwicklung im Leben des Kapitalismus zu analysieren, einerseits der blossen Gleichgültigkeit einiger Gruppen der Kommunistischen Linken gegenüber; anderseits sind wir auch auf völliges Unverständnis, ja gar auf Anschuldigungen jeglicher Art gestossen wie z.B. auf den Vorwurf, wir seien von der marxistischen Methode abgekommen.

Die vielleicht groteskeste Stellungnahme kommt von Parti Communiste International (PCI), deren Presseorgane Le Prolétaire und

Il Comunista. In einer von ihr kürzlich publizierten Broschüre mit dem Titel „Le Courant Communiste International: à contre-courant du marxisme et de la lutte de classe“ (Die Internationale Kommunistische Strömung gegen den Marxismus und Klassenkampf) äussert sich diese Organisation zu unserer Analyse des Zerfalls wie folgt: „Wir wollen an dieser Stelle auch keine detaillierte Kritik an dieser nebulösen Theorie anbringen, sondern begnügen uns damit, auf die vom Marxismus und Materialismus am stärksten abweichenden Entdeckungen hinzuweisen.“ Und dies ist auch schon alles, was die PCI zu unserer Analyse zu sagen weiss, während sie an anderer Stelle auf siebzig Seiten gegen unsere Organisation polemisiert.

Nun ist aber die theoretische Reflexion für eine Organisation, die beansprucht, die historischen Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, eine Pflicht ersten Ranges. Diese Reflexion soll die Kampfbedingungen verdeutlichen und die Analysen der Gesellschaft, die sie ja als falsch beurteilt, kritisieren. Diese Notwendigkeit ist um so akuter, da ebendiese Analysen gar von anderen revolutionären Organisationen verteidigt werden. (1)

Das Proletariat und die ihm zugehörigen avantgardistischen Minderheiten brauchen einen globalen Rahmen für das Verständnis der Situation. Ohne einen solchen Rahmen können sie den Ereignissen lediglich mit empirischen und immediatistischen Reaktionen begegnen. Und diese werden durch die Ereignisabfolge selbst überrumpelt.

Die Communist Workers Organisation (CWO) ihrerseits, britischer Zweig des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP), geht in drei Artikeln ihrer Presseorgane (2) auf unsere Analyse des Zerfalls des Kapitalismus ein. Wir werden weiter unten die genauen Argumente der CWO betrachten. Vorerst sei nur gesagt, dass ihre Kritik im Prinzip besagt, unsere Analyse sei nicht marxistisch.

Angesichts dieses Urteils (und die CWO ist damit nicht allein unter den revolutionären Organisationen) erscheint es uns wichtig, die marxistischen Wurzeln des Begriffs „Zerfall“ des Kapitalismus aufzudecken und verschiedene Aspekte und Bedeutungen dieses Begriffs zu präzisieren und zu entwickeln. Deshalb haben wir uns für die Veröffentlichung einer Artikelserie mit der Überschrift „Den Zerfall verstehen“ entschieden. Diese Artikelserie versteht sich als Fortsetzung einer früheren, nämlich der vor einigen Jahren erschienenen Serie „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen“ (3). Schliesslich ist der Zerfall ein Phänomen der Dekadenz und kann nicht isoliert von ihr verstanden werden.

Der Zerfall – ein Phänomen der Dekadenz des Kapitalismus

Die marxistische Methode liefert einen materialistischen und historischen Rahmen, um die unterschiedlichen Momente des Lebens des Kapitalismus sowohl in der aufsteigenden als auch in der absteigenden Phase zu charakterisieren.

„Genauso wie der Kapitalismus verschiedene Zeiträume in seiner historischen Entwicklung durchlaufen hat – Entstehung, Aufstieg, Niedergang – beinhaltete jeder dieser Zeiträume auch unterschiedliche und voneinander abgegrenzte Phasen. So gab es z.B. in der aufsteigenden Phase die nacheinander folgenden Phasen des freien Marktes, der Aktiengesellschaften, der Monopole, des Finanzkapitals, der kolonialen Eroberungen und der Entwicklung des Weltmarkts. In der Periode der Dekadenz gibt es auch verschiedene Phasen: Imperialismus, Weltkriege, Staatskapitalismus, permanente Krise und heute der Zerfall. Es handelt sich dabei um verschiedene, nacheinander folgende Ausdrücke des Lebens des Kapitalismus, mit jeweils typischen Charakteristiken, selbst wenn diese Ausdrücke vorher schon bestanden oder beim Anbruch einer neuen Phase gar weiterbestehen.“ (4) Die geläufigste Illustration dieses Phänomens ist zweifelsohne der Imperialismus, der „streng genommen nach 1870 beginnt, als sich der Kapitalismus merklich neu gestaltet. Die Periode der Bildung der Nationalstaaten in Europa und Nordamerika ist abgeschlossen und an Stelle von Grossbritannien als Weltfabrik haben sich verschiedene andere nationale Kapitalfraktionen entwickelt, die sich im Wettbewerb um die Vorherrschaft des Weltmarktes befinden, nicht nur im Wettbewerb um die inneren Märkte, sondern auch um die Kolonialmärkte.“ (5) Der Imperialismus erlangt „jedoch erst mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Epoche seiner Dekadenz (...) eine vorherrschende Stellung in der Gesellschaft, in der Politik der Staaten und in den internationalen Verhältnissen (...), so dass er in der ersten Phase seiner Dekadenz diese besonders stark prägt. Dadurch identifizierten viele Revolutionäre der damaligen Zeit ihn mit der Dekadenz des Kapitalismus schlechthin.“ (6)

Die Dekadenzphase des Kapitalismus trägt sehr wohl von Anfang an Elemente des Zerfalls in sich. Kennzeichen davon sind die Auflösung der Gesellschaft, das Versagen ihrer ökonomischen, politischen und ideologischen Strukturen. Nichtsdestotrotz wird der Zerfall erst an einem bestimmten Entwicklungspunkt und unter sehr bestimmten Umständen innerhalb der Dekadenz zu einem oder gar zu dem entscheidenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung, indem sie eine besondere Phase eröffnet, nämlich die des Zerfalls der Gesellschaft. Dass diese Phase die Vervollständigung jener Phasen darstellt, die ihr während der Dekadenz vorausgingen, wird von der Geschichte dieser Periode attestiert.

Der erste Kongress der Kommunistischen Internationale (2. bis 6. März 1919) zeigte auf, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche, die seines historischen Niedergangs, eingetreten ist, in dem er die Keime des inneren Zerfalls des Systems identifizierte: „Eine neue Epoche ist geboren: die Epoche der Auflösung und des inneren Zusammenbruchs des Kapitalismus, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“ (7) Die gesamte Menschheit sieht sich der Gefahr einer Selbstzerstörung ausgesetzt, sollte der Kapitalismus die proletarische Revolution überleben: „Der Menschheit, deren ganze Kultur jetzt in Trümmern liegt, droht die Gefahr vollständiger Vernichtung. (...) Die alte kapitalistische „Ordnung“ existiert nicht mehr, sie kann nicht mehr bestehen. Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos.“ (8) „Heute steht die Verelendung vor uns, nicht nur die soziale, sondern die physiologische, die biologische in ihrer ganzen erschütternde Wirklichkeit.“ (9)

Diese neue Epoche wird auf gesellschaftlicher Ebene durch das historische Ereignis des Ersten Weltkrieges markiert, der sie eröffnet hat: „Wenn der freie Wettbewerb als Regulator der Produktion und der Verteilung in den Hauptgebieten der Wirtschaft von dem System der Trusts und Monopole noch in den dem Kriege vorangegangenen Jahrzehnten verdrängt wurde, so wurde durch den Gang des Krieges die regelnde Rolle den Händen der ökonomischen Vereinigungen entrissen und direkt der militärischen Staatsmacht ausgeliefert.“ (10) Das genannte Phänomen ist nicht von konjunktureller Natur, hervorgerufen durch den Ausnahmezustand des Krieges, sondern eine permanente und unumkehrbare Tendenz: „…hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen (…) Die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche der kapitalistische Liberalismus sich so sträubt, ist zur Tatsache geworden. Nicht nur zum freien Wettbewerb, sondern auch zur Herrschaft der Trusts, Syndikate und anderer wirtschaftlicher Ungetüme gibt es keine Rückkehr. Die Frage besteht einzig darin, wer künftig der Träger der verstaatlichten Produktion sein wird: der imperialistische Staat oder der Staat des siegreichen Proletariats?“ (11)

Die darauf folgenden acht Jahrzehnte haben diesen eindeutigen Wendepunkt der kapitalistischen Gesellschaft nur bestätigt. Sie erlebten eine massive Entwicklung des Staatskapitalismus und der Kriegsökonomie nach der Krise von 1929, den Zweiten Weltkrieg, die darauf folgende Wiederaufbauphase und den Start eines verrückten nuklearen Wettrennens, den Kalten Krieg, der ebenso viele Tote wie die beiden Weltkriege zusammen gefordert hat, und seit 1967 – mit dem Ende der Wiederaufbauperiode nach dem Krieg – das zunehmende Versinken der Wirtschaft in der Krise. Diese Krise dauert nun schon seit dreissig Jahren an und wird begleitet von einer endlosen Spirale militärischer Erschütterungen. Kurz gesagt: es ist eine Welt, die keine andere Perspektive als die eines unaufhörlichen Todeskampfes anbietet, geprägt durch Zerstörung, Elend und Barbarei.

Eine solche historische Entwicklung kann nur den Zerfall der kapitalistischen Produktionsweise auf allen Ebenen des Gesellschaftslebens – Wirtschaft, Politik, Moral, Kultur etc. – fördern. Offensichtlich wurde dies einerseits durch den irrationalen Wahnsinn und die Bestialität des Nazismus mit seinen Konzentrationslagern sowie durch den Stalinismus mit seinem Gulag und andererseits durch den Zynismus und die Heuchelei ihrer demokratischen Gegenspieler mit ihren mörderischen Bombardierungen, die verantwortlich sind für Hunderttausende von Opfern unter der deutschen (besonders in Dresden) und japanischen Bevölkerung (besonders die beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki), obwohl diese beiden Länder bereits geschlagen waren. Die Kommunistische Linke Frankreichs argumentierte 1947, dass die Zerfallstendenzen des Kapitalismus das Produkt der ihm innewohnenden unüberwindbaren Widersprüche sind: „Angesicht ihres eigenen Zerfalls, wählt die Bourgeoisie immer das geringere Übel, sie flickt hier zusammen und stopft dort ein Loch, obschon sie weiss, dass der Sturm stärker wird“. (12)

Der Zerfall – die Endphase der Dekadenz des Kapitalismus

Die Widersprüche und Manifestationen der Dekadenz des Kapitalismus, die ihre verschiedenen Momente hintereinander auszeichnen, verschwinden nicht mit der Zeit, sondern behaupten sich. So erscheint die Zerfallsphase, die ihren Anfang in den 80er-Jahren nahm, „als das Ergebnis der Anhäufung all der Charakteristiken eines im Sterben liegenden Systems. Die Phase des Zerfalls ist nach einem dreiviertel Jahrhundert Todeskampf der Gipfel einer durch die Geschichte zum Tode verurteilten Produktionsform. Nicht nur, dass das imperialistische Wesen aller Staaten, die Drohung eines neuen Weltkrieges, die Absorption der Gesellschaft durch den Staatsmoloch und die ständige Krise der kapitalistischen Wirtschaft in der Phase des Zerfalls fortbestehen, sie erreichen darüber hinaus im Zerfall ihre höchste Synthese und äusserste Konsequenz“.(13)

Der Beginn der Phase des Zerfalls (Zerfall (14)) ist also kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern muss als Kristallisierung eines Prozesses verstanden werden, der schon in den vorhergehenden Etappen des dekadenten Kapitalismus latent war, aber erst ab einem bestimmten Moment zum zentralen Faktor der Situation wurde. Somit kann den Phänomenen des Zerfalls, die, wie erwähnt, die bisherige Dekadenzphase bis anhin begleitet haben, quantitativ und qualitativ nicht dieselbe Bedeutung zugeschrieben werden, die sie seit Beginn der 80er-Jahre haben. Der Zerfall ist nicht einfach eine „neue Phase“, welche die Abfolge früherer Phasen innerhalb der Dekadenz (Imperialismus, Weltkriege, Staatskapitalismus) fortsetzt, sondern die Endphase des Systems.

Die Phase des allgemeinen Zerfalls, der Verwesung der Gesellschaft, wird durch die Tatsache verursacht, dass die Widersprüche des Kapitalismus sich noch weiter verschlimmern, da die Bourgeoisie unfähig ist, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auch nur den Hauch einer Perspektive anzubieten, und das Proletariat nicht imstande ist, seine eigene Perspektive unmittelbar zu behaupten.

In einer Klassengesellschaft handeln die Individuen, ohne ihr eigenes Leben wirklich und bewusst zu kontrollieren. Das bedeutet aber nicht, dass eine solche Gesellschaft völlig blind und ohne Orientierung bzw. Perspektive funktionieren kann. „Tatsächlich kann sich keine Produktionsform am Leben erhalten, sich entfalten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der gesamten, von ihr beherrschten Gesellschaft eine Perspektive anzubieten. Dies trifft besonders auf den Kapitalismus zu, der die dynamischste Produktionsform der bisherigen Geschichte ist.“ (15)

Dieser immer stärkere Verlust eines Wegweisers für die Gesellschaft ist kennzeichnend für die aktuelle Phase des kapitalistischen Zerfalls. Hier besteht ein wichtiger Unterschied zur Periode des Zweiten Weltkrieges. Der Zweite Weltkrieg legte die Barbarei des kapitalistischen Systems auf erschreckende Weise offen. Aber Barbarei ist nicht gleichzusetzen mit Zerfall. Inmitten der Barbarei des Zweiten Weltkriegs entbehrte die Gesellschaft keiner „Orientierung“: Die kapitalistischen Staaten waren fähig, die gesamte Gesellschaft mit eiserner Hand anzuführen und sie für den Krieg zu mobilisieren. In dieser Hinsicht hat die Periode des Kalten Krieges ähnliche Charakteristiken: Das gesamte gesellschaftliche Leben wurde durch die Staaten kontrolliert, die am blutigen Kampf der beiden Blöcke teilnahmen. Die gesamte Gesellschaft wurde von einer „organisierten“ Barbarei umhüllt. Im Unterschied dazu ist seit Beginn der Zerfallsphase diese „organisierte“ Barbarei durch eine anarchistische und chaotische Barbarei ersetzt worden, in der das „Jeder-für-sich“, die Instabilität von Bündnissen, die Kriminalisierung der internationalen Beziehungen vorherrscht.

Zerfall und Klassenkampf

Im Sinne des Marxismus ändern sich also „die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (...), verwandeln sich mit der Veränderung und Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, der Produktionskräfte. Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe, eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter. Die antike Gesellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft sind solche Gesamtheiten von Produktionsverhältnissen, deren jede zugleich eine besondere Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet“. (16) Aber ebenso bilden diese Produktionsverhältnisse den Rahmen für ihre eigene Entwicklung und für den Antrieb des Klassenkampfes, zur Entwicklung der Menschheit. So stellt Engels fest, „dass die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichtsepoche die Grundlage bildet für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche; dass demgemäss (seit Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden) die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung“. (17) Die Verknüpfungen zwischen den Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte einerseits und dem Klassenkampf andererseits wurden vom Marxismus nie als simpel und mechanisch aufgefasst, so als werde Letztgenanntes allein von Erstgenanntem bestimmt. In dieser Frage warnte Bilan in Reaktion auf die Linksopposition vor der vulgär-marxistischen Interpretation, dass „die ganze Entwicklung der Geschichte auf das Gesetz der Entwicklung der Ökonomie und der Produktivkräfte reduziert werden kann„, und dass diese Interpretation das neue Element im Marxismus ist im Vergleich zu den vorangegangenen historischen Theorien, welche von der Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft völlig überzeugt waren. Für solch eine vulgär-materialistische Interpretation repräsentiert „der produktive Mechanismus nicht nur die Quelle der Klassenformierungen, sondern er bestimmt auch automatisch das Handeln und die Politik der Klassen und die Menschen, die sie ausführen. Somit wird das Problem des sozialen Kampfes nur simplifiziert. Menschen und Klassen wären nur von den ökonomischen Kräften gesteuerte Marionetten“. (18)

Die Gesellschaftsklassen handeln nicht nach einem durch die wirtschaftliche Entwicklung im Voraus festgesetzten Szenario. Bilan fügt hinzu, dass „die Klassenaktion nur als Folge der historischen Einsicht in die Rolle und die Mittel möglich ist, die für ihren Triumph angemessen sind. Die Klassen sind in ihrem Aufstieg und Niedergang vom ökonomischen Mechanismus abhängig (...) aber für ihren Sieg müssen sie sich eine politische und organische Gestaltung geben, ohne die sie, auch wenn von der Entwicklung der Produktivkräfte auserwählt, riskieren, für lange Zeit Gefangene der alten herrschenden Klasse zu bleiben, die ihrerseits in ihrem Sträuben den Gang der ökonomischen Entwicklung aufhält.“ (19)

An dieser Stelle müssen zwei äusserst wichtige Schlussfolgerungen aus dem Gesagten gezogen werden.

Erstens sind die ökonomischen Mechanismen, obschon bestimmend, selbst auch determiniert, weil der Widerstand der alten Klasse – von der Geschichte zum Tode verurteilt – den Lauf ihrer Entwicklung hemmt. Die Menschheit hat heute beinahe ein Jahrhundert der kapitalistischen Dekadenz hinter sich, die diese Realität veranschaulicht. Um brutale Zusammenbrüche zu vermeiden und die Zwänge der Kriegswirtschaft zu schultern, hat sich der Staatskapitalismus auf Dauer dem Wertgesetz entzogen. (20) Damit stürzt er die Wirtschaft in Widersprüche, die immer unüberwindbarer werden. Weit davon entfernt, die Widersprüche des kapitalistischen Systems zu überwinden, hat solch ein Eskapismus keine andere Konsequenz als die beträchtliche Verschärfung dieser Widersprüche. Bilan zufolge wurde dadurch die historische Entwicklung in einen gordischen Knoten unüberwindbarer Widersprüche gezwängt.

Zweitens ist es der revolutionären Klasse, die durch die Geschichte dazu bestimmt ist, den Kapitalismus zu überwinden, bisher nicht gelungen, diese historische Mission zu erfüllen. Die lange Periode der letzten dreissig Jahre ist eine klare Bestätigung der Analyse Bilans. Diese Analyse gehört in eine Reihe mit den all den anderen marxistischen Positionen. Zwar hat historische Wiederauftauchen des Proletariats 1968 die Bourgeoisie daran gehindert, die Gesellschaft in einen erneuten allgemeinen Krieg zu ziehen, doch war das Proletariat nicht imstande, seine Defensivkämpfe in eine offensive Schlacht zur Zerstörung des Kapitalismus zu verwandeln.

Dieser Rückschlag – für die Analyse ihrer allgemeinen und historisch ursächlichen Faktoren ist in diesem Artikel kein Platz (21) – war entscheidend für den Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase.

Ausserdem ist der Zerfall das Resultat der Schwierigkeiten des Proletariats und trägt gleichzeitig zu ihrer Verschärfung bei: „Und ganz zuoberst haben die Auswirkungen des Zerfalls, wie wir oft festgestellt haben, eine zutiefst negative Auswirkung auf das Bewusstsein des Proletariats, auf seinen Sinn für sich selbst, da sie in all ihren verschiedenen Aspekten – Bandenmentalität, Rassismus, Kriminalität, Drogenmissbrauch, etc. – dazu dienen, die Klasse zu atomisieren, die Spaltungen in ihren Reihen zu vergrössern und sie im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf aufzulösen.“ (22)

Tatsächlich: – tendiert das Verhalten der Zwischenschichten oder gar des Lumpenproletariats unter dem Einfluss der Zerfallsphase zu Verhaltensweisen, die den gröbsten Absurditäten des Kapitalismus oder gar anderer, vorhergehender Systeme entsprechen. Ihre hoffnungs- und zukunftslosen Revolten können das Proletariat kontaminieren oder einige Sektoren desselben mit sich reissen;

– beeinträchtigt die allgemeine Atmosphäre des moralischen und ideologischen Zerfalls die Möglichkeiten der Bewusstseinsentwicklung, der Einheit, des Vertrauens und der Solidarität des Proletariats: „Jawohl, die Arbeiterklasse ist nicht durch eine chinesische Mauer von der alten, der bürgerlichen Gesellschaft getrennt. Und wenn die Revolution anbricht, so geht es nicht so zu wie beim Tode eines einzelnen Menschen, wo die Leiche einfach hinausgetragen wird. Wenn die alte Gesellschaft zugrunde geht, kann man ihren Leichnam nicht in einem Sarg vernageln und ins Grab senken. Dieser Leichnam geht mitten unter uns in Verwesung über, er verfault und steckt uns selber an.“ (23);

– die Bourgeoisie die Auswirkungen des Zerfalls gegen das Proletariat einsetzen kann. Dies war besonders der Fall beim ohne Krieg oder Revolution erfolgten Zusammenbruch des alten sowjetischen Blocks, der eine wichtige und typische Demonstration des Zerfalls darstellt. Dieses Ereignis erlaubte der Bourgeoisie, eine enorme antikommunistische Kampagne auszulösen, die in einen wichtigen Rückfluss von Bewusstsein und Kampfkraft in den proletarischen Reihen mündete.

Marxismus contra Fatalismus

Der Übergang von einer niedrigen Produktionsweise zu einer höheren Produktionsweise ist nicht das fatale Produkt der Entwicklung der Produktivkräfte. Dieser Übergang kann nur im Rahmen einer Revolution geschehen, durch die die neue, dominierende Klasse die alte stürzt und neue Produktionsverhältnisse bildet.

Der Marxismus verteidigt den historischen Determinismus, doch dies bedeutet nicht, dass der Kommunismus das unausweichliche Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus ist. Eine solche Ansicht wäre eine vulgärmaterialistische Verfälschung des Marxismus. Tatsächlich bedeutet der historische Determinismus im marxistischen Sinn Folgendes:

1. Eine Revolution ist erst dann möglich, wenn alle Kapazitäten der bisherigen Produktionsweise erschöpft sind: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (24)

2. Vom Kapitalismus gibt es kein Zurück zu früheren Produktionsformen (zum Feudalismus oder anderen vorkapitalistischen Produktionsweisen): Der Kapitalismus kann nur entweder durch die proletarische Revolution überwunden werden oder aber er stürzt die Menschheit in ihre Zerstörung.

3. Der Kapitalismus ist die letzte Klassengesellschaft. Die Gruppe Socialisme ou Barbarie und gewisse Abspaltungen des Trotzkismus (25) verteidigen hingegen eine „Theorie“, welche das Aufkommen einer „dritten Gesellschaft“ ankündigt, die weder kapitalistisch noch kommunistisch sei. Aus marxistischer Sicht ist dies abwegig, denn für den Marxismus sind die „bürgerlichen Produktionsverhältnisse die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (…) Mit dieser Gesellschaftsformation schliesst daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“. (26)

Der Marxismus hat das Ergebnis historischer Entwicklung immer in Form von Alternativen gezeichnet: Entweder setzt sich die revolutionäre Klasse durch und eröffnet den Weg zur neuen Produktionsform, oder die Gesellschaft verfällt der Anarchie und Barbarei. Das Kommunistische Manifest zeigt auf, wie sich der Klassenkampf manifestiert hat. „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (27)

Gegen alle idealistischen Verirrungen, die das Proletariat vom Kommunismus abbringen wollen, definierte Marx den Kommunismus als die „reale Bewegung“ des Proletariats. Marx bestand auf der Tatsache, dass die Arbeiterklasse „keine Ideale zu verwirklichen (hat); sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoss der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.“ (28) In Die Deutsche Ideologie kritisieren Marx und Engels eine solche Vision heftig: „Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert, was sich nun spekulativ so verdrehen lässt, dass die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird, z.B., dass der Entdeckung Amerikas der Zweck zugrunde gelegt wird, der französischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen…“ (29)

Angewandt auf die derzeitige Entwicklungsphase des Kapitalismus ermöglicht die marxistische Methode zu verstehen, dass der Zerfall, wenn er auch reell existiert, kein rationales Phänomen der historischen Entwicklung ist. Der Zerfall ist in keiner Weise ein notwendiges Glied in einer Entwicklungskette, die zum Kommunismus führt. Im Gegenteil: die Zerfallsphase birgt die Gefahr einer fortschreitenden Zerstörung der materiellen Grundlagen des Kommunismus. Denn der Zerfall bedeutet eine langsam fortschreitende Zerstörung der Produktivkräfte, möglicherweise bis zu dem Punkt, wo der Aufbau des Kommunismus nicht mehr möglich ist: „Man kann also nicht, wie die Anarchisten, behaupten, dass eine sozialistische Perspektive offen war, als sich die Produktivkräfte zurückbildeten oder auf ihrem Niveau stehen blieben. Der Kapitalismus stellt eine notwendige und unumgängliche Etappe zur Errichtung des Sozialismus dar. Nur der Kapitalismus kann die objektiven Bedingungen für den Sozialismus entwickeln. Aber im aktuellen Stadium des Kapitalismus, und darüber sprechen wir, ist der Kapitalismus eine Bremse zur Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Je länger der Kapitalismus andauert, desto mehr verschlechtern sich die Bedingungen für den Sozialismus. Die Frage, die sich heute stellt, ist die zwischen der historische Alternative Sozialismus oder Barbarei.“ (30)

Des Weiteren vernichtet der Zerfall auch allmählich die Grundlagen zur Einheit und Identität der proletarischen Klasse: „.. der Prozess der Desintegration, der durch die massive und andauernde Arbeitslosigkeit besonders unter den jungen Menschen, durch die Auflösung traditioneller militanter Arbeiterkonzentrationen im Herzen der Industrie hervorgerufen wurde, was die Atomisierung und die Konkurrenz unter den Arbeitern intensivierte (…) Die Fragmentierung der Klassenidentität, die wir besonders im letzten Jahrzehnt erlebt haben, ist kein irgendwie gearteter Fortschritt, sondern eine Manifestation des Zerfalls, die immense Gefahren für die Arbeiterklasse in sich birgt.“ (31)

Der Klassenkampf: Motor der Geschichte

Die geschichtliche Etappe des Zerfalls birgt die Gefahr einer Zerstörung der Grundlagen für die kommunistische Revolution in sich. In diesem Sinn unterscheidet sie sich nicht von den anderen Etappen innerhalb der Dekadenzphase des Kapitalismus, die ebenfalls diese Gefahr beinhalteten und von den Revolutionären damals vorgebracht wurden. Verglichen mit den vorhergehenden Phasen gibt es aber dennoch einige Unterschiede:

1. Früher führte der Krieg in eine Wiederaufbauperiode. Doch unter dem Einfluss des Zerfalls ist der Prozess der Menschheitszerstörung zwar langsamer und versteckter, aber unumkehrbar. (32)

2. Früher war die Zerstörungsgefahr mit dem Ausbruch eines Dritten Weltkrieges verknüpft, heute hingegen, in der Etappe des Zerfalls, wirken die unterschiedlichsten Gründe (lokale Kriege, die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, der langsame Abbau von Produktivkräften, der allmähliche Untergang der produktiven Infrastruktur, die graduelle Zerstörung der gesellschaftlichen Beziehungen) mehr oder weniger gleichzeitig bei der Zerstörung der Menschheit mit.

3. Früher präsentierte sich die Gefahr der Vernichtung in der brutalen Form eines neuen Weltkrieges, heute dagegen hüllt sie sich in einer weniger sichtbaren Kostüm, ist heimtückischer, viel schwerer zu beurteilen und noch schwerer zu bekämpfen. (33)

4. Die Tatsache, dass der Zerfall zentraler Faktor bei der Entwicklung der gesamten Gesellschaft ist, bedeutet, wie schon erwähnt, dass er auf allen Ebenen einen direkten und permanenter Einfluss auf das Proletariat ausübt: Bewusstseinsentwicklung, Einheit, Solidarität, etc.

Dennoch darf das „Verständnis der grossen Gefahren, die für die Arbeiterklasse und die ganze Menschheit vom Zerfall ausgehen, die Arbeiterklasse und mit ihr die revolutionären Minderheiten nicht dazu verleiten, eine fatalistische Haltung einzunehmen.“ (34)

Tatsächlich:

– hat das Proletariat keine bedeutenden Niederlagen erlitten und bleibt seine Kampffähigkeit weiterhin intakt;

– bildet derselbe Faktor, der die grundlegende Ursache des Zerfalls ist – die unabwendbare Verschärfung der Krise – auch „die Bedingung für die Fähigkeit der Klasse, dem ideologischen Gift der Fäulnis der Gesellschaft entgegenzutreten“. (35)

Nur die kommunistische Revolution selbst kann die Gefahr des Zerfalls für die Gesellschaft definitiv bannen. Die Verteidigungskämpfe der Arbeiter gegenüber der Krise reichen dagegen für die Bewältigung dieser Aufgabe nicht aus. Denn das Bewusstsein über die Krise allein kann die Probleme und Schwierigkeiten nicht lösen, mit denen das Proletariat konfrontiert ist und in immer stärkerem Masse konfrontiert wird. Daher muss das Proletariat:

„– ein Bewusstsein darüber, was in der gegenwärtigen historischen Situation auf dem Spiel steht, und insbesondere ein Bewusstsein über die tödlichen Gefahren entwickeln, die der Zerfall für die Menschheit mit sich bringt,

– entschlossen die Weiterentwicklung und Vereinigung seines Klassenkampfes fortsetzen,

– seine Fähigkeit weiterzuentwickeln, den verschiedenen Fallen auszuweichen, den die vom Zerfall selbst befallene Bourgeoisie den Arbeitern stellt…“ (36)

Der Zerfall zwingt das Proletariat dazu, seine Waffen des Bewusstseins, der Einheit, des Selbstvertrauens, der Solidarität, des Willens und des Heroismus zu schmieden. Trotzki nannte dies die subjektiven Faktoren und betonte in seiner Geschichte der Russischen Revolution ihre Wichtigkeit für dieses historische Ereignis. An allen Fronten des proletarischen Klassenkampfes (Engels sprach von dreien: der ökonomischen, der politischen und der theoretischen Front) müssen die Revolutionäre und die fortgeschrittensten Minderheiten des Proletariats diese Qualitäten kultivieren sowie tiefgehend und ausgiebig weiterentwickeln.

Die Zerfallsphase zeigt, dass von den beiden Faktoren, die die historische Weiterentwicklung bestimmen – der ökonomische Mechanismus und der Klassenkampf – der erstere überreif ist und daher die Gefahr der Zerstörung der Menschheit heraufbeschwört. Dadurch wird der zweite zum entscheidenden Faktor. Mehr denn je ist der proletarische Klassenkampf jetzt Motor der Geschichte. Bewusstsein, Einheit, Vertrauen, Solidarität, Wille und Heroismus sind Qualitäten, die das Proletariat im Klassenkampf auf einem völlig anderen, höheren Niveau einbringen kann als die anderen gesellschaftlichen Klassen der Geschichte. Es sind diese Qualitäten, die, aufs Höchste entwickelt, dem Proletariat erlauben, die dem Zerfall innewohnenden Gefahren zu überwinden und den Weg zur kommunistischen Befreiung der Menschheit zu eröffnen.

C. Mir

(*) Notiz

In einem Flugblatt der „IFIKS“ (jene selbst ernannte „Interne Fraktion der IKS“ ist zusammengesetzt aus Ex-Mitgliedern unserer Organisation) mit dem Titel „Fragen an die aktuellen Militanten und Sympathisanten der IKS“, welches im Vorfeld unserer öffentlichen Treffen sowie auf der pazifistischen Demonstration vom 20. März in Paris verteilt wurde, kommentiert diese Gruppe Auszüge aus der am 15. Internationalen Kongress der IKS angenommenen Resolution über die internationale Situation.

Erster Auszug: „Obgleich der Zerfall des Kapitalismus aus einer historischen ‚Sackgasse‘ zwischen den Klassen resultiert, ist diese Situation beileibe nicht statisch. Die Wirtschaftskrise, die am Anfang sowohl des Kriegskurses als auch der proletarischen Antwort steht, vertieft sich weiter, doch im Gegensatz zur Periode von 1968–89, als das Ergebnis der damaligen Klassenkonfrontationen nur der Weltkrieg oder die Weltrevolution sein konnte, eröffnet die neue Periode eine dritte Alternative: die Zerstörung der Menschheit nicht durch einen apokalyptischen Krieg, sondern durch ein allmähliches Fortschreiten des Zerfalls, der nach einer gewissen Zeit die Fähigkeit des Proletariats untergraben könnte, als Klasse zu antworten, und der den Planeten durch eine endlose Spirale von regionalen Kriegen und ökologischen Katastrophen gleichermassen unbewohnbar machen könnte. Um einen Weltkrieg zu führen, müsste die Bourgeoisie zunächst die Hauptbataillone der Arbeiterklasse offen konfrontieren, besiegen und sie anschliessend dazu mobilisieren, mit Begeisterung hinter den Bannern und der Ideologie eines neuen imperialistischen Blocks zu marschieren. In dem neuen Szenario könnte die Arbeiterklasse schleichend und indirekt besiegt werden, wenn es ihr nicht gelingt, auf die Krise des Systems zu antworten, und sie hinnimmt, dass sie immer tiefer in den Pfuhl des Zerfalls gedrängt wird.“ (37)

Kommentar der IFIKS: „Das ist eindeutig die opportunistische Einführung eines ‘dritten Weges’, der im Widerspruch zur klassisch marxistischen These einer historischen Alternative steht. Wie bei Bernstein, Kautsky und ihren Epigonen steht die Idee eines dritten Weges im Widerspruch zur – gemäss dem Opportunismus ‘vereinfachenden’ – historischen Alternative von ‘Krieg oder Revolution’. Es handelt sich hier um eine offene und ausdrückliche Revision einer klassischen These der Arbeiterbewegung“

Zweiter Auszug unserer Resolution:

„Was mit dem Zerfall hinzu gekommen ist, ist die Möglichkeit einer historischen Niederlage nicht durch einen Frontalzusammenstoss zwischen den Hauptklassen, sondern durch ein langsames Dahinsiechen der Fähigkeit des Proletariats, sich selbst als eine Klasse zu konstituieren, was es erschweren würde, den point of no return wahrzunehmen, da dieser bereits vor dem eigentlichen katastrophalen Ende erreicht wäre. Dieser tödlichen Gefahr steht die Klasse heute gegenüber.“

Kommentar der IFIKS:

„Hier drückt sich die opportunistische und revisionistische Tendenz aus, den Klassenkampf zu liquidieren.“

In Wirklichkeit zeigt sich in diesen Zeilen die gezielte Absicht der IFIKS, unserer Organisation mit allen Mitteln Schaden zuzufügen – mit dem Ziel, sie zu zerstören. Die Mitglieder der IFIKS haben nach mehreren Jahrzehnten der Militanz innerhalb der IKS ihre kommunistischen Überzeugungen verloren und den Untergang der IKS beschworen. So sind sie zu den gröbsten Erbärmlichkeiten bereit, um an ihr Ziel zu kommen: Raub, spitzel-ähnliches Verhalten (38) sowie offensichtliche und schamlose Lügen. Doch die IKS hat ihre Positionen keineswegs „revidiert“, seitdem die weissen Ritter der IFIKS nicht mehr da sind, um sie vor der „Entartung“ zu beschützen.

In ihrem auf dem 13. Kongress der IKS angenommenen Bericht über den Klassenkampf, der einstimmig, also auch von den späteren Gründern der IFIKS, angenommen wurde, kann man u.a. lesen:

„Die Gefahren der neuen Periode für die Arbeiterklasse und für die Zukunft ihrer Kämpfe darf nicht unterschätzt werden. Während der Klassenkampf in den 70er und 80er-Jahren definitiv eine Barriere gegen den Krieg darstellte, wird der Prozess des Zerfalls von den Tageskämpfen weder gestoppt noch verlangsamt. Um einen Weltkrieg auszulösen, müsste die Bourgeoisie eine Reihe wichtiger Siege über die zentralen Bataillone der Arbeiterklasse erringen. Heute sieht sich das Proletariat einer längerfristigen, aber nicht minder gefährlichen Bedrohung des ‚Todes auf Raten‘ gegenüber, wo die Arbeiterklasse in wachsendem Masse durch den ganzen Prozess bis zu dem Punkt niedergerungen werden kann, an dem sie die Fähigkeit verliert, sich selbst als Klasse zu behaupten, während der Kapitalismus von einer Katastrophe in die nächste stürzt (lokale Kriege, Umweltkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen, etc.), bis jener Punkt erreicht ist, an dem die Aussicht auf eine kommunistische Gesellschaft auf Generationen hinaus zerstört würde – ganz zu schweigen von der eigentlichen Vernichtung der Menschheit selbst.“ (Internationale Revue, Nr. 25)

Ebenso liest man in einem von der IKS auf ihrem 14. Kongress vom Frühling 2001 (mit der Zustimmung der gleichen künftigen Mitglieder der IFIKS) angenommenen Bericht über den Klassenkampf:

„Gleichzeitig ist diese Entwicklung wenig tröstlich für die Sache des Kommunismus, da sie eine Situation geschaffen hat, in der die Basis einer neuen Gesellschaft auch ohne Weltkrieg und somit ohne die Notwendigkeit, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, untergraben werden kann. Im ersten Szenario ist es der Nuklearkrieg, der die Möglichkeit des Kommunismus definitiv aufs Spiel setzt, indem er den Planeten oder zumindest einen grossen Teil der globalen Produktivkräfte, einschliesslich des Proletariats, zerstört. Das neue Szenario sieht die Möglichkeit eines langsameren, aber nicht weniger tödlichen Rutsches in einen Zustand vor, in dem das Proletariat irreparabel zersplittert ist und die natürlichen sowie wirtschaftlichen Fundamente für die gesellschaftliche Umwandlung durch die Zunahme von lokalen und regionalen militärischen Konflikten, von Umweltkatastrophen und durch den gesellschaftlichen Zusammenbruch gleichermassen ruiniert werden.“ (Internationale Revue

Nr. 30)

Bezüglich dieser vom Kongress angekommenen Resolution erklärt der Punkt 13, dass „... die Gefahr bleibt, dass der eher schleichende Prozess des Zerfalls die Klasse allmählich überwältigen könnte, ohne dass der Kapitalismus ihre totale Niederlage herbeiführen muss…“ (Resolution zur internationalen Lage des 14. IKS-Kongress, in: Weltrevolution, Nr. 107)

Muss man annehmen, dass die glorreichen Verteidiger der „wahren IKS“ (wie sie sich definieren) am Schlafen waren, als diese Dokumente angenommen wurden, oder dass sich ihre Arme von allein erhoben, um für die Annahme des Berichts zu stimmen? Dann müsste man aber davon ausgehen, dass sie mehr als elf Jahre lang geschlafen haben, da es nämlich in einem im Januar 1990 vom Zentralorgan der IKS angenommenen (und von seinen Mitgliedern vorbehaltlos befürworteten) Bericht heisst: „Während der Weltkrieg gegenwärtig keine und vielleicht nie mehr eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt, kann diese Bedrohung wiederum noch aus dem Zerfall der Gesellschaft herorgehen. Während die Auslösung eines Weltkrieges die Unterstützung der Arbeiterklasse für die Werte der Bourgeoisie erfordert (...) erfordert der Zerfall überhaupt nicht die Unterstützung der Arbeiter für die Zerstörung der Menschheit.“ (39)

Fußnoten:

1 Wir haben unsererseits zahlreiche Artikel unserer Presse der Kritik diesen unser Erachtens falschen Ansichten gewidmet. An erster Stelle sei die, bezogen auf den Marxismus, fälschliche „Innovation“ mit dem paradoxen Namen „Invarianz“ genannt. Im Namen dieser „Invarianz“ weigert sich die bordigistische Strömung (sie gehört wie die IKS der Kommunistischen Linken an) auf dogmatische Weise, die Realität einer weitreichenden Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft seit 1848 anzuerkennen. Damit widerspricht sie auch der Auffassung, dass das System in seine dekadente Phase getreten ist (siehe unsere Artikel über die Ablehnung der Dekadenztheorie durch die Internationale Kommunistische Partei

(Kommunistisches Programm), in: International Review Nrn. 77 und 78 und über die Ablehnung des IBRP, The Conception of Decadence in Capitalism, in: International Review, Nr. 79 (engl., franz., span. Ausgabe).

2 Es handelt sich um folgende Artikel: War and the ICC (Der Krieg und die IKS) in Revolutionary Perspectives, Nr. 24, Workers’ Struggles in Argentina: Polemic with the ICC (Arbeiterkämpfe in Argentinien: eine Polemik mit der IKS) in Internationalist Communist, Nr. 21 und Imperialsm’s New World Order“ (Die neue Weltordnung des Imperialismus) in: Revolutionary Perspectives, Nr. 27.

3 s. International Review Nrn. 48, 49, 50, 54, 55 und 56 (engl., franz., span. Ausgabe). und in Deutsch Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen in: Internationale Revue Nrn. 10–12.

4 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 3, in: Internationale Revue Nr. 13.

5 s. On Imperialisme, in: Internationale Review

Nr. 19 (engl., franz., span. Ausgabe).

6 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, in: Internationale Revue Nr. 13.

7s. Richtlinien der Kommunistischen Internationale, angenommen auf dem 1. Kongress, Die Kommunistischen Internationale: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd, 1, Intarlit (1984) und: www.sinistra.net/komintern/dok/1krichtkid.html [4]

8 Ebd.

9 s. Manifest der Kommunistischen Internationale an das Weltproletariat, weitere Quellenangabe siehe Fussnote 7 auf dieser Seite.

10 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, in: Internationale Revue Nr. 13.

11. Ebd.

12 s. Instabilité et décadence capitaliste, in: Internationalisme Nr. 23.

13 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 3, in: Internationale Revue Nr. 13.

14 Wenn wir den Begriff des Zerfalls benutzen, so beziehen wir uns auf die Phase des Zerfalls. Die Ausdrücke „Phase des Zerfalls“ und „Phänomen des Zerfalls“ sind zu unterscheiden. Wie wir oben gesehen haben, begleitet das Phänomen des Zerfalls mehr oder weniger deutlich den gesamten Prozess der Dekadenz und wird zum bestimmenden Faktor erst in der Zerfallsphase selbst.

15 s. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 3, Internationale Revue Nr. 13.

16 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, in: MEW 6, S. 408.

17 Friedrich Engels, Vorwort zur deutschen Neuausgabe des Kommunistischen Manifests von 1883, in: MEW 21, S. 3.

18 s. Les principes, armes de la révolution, in: Bilan, Nr. 5.

19 Ebenda. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass eine Idee nicht auf Anhieb bei den Lesern als unbestreitbar marxistisch empfunden wird, nur weil sie von der linkskommunistischen Strömung Italiens entwickelt wurde. Zumindest sollte diese Tatsache aber die Genossen und Sympathisanten von Organisationen interessieren, die sich zu dieser historischen Strömung zählen – etwa das IBRP oder die verschiedenen sich Internationale Kommunistische Partei nennenden Gruppen.

20 Siehe das Kapitel in unserer Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse: Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus.

21 s.Why the proletariat has not yet overtrown capitalism, in: Internationale Review Nr. 103 und 104 (engl., franz., span. Ausgabe).

22 s. Bericht über den Klassenkampf – das Konzept des historischen Kurses in der revolutionären Bewegung, angenommen vom 14. Kongress der IKS; Internationale Revue Nr. 29 und 30.

23 Lenin, Referat über den Kampf gegen die Hungersnot, in: Werke, Bd. 27, S. 432.

24 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, S. 9.

25 Burnham und seine neue Theorie einer „Managerklasse“.

26 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, S. 9.

27 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 462.

28 Karl Marx Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 343.

29 Karl Marx/Friedrich Engels Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 45.

30 L’évolution du capitalisme et la nouvelle perspective, Kommunistische Linke Frankreichs, Internationalisme, Nr. 46, 1952; wiederveröffentlicht in: InternationaleRevew Nr. 21 (engl., franz., span. Ausgabe/Der Text ist auch in Deutsch erhältlich)

31 Bericht über den Klassenkampf – das Konzept des historischen Kurses in der revolutionären Bewegung, angenommen vom 14. Kongress der IKS, in: Internationale Revue Nrn. 29 und 30.

32 Die Periode des Kalten Krieges zeigte schon mit ihrem wahnwitzigen nuklearen Rüstungswettlauf das Ende jeglicher Möglichkeit eines Wiederaufbaus infolge eines möglicherweise ausbrechenden Dritten Weltkrieges.

33 siehe die Notiz * am Ende des Artikels.

34 s. Der Zerfall der Kapitalistischen Gesellschaft, Punkt 17, in: Internationale Revue Nr. 13.

35 Ebd.

36 Ebd.

37 s. Resolution über die internationale Situation vom 15. Kongress der IKS, in: Internationale Revue Nr. 31, Hervorhebungen von der IFIKS.

38 s Die Polizeimethoden der IFIKS, in Weltrevolution Nr. 117.

39 s. Der Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos, in: Internationale Revue Nr. 12.

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [5]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [6]

Die Theorie der Dekadenz ist das Herzstück des historischen Materialismus (Teil I):

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Von Marx zur Kommunistischen Linken

Wir beginnen hier mit einer neuen Reihe von Texten, die sich der Theorie der Dekadenz widmen.[1] Seit nunmehr einiger Zeit haben sich die Kritiken gegen diese Auffassung gehäuft. Zu einem grossen Umfang waren sie das Werk von Akademikern oder parasitärer Grüppchen. Andere dagegen drückten ein echtes Unverständnis innerhalb des revolutionären Milieus aus oder kamen von suchenden Elementen, die ernsthafte Fragen über die Evolution des Kapitalismus auf historischer Ebene stellten.[2] Wir haben bereits auf den grössten Teil dieser Kritiken geantwortet.[3] Heute jedoch müssen wir erleben, wie sich der Hintergrund der Kritik geändert hat. Es handelt sich nicht mehr um Fragen, Missverständnisse oder Zweifel; sie stellen nicht mehr einzelne Aspekte in Frage. Stattdessen haben wir es mit einer totalen Ablehnung zu tun, mit einer bestimmten Art von Kritik, die auf die Exkommunikation vom Marxismus hinausläuft.

Doch die Theorie der Dekadenz ist nichts Geringeres als die Konkretisierung des historischen Materialismus in der Analyse der Evolution der Produktionsweisen. Sie ist somit der unverzichtbare Rahmen zum Verständnis der historischen Periode, in der wir leben. Zu wissen, ob sich die Gesellschaft noch fortentwickelt oder ob sie am Ende ist, ist entscheidend, um zu begreifen, was in politischer und sozio-ökonomischer Hinsicht auf dem Spiel steht, und um entsprechend zu handeln. Wie in allen vergangenen Gesellschaftsformen drückt auch die Aufstiegsperiode des Kapitalismus den historisch notwendigen Charakter der Produktionsverhältnisse aus, die er verkörpert, d.h. ihre vitale Rolle bei der Ausbreitung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Die Phase der Dekadenz drückt hingegen die Umwandlung dieser Verhältnisse in eine wachsende Schranke gegen eben diese Entwicklung aus. Dies ist eine der theoretischen Haupterrungenschaften, die uns Marx und Engels hinterlassen haben.

Das 20. Jahrhundert war eines der mörderischsten in der gesamten Geschichte der Menschheit sowohl im Ausmass, in Häufigkeit und Dauer der Kriege, die einen grossen Raum in diesem Jahrhundert einnahmen, als auch hinsichtlich des beispiellosen Ausmasses der menschlichen Katastrophen in dieser Zeit: von den grössten Hungersnöten in der Geschichte bis hin zum systematischen Völkermord und mitten drin Wirtschaftskrisen, die den ganzen Planeten schüttelten und Abermillionen von Proletariern und Menschen in tiefste Armut stürzten. Es gibt im 19. Jahrhundert nichts Vergleichbares. Während der Belle Epoque erreichte die bürgerliche Produktionsweise ungeahnte Höhen: Sie hatte den Erdball vereinheitlicht, hatte einen Grad an Produktivität und technologischer Raffinesse erreicht, von denen man zuvor nur träumen konnte. Trotz der Häufung von Spannungen im gesellschaftlichen Fundament waren die letzten 20 Jahre des Aufstiegs des Kapitalismus (1894–1914) am prosperierendsten; der Kapitalismus schien unüberwindlich, und bewaffnete Konflikte wurden in die Peripherien verbannt. Anders als das „lange 19. Jahrhundert“, das ein Zeitalter fast ununterbrochenem moralischen, intellektuellen und materiellen Fortschritts war, gab es seit 1914 dagegen einen markanten Rückschritt an allen Fronten. Der in wachsender Weise apokalyptische Charakter des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens überall auf dem Planeten und das Menetekel der Selbstzerstörung in einer endlosen Reihe von Konflikten und in gar noch folgenreicheren Umweltkatastrophen sind in keiner Weise eine natürliche Fatalität oder das schlichte Produkt menschlicher Verrücktheit und auch nicht ein Kennzeichen des Kapitalismus von Beginn an: Sie sind eine Manifestation der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die – einst, vom 16. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg[4], ein mächtiger Faktor in der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung – mittlerweile zu einer Fessel jeglicher solcher Entwicklung und zu einer Bedrohung für das Überleben der Menschheit an sich geworden war.

Warum sieht sich die Menschheit ausgerechnet jetzt mit der Existenzfrage konfrontiert, wo sie einen Grad an Produktivkraftentwicklung erreicht hat, der sie zum ersten Mal in der Geschichte in die Lage versetzt, sich auf eine Welt ohne materielle Not, auf eine vereinte Gesellschaft zuzubewegsen, die imstande ist, ihren Handlungen die Bedürfnisse, die Wünsche und das Bewusstsein der Menschheit zugrundezulegen? Bildet das Weltproletariat wirklich jene revolutionäre Kraft, die die Menschheit aus dem Schlamassel ziehen kann, in das der Kapitalismus sie geführt hat? Warum können die meisten Kampfformen der Arbeiter in unserer Epoche nicht so aussehen wie im 19. Jahrhundert, wie der Kampf um eine allmähliche Reformierung durch die Gewerkschaften, den Parlamentarismus oder die Unterstützung der Bildung von neuen Nationalstaaten oder bestimmter fortschrittlicher Fraktionen der Bourgeoisie? Es ist unmöglich, sich in der heutigen historischen Lage zurechtzufinden – ganz zu schweigen davon, eine avantgardistische Rolle einzunehmen – ohne eine globale, zusammenhängende Vision zu besitzen, die diese elementaren und kreuzwichtigen Fragen beantworten kann. Der Marxismus – der historische Materialismus – ist die einzige Konzeption von der Welt, die es möglich macht, eine solche Antwort zu liefern. Seine klare und einfache Antwort kann in ein paar Worten zusammengefasst werden; so wie die Produktionsweisen vor ihm ist auch der Kapitalismus kein ewiges System: „Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d.h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift. Die letzte Knechtgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der anderen Seite, wird damit abgehäutet, und diese Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals, die selbst schon die Negation früherer Formen der unfreien gesellschaftlichen Produktion sind, sind selbst Resultate seines Produktionsprozesses. In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus.“[5]

Solange der Kapitalismus seine historisch fortschrittliche Rolle erfüllte und das Proletariat noch nicht ausreichend entwickelt war, konnten die Arbeiterkämpfe nicht in eine triumphierende Weltrevolution münden; allerdings erlaubten sie dem Proletariat, sich selbst zu erkennen und als Klasse durch den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf um echte Reformen und dauerhafte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen zu behaupten. Von dem Moment an, wo das kapitalistische System in die Dekadenz eintrat, wurde die kommunistische Weltrevolution zu einer Möglichkeit wie zu einer Notwendigkeit. Die Form der Arbeiterkämpfe wurde radikal umgewälzt, auch auf unmittelbarer Ebene: Die Verteidigungskämpfe konnten weder in Form noch im Inhalt durch die Kampfmittel ausgedrückt werden, die im 19. Jahrhundert geschmiedet worden waren, wie die Gewerkschaften und die parlamentarische Repräsentation von politischen Arbeiterorganisationen.

Von den revolutionären Bewegungen gezeugt, die dem Ersten Weltkrieg ein Ende bereiteten, wurde 1919 die Kommunistische Internationale im Wissen darum gegründet, dass die Bourgeoisie nicht mehr eine historisch fortschrittliche Klasse war: „2. Die Niedergangsperiode des Kapitalismus. Nach Abschätzung der ökonomischen Weltlage konnte der 3. Kongress mit vollkommener Bestimmtheit konstatieren, dass der Kapitalismus nach Erfüllung seiner Mission, die Entwicklung der Produktion zu fördern, in unversöhnlichen Widerspruch zu den Bedürfnissen nicht nur der gegenwärtigen historischen Entwicklung, sondern auch der elementarsten menschlichen Existenzbedingungen geraten ist. Im letzten imperialistischen Kriege spiegelte sich dieser fundamentale Widerspruch wider, der durch den Krieg noch verschärft wurde und der die Produktions- und Zirkulationsverhältnisse den schwersten Erschütterungen aussetzte. Der überlebte Kapitalismus ist in das Stadium getreten, in dem die Zerstörungsarbeit seiner zügellosen Kräfte die schöpferischen, wirtschaftlichen Errungenschaften, die das Proletariat noch in den Fesseln kapitalistischer Knechtschaft geschaffen hat, lähmt und vernichtet.“[6]

Von da an war die Erkenntnis, dass der Erste Weltkrieg den Eintritt des kapitalistischen Systems in seine dekadente Periode markierte, gemeinsames Gedankengut der Mehrheit der linkskommunistischen Gruppierungen, die dank dieses historischen Kompasses in der Lage waren, kompromisslos auf dem kohärenten Klassenterrain auszuharren. Die IKS hat lediglich ein Erbe aufgegriffen und weiterentwickelt, das von der deutschen und italienischen Linken in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts und anschliessend von der Gauche Communiste in Frankreich der 40er und 50er-Jahre bereichert und übermittelt wurde.

Entscheidende Klassenauseinandersetzungen sind am Horizont sichtbar. Es ist daher für das Proletariat wichtiger denn je, sich seine eigene Konzeption von der Welt wiederanzueignen, die in fast zwei Jahrhunderten der Arbeiterkämpfe und der theoretischen Ausarbeitung durch seine politischen Organisationen entwickelt worden war. Mehr denn je muss das Proletariat verstehen, dass die gegenwärtige Verschärfung der Barbarei und die ununterbrochene Steigerung der Ausbeutung keine natürliche Sache sind, sondern das Resultat der ökonomischen und gesellschaftlichen Gesetze, die die Welt weiterhin regieren, obwohl sie historisch seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts obsolet sind. Es ist wichtiger denn je für die Arbeiterklasse zu verstehen, dass dieselben Kampfformen, die sie im 19. Jahrhundert gelernt hatte (Minimalprogramm der Kämpfe um Reformen, die Unterstützung progressiver Fraktionen der Bourgeoisie, etc.) und die in der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus auch sinnvoll waren, als Letzterer die Existenz eines organisierten Proletariats innerhalb der Gesellschaft noch „tolerieren“ konnte, in der Dekadenzperiode nur in die Sackgasse führen können. Mehr denn je zuvor ist es lebenswichtig für das Proletariat zu begreifen, dass die kommunistische Revolution nicht ein ideeller Traum, eine Utopie ist, sondern eine Notwendigkeit und eine Möglichkeit, die ihre wissenschaftlichen Fundamente im Verständnis der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise hat.

Zweck dieser neuen Artikelreihe über die Dekadenztheorie ist es, auf all die Einwände, die gegen sie erhoben werden, zu antworten. Diese Einwände sind ein Hindernis auf dem Weg der neuen revolutionären Kräfte zu den Positionen der Kommunistischen Linken; auch untergraben sie die politische Klarheit unter den Gruppen des revolutionären Milieus.

Von Marx zur Kommunistischen Linken

Im ersten Artikel dieser Reihe wollen wir also damit beginnen, entgegen jener Stimmen, die behaupten, dass das Konzept und selbst der Begriff der Dekadenz in den Schriften von Marx und Engels nicht vorhanden waren oder keinen wissenschaftlichen Wert eingeräumt bekamen, nochmals zu wiederholen, dass diese Theorie nicht weniger als der Kern des historischen Materialismus ist. Wir werden aufzeigen, dass dieser theoretische Rahmen, so wie der Begriff „Dekadenz“, durchaus in ihrem Werk vorhanden ist. Hinter dieser Kritik bzw. Preisgabe des Begriffs der Dekadenz verbirgt sich die nackte Ablehnung des eigentlichen Kerns des Marxismus. Es ist völlig verständlich, dass sich die Kräfte der Bourgeoisie gegen die Idee sträuben, dass sich ihr System in der Dekadenz befindet. Das Problem ist jedoch, dass ausgerechnet in dem Moment, wo es überlebenswichtig ist, auf die wirklichen Gefahren für die Arbeiterklasse und die Menschheit hinzuweisen, Gruppen, die von sich behaupten, marxistisch zu sein, just jenes Werkzeug von sich weisen, das von der marxistischen Methode zur Verfügung gestellt wird, um die Realität zu begreifen.[7]

Die Theorie der Dekadenz in den Schriften der Begründer des historischen Materialismus

Entgegen dem, was allgemein behauptet wird, ist die Hauptentdeckung in den Schriften von Marx und Engels nicht die Existenz von Klassen oder des Klassenkampfes, nicht die Werttheorie oder der Mehrwert. All diese Auffassungen wurden von Historikern und Ökonomen bereits zu einer Zeit entwickelt, als die Bourgeoisie noch eine revolutionäre Klasse war, die gegen die feudalen Widerstände ankämpfte. Das fundamental neue Element im Werk von Marx und Engels wohnte in ihrer Analyse des historischen Charakters der Klassenteilung inne, der Dynamik, die der Abfolge der verschiedenen Produktionsweisen zugrundelag; dies ist es, was sie dazu führte, den Übergangscharakter der kapitalistischen Produktionsweise und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats als Zwischenphase auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft zu begreifen. Mit anderen Worten, das, was den Kern ihrer Entdeckungen bildet, ist nichts anderes als der historische Materialismus: „Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloss an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“[8]

Gemäss unserer Kritiker ist der Begriff der Dekadenz überhaupt nicht marxistisch, ja, steht nicht einmal in den Werken von Marx und Engels. Das einfache Studium ihrer Haupttexte zeigt jedoch, dass dieser Begriff sich sehr wohl im eigentlichen Herzen des historischen Materialismus befindet. So schrieb Engels in seinem „Anti-Dühring“[9] (1877) in diesem Zusammenhang, dass die wichtigste Sache, die Fourier und der historische Materialismus gemeinsam hatten, nichts anderes sei als der Begriff des Aufstiegs und der Dekadenz einer Produktionsweise, die für die gesamte menschliche Geschichte gültig seien: „Am grossartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft (…) Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, dass jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an.“[10]

In der Passage aus den „Grundrissen einer Kritik der politischen Ökonomie“, die in der Einleitung dieses Artikels zitiert wurde, gibt Marx möglicherweise die klarste Definition dessen, was sich hinter dem Begriff der Dekadenzphase verbirgt. Er identifiziert diese Phase als einen besonderen Schritt im Leben einer Produktionsweise. „Über einen gewissen Punkt hinaus…“ – wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse der Produktion zu einem Hindernis für die Weiterentwicklung der Produktionsmittel werden – wird „... das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit“. Hat die Wirtschaftsentwicklung einmal diesen Punkt erreicht, bewirkt das Festhalten an den jeweiligen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen – Lohnarbeit, Leibeigentum, Sklaverei – eine fundamentale Behinderung der Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Dies ist der Grundmechanismus in der Evolution aller Produktionsweisen: „Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d. h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift.“ Marx definiert die Charakteristiken sehr präzise: „In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus.“ Diese allgemeine theoretische Definition der Dekadenz wurde von Marx und Engels als ein „operatives wissenschaftliches Konzept“ bei der konkreten Analyse der Entwicklung der Produktionsweisen benutzt.

Das Konzept der Dekadenz in der Analyse der früheren Produktionsweisen

Nachdem sie einen grossen Teil ihrer Energie dafür aufgebracht hatten, die Mechanismen und Widersprüche des Kapitalismus zu entziffern, lag es für Marx und Engels nahe, eine fundierte Studie über seine Geburt aus dem Leib des Feudalismus zu verfassen. So fertigte Engels 1884 eine unvollendete Ergänzung im Zusammenhang mit der von ihm geplanten Neuausgabe „Der Bauernkrieg in Deutschland“ an, deren Zweck es war, einen historischen Gesamtrahmen jener Periode zu liefern, in der die von ihm analysierten Ereignisse stattfanden. Er betitelte diese Ergänzung ausdrücklich „Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie“. Hier einige höchst bedeutsame Auszüge: „Während der wüsten Kämpfe des herrschenden Feudaladels das Mittelalten mit viel Lärm erfüllte, hatte die stille Arbeit der unterdrückten Klasse in ganz Westeuropa das Feudalsystem untergraben, hatte Zustände geschaffen, in denen für den Feudalherrn immer weniger Platz blieb. (…) Während der Adel immer überflüssiger und der Entwicklung hinderlicher, wurden so die Stadtbürger die Klasse, in der die Fortentwicklung der Produktion und des Verkehrs, der Bildung, der sozialen und politischen Institutionen sich verkörpert fand. Alle diese Fortschritte der Produktion und des Austausches waren in der Tat, nach heutigen Begriffen, sehr beschränkter Natur. Die Produktion blieb gebannt in die Form des reinen Zunfthandwerks, behielt also selbst noch einen feudalen Charakter; der Handel blieb innerhalb der europäischen Gewässer und ging nicht über die levantischen Küstenstädte hinaus, in denen er die Produkte des Fernen Ostens eintauschte. Aber kleinlich und beschränkt, wie die Gewerbe und mit ihnen die gewerbetreibenden Bürger blieben, sie reichten hin, die feudale Gesellschaft umzuwälzen, und sie blieben wenigstens in der Bewegung, während der Adel stagnierte. (…) Im fünfzehnten Jahrhundert war also die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall. (…) Überall aber hatten sich – in den Städten wie auf dem Land – die Elemente der Bevölkerung gemehrt, die vor allem verlangten, dass das ewige sinnlose Kriegführen aufhöre, jene Fehden der Feudalherren, die den innern Krieg permanent machten, selbst wenn der fremde Feind im Lande war, jener Zustand ununterbrochener, rein zweckloser Verwüstung, der das ganze Mittelalter hindurch gewährt hatte. (…) Wir sahen, wie der Feudaladel anfing, in ökonomischer Beziehung in der Gesellschaft des späteren Mittelalters überflüssig, ja hinderlich zu werden; wie er auch bereits politisch der Entwicklung der Städte und des damals nur in monarchischer Form möglichen nationalen Staats im Wege stand. Trotz alledem hatte ihn der Umstand gehalten, dass er bis dahin das Monopol der Waffenführung hatte, dass ohne ihn keine Kriege geführt, keine Schlachten geschlagen werden konnten. Auch dies sollte sich ändern; der letzte Schritt sollte getan werden, um dem Feudaladel klarzumachen, dass die von ihm beherrschte gesellschaftliche und staatliche Periode zu Ende, dass er in seiner Eigenschaft als Ritter, auch auf dem Schlachtfeld, nicht mehr zu brauchen sei.“[11]

Diese langen Ausführungen von Engels sind insofern besonders aufschlussreich, als sie uns zurückversetzen sowohl in den Prozess des „Niedergangs des Feudalismus“ als auch gleichzeitig in den „Aufstieg der Bourgeoisie“ und den Übergang zum Kapitalismus. In wenigen Sätzen verkünden sie die vier Hauptzüge der Dekadenzperiode einer jeglichen Produktionsweise und des Übergangs zu einer neuen:

a) Das langsame und allmähliche Auftauchen einer neuen revolutionären Klasse, die der Träger neuer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse innerhalb der alten, zerfallenden Gesellschaft ist: „Während der Adel immer überflüssiger und der Entwicklung hinderlicher, wurden so die Stadtbürger die Klasse, in der die Fortentwicklung der Produktion und des Verkehrs, der Bildung, der sozialen und politischen Institutionen sich verkörpert fand.“ Die Bourgeoisie repräsentierte das Neue, der Adel stand für das Ancien Régime; erst als ihre Wirtschaftsmacht sich innerhalb der feudalen Produktionsweise einigermassen konsolidiert hatte, fühlte sich die Bourgeoisie stark genug, der Aristokratie die Macht streitig zu machen. Nebenbei bemerkt, widerspricht dies formal der bordigistischen Sichtweise der Geschichte, eine besonders deformierte Vision des historischen Materialismus, die postuliert, dass jede Produktionsweise tendenziell stets aufsteigend sei und allein durch ein brutales Ereignis (Revolution? Krise?) plötzlich und nahezu senkrecht zu Fall gebracht werden könne. Am Ende dieser „erlösenden“ Katastrophe erscheine ein neues gesellschaftliches Regime aus der Tiefe des Abgrunds: „Die marxistische Vision kann als eine Reihe von Zweigen dargestellt werden, von Kurven, die zum Gipfel streben, dem anschliessend ein gewaltsamer, plötzlicher, nahezu vertikaler Fall folgt; und am Ende dieses Falls erhebt sich ein neues gesellschaftliches Regime.“[12]

b) Die Dialektik zwischen dem Alten und dem Neuen auf der Ebene der ökonomischen Struktur: „Alle diese Fortschritte der Produktion und des Austausches waren in der Tat, nach heutigen Begriffen, sehr beschränkter Natur. Die Produktion blieb gebannt in die Form des reinen Zunfthandwerks, behielt also selbst noch einen feudalen Charakter; der Handel blieb innerhalb der europäischen Gewässer und ging nicht über die levantischen Küstenstädte hinaus, in denen er die Produkte des Fernen Ostens eintauschte. Aber kleinlich und beschränkt, wie die Gewerbe und mit ihnen die gewerbetreibenden Bürger blieben, sie reichten hin, die feudale Gesellschaft umzuwälzen, und sie blieben wenigstens in der Bewegung, während der Adel stagnierte. (…) Im fünfzehnten Jahrhundert war also die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall.“ Doch so begrenzt („Kleingewerbe“) der materielle Fortschritt der Bourgeoisie auch war, es reichte aus, die „stagnierende“ Feudalgesellschaft zu stürzen, die sich, wie Engels sagt, „in ganz Westeuropa in vollem Verfall“, befand. Auch dies widerspricht formal einer anderen total absurden, frei erfundenen Theorie, die besagt, dass der Feudalismus ausstarb, da er sich einer effektiveren Produktionsweise gegenübersah, die ihm sozusagen den Rang ablief:

– „Wir haben in den vorhergehenden Seiten gesehen, dass es vielfältige Wege gibt, auf denen eine gegebene Produktionsweise verschwinden kann (...) Sie kann auch von innen aufgebrochen werden, durch eine aufstrebende Produktionsform, bis zu dem Punkt, wo die quantitative Bewegung einen qualitativen Schritt macht und das Neue das Alte stürzt. Dies war beim Feudalismus der Fall, der die kapitalistische Produktionsweise ins Leben setzte.“[13]

– „Der Feudalismus verschwand im Zuge des Erfolges der Marktwirtschaft. Anders als die Sklaverei verschwand er nicht wegen eines Produktivitätsmangels. Im Gegenteil: Die Geburt und Entwicklung der kapitalistischen Produktion wurde durch die wachsende Produktivität der feudalen Landwirtschaft ermöglicht, die die Bauernmassen überflüssig machte und in die Lage versetzte, Proletarier zu werden und genug Mehrwert zu schaffen, um die wachsende Bevölkerung in den Städten zu ernähren. Der Kapitalismus ersetzte den Feudalismus nicht, weil die Produktivität des Letzteren stagnierte, sondern weil er der Produktivität der kapitalistischen Wirtschaft unterlegen war.“[14]

– Im Gegensatz dazu spricht Marx deutlich über „die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion“, über „Feudalmacht und ihre empörenden Vorrechte“, über „Die industriellen Kapitalisten, diese neuen Potentaten, mussten ihrerseits nicht nur die zünftigen Handwerksmeister verdrängen, sondern auch die im Besitz der Reichtumsquellen befindlichen Feudalherren. Von dieser Seite stellt sich ihr Emporkommen dar als Frucht eines siegreichen Kampfes gegen die Feudalmacht und ihre empörenden Vorrechte sowie gegen die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion und der freien Ausbeutung des Menschen durch den Menschen angelegt“.[15]

Die Analyse, die von den Gründern des historischen Materialismus erstellt wurde und auf empirischer Ebene durch historische Untersuchungen[16] völlig bestätigt worden war, ist das genaue Gegenteil der Ausschweifungen jener, die die Theorie der Dekadenz ablehnen. Die Analyse der Dekadenz des Feudalismus und des Übergangs zum Kapitalismus wurde im „Kommunistischen Manifest“ deutlich ausgesprochen, wenn Marx von der „aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangenen modernen bürgerlichen Gesellschaft“ spricht, davon, dass Weltmarkt und Kolonialmärkte „einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung (verschafften) (…) Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf (...) Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mussten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“[17]

– Für jene, die lesen können, ist Marx sehr deutlich: Er spricht über eine „zerfallende feudale Gesellschaft“. Warum befand sich der Feudalismus in der Dekadenz? Weil „die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr (entsprachen)“. Innerhalb dieser im Ruin befindlichen Gesellschaft sollte der Übergang zum Kapitalismus, zur „aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangenen modernen bürgerlichen Gesellschaft“ beginnen. Marx entwickelte diese Analyse auch in der „Kritik der politischen Ökonomie“: „Nur in den Zeiten des Untergangs des Feudalwesens, wo es aber noch kämpft unter sich – so in England im 14. und ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts – ist ein goldenes Zeitalter für die sich emanzipierende Arbeit“[18] Um die feudale Dekadenz zu charakterisieren, die vom beginnenden 14. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert reichte, benutzten Marx und Engels zahlreiche Begriffe, die keinerlei Zweideutigkeiten bei all jenen zulassen, die ein Minimum an politischer Ehrlichkeit besitzen: „die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall“; „der Adel stagnierte“; „zerfallende feudale Gesellschaft“; „die feudalen Eigentumsverhältnisse (…) verwandelten sich in ebenso viele Fesseln“; „die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion“[19]

c) Die Entwicklung von Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse: „Während der wüsten Kämpfe des herrschenden Feudaladels das Mittelalten mit viel Lärm erfüllte (...) ununterbrochener, rein zweckloser Verwüstung, der das ganze Mittelalter hindurch gewährt hatte“. Was er sich nicht mehr durch seine ökonomische und politische Vorherrschaft über die Bauernschaft verschaffen konnte, das versuchte der Feudaladel durch Gewalt zu bekommen. Konfrontiert mit wachsenden Schwierigkeiten, genügend Mehrwert aus der Feudalrente zu extrahieren, begann der Adel, sich in endlosen Konflikten selbst in Stücke zu reissen, was keine anderen Konsequenzen hatte, als sich selbst und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu ruinieren. Der Hundertjährige Krieg, der Europas Bevölkerung halbierte, und die pausenlosen Erbfolgekriege sind die besten Beispiele dafür.

d) Die Entwicklung von Kämpfen durch die ausgebeutete Klasse: So „hatte die stille Arbeit der unterdrückten Klasse in ganz Westeuropa das Feudalsystem untergraben“ Auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Verhältnisse nimmt die Dekadenz der Produktionsweise die Form einer quantitativen und qualitativen Entwicklung der Kämpfe zwischen den antagonistischen Klassen an: der Kampf der ausgebeuteten Klasse, die ihr Elend um so mehr spürt, je mehr die Ausbeutung durch eine verzweifelte herrschende Klasse bis an ihre Grenzen getrieben wird; Kämpfe jener Klasse, die der Träger der neuen Gesellschaft ist und die sich mit den Kräften der alten gesellschaftlichen Ordnung anlegt (in der Vergangenheit war dies stets eine neue ausbeutende Klasse; unter dem Kapitalismus ist es das Proletariat, eine sowohl ausgebeutete als auch revolutionäre Klasse).

Diese langen Zitate über das Ende der feudalen Produktionsweise und den Übergang zum Kapitalismus demonstrieren schon für sich in aller Deutlichkeit, dass das Konzept der Dekadenz von Marx und Engels nicht nur theoretisch definiert worden war, sondern auch als operatives wissenschaftliches Konzept diente, das sie benutzten, um die Dynamik bei der Aufeinanderfolge der von ihnen untersuchten Produktionsweisen zu enthüllen. Es war daher völlig logisch für sie, dieses Konzept zu benutzen, ob sie nun die primitiven, asiatischen oder antiken Gesellschaften betrachteten. So beleuchteten Marx und Engels in Die deutsche Ideologie, als sie die Entfaltung der Produktionsweise der Sklaverei analysierten, die allgemeinen Kennzeichen der Dekadenz in diesem System: „Die letzten Jahrhunderte des verfallenden Römischen Reichs und die Eroberung durch die Barbaren selbst zerstörten eine Masse von Produktivkräften; der Ackerbau war gesunken, die Industrie aus Mangel an Absatz verfallen, der Handel eingeschlafen oder gewaltsam unterbrochen, die ländliche und städtische Bevölkerung hatte abgenommen“.[20] Auch in der Analyse der primitiven Gesellschaften finden wir den eigentlichen Kern der Definition der Dekadenz einer Produktionsweise von Marx und Engels: „Die Geschichte des Verfalls der Urgemeinschaften (...) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazu nur magere Skizzen geliefert. (…)2. dass die Ursachen ihres Verfalls von den ökonomischen Gegebenheiten herrühren, die sie hinderten, eine gewisse Stufe der Entwicklung zu überschreiten…“[21]

Schliesslich vergleicht Marx im Kapital hinsichtlich der Dekadenz der asiatischen Produktionsweise die Stagnation der asiatischen Gesellschaften mit dem Übergang zum Kapitalismus in Europa: [22] „Revolutionär wirkt der Wucher in allen vorkapitalistischen Produktionsweisen nur, indem er die Eigentumsformen zerstört und auflöst, auf deren fester Basis und beständiger Reproduktion in derselben Form die politische Gliederung ruht. Bei asiatischen Formen kann der Wucher lange fortdauern, ohne etwas andres als ökonomisches Verkommen und politische Verdorbenheit hervorzurufen. Erst wo und wann die übrigen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise vorhanden, erscheint der Wucher als eines der Bildungsmittel der neuen Produktionsweise, durch Ruin der Feudalherrn und der Kleinproduktion einerseits, durch Zentralisation der Arbeitsbedingungen zu Kapital andererseits.“[23]

Die Herangehensweise von Marx und Engels an die Dekadenz des Kapitalismus

Da gibt es jene, die sehr gut wissen, dass Marx und Engels ausführlichen Gebrauch vom Konzept der Dekadenz für die Produktionsweise vor dem Kapitalismus machten, und dennoch behaupten: „Marx verlieh dem Kapitalismus nur in der historischen Phase eine fortschrittliche Definition, in welcher er die ökonomische Welt des Feudalismus eliminierte und eine Periode kraftvoller Entwicklung der Produktivkräfte hervorrief, die von der früheren Wirtschaftsform gehemmt worden waren; doch ging er nicht weiter in der Definition der Dekadenz, ausgenommen das eine Mal in seinem berühmten ,Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie.“[24] Nichts könnte falscher sein! Ihr ganzes Leben hindurch analysierten Marx und Engels die Entfaltung des Kapitalismus und versuchten ständig, die Kriterien für den Moment seines Eintritts in die Dekadenz zu bestimmen.

So nahmen sie schon frühzeitig, nämlich im Kommunistischen Manifest, an, dass der Kapitalismus seine historische Mission erfüllt habe und dass die Zeit reif sei, zum Kommunismus überzugehen: „Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehn, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen (...) Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h. ihr Leben ist nicht verträglich mit der Gesellschaft.“[25]

Wir wissen, dass Marx und Engels später erkannten, dass ihre Diagnose übereilt war. So schrieb 1850 Marx: „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten. (…) Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“[26]

Und in einem sehr aufschlussreichen Brief an Engels, datiert vom 8. Oktober 1858, ging Marx an die qualitativen Kriterien heran, um den Übergang in die Phase der Dekadenz zu bestimmen, d.h. „die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion“. Seiner Auffassung nach trafen diese beiden Kriterien auf Europa zu – er nahm 1858 an, dass die Zeit für die sozialistische Revolution auf dem Kontinent reif sei – aber noch nicht auf den Rest des Globus, wo er den Kapitalismus immer noch in seiner aufsteigenden Phase sah: „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluss von China und Japan zum Abschluss gebracht. Die schwierige question für uns ist die: auf dem Kontinent ist die Revolution immanent und wird auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen. Wird sie in diesem kleinem Winkel nicht notwendig gecrusht werden, da auf viel grösserm Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant ist?.“[27]

Im „Kapital“ sagt Marx, über die kapitalistische Produktionsweise: „Das beweist damit nur aufs neue, dass sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt.“[28] Und auch 1881 argumentiert Marx im zweiten Entwurf seines Briefes an Vera Sassulitsch, dass der Kapitalismus im Westen in seine dekadente Phase getreten sei: „Obwohl das kapitalistische System im Westen im Verblühen ist, und sich die Zeit nähert, da es nur noch eine ‚archaische‘ Formation sein wird…“[29] Auch hier sind für jene, die des Lesens kundig sind und eine Grundehrlichkeit besitzen, die Begriffe, die Marx benutzt, wenn er über die Dekadenz des Kapitalismus spricht, unzweideutig: „Periode der Senilität“, „repressives Gesellschaftssystem“, „Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte“,„ein System, das sich immer mehr überlebt hat“, etc.

Schliesslich schloss Engels diese Untersuchung 1895: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion: Sie hat dies bewiesen durch die ökonomische Revolution, die seit 1848 den ganzen Kontinent ergriffen (…) so beweist dies ein für allemal, wie unmöglich es 1848 war, die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erobern.“[30] In den Worten von Marx und Engels beweist dies „ein für allemal“ die Dummheiten auf den endlosen Seiten Papier, die von parasitären Elementen über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution ab 1848 produziert werden: „Wir haben bei etlichen Gelegenheiten die These vertreten, dass der Kommunismus seit 1848 möglich ist.“[31] Diese Narreteien werden unglücklicherweise zu einem grossen Teil auch von den Bordigisten der PCI geteilt, die uns in einer sehr schlechten Polemik vorwarfen, zusammen mit Marx und Engels zu behaupten, dass „die Bedingungen für den Sturz einer Gesellschaftsform auf ihrem Gipfelpunkt nicht existieren“, und die behaupteten, dass dies „ein ganzes Jahrhundert der Existenz und des Kampfes des Proletariats und seiner Partei in den Mülleimer schmeisst (...) plötzlich kann weder die Geburt der kommunistischen Theorie noch die Bedeutung und die Lehren der Revolutionen des 19. Jahrhunderts begriffen werden.“[32]

Warum ist dieses Argument vollkommen haltlos? Weil in der Zeit, als Marx und Engels „Das Kommunistische Manifest“ schrieben, es in der Tat periodische Verlangsamungen im Wirtschaftswachstum gab, die die Form von zyklischen Krisen annahmen. Bei der Untersuchung dieser Krisen waren sie in der Lage, all die Ausdrücke der fundamentalen Widersprüche des Kapitalismus zu analysieren. Doch die „Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse“[33] war lediglich eine Jugendrevolte. Das Ergebnis dieser regelmässigen Explosionen war die Stärkung des Systems, das in seiner kraftvollen Wachstumsphase fähig war, sich seiner Kinderkleidung und der letzten feudalen Hindernisse auf seinem Weg zu entledigen. 1850 waren nur zehn Prozent der Weltbevölkerung in die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse integriert. Das System der Lohnarbeit hatte noch seine ganze Zukunft vor sich. Marx und Engels besassen den brillanten Scharfsinn, in den Wachstumskrisen des Kapitalismus die Essenz all seiner späteren Krisen zu erblicken und somit eine Zukunft tiefer Umbrüche vorauszusagen. Wenn sie dazu fähig waren, so, weil jede Gesellschaftsform von Geburt an den Keim all ihrer Widersprüche, die einst zu ihrem Untergang führen werden, in sich trägt. Doch solange diese Widersprüche sich noch nicht bis zu dem Punkt entwickelt hatten, wo sie zu einer ständigen Schranke gegen das Wachstum werden, bilden sie den eigentlichen Motor dieses Wachstums. Die plötzlichen Verlangsamungen in der kapitalistischen Ökonomie im 19. Jahrhundert waren keinesfalls diese permanenten und wachsenden Schranken. So war Rosa Luxemburg, indem sie Marx‘ Intuition über die Frage weiterträgt, wann der Kapitalismus in die Dekadenz eintreten werde – mit „der Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion“ (Marx) – in der Lage, die Dynamik und den Moment hervorzustreichen: „Wenn wir deshalb einerseits (...) die bisherigen Krisen, sozusagen die Jugendkrisen, (...) bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarktes vorangeschritten, der einen fatalen periodischen Anprall der Produktivkräfte an die Marktschranken, die wirkliche kapitalistische Alterskrisen, erzeugen würde. (…) Ist einmal der Weltmarkt im grossen und ganzen ausgebildet und kann er durch keine plötzliche Erweiterung mehr vergrössert werden, schreitet zugleich die Produktivität der Arbeit unaufhaltsam fort, dann beginnt über kurz oder lang der periodische Widerstreit der Produktivkräfte mit den Austauschschranken, der von selbst, durch seine Wiederholung, immer schroffer und stürmischer wird.“[34]

Der Begriff der Dekadenz im Kapital von Marx

Wir sahen oben, dass Marx und Engels vom Begriff der Dekadenz in ihren Hauptwerken über den historischen Materialismus und die Kritik der politischen Ökonomie („Die Deutsche Ideologie“, „Das Kommunistische Manifest“, „Anti-Dühring“, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, „Das Nachwort zu Der deutsche Bauernkrieg“), aber auch in einer Reihe von Briefen und Vorworten reichlich Gebrauch machten. Wie aber steht’s mit dem Buch, das das IBRP als Meisterstück von Marx betrachtet. Das Büro behauptet, dass der Terminus Dekadenz „in den drei Bänden des Kapitals nirgendwo auftaucht“.[35] Anscheinend hat das IBRP das Kapital nicht sehr gründlich gelesen, ist doch der Begriff der Dekadenz in allen Teilen, wo Marx sich entweder mit der Geburt oder mit dem Tod des Kapitalismus befasst, allemal präsent!

So bekräftigt Marx in den Seiten des Kapitals seine Analyse der Dekadenz des Feudalismus und, innerhalb Letzterem, des Übergangs zum Kapitalismus: „Obgleich die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion uns schon im 14. und 15. Jahrhundert in einigen Städten am Mittelmeer sporadisch entgegentreten, datiert die kapitalistische Ära erst vom 16. Jahrhundert. Dort, wo sie auftritt, ist die Aufhebung der Leibeigenschaft längst vollbracht und der Glanzpunkt des Mittelalters, der Bestand souveräner Städte, seit geraumer Zeit im Erbleichen. (…) Das Vorspiel der Umwälzung, welche die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schuf, ereignet sich im letzten Drittel des 15. und den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts.“[36]

„Hier fällt die kapitalistische Produktionsweise in einen neuen Widerspruch. Ihr historischer Beruf ist die rücksichtslose, in geometrischer Progressive vorangetriebne Entfaltung der Produktivität der menschlichen Arbeit. Diesem Beruf wird sie untreu, sobald sie, wie hier, der Entfaltung der Produktivität hemmend entgegentritt. Sie beweist damit nur aufs neue, dass sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt.“[37]

Nebenbei bemerkt, fasste Marx die Periode der Senilität des Kapitalismus als eine Phase ins Auge, wo der Kapitalismus sich immer mehr „überlebt“ hat, wo er zum Hindernis in der Weiterentwicklung der Produktivität wird. Dies straft auch einer anderen Theorie Lügen, die im Grossen und Ganzen von der Gruppe Internationalist Perspectives erfunden wurde und derzufolge die Dekadenz des Kapitalismus (aber auch des Feudalismus, siehe oben) von einer blühenden Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktivität der Arbeit charakterisiert ist![38]

Schliesslich ruft Marx in einer anderen Passage des „Kapitals“ den allgemeinen Prozess der Aufeinanderfolge der historischen Produktionsweisen in Erinnerung: „Aber jede bestimmte historische Form dieses Prozesses entwickelt weiter die materiellen Grundlagen und gesellschaftlichen Formen desselben. Auf einer gewissen Stufe der Reife angelangt, wird die bestimmte historische Form abgestreift und macht einer höhern Platz. Dass der Moment einer solchen Krise gekommen, zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen den Verteilungsverhältnissen, daher auch der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agentien andrerseits, Breite und Tiefe gewinnt. Es tritt dann ein Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form ein.“[39]

Hier nimmt er die Terminologie auf, die er in der „Kritik der politischen Ökonomie“ benutzte, wie wir weiter unter untersuchen werden. Doch zunächst sollte unterstrichen werden, dass das, was auf das „Kapital“ zutrifft, auch für die mannigfaltigen Vorbereitungsarbeiten gültig ist, wo der Begriff der Dekadenz hinreichend präsent ist.[40] Der beste Rat, den wir dem IBRP geben können, ist, noch einmal die Schulbank zu drücken und das Lesen zu lernen.

Der Begriff der Dekadenz, wie er von Marx in der Kritik der Politischen Ökonomie definiert wird

So fasst Marx die Hauptresultate seiner Forschungen 1859 im „Vorwort zur Kritik an der Politischen Ökonomie“ zusammen:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In grossen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoss der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schliesst daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“[41]

Unsere Kritiker haben die notorische Unehrlichkeit, die Frage der Dekadenz durch systematische Umwandlung und Uminterpretation der Schriften von Marx und Engels zu umgehen. Dies ist besonders bei diesem Auszug aus der „Kritik der politischen Ökonomie“ der Fall, der von ihnen – zu Unrecht, wie wir bereits gesehen haben – als der einzige Ort angesehen wird, wo Marx über die Dekadenz spricht! Doch spricht Marx nach Ansicht vom IBRP in dieser Passage nicht über zwei deutlich unterschiedliche Phasen in der historischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern über das periodisch aufkommende Phänomen der Wirtschaftskrise: „Es ist dasselbe, wenn die Vertreter dieser Analyse (der Dekadenz, die Red.) sich gedrängt fühlen, die anderen Worte von Marx zu zitieren, denen zufolge die Produktivkräfte auf einer bestimmten Ebene der Entwicklung des Kapitalismus mit den Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten und so den Prozess der Dekadenz einleiten. Tatsache ist, dass der fragliche Ausdruck sich auf das Phänomen der allgemeinen Krise und des Bruchs im Verhältnis zwischen der Wirtschaftsstruktur und dem ideologischen Überbau bezieht, die Klassenepisoden erzeugen können, welche auf eine revolutionäre Richtung zusteuern, und nicht auf die diskutierte Frage.“[42]

Das Zitat von Marx für sich genommen lässt keinen Raum für Zweideutigkeiten. Es ist klar, unmissverständlich und folgt derselben Logik wie all die anderen Auszüge, auf die sich dieser Artikel bezieht. Von seinem Brief an J. Weydemeyer wissen wir, wie sehr Marx den historischen Materialismus als seinen wirklichen theoretischen Beitrag betrachtete, und als er sagte, dass „in wenigen Worten das Resultat, zu dem ich gelangte, mir als Leitfaden meiner Studien diente.“[43], sprach er exakt über die Evolution von Produktionsweisen, über ihre Dynamik und Widersprüche, die sich im dialektischen Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften artikulierten. In wenigen Sätzen spannte Marx den gesamten Bogen der menschlichen Evolution: „In grossen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) Mit dieser Gesellschaftsformation schliesst daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Im Gegensatz zu den Behauptungen des IBRP berief sich Marx nicht auf periodische Krisenzyklen, auf regelmässig wiederkehrende Kollisionen zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen oder auf Perioden des Wechsels in der Profitrate; Marx arbeitete auf einer anderen Ebene, auf der grossen Bühne der Evolution der Produktionsweisen, den historischen „Epochen“. In seinem Auszug, wie auch in all den anderen, die wir zitiert haben, definiert Marx klar und deutlich zwei allgemeine Phasen in der historischen Entwicklung einer Produktionsweise: eine Aufstiegsphase, wo die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte vorantreiben und erleichtern, und eine dekadente Phase, in der „aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte (...) Fesseln derselben“ werden. Marx macht deutlich, dass dieser Umschwung in einem bestimmten Moment – „über einen gewissen Punkt hinaus“ – stattfindet, und spricht keinesfalls über „periodisch aufkommende und stetig wachsende Kollisionen“, wie es die ungeeignete Interpretation des IBRP tut. Darüber hinaus benutzt Marx bei etlichen Gelegenheiten im Kapital Formulierungen, die mit jenen in der „Kritik der politischen Ökonomie“ identisch sind; und wenn er sich auf den historisch begrenzten Charakter des Kapitalismus bezieht, spricht er über zwei unterschiedliche Phasen seiner Evolution: „… dass die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise; bezeugt, dass sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist, vielmehr mit seiner Fortentwicklung aus gewisser Stufe in Konflikt tritt.“[44], oder auch, wenn er argumentiert, dass der Kapitalismus „altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt“[45].

Wir können dem IBRP nachsehen, wenn es einige Mühe beim Verständnis der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx hat – jeder kann Fehler machen. Doch wenn die Irrtümer wiederholt werden, selbst wenn es um Zitate aus jenem Werk („Das Kapital“) geht, das das IBRP als seine Bibel betrachtet , dann ist dies mehr als ein einmaliger Ausrutscher.

Was unsere parasitären Kritiker angeht, so stürzen sie sich gern in lange syntaktische Sezierungen. Für die Revue Internationale de Mouvement Communiste (RIMC) „unternimmt die IKS die Mühe, die Phrase ‚So beginnt‘ zu unterstreichen, zweifellos um wie gute Gradualisten, die sie sind, die Betonung auf den fortschrittlichen Charakter der Bewegung zu legen, den sie gläuben identifiziert zu haben. Doch können wir ebensogut die Worte ‚soziale Revolution‘ unterstreichen, die genau das Gegenteil bedeuten, da eine Revolution der gewaltsame Sturz der herrschenden Ordnung ist, mit anderen Worten: ein brutaler und qualitativer Bruch in der Ordnung von Dingen und Ereignissen.“[46] Noch einmal für jeden, der lesen kann: Marx spricht über die Eröffnung einer „Epoche der sozialen Revolution“ (eine „Epoche“ ist eine ganze Periode, in der eine neue gesellschaftliche Ordnung der Dinge etabliert wird), und er argumentiert, dass dieser Wechsel einige Zeit dauern kann, wenn er uns mitteilt, dass diese „Änderung in den ökonomischen Grundlagen von einer mehr oder weniger schnellen Umwälzung begleitet wird“. Lebe wohl, „plötzlicher, gewaltsamer, nahezu vertikaler Fall und am Ende erhebt sich ein neues gesellschaftliches Regime“, Bordigas Ausspruch, der von der RIMC wiederholt wird! Anders als sie verwechselt Marx nicht eine „Änderung im ökonomischen Fundament“ mit einer politischen Revolution. Erstere entfaltet sich langsam innerhalb der alten Gesellschaft, die Revolution ist dagegen kürzer, zeitlich begrenzter, obwohl sie sich auch einige Zeit hinziehen kann, da der Sturz der politischen Macht der alten herrschenden Klasse durch eine neue herrschende Klasse sich normalerweise erst nach zahllosen zurückgeschlagenen Versuchen vollzieht, was zeitweilige Restaurationen nach kurzlebigen Siegen einschliessen kann.

Die politische Bedeutung dieser Kritiken

Was die parasitären Grüppchen anbetrifft, so ist es ihre wesentliche Funktion, die politische Klarheit zu trüben, Marx gegen die Kommunistische Linke aufzustellen und so eine Barriere zwischen den neuen, suchenden Elementen und den revolutionären Gruppen zu errichten. Bei ihnen ist die Sache klar. Wir müssen lediglich zeigen, wie zentral die Dekadenztheorie im Werk von Marx und Engels gewesen war, um ihren Behauptungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass dies „eine Theorie (ist), die vom kommunistischen Programm total abweicht (...) solch eine Methode der Analyse hat nichts mit kommunistischer Theorie zu tun (...) vom Standpunkt des historischen Materialismus aus besitzt das Konzept der Dekadenz keinerlei Kohärenz. Es ist kein Bestandteil des theoretischen Arsenals des kommunistischen Programms. Als solches muss es vollkommen abgelehnt werden (...) Kein Zweifel, dass die IKS dieses Zitat (aus dem ersten Entwurf des Briefes von Marx an Vera Sassulitsch) nutzen wird, da in ihm das Wort ‚Dekadenz‘ zweimal vorkommt, was relativ selten bei Marx ist, für dem der Begriff keinerlei wissenschaftlichen Wert hatte.“[47] Solche Behauptungen sind total absurd. Motiviert von einem parasitären, gegen die IKS gerichteten Antrieb, ist das Einzige, was diese Darstellungen gemeinsam haben, der Ausschluss des Dekadenzkonzepts aus den Werken von Marx und Engels. So erscheint für Aufheben[48] „die Theorie des kapitalistischen Niedergangs das erste Mal in der Zweiten Internationalen“, während für die RIMC sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in die Welt gesetzt wurde: „Das Ziel dieses Werks ist es, eine globale und definitive Kritik am Konzept der ‚Dekadenz‘ vorzunehmen, das als eines der Hauptverirrungen nach dem Ersten Weltkrieg die kommunistische Theorie vergiftete und wegen seines offensichtlich ideologischen Charakters jegliche wissenschaftliche Arbeit behindert, die die Restaurierung der kommunistischen Theorie bezweckt.“ Schliesslich war für Internationalist Perspectives Trotzki der Erfinder dieses Konzepts: „Das Konzept der Dekadenz des Kapitalismus entstand in der Dritten Internationalen, wo es insbesondere von Trotzki entwickelt worden war...“. Wer soll aus all dem schlau werden? Wenn es etwas gibt, was dem Leser klar sein muss, der sich die Auszüge von Marx und Engels angeschaut hat, die in diesem Artikel benutzt werden, dann die Tatsache, dass der Begriff der Dekadenz seinen wahren Ursprung exakt dort hatte, in ihrer historisch-materialistischen Methode. Nicht nur befindet sich dieser Begriff im Mittelpunkt des historischen Materialismus und ist auf der theoretischen wie begrifflichen Ebene präzise definiert, er wird auch als ein operatives wissenschaftliches Instrument bei der konkreten Analyse der Evolution verschiedener Produktionsweisen benutzt. Und wenn so viele Organisationen der Arbeiterbewegung den Begriff der Dekadenz weiterentwickelt haben, wie viele Schriften der parasitären Gruppen trotz allem erkennen müssen, dann deshalb, weil dieser Begriff im Zentrum des Marxismus steht!

Die Bordigisten der PCI haben die Analyse der Dekadenz, die zwischen 1928 und 1945[49] von der Italienischen Linken im Exil entwickelt wurde, trotz ihrer Beanspruchung der historischen Kontinuität mit ihr niemals akzeptiert. Der Geburtsakt des Bordigismus 1952 war von der Ablehnung dieses Konzepts gekennzeichnet.[50] Während Battaglia Comunista[51] die prinzipiellen Errungenschaften der Italienischen Linken in diesem Punkt aufrechterhielt, entfernten sich die Elemente rund um Bordiga von ihnen, als sie die Parti Communiste Internationale gründeten. Trotz dieses wesentlichen theoretischen Rückschritts verblieb die PCI dennoch stets im internationalistischen Lager der Linkskommunisten. Sie war stets im historischen Materialismus verwurzelt und hat in der Tat, wie auch immer ihr Bewusstseinsgrad gewesen sein mag, immer in grossen Zügen die Analyse der Dekadenz vertreten! Um dies zu belegen, brauchen wir lediglich ihre eigenen Grundsatzpositionen auf der Rückseite ihrer Publikationen zitieren: „Die imperialistischen Weltkriege zeigen, dass die Auflösungskrise des Kapitalismus unvermeidlich der Tatsache geschuldet ist, dass er endgültig in jene Periode eingetreten ist, in der seine Expansion nicht länger historisch das Wachstum der Produktivkräfte belebt, sondern ihre Akkumulation durch wiederholte und wachsende Zerstörungen bindet“ (im Grundsatz sagt die IKS nichts anderes!).[52] Wir können eine Reihe von Passagen aus ihren Texten zitieren, wo der Begriff der Dekadenz des Kapitalismus direkt oder indirekt anerkannt wird: „... während wir auf die zyklische Natur der Krisen und Katastrophen des Weltkapitalismus beharren, schmälert dies keineswegs die allgemeine Definition seines gegenwärtigen Zustands, eines Zustands der Dekadenz, in welcher ‚die objektiven Voraussetzungen für die proletarische Revolution nicht nur reif, sondern überreif sind‘, wie Trotzki es formulierte“.[53] Doch heute versucht sie in einem Pamphlet, das unsere Positionen kritisiert, mehrere Seiten lang eine (sehr schlechte) Polemik gegen das Konzept der Dekadenz zu verfassen, ohne zu realisieren, dass sie sich einmal mehr selbst widerspricht: „... wenn seit 1914 die Revolution und nur die Revolution überall und immer auf der Tagesordnung gestanden hat, d.h. die objektiven Bedingungen allgegenwärtig sind, ist es unmöglich, das Ausbleiben der Revolution zu erklären, ausser man flüchtet sich in subjektive Faktoren: Was fehle, um die Revolution zum Ausbruch zu bringen, sei allein das Bewusstsein des Proletariats. Dies ist ein verzerrtes Echo auf die falschen Positionen des grossen Trotzki Ende der 1930er-Jahre. Auch Trotzki dachte, dass die Produktivkräfte das Maximum dessen erreicht haben, was unter dem kapitalistischen Regime möglich sei, und dass folglicherweise die objektiven Bedingungen für die Revolution reif seien (und dass sie sogar anfangen, ‚überreif‘ zu sein): Das einzige Hindernis sei daher auf der Ebene der subjektiven Bedingungen zu suchen“.[54] Geheimnisvolle Invarianz!

Was Battaglia Comunista anbetrifft, so sei gesagt, dass sie sich trotz ihrer Kontinuitätsansprüche mit den Positionen der Italienischen Fraktion der Internationalen Linkskommunisten[55] auf dem Rückweg zu ihren bordigistischen Wurzeln befinden. Nachdem sie erst die Positionen von Bordiga 1952 abgelehnt und sich gewisse Lehren von der Italienischen Linken im Exil wiederangeeignet hatten, reisst nun ihre ausdrückliche Preisgabe der Dekadenztheorie, die von eben jener Fraktion entwickelt wurde[56], Battaglia Comunista zurück auf die Seite der Parti Communiste Internationale. Es ist eine Rückkehr zu den Quellen, da sowohl in der Gründungsplattform von 1946 als auch in der Plattform von 1952 der Begriff der Dekadenz fehlt. Die politische Vagheit dieser beiden programmatischen Dokumente, wenn es um das Verständnis dieser vom Ersten Weltkrieg eröffneten Periode geht, war die Matrix der Schwächen und Schwankungen von Battaglia Comunista bei der Verteidigung von Klassenpositionen gewesen.

Schliesslich hat diese Untersuchung uns den Blick dafür geschärft, dass die Schriften der Gründungsväter des Marxismus weit entfernt von den verschiedenen Versionen des historischen Materialismus sind, die unsere Kritiker vertreten. Wir warten darauf, dass sie uns mit Hilfe der Schriften von Marx und Engels die Gültigkeit ihrer Sichtweise der Abfolge der Produktionsweisen demonstrieren, so wie wir es in diesem Artikel mit dem Konzept der Dekadenz tun! Bis dahin amüsiert uns ihr fast grandioses Vorgaukeln von marxistischer Kompetenz; in Kenntnis der Werke von Marx und Engels sind wir uns sicher, dass wir unseren Sinn für Humor niemals verlieren werden.

Wenn Schmeicheleien an die Stelle einer politischen Linie treten

Seite um Seite behauptet die „Interne Fraktion der IKS“ (IFIKS[57]), dass sie gegen eine angebliche Degeneration unserer Organisation kämpft, und konzentriert sich dabei auf unsere Analyse des Kräfteverhältnisses, unsere Orientierung bei den Interventionen im Klassenkampf, unsere Theorie des Zerfalls des Kapitalismus, unser Verhalten gegenüber der Umgruppierung von Revolutionären, unsere interne Funktionsweise, etc. Sie argumentiert, dass die IKS sich in ihrem Todeskampf befinde und dass nun das IBRP den Pol der Klärung und Umgruppierung bilde: „Mit der Eröffnung des Kurses zum Opportunismus, Sektierertum und Defätismus durch die offizielle IKS steht nun das IBRP im Mittelpunkt einer Dynamik zum Aufbau der Partei“.[58] Diese Liebeserklärung wird darüber hinaus mit einer armseligen politischen Einverständniserklärung mit den Positionen des IBRP garniert: „Wir sind uns darüber bewusst, dass zwischen dieser Organisation und uns Divergenzen existieren, besonders über Fragen der Analyse-Methoden, weniger über politische Positionen.“[59] Mit einem Federstrich eliminiert die IFIKS, tapfere Verteidiger der Orthodoxie der IKS-Plattform, alle wichtigen politischen Divergenzen zwischen der IKS und dem IBRP. Jedoch gibt es etwas noch Bedeutsameres. Seit rund zwei Jahren wird das, was sich im eigentlichen Zentrum der IKS-Plattform befindet – die Frage der Dekadenz – mehr oder weniger offen vom IBRP in Frage gestellt[60] und zum Gegenstand einer sehr unehrlichen Kritik durch die PCI (Kommunistisches Programm) gemacht. Doch die IFIKS hat nichts Besseres zu tun, als vielsagend ruhig zu bleiben und sich gar zu entschuldigen, dass wir die Verteidigung des analytischen Rahmens der Dekadenz gegen alle Abweichungen der PCI und des IBRP aufgenommen haben: „Auf diese Weise stellt sie den proletarischen Charakter dieser Organisation und des IBRP in Frage und stösst beide an den Rand des proletarischen Lagers“.[61]

Bis jetzt hat es die IFIKS geschafft, nicht weniger als vier Artikel über das Thema „Dekadenz des Kapitalismus“ zu schreiben.[62] Diese Artikel tragen den pompösen Titel „Debatte innerhalb des proletarischen Lagers“, doch der Leser wird nicht den leisesten Hinweis auf die Preisgabe des Konzepts der Dekadenz durch das IBRP finden! Er wird jedoch die gewohnten Ausfälle gegen unsere Organisation vorfinden, in denen lächerlicherweise behauptet wird, dass wir es seien, die die Dekadenztheorie preisgeben! Nicht ein Wort über das IBRP, das ausdrücklich die Dekadenztheorie in Frage stellt, dafür aber die heftigsten Attacken gegen die IKS, die dieses Konzept kompromisslos verteidigt!

Vier Monate nach der Veröffentlichung eines neuen und langen Artikels durch das IBRP, in dem erklärt wird, warum es die Dekadenztheorie, wie sie von der Kommunistischen Linken erarbeitet worden ist [63], in Frage stellt, widmet die IFIKS in der Vorstellung ihres Bulletins, Nr. 24, April 2004, diesem Vorgang zwei Sätze, in der diesem „fundamentalen Beitrag“ Beifall gezollt wird: „Wir begrüssen die Arbeit der Genossen der PCInt, die ihrer Sorge Ausdruck verliehen haben, die Frage zu klären. Wir werden zweifellos die Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen.“ [64] Der Artikel vom IBRP wird natürlich nicht als das betrachtet, was er ist – ein ernster Rückschritt auf programmatischer Ebene – sondern wird als ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit unseren angeblichen politischen Verirrungen ausgegeben: „... die Krise, in der die IKS heute immer mehr versinkt, drängt die Gruppen des proletarischen Lagers dazu, zur Frage der Dekadenz zurückzukehren; dies drückt ihre Involvierung in der Auseinandersetzung gegen das opportunistische Abgleiten einer Gruppe aus dem politischen Milieu des Proletariats aus, ihre Beteiligung am Kampf, um zu retten, was vor der Katastrophe des opportunistischen Abgleitens unserer Organisation gerettet werden kann. Wir begrüssen diese Anstrengungen....“.[65]

Wenn Schmeicheleien an Stelle einer politischen Linie treten, so ist dies nicht mehr blosser Opportunismus, es ist Arschkriecherei. Um ihr Verhalten als Gangster und Informanten mit einem pseudo-radikalen Touch zu versehen, entdeckt die IFIKS auf die Schnelle wichtige Differenzen mit der IKS, besonders indem sie sich unserer Analyse des Zerfalls des Kapitalismus entledigt.[66] Die IFIKS musste eliminieren, was politisch am „unpopulärsten“ unter den Gruppen des revolutionären Milieus war, um sich ihnen anzubiedern und von ihnen anerkannt zu werden. So geht sie vor ihnen auf die Knie und umschmeichelt sie. Aber Letztere scheinen den Köder nicht annehmen zu wollen: „Auch wenn wir nicht die Möglichkeit ausschliessen, dass Individuen aus der IKS unseren Reihen beitreten können, so ist es doch völlig unmöglich, dass Gruppen oder Fraktionen, die mit ihren Organisation im Widerstreit stehen, en bloc und mit Positionen zu uns stossen, die mit den unsrigen nicht vereinbar sind (...) Solch ein Resultat kann nur durch eine völlige Infragestellung oder besser: durch einen Bruch mit den praktischen, politischen und allgemein programmatischen Positionen der IKS eintreten, und nicht durch ihre simple Modifizierung oder Verbesserung“.[67] Besser hätten wir es nicht formulieren können! Nachdem sie sich der Theorie des Zerfalls entledigt hat, ist die IFIKS bereit, all die politischen Divergenzen zwischen der IKS und dem IBRP auf ein paar geringfügige Fragen der „Analyse-Methoden“ zu reduzieren; morgen wird sie allemal dazu bereit sein, die Theorie der Dekadenz wegzuwerfen, um Gruppen, die diesen beiden Konzepten feindlich gegenüber eingestellt sind, zu verführen und somit ihre schmutzige und zutiefst unehrliche Arbeit beim Versuch fortzusetzen, die IKS von den restlichen Gruppen des politischen Milieus des Proletariats zu isolieren.

C. Mcl.

 

Fußnoten:

1. s. die mehrteilige Artikelreihe mit dem Titel Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen, in: Internationale Revue Nr. 10–12.

2. s. unsere Artikel über die Ablehnung der Dekadenztheorie durch die Internationale Kommunistische Partei/Kommunistisches Programm, in: International Review Nr. 77 und 78 und über die Ablehnung des IBRP, The Conception of Decadence in Capitalism, in: International Review, Nr. 79 (engl., franz., span. Ausgabe) und Das Wesen des imperialistischen Krieges, in: Internationale Revue Nr. 16 und Theorien der historischen Krise des Kapitalismus, in: Internationale Revue Nr. 17 und Hinter der Globalisierung der Wirtschaft verbirgt sich die Krise des Kapitalismus, in: Internationale Revue Nr. 18.

3. s. in International Review Nr. 105 und 106 die Antwort auf einen Brief aus Australien und in Nr. 111 und 112 eine Antwort auf die neuen revolutionären Elemente, die in Russland entstanden sind.

4. Streng genommen, vom 16. Jahrhundert bis zu den bürgerlichen Revolutionen, was die feudale Dekadenz anbelangt, und von den bürgerlichen Revolutionen bis 1914, was die Aufstiegsphase des Kapitalismus angeht.

5. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 635.

6. s. Thesen über die Taktik der Komintern, IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Hervorhebungen von uns.

7. s. Die Krise ist ein Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise, in: Internationale Revue, Nr. 33, hatten wir bereits die Gelegenheit zu zeigen, dass die Weigerung des IBRP und der PCI(Programme Communiste), sich selbst auf den Rahmen der Analyse zu stützen, die Wurzel ihres Übels ist, in Richtung Linksextremismus sowie alternatives Drittwelttum und weg von der marxistischen Analyse der Krise und der gesellschaftlichen Stellung der Arbeiterklasse zu rutschen.

8. Karl Marx, Brief an J. Weydemeyer, 5. März 1852, in: MEW Bd. 28. S. 507; Hervorhebung von uns.

9. Jene, die gerne Marx gegen Engels ausspielen würden, sollten sich Folgendes merken: „Ich bemerke nebenbei: Da die hier entwickelte Anschauungsweise zum weitaus grössern Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, dass diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (aus der Kritischen Geschichte) ist von Marx geschrieben und musste nur, äusserlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden.“ (Engels, Anti-Dühring, in: MEW Bd. 20, S. 9)

10. Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW Bd. 20, S. 243.

11. s. MEW 21, S. 392 ff.

12. Bordiga, Treffen von Rom 1951, veröffentlicht in Invariance, Nr. 4, eigene Übersetzung. Hinsichtlich unserer Kritik an der bordigistischen Auffassung über die historische Evolution siehe unseren Artikel in International Review Nr. 54, S. 14–19.

13. s. Dialectique des forces productives et des rapports de production dans la théorie communiste, veröffentlicht in der Revue Internationale de Mouvement Communiste (RIMC), eigene Übersetzung. gemeinsam verfasst von Communisme ou Barbarie und Communismo L’Union Proletarien sowie erhältlich unter folgender Adresse:https://membres.lycos.fr/rgood/formprod.htm [7].

14. s. 16 theses on the history and state of the capitalist economy, Internationalist Perspectives, eigene Übersetzung; sowie erhältlich unter folgender Adresse: https://users.skynet.be/ippi/4discus1tex.htm [8].

15. Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 743.

16. s. das interessante Buch von Guy Bois, La grande depression médiévale, XIVe et XV siècle, PUF.

17. s. MEW, Bd. 4, S. 463/467.

18. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 409.

19. Ein einfacher Hinweis auf die Analysen von Marx und Engels reicht aus, um auf die grenzenlosen historischen Dummheiten parasitärer Gruppen wie Internationalist Perspectives, Robin Goodfellow (Ex-Communisme ou Barbarie und RIMC-Mitglied), etc. zu antworten, die darin enden, das genaue Gegenteil dessen zu behaupten, was die Gründer des historischen Materialismus und unleugbare historische Fakten aussagen. Wir werden dennoch die Gelegenheit wahrnehmen, in künftigen Artikeln detaillierter auf ihre Schlangenlinien zurückzukommen, weil sie leider junge Elemente, die noch nicht fest in marxistischen Positionen verankert sind, negativ beeinflussen können.

20. Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie“, in: MEW Bd. 3, S. 24.

21. Karl Marx, Brief an V. I. Sassulitsch, in MEW, Bd.19, S. 387.

22. Sie wurde von Marx in Asien lokalisiert, doch sie war keineswegs auf diese geographische Region beschränkt. Historisch entspricht sie den megalithischen, ägyptischen Gesellschaften, etc., die bis 4000 v. Chr. zurückreichen und der Höhepunkt eines langsamen Prozesses einer Gesellschaft war, die sich erstmals in Klassen teilte. Die gesellschaftliche Differenzierung, die sich mit dem Aufkommen von ökonomischem Überschuss und der Entstehung von materiellem Reichtum entwickelte, führte zu einer politischen Macht in der Gestalt eines Königsstaates. Die Sklaverei konnte darin gut existieren, sogar in einem beträchtlichen Umfang (Diener, Arbeiter bei grossen öffentlichen Arbeiten, etc.), doch sie beherrschte nur selten die Landwirtschaft; sie war noch nicht die vorherrschende Produktionsform. Marx gab dazu eine klare Definition im Kapital: „Sind es nicht Privatgrundeigentümer, sondern ist es wie in Asien der Staat, der ihnen direkt als Grundeigentümer und gleichzeitig Souverän gegenübertritt, so fallen Rente und Steuer zusammen, oder es existiert vielmehr dann keine von dieser Form der Grundrente verschiedne Steuer. Unter diesen Umständen braucht das Abhängigkeitsverhältnis politisch wie ökonomisch keine härtere Form zu besitzen als die ist, welche aller Untertanenschaft gegenüber diesem Staat gemeinsam ist. Der Staat ist hier der oberste Grundherr. Die Souveränität ist hier das auf nationaler Stufe konzentrierte Grundeigentum.“ (Das Kapital, Bd. 3, in; MEW Bd. 25, S. 799) All diese Gesellschaften verschwanden zwischen 1000 und 500 v. Chr. Ihre Dekadenz manifestierte sich in periodisch wiederkehrenden Bauernrevolten, in einer gigantischen Entwicklung unproduktiver Staatsausgaben und in unaufhörlichen Kriegen zwischen den Staaten, die in Plünderungen eine Lösung gegen die inneren Produktionshemmnisse zu finden versuchten. Endlose politische Konflikte und mörderische Rivalitäten innerhalb der herrschenden Kaste erschöpften die gesellschaftlichen Quellen, und die geographischen Grenzen der Expansion der Reiche zeigten, dass der äusserste Entwicklungsgrad, der mit den Produktionsverhältnissen vereinbar war, erreicht war.

23. Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, S. 610–611.

24. s. Prometeo, Nr. 8, Dezember 2003, eigene Übersetzung.

25. in: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 468. Dieselben verstimmten Charaktere argumentieren, um die Bedeutung dieser Sentenz aus dem Manifest herunterzuspielen, gerne damit, dass dieser Auszug sich nicht auf den allgemeinen Prozess des Übergangs von einer Produktionsweise zur nächsten beziehe, sondern auf die regelmässige Wiederkehr von konjunkturellen Krisen der Überproduktion, die die Möglichkeit revolutionärer Perspektiven eröffneten. Nichts liegt der Wahrheit ferner als dies; der Zusammenhang des Auszugs ist eindeutig und folgt gleich, nachdem Marx den historischen Prozess des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Erinnerung gerufen hatte. Darüber hinaus verzerrt das ganze Argument das Ziel des Manifests, den Übergangscharakter der Produktionsweise und damit des Kapitalismus aufzuzeigen; es trachtete nicht danach, eine detaillierte Untersuchung der Funktionstüchtigkeit des Kapitalismus und seiner periodischen Krisen vorzunehmen, so wie dies im Kapital der Fall war.

26. K. Marx/F. Engels, Revue der ‘Neuen Rheinischen Zeitung‘, Mai–Oktober, in:1950, MEW Bd. 7, S. 440.

27. s. MEW, Bd. 19, S. 360.

28. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, S. 273.

29. K. Marx, Brief an V. I. Sassulitsch, in: MEW, Bd.19, S. 396ff.

30. Friedrich Engels, Einleitung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW Bd. 22, S. 515.

31. Robin Goodfellow, Communism as a historic necessity, 1.2.2004, eigene Übersetzung. Oder: Die Dekadenztheorie zerrt „die Gesamtheit der kommunistischen Theorie ins Reich der Ideologie und Utopie, wenn sie ausserhalb jeglicher materiellen Basis (in der aufsteigenden Periode, d.Red.) gestellt wird. Die Menschheit stellt sich keine Probleme, die sie nicht praktisch lösen kann. Warum sollten wir unter diesen Umständen diese Positionen geltend machen? Wir sollten sie genauso kritisieren, wie Marx und Engels die utopischen Sozialisten kritisiert hatten. Der wissenschaftliche Sozialismus wäre ansonsten kein Bruch mit dem utopischen Sozialismus, sondern eine neue Episode in ihm.“ Robin Goodfellow, https://members.lycos.fr/resdint [9], eigene Übersetzung.

32. PCI-Pamphlet, Nr. 29, Le Courant Communiste Internationale: a contre-courant de marxisme et de la lutte de classe, eigene Übersetzung.

33. K. Marx/F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 467.

34. Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Gesammelte Werke Bd. 1/1, S. 385/386.

35. „Welche Rolle spielt denn das Konzept der Dekadenz im Rahmen der militanten Kritik der politischen Ökonomie, d.h. für eine tiefere Analyse der Charakteristiken und der Dynamik des Kapitalismus in der Periode, in der wir leben? Keine. Ja, das Wort selbst taucht nirgendwo in den drei Bänden des Kapitals auf. Mit dem Konzept der Dekadenz kann man die Mechanik der Krise beileibe nicht erklären...“ (Comments on the latest Crisis of the ICC, in: Internationalist Communist, Nr. 21, S. 23, eigene Übersetzung).

36. K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 743ff.

37. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, in MEW Bd. 25, S. 272/273.

38. „Schliesslich nimmt die Neigung des Kapitals, die Produktivität zu erhöhen und daher die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, in seiner dekadenten Phase nicht ab (...) Die Existenz des Kapitalismus in seiner dekadenten Phase zwingt es – gebunden an der Mehrwertproduktion, die aus lebendigem Kapital herausgezogen wird, aber im Angesicht der Tatsache, dass die Masse des Mehrwerts sich immer mehr verringert, so wie umgekehrt die Mehrarbeit immer weiter wächst – dazu, die Entwicklung der Produktivkräfte in einem immer irrsinnigeren Tempo zu forcieren.“ (Valeur, décadence et technologie – 12 thèses, Perspective Internationaliste, eigene Übersetzung; https:// users.skynet.be/ippi/3thdecad.htm).

39. K. Marx Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, S. 891.

40. „Ideell betrachtet, reichte die Auflösung einer gewissen Bewusstseinsform hin, um eine ganze Epoche zu töten. Reell entspricht diese Schranke des Bewusstseins einem bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und daher des Reichtums. Allerdings fand Entwicklung statt nicht nur auf der alten Basis, sondern Entwicklung dieser Basis selbst. Die höchste Entwicklung diese Basis selbst (…) ist der Punkt, worin sie selbst zu der Form ausgearbeitet ist, worin sie mit der höchsten Entwicklung der Produktivkräfte vereinbar, daher auch der reichste Entwicklung der Individuen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint die weitere Entwicklung als Verfall und die neue Entwicklung beginnt von einer neuen Basis.“ (S. 349); „Die sogenannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, dass die letzte Form die vergangenen als Stufe zu sich selbst betrachtet, und, da sie selten, und nur unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ist, sich selbst zu kritisieren – es ist hier natürlich nicht von solchen historischen Perioden die Rede, die sich selbst als Verfallszeit vorkommen – sie immer einseitig auffasst“ (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politische Ökonomie, S. 26).

41. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, S. 9. Hervorhebung von uns.

42. s. Prometeo, Nr. 8, Dezember 2003.

43. Karl Marx an J. Weydemeyer, MEW Bd. 28, eigene Übersetzung

44. K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, 272

45. Ebd.

46. s. Dialectique des forces productives et des rapports de production dans la théorie communiste, veröffentlicht in der Revue Internationale de Mouvement Communiste (RIMC), eigene Übersetzung. gemeinsam verfasst von Communisme ou Barbarie und Communismo L’Union Proletarien sowie erhältlich unter folgender Adresse:https://membres.lycos.fr/ [10]

rgood/formprod.htm.

47. Ebd. Eigene Übersetzung.

48. s. On decadence: theory of decline or decline of theory ist ein Text der britischen Gruppe Aufheben.

49. s. unser Buch The Italian Communist Left.

50. s. Bordigas kritisches Nachdenken über die Dekadenztheorie, 1951 verfasst: La doctrine du diable au corps, veröffentlicht in Le Proletaire, Nr. 464 (die Zeitung der PCI in Frankreich); ebenfalls Le renversement de la praxis dans la theorie marxiste, wiederveröffentlicht in Programme Communiste, Nr. 56 (die theoretische Zeitschrift der PCI auf Französisch) wie auch die Protokolle des Rom-Treffens 1951, veröffentlicht in Invariance, Nr. 4.

51. Battaglia Comunista ist zusammen mit der Communist Workers Organisation eine der Gründungsorganisationen des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP).

52. Im jüngsten Pamphlet, das vollständig der Kritik an unseren Positionen gewidmet war (Le Courant Communiste International: a contre courant du marxisme et de la lutte de classe“) widerspricht die PCI, von ihrer eigenen Prosa berauscht, ihren eigenen Grundsatzpositionen, indem sie argumentiert, dass „die IKS eine ganze Reihe von Phänomenen betrachtet, wie die Notwendigkeit für das Kapital, sich als Vorbedingung für eine neue Akkumulationsphase selbst regelmässig zu zerstören (...) für die IKS sind diese Phänomene angeblich neu und werden als Manifestationen der Dekadenz betrachtet (...) und nicht als Ausdruck der Weiterentwicklung und Stärkung der kapitalistischen Produktionsweise“(S. 8, eigene Übersetzung). Die PCI sollte uns klipp und klar mitteilen, ob „die imperialistischen Weltkriege zeigen, dass die Auflösungskrise des Kapitalismus unweigerlich der Tatsache geschuldet ist, dass der Kapitalismus endgültig in die Periode eingetreten ist, in der seine Expansion historisch das Wachstum der Produktivkräfte nicht mehr anregt, sondern ihre Akkumulation an wiederholten und wachsenden Zerstörungen bindet“– oder ob, wie sie in ihrem Pamphlet argumentiert und wie auch ihre grundsätzlichen Stellungnahmen andeuten, „die Notwendigkeit für das Kapital, sich regelmässig selbst zu zerstören“, keine „Manifestation der Dekadenz“ sei, sondern „der Ausdruck der Weiterentwicklung und Stärkung der kapitalistischen Produktionsweise“! Anscheinend hängt die programmatische Invarianz davon ab, was man sich wünscht, dass es geschehe!

53. Programme Communiste, Nr. 81; eigene Übersetzung.

54. PCI-Pamphlet, Nr. 29; eigene Übersetzung.

55. „Schlussendlich wurde die Partei auf den Grundlagen gegründet, die 1943 von der Fraktion von 1927 bis zum Krieg vertreten wurden, während die politischen Emigranten, jene, die die gesamte Arbeit der Linken Fraktion weiterführten, keine Initiative bei der Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei 1943 ergriffen.“ (Einführung zur politischen Plattform der Internationalistischen Kommunistischen Partei, Publikationen der Internationalen Linkskommunisten, 1946, eigene Übersetzung).

56. „Was im dekadenten Kapitalismus historisch auf dem Spiel steht. Seit der Eröffnung der imperialistischen Phase des Kapitalismus zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts schwankte die Evolution zwischen imperialistischem Krieg und proletarischer Revolution. In der Epoche des Wachstums des Kapitalismus ebneten Kriege den Weg zur Expansion der Produktivkräfte durch die Zerstörung überholter Produktionsverhältnisse. In der Phase der kapitalistischen Dekadenz haben Kriege keine andere Funktion, als die Zerstörung eines Exzesses von Reichtum auszuführen...“ (Resolution über die Konstituierung des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, in: Octobre, Nr. 1, Februar 1938, eigene Übersetzung); „Der Krieg 1914-18 markierte das Ende der Expansionsphase des kapitalistische Regimes… Die Endphase des Kapitalismus, die Phase des Niedergangs. Es ist grundsätzlich der Klassenkampf, welcher die historische Entwicklung bestimmt“ (Manifest des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, Octobre Nr. 3, April 1938)

57. Die so genannte „Interne Fraktion der IKS“, die ein paar Mitglieder um sich sammelte, haben wir ausschlossen, da sie sich wie Spitzel aufführten.

58. s. Bulletin der IFIKS, Nr. 23; eigene Übersetzung.

59. Ebd. Eigene Übersetzung.

60. Wir antworteten bereits im Oktober 2002 auf die ersten Anzeichen dafür, dass das IBRP im Begriff war, den Begriff der Dekadenz preiszugeben (s. Die Dekadenz des Kapitalismus: ein fundamentales Konzept des Marxismus, in: Internationale Revue Nr. 31). Ein Jahr später machten wir eine substanzielle Kritik in der International Review Nr. 115 (s. für weiter Quellenangabe Fussnote 7).

61. s. International Review Nr. 115 (Vorstellung des IFIKS-Bulletins Nr. 22; eigene Übersetzung).

62. s. Bulletin der IFIKS, Nr. 18, 20, 22 und 24.

63. s. Prometeo, Nr. 8, Dezember 2003.

64. s. Bulletin der IFIKS, Nr. 24, April 2004, eigene Übersetzung.

65. Ebd.

66. Diese Elemente teilten die Analyse des Zerfalls, als sie noch Mitglieder der IKS waren (s. dazu unseren Artikel folgenden Artikel aus Seite 19 dieser Internationalen Revue Nr 34.

67. IKP-Pamphlet, Nr. 29, eigene Übersetzung.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [6]

Einleitung zur Resolution über die Entwicklung des Klassenkampfes: Ein Wendepunkt im Klassenkampf

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Die Beschleunigung der weltweiten Krise des Kapitalismus engt den Manövrierspielraum der Bourgeoisie zunehmend ein. Sie hat in ihrer Ausbeuterlogik keine andere Wahl, als immer frontalere und gewaltsamere Angriffe gegen das Lebensniveau der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit zu starten.

Gewaltsame und frontale Angriffe gegen die Arbeiterklasse

Jede nationale Bourgeoisie wendet überall dieselben Massnahmen an: Entlassungspläne, die keinen Sektor aussparen; Arbeitsplatzverschiebungen; Verlängerung der Arbeitszeit; beschleunigter Abbau des Sozialwesens (Rente, Gesundheit, Arbeitslosengelder), Angriffe auf die Löhne; beschleunigte Präkarisierung der Arbeit, des Wohnens; zunehmende Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Alle Arbeiter, ob noch in Beschäftigung oder bereits arbeitslos, noch im Arbeitsleben oder bereits in der Rente, ob in privater oder in öffentlicher Anstellung, sind damit ununterbrochen konfrontiert.

In Italien werden, nachdem gegen das Rentensystem schon ähnliche Massnahmen wie in Frankreich ergriffen worden sind und Fiat eine Entlassungswelle hinter sich hat, 3700 Stellen (mehr als ein Sechstel der Gesamtbelegschaft) bei der Fluggesellschaft Alitalia angekündigt.

In Deutschland hat die rot-grüne Regierung Schröder mit der Umsetzung des Sparprogramms Agenda 2010 begonnen: Senkung der Entschädigung von Pflegekosten, zusätzliche Schnüffelei bei den krankheitsbedingten Absenzen, steigende Krankenkassenbeiträge für alle Lohnempfänger, Erhöhung der Rentenbeiträge sowie Erhöhung des gegenwärtig bei 65 Jahren liegenden Rentenbeginns. Siemens lässt mit Zustimmung der Gewerkschaft IG-Metall und unter Androhung der Produktionsverlagerung nach Ungarn die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich von 35 auf 40 bis 48 Stunden erhöhen. Andere grosse Unternehmen handeln ähnliche Abkommen aus: die Deutsche Bahn, Bosch, Thyssen-Krupp, Continental und die ganze Autobranche (BMW, Opel, Volkswagen, Daimler-Chrysler). Dieselbe Politik ist auch in den Niederlanden anzutreffen. Dieses Land stand lange im Ruf, der Begründer der Teilzeitarbeit zu sein. Der holländische Wirtschaftsminister hat nun angekündigt, dass die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche (ohne Lohnausgleich) ein gutes Mittel sei, um die nationale Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

In Deutschland wird ab 2005 Hartz IV in Kraft gesetzt und zeigt den Weg auf, auf dem sich alle Bourgeoisien, insbesondere diejenigen Europas, bewegen: Die Arbeitslosen sollen weniger lang und eine geringere Entschädigung erhalten und die Zulassungsbedingungen sollen verschärft werden. Auch soll der Zwang zur Annahme einer schlechter entlohnten Arbeit verstärkt werden.

Diese Angriffe sind nicht auf den europäischen Kontinent begrenzt, sondern erstrecken sich auf die ganze Welt. Der kanadische Flugzeugbauer Bombardier Aerospace sieht die Streichung von 2000 bis 3200 Arbeitsplätzen vor, das amerikanische Telekommunikationsunternehmen AT&T entlässt 12'300 Arbeiter, General Motors streicht 10'000 Stellen, was auch die europäischen Standorte in Schweden und Deutschland bedroht. Die Bank of America kündigt die Streichung von zusätzlichen 4500 Stellen zu den bereits im April bekannt gemachten 12'500 Stellen an. In den USA, wo die Arbeitslosenquote neue Rekordstände erreicht (auch dort spricht man bereits vom „Wachstum ohne Beschäftigung“), leben um die 36 Millionen Menschen (12,5% der Bevölkerung) unter der Armutsschwelle, von denen wiederum 1,3 Millionen im Lauf des Jahres 2003 in unzumutbare Lebensumstände abgerutscht sind. 45 Millionen Menschen haben keinerlei soziale Absicherung. In Israel befinden sich die Gemeinden im Bankrott und die Gemeindeangestellten erhalten seit mehreren Monaten keinen Lohn mehr. Von den schrecklichen Ausbeutungsbedingungen der Arbeiter in der Dritten Welt angesichts der entfesselten Konkurrenz auf den Weltmärkten bei der Senkung der Arbeitskosten wollen wir erst gar nicht sprechen.

Die meisten dieser Angriffe werden als unabdingbare „Reformen“ mit dem Ziel verkauft, dass die Arbeiter die „Opfer“ akzeptieren. Der kapitalistische Staat und jede nationale Bourgeoisie geben vor, dass sie mit diesen angeblichen „Reformen“ nur das allgemeine Wohl verteidigen würden, dass sie für die Zukunft unserer Kinder und aller zukünftigen Generationen handeln würden. Die Bourgeoisie gaukelt uns vor, dass sie die Arbeitsplätze, die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, das Rentenwesen retten will, während sie gleichzeitig mit dem umfassenden Abbau des sozialen Schutzes der Arbeiterklasse beschäftigt ist. Damit die Arbeiter diese Opfer leichter schlucken, behauptet sie, dass diese „Reformen“ im Namen der „bürgerlichen Solidarität“ unabdingbar seien: Es soll damit eine grössere Gerechtigkeit und soziale Gleichheit gegen die Verteidigung von kleinlichen korporatistischen Interessen, gegen Einzelinteressen und Privilegien erzielt werden. Wenn die herrschende Klasse von grösserer Gleichheit spricht, so handelt es sich tatsächlich um eine Angleichung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse auf tieferer Ebene. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, wo im historischen Kontext eines noch in Ausdehnung begriffenen Kapitalismus die bürgerlichen Reformen weithin zu einer Verbesserung der Bedingungen für die Arbeiterklasse führten, ist der Kapitalismus heute nicht mehr reformierbar. Er kann den Arbeitern nichts mehr anbieten als Elend und wachsende Verarmung. All diese Pseudoreformen sind nicht Ausdruck eines prosperierenden Kapitalismus, sondern im Gegenteil seines unausweichlichen Zusammenbruchs.

Die Arbeiterklasse hat begonnen auf die Angriffe der Bourgeoisie zu antworten

Die Resolution, die wir nachfolgend veröffentlichen, wurde durch das Zentralorgan der IKS im vergangenen Juni angenommen.

Das zentrale Anliegen dieses Textes war aufzuzeigen, dass es einen „Wendepunkt“ in der Entwicklung des Klassenkampfes gibt, worauf wir in unseren Analysen der Lage seit dem Frühjahr 2003 in Frankreich und Österreich angesichts der von der Bourgeoisie angestrengten „Rentenreformen“ hingewiesen hatten. Wir nahmen uns mit diesem Text vor, gewissen Lesern und Sympathisanten, die Zweifel an der Gültigkeit einer solchen Analyse geäussert hatten, erste Elemente einer Antwort zu liefern.

Seither hat die Realität des Klassenkampfes selbst, mit den verschiedenen sozialen Bewegungen, den auf internationaler Ebene vorhandenen Wendepunkt im Klassenkampf sehr viel greifbarer bestätigt.

Trotz der Stärke und Allgegenwart des gewerkschaftlichen Korsetts und der permanenten Kontrolle, die die Gewerkschaften immer noch über die Kämpfe ausüben, trotz der Hemmungen, den Kampf aufzunehmen – einerseits auf Grund der Einschüchterungsmanöver der Bourgeoisie und andererseits in Folge eines mangelnden Vertrauens in die eigenen Kampfmittel – ist es doch klar, dass die Arbeiterklasse begonnen hat, auf die Angriffe der Bourgeoisie zu antworten, auch wenn diese Antwort noch lange nicht dasselbe Niveau erreicht hat wie die Angriffe, denen sie ausgesetzt ist. Bereits die Mobilisierung der italienischen Nahverkehrsangestellten oder der englischen Postangestellten und Feuerwehrleute im Winter 2003, dann der Arbeiter in den FIAT-Fabriken von Melfi in Süditalien im Frühjahr angesichts der Entlassungspläne waren trotz ihrer Schwächen und ihrer Isolierung Teil der Wiederbelebung der Kampfbereitschaft der Arbeiter. Doch heute vervielfachen sich die Beispiele und werden bedeutsamer. In Deutschland haben im vergangenen Juli mehr als 60'000 Arbeiter bei Daimler-Chrysler an Streiks und Protestdemonstrationen gegen die Erpressung und das Ultimatum der Direktion teilgenommen, das darauf hinauslief, entweder gewisse „Opfer“ bei ihren Arbeitsbedingungen zu erbringen, damit die Produktivität gesteigert werden kann – dies insbesondere bei den Arbeitern der Fabrik von Sindelfingen-Stuttgart (Baden-Württemberg) – sowie den Stellenabbau in Sindelfingen, Untertürkheim und Mannheim zu akzeptieren, oder aber die Verlegung der Produktion in andere Gebiete hinzunehmen. Daraufhin haben nicht nur Arbeiter von Siemens, Porsche, Bosch und Alcatel, die von ähnlichen Angriffen betroffen sind, an den Mobilisierungen teilgenommen, sondern zahlreiche Arbeiter von Daimler-Chrysler in Bremen, welche von der geplanten Verlegung der Produktion und der entsprechenden Stellen hätten profitieren sollen, die sich aber trotz dieser bewusst eingesetzten Spaltungsstrategie der Unternehmensdirektion den Demonstrationen angeschlossen haben, was einen sehr bedeutsamen Keim der Arbeitersolidarität darstellt. In Spanien haben die Werftarbeiter in Puerto Real in der Nähe von Cadiz (Andalusien) wie auch in Sestao (in der Region von Bilbao) vor mehreren Wochen einen sehr hart geführten Kampf begonnen, in dem sie versuchen, sich gegen Privatisierungspläne zu wehren, der auf einen Abbau von Tausenden von Stellen hinauslaufen würde. Diesen Plan setzt die Linksregierung trotz anders lautenden früheren Versprechen um.

Erst kürzlich, am 2. Oktober, versammelten sich in Berlin auf einer Demonstration, die die Gewerkschaften und Globalisierungsgegner organisiert hatten und die die „Montagsdemonstrationen“ gegen Hartz IV hätten abschliessen sollen, 45'000 Leute. Am gleichen Tag fand in Amsterdam eine riesige Demonstration gegen die Regierungspläne statt; schon zuvor hatte es bedeutende regionale Mobilisierungen gegeben. Offiziell war von 200'000 Teilnehmern die Rede; es handelte sich somit um die grösste Demonstration der letzten zehn Jahre in den Niederlanden. Trotz der offiziellen Parole, die die Demonstration beherrschte und lautete: „Nein zur Regierung, ja zu den Gewerkschaften!“, war die spontane Reaktion der Teilnehmer die „Überraschung“ und die „Verwunderung“ darüber, dass man so zahlreich war. Es ist im Übrigen daran zu erinnern, dass die Niederlande mit Belgien zu den ersten Ländern gehörte, in denen sich bereits im Herbst 1983 eine internationale Wiederaufnahme der Arbeiterkämpfe angekündigt hatte.

Jede dieser Bewegungen ist ein Zeichen für das Nachdenken in der Arbeiterklasse, das immer weitere Kreise zieht: Die Häufung, die Massivität und der Charakter der Angriffe der Bourgeoisie werden nicht nur dazu führen, die Illusionen zu zerstören, die die herrschende Klasse zu verbreiten versucht, sondern sie zwingen gleichzeitig die Ausgebeuteten auf der Ebene des Bewusstseins zu einer Beunruhigung und einer Infragestellung der Aussichten, die dieses auf Dauer immer unerträglichere Ausbeutungssystem ihnen und ihren Kindern, den zukünftigen Generationen, bietet. Die IKS ist sich ihrer Verantwortung bei der langsam vonstatten gehenden stattfindenden Reifung des Bewusstseins der Arbeiter über den Bankrott des kapitalistischen Systems bewusst und intervenierte entsprechend aktiv in diesen Kämpfen. Sie gab im Juli in Deutschland und im September in Spanien Flugblätter heraus, die breit verteilt werden konnten, um so direkt gegenüber der lokalen Lage zu intervenieren. Am 2. Oktober konnte sie sowohl in Amsterdam als auch in Berlin nationale Verkaufsrekorde mit ihrer Presse erzielen, wie dies auch schon im Frankreich während der Kämpfe im Frühjahr 2003 der Fall gewesen war, was ebenfalls die Merkmale und das Potenzial des gegenwärtigen Wendepunktes verdeutlicht.

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [12]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [13]

Imperialistische Rivalitäten (Teil I)

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Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil I)

Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war der Nahe Osten oft Schauplatz imperialistischer Kriege.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten drei offene Kriege zwischen Israel und seinen feindlichen Nachbarn (1949, 1967, 1973), ein permanenter Kriegszustand zwischen Israel und den bewaffneten palästinensischen Kämpfern (mit den bewaffneten Terroristenbanden und Selbstmordattentätern auf der einen und dem israelischen Staatsterror auf der anderen Seite), ein acht Jahre langer Krieg zwischen Iran und Irak, unablässige Scharmützel zwischen kurdischen Nationalisten und dem türkischen Staat, 20 Jahre Krieg in Afghanistan, der Golfkrieg 1991 und die Besetzung des Iraks 2003, die nur eine Verschlimmerung des Kriegszustandes zur Folge hatte.

Kein anderer Teil der Erde zeigt deutlicher, dass der Kapitalismus nur durch Krieg und Zerstörung überleben kann, dass alle Länder – ob gross oder klein – imperialistisch sind, dass keine systemimmanente Auflösung der kapitalistischen Widersprüche möglich ist, dass der Krieg seine eigene Dynamik geschaffen hat und die Arbeiter sich auf dem internationalistischen Terrain vereinigen und gemeinsam jeden Nationalismus bekämpfen müssen.

Diese kurze Geschichte des Nahen Ostens hat zum Ziel aufzuzeigen, dass die Vielzahl der regionalen und lokalen Konflikte in dieser Region nur im Zusammenhang mit dem weltweiten Imperialismus verstanden werden kann.

Der Nahe Osten: Schnittpunkt der imperialistischen Interessen aller kapitalistischer Mächte

Zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer, zwischen Asien, Europa und Afrika gelegen, war der Nahe Osten schon lange bevor seine Erdölvorkommen entdeckt wurden ein umstrittenes Gebiet.

Seit dem Beginn der Expansion des kapitalistischen Europas in diese Region haben die globalen strategischen Interessen die Politik der verschiedenen Mächte bestimmt. Diese haben sich nie nur wegen der Nachfrage nach diesem oder jenem Rohstoff die Stirn geboten.

Schon in seiner frühen Expansionsphase, noch bevor die industrielle Revolution voll in Schwung kam, beeilte sich der britische Kapitalismus, in Indien Fuss zu fassen und seinen französischen Rivalen von dort zu vertreiben. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde Grossbritannien zur vorherrschenden Macht. Systematisch bemühte sich Grossbritannien darum, strategisch wichtige Stellungen auf dem Weg nach Indien zu besetzen. 1839 wurde Aden (im heutigen Yemen) besetzt und die Briten übernahmen die Polizeifunktion an der Golfküste, wo Piraten die Handelsentwicklung beeinträchtigt hatten.

Aber der Nahe Osten entwickelte sich schnell auch zu einem Expansionsziel des russischen Kapitalismus. Nach den Zusammenstössen mit Persien (1828) und seinen wiederholten Kriegen gegen das osmanische Reich – allein im 19. Jahrhundert führten Russland und die Türkei dreimal Krieg gegeneinander (1828, 1855 und 1877); im Krimkrieg von 1853–56 stiess Russland mit der Türkei, mit Grossbritannien, Frankreich und Italien am Schwarzen Meer zusammen – Russland versuchte, in Richtung Kaukasusregion, Kaspisches Meer und in Richtung der heute unter den Namen Kasachstan und Tadschikistan geläufigen Region zu expandieren. Sein Hauptziel war der Zugang zum Indischen Ozean via Afghanistan und Indien.

Um die russische Expansion in diese Gegend abzuwehren, nahm Grossbritannien zweimal Afghanistan ein (1839–1842 und 1878–1880). Nach seinem Sieg im zweiten Afghanistankrieg errichtete Grossbritannien ein Marionettenregime in diesem Land.[1]

Als sich Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Imperialismus in Richtung Balkan und Naher Osten ausbreitete, beschlossen Grossbritannien und Russland, ihren Konflikt über die Vorherrschaft in Asien beizulegen. Sie einigten sich darauf, das Gebiet rund um Afghanistan aufzuteilen, um dem deutschen Vorrücken Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig installierte Grossbritannien 1893 in Afghanistan die „Durand-Linie“. Durand weitete entgegen den Absichten des afghanischen Königs die Grenze gen Osten durch einen schmalen Landstreifen, den Wakhan, aus, der sich durch das Pamirgebirge bis nach China erstreckt, um eine Pufferzone zwischen Russland und Indien zu installieren. 1907 unterzeichneten Grossbritannien und Russland einen Vertrag, der die Gebiete rund um den Iran aufteilte.

Ausserdem erzielte Grossbritannien 1882 einen strategisch bedeutenden Sieg, indem es Ägypten militärisch besetzte und seinen französischen Widersacher, der den 1869 eröffneten Suez-Kanal gebaut hatte, verdrängte. Der Suez-Kanal wurde zum Dreh- und Angelpunkt der britischen Vorherrschaft im Nahen Osten und war von allerhöchster Bedeutung für die britische Herrschaft in Indien und anderen Teilen Asiens und Afrikas. Noch 1956 entsandten Grossbritannien und Frankreich Truppen, um die Kontrolle über den Kanal zu verteidigen, und widersetzten sich damit den USA.

Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hatte Grossbritannien die bestimmende Position im Nahen Osten inne und hielt damit seine europäischen Widersacher Russland und Frankreich in Schach.

Wie oben erwähnt, betrachteten die europäischen Kolonialmächte, als sie ihre Kolonien „einsammelten“ und ihre imperialistischen Ziele definierten, die Frage der Rohstoffe, ob Erdöl oder andere, nicht als vorrangig. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Erdölvorkommen des Nahen Ostens von geringer Bedeutung, und auch andere Rohstoffe spielten keine entscheidende Rolle.[2] Schon damals spielten eher strategische und militärische Erwägungen die Hauptrolle.

Die Natur der imperialistischen Konflikte entwickelte jedoch einen qualitativ neuen Charakter, als die Erdkugel Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen den europäischen Grossmächten aufgeteilt war.

Sobald die europäischen Mächte bei dem Versuch, die Welt unter sich und weiteren aufzuteilen (Nordafrika unter Italien und Frankreich, Ägypten und Fachoda/Sudan unter Frankreich und Grossbritannien, Zentralasien unter Grossbritannien und Russland, der Ferne Osten zwischen Russland und Japan, China unter Japan und Grossbritannien, der Pazifik-

raum unter den USA und Japan, Marokko unter Deutschland und Frankreich), aneinander gerieten, nahmen auch die Spannungen im Nahen Osten stark zu.

Deutschland, das verspätet auf dem Weltmarkt erschienen war und verzweifelt versuchte, sich Kolonien anzueignen, konnte diese bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch Ländern entreissen, die sich bereits „etabliert“ hatten. Das hatte zur Folge, dass Deutschland vor allem versuchte, die Positionen der alleinigen Weltmacht, nämlich Grossbritanniens, zu untergraben. Schon Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich Deutschland darum, eine militärische Präsenz zu errichten. Doch wie wir gesehen haben, war der deutsche Imperialismus zwar in der Lage, die britischen Interessen in dieser Region zu bedrohen und zu untergraben, aber er war unfähig, die britische Herrschaft zu stürzen. Auch wenn er ein ständiger Herausforderer und „Unruhestifter“ besonders der britischen Interessen war, besass er, anders als der britische Imperialismus, nicht die Mittel, um seine Präsenz in der Region zu erzwingen.

Deutschland versuchte also, sich weiter östlich auf dem Balkan auszuweiten (es ist kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg dort ausgelöst wurde, nachdem sich die imperialistischen Gegensätze in zwei Balkankriegen 1912–1913 zugespitzt hatten, während denen das osmanische Reich seine europäischen Gebiete an Bulgarien, Serbien, Griechenland und Albanien verlor). Das sich auflösende osmanische Reich wurde zum Angelpunkt der deutschen imperialistischen Ansprüche im Nahen Osten.

Während Marx noch die territoriale Einheit der Türkei als Barriere gegen die russischen Ambitionen im Nahen Osten unterstützt hatte, erkannte Rosa Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sich die Weltlage verändert hatte und die Unterstützung der Türkei ein reaktionäres Projekt geworden war. „Dass bei der Vielfältigkeit der nationalen Fragen, welche den türkischen Staat zersprengen: der armenischen, kurdischen, syrischen, arabischen, griechischen (bis vor kurzem noch der albanischen und makedonischen), bei der Mannigfaltigkeit der ökonomisch-sozialen Probleme in den verschiedenen Teilen des Reiches (…) war für jedermann und namentlich für die deutsche Sozialdemokratie seit langem ganz klar, dass eine wirkliche Regeneration des türkischen Staates eine vollständige Utopie ist, und dass jede Anstrengung, diese verfaulten und zusammenbrechenden Ruinen aufrechtzuerhalten, nur ein reaktionäres Unternehmen darstellen kann.“[3]

Für den deutschen Imperialismus war die Türkei das Schlüsselland für seine Ambitionen.[4] Deutschland unterstützte die Türkei militärisch (es bildete den türkischen Generalstab aus, lieferte Waffen und unterzeichnete 1914 einen Beistandspakt für den Kriegsfall); es wurde auch zum wichtigsten Zulieferer finanzieller und technischer Hilfe. Darum hat „die Position des deutschen Imperialismus ihn in Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten im Nahen Osten gebracht. Vor allem zu Grossbritannien. Die Errichtung strategischer Bahnen und die Stärkung des türkischen Imperialismus unter deutschem Einfluss wurden aber hier an einem der weltpolitisch empfindlichsten Punkte für Grossbritannien vorgenommen: in einem Kreuzungspunkt zwischen Zentralasien, Persien, Indien einerseits und Ägypten andererseits.“[5]

Eine weitere Ambition des deutschen Imperialismus zu jener Zeit war der Bau der Bagdadbahn, die den deutschen Truppen als elementarer logistischer Hebel dienen sollte.[6]

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches war entscheidend für die Ausbreitung der imperialistischen Konflikte sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen Osten.

Bis zum Ersten Weltkrieg war der grösste Teil des Nahen Ostens unter der Kontrolle des osmanischen Reiches. In Asien kontrollierte die Türkei Syrien (einschliesslich Palästina), einen Teil der arabischen Halbinsel (die damals noch keine festen Grenzen hatte), einen Teil der Kaukasusregion und Mesopotamiens (bis nach Bassorah).

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches führte weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten zur Bildung einer grossen Industrienation, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig gewesen wäre. Im Gegenteil, der imperialistische Druck führte zu einer Aufsplitterung, zur Bildung einer Reihe von „verkrüppelten Kleinstaaten“. Diese Kleinstaaten auf dem Balkan waren während des gesamten 20. Jahrhunderts und bis in unsere Tage ebenso Objekt der imperialistischen Rivalitäten zwischen den Grossmächten, wie der asiatische Teil der Trümmer des osmanischen Reiches, der Nahe Osten, Schauplatz andauernder imperialistischer Konflikte blieb.

Der Ferne Osten blieb, abgesehen von einigen weniger wichtigen Konflikten, abseits des Ersten Weltkrieges. Im Gegensatz dazu war der Nahe Osten schon immer Schlachtfeld konkurrierender Parteien gewesen.[7] Schon in der Zeit des Ersten Weltkrieges, lange bevor die Palästinafrage und die Frage eines jüdischen Staates gestellt wurde, war die Region ein imperialistisches Minenfeld gewesen. Wie wir aber sehen werden, trugen die Konflikte um Palästina und einen zionistischen Staat zu einer weiteren Verschärfung in einer Region bei, die ohnehin Brennpunkt imperialistischer Konflikte ist.

Der Fall des osmanischen Reiches und die imperialistischen Konstellationen am Ende des Ersten Weltkrieges

Während des Ersten Weltkrieges versuchten die europäischen Länder, ihre „Verbündeten“ in der Region für ihre Kriegsanstrengungen zu mobilisieren.

Grossbritannien, das zusammen mit Russland Deutschland und die Türkei bekämpfte, versuchte, die arabische Bourgeoisie für ein Bündnis gegen die osmanischen Herrscher zu gewinnen. Es ermutigte alle Unabhängigkeitsbestrebungen gegen die türkischen Herrscher, stachelte Stämme der Hedjas (im westlichen Teil der arabischen Halbinsel) auf und unterstützte Sherif Hussein aus Mekka.

Bereits im Ersten Weltkrieg dienten die lokalen Führer als Schachfiguren in den Machtkämpfen der europäischen Mächte. Die Briten konnten sich mit Hilfe von Lawrence von Arabien, der eine wichtige Rolle als Verbindungsoffizier zu den arabischen Rebellen spielte, deren Kampf gegen die Türken zunutze machen. Auch die jüdischen Einwanderer wurden als Kanonenfutter für den englischen Imperialismus rekrutiert.

Nachdem Deutschland die Türkei im Februar 1915 dazu gedrängt hatte, eine Offensive gegen die englischen Stellungen in Ägypten zu führen, um sich des Suez-Kanals zu bemächtigen (eine Offensive, die bereits nach wenigen Tagen aus Mangel an logistischer Unterstützung und an Waffenlieferungen scheiterte), erwies sich die Türkei als die grosse Verliererin des Krieges.

Dies entfachte umgekehrt die imperialistischen Gelüste sowohl der europäischen Mächte als auch der lokalen arabischen Herrscher. In der Hoffnung, von der Gelegenheit zu profitieren, lieferten sich im Sommer 1917 die von Sherif Hussein kommandierten arabischen Truppen ein richtiggehendes Wettrennen mit der englischen Armee, um sich Teile des türkischen Gebietes zu schnappen. Dieselben Truppen marschierten im Oktober 1918 in Damaskus ein und riefen ein arabisches Königreich aus. So zeigten die arabischen Führer ihre eigenen imperialistischen Ambitionen, nachdem sie als Kanonenfutter für die englischen imperialistischen Interessen in der Türkei gedient hatten. Sie wollten ein „panarabisches Reich“ mit Damaskus als Hauptstadt errichten. Doch diese nationalistischen Ambitionen stiessen sofort mit den englischen und französischen Interessen zusammen: Es gab keinen Raum für die arabischen imperialistischen Ansprüche.

Als das osmanische Reich auseinanderbrach und die deutsch-türkische Niederlage sich abzeichnete, begannen Frankreich und Grossbritannien Pläne zu schmieden, um den Nahen Osten unter sich aufzuteilen.

Die arabischen Staaten wurden von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen. Die Bildung einer grossen arabischen Nation, die die Überbleibsel des kollabierten osmanischen Reiches umfassen würde, war historisch unmöglich geworden. Die Hoffnungen der herrschenden Klasse Arabiens, eine grosse arabische Nation aufzubauen, waren zum Scheitern verurteilt, weil die europäischen imperialistischen Haie keinen lokalen Widersacher dulden konnten.

Im Frühjahr 1915 teilten die europäischen Mächte Grossbritannien, Frankreich, Russland, Italien und Griechenland nach Geheimverhandlungen den Nahen Osten unter sich auf. Grossbritannien und Frankreich unterzeichneten im Mai 1916 ein Geheimabkommen (Sykes-Picot-Vertrag), demzufolge

– Grossbritannien die Kontrolle über Haifa, Acca, die Negev-Wüste, Südpalästina, den Irak, die arabische Halbinsel, sowie Transjordanien (heute: Jordanien),

– Frankreich den Libanon und Syrien bekommen erhalten sollte.

Im April 1920 erhielt Grossbritannien das Mandat des Völkerbundes für Palästina, Jordanien, Iran, Irak; Frankreich erhielt das Mandat für Syrien und Libanon und trat die Kontrolle über Mossul (mit seinen reichen Ölquellen) gegen englische Zugeständnisse in Elsass-Lothringen und Syrien ab.

Von da an waren Deutschland als geschlagenes Land und Russland nach der Oktoberrevolution 1917 für eine lange Zeit auf der imperialistischen Bühne im Nahen Osten nicht mehr präsent. Die Zahl der Widersacher in der Gegend sank beträchtlich. Grossbritannien und Frankreich wurden die herrschenden Kräfte, wobei Grossbritannien klar die stärkste Stellung innehielt. Die bestimmenden Kräfte waren während des Krieges und bis in die 30er-Jahre europäisch, die USA spielten noch keine bedeutende Rolle.

Um sein Kolonialreich zu verteidigen, das von anderen Mächten untergraben wurde, musste Grossbritannien ein besonderes Augenmerk auf die strategisch hoch bedeutende Region von Palästina legen. Palästina bedeutete für Grossbritannien die Verbindung zwischen dem Suez-Kanal und dem zukünftigen britischen Mesopotamien. Keiner anderen Macht, weder einer europäischen noch einer arabischen, sollte es erlaubt werden, einen Keil zwischen Mesopotamien und den Suez-Kanal zu treiben. 1916 erklärte Grossbritannien die Kontrolle über Palästina zum ausschliesslichen Ziel seiner Politik.

Bis zum Ersten Weltkrieg, solange das osmanische Reich Bestand hatte, wurde Palästina stets als Teil Syriens angesehen. Aber mit dem Mandat Grossbritanniens für Palästina hatten die imperialistischen Mächte eine neue „Einheit“ geschaffen. Wie alle im Laufe der Dekadenz des Kapitalismus neu geschaffenen „Einheiten“ war auch sie dazu bestimmt, zum permanenten Schauplatz von Konflikten und Kriegen zu werden.

Die lokalen palästinensischen Herrscher waren noch schwächer als die anderen arabischen Herrscher. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit verfügten sie weder über eine industrielle Basis noch über Finanzkapital, sie hatten keinerlei wirtschaftliches Potenzial und konnten sich nur auf militärische Mittel stützen, um ihre Interessen zu verteidigen.

1919 wurde der erste palästinensische Nationalkongress einberufen und Amin al-Hussein wurde zum Mufti von Jerusalem ernannt. Die palästinensischen Nationalisten nahmen Kontakt mit Frankreich auf, um die englische Herrschaft in Palästina ins Wanken zu bringen. Mit der Hilfe Syriens und der französischen Besatzungstruppen in Syrien wurde ein militärischer Aufstand gegen die Briten organisiert, der indes von der britischen Armee schnell niedergeschlagen wurde.

Gleichzeitig wurden die palästinensischen Herrscher, die ihre Unabhängigkeit in einer Welt beanspruchten, die keinen Raum für einen neuen Nationalstaat bot, mit einem neuen, vom Ausland kommenden „Widersacher“ konfrontiert.

Nach der Balfour-Erklärung von Grossbritannien im November 1917, die Unterstützung bei der Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina versprach, nahm die Zahl der jüdischen Einwanderer beständig zu. Die Zionisten begannen einen blutigen Überlebenskampf gegen die palästinensischen Herrscher.

Grossbritannien nutzte die jüdischen Siedler an zwei Fronten. Nachdem es während des Krieges im Kampf gegen den türkischen Rivalen das „Zion Mule Corps“ seiner Armee angegliedert hatte, benutzte Grossbritannien nun die jüdischen Nationalisten gleichzeitig gegen seinen Hauptgegner Frankreich und gegen die arabischen Nationalisten. So stiftete Grossbritannien die Zionisten dazu an, vor dem Völkerbund zu erklären, dass die Juden in Palästina weder französischen noch internationalen, sondern nur britischen Schutz wünschten.

Obwohl in Rivalität miteinander verbunden, handelten Frankreich und Grossbritannien resolut und gemeinsam gegen lokale arabische Nationalisten, sobald sich deren Ruf nach nationaler Unabhängigkeit erhob. So setzten sie nun militärische Mittel ein, um ihre Unabhängigkeitsansprüche der arabischen Nationalisten zu unterdrücken, nachdem sie sich noch während des 1. Weltkrieges gegen die Türken ihrer bedient hatten. Kaum hatte Scheich Feisal im Oktober 1918 in Damaskus ein „unabhängiges arabisches Reich“ proklamiert, das Palästina umfassen sollte, unterwarfen ihn im Juli 1920 französische Truppen – wobei sie Bombenflugzeuge gegen die arabischen Nationalisten einsetzten.

Im März 1918 fanden in Ägypten eine Reihe von Protesten von ägyptischen Nationalisten, Arbeitern und Bauern statt, die soziale Reformen forderten. Sie wurden von der britischen und ägyptischen Armee gemeinsam niedergeworfen, wobei mehr als 3.000 Ägypter getötet wurden. Auch 1920 wurde eine Protestbewegung im irakischen Mossul von Grossbritannien niedergeschlagen.

Die lokale Bourgeoisie hatte in keinem der arabischen Länder oder Protektorate die Mittel, unabhängige, vom kolonialen Zugriff und den „Schutzmächten“ befreite Staaten zu errichten.

Die Forderung nach nationaler Befreiung war nichts anderes als eine reaktionäre Forderung. Während Marx und Engels einige nationalistische Bewegungen unter der einzigen Bedingung unterstützt hatten, dass die Bildung der Nationalstaaten das Wachstum und die Verstärkung der Arbeiterklasse beschleunigen würde, damit Letztere als Totengräber des Kapitalismus handeln konnte, zeigten die Entwicklungen im Nahen Osten dagegen, dass es keinen Raum für die Bildung einer neuen arabischen oder palästinensischen Nation gab. Nachdem der Kapitalismus in die Phase seines Niederganges eingetreten war, konnten – wie auch überall sonst auf der Welt – keine nationale Fraktion des Kapitals eine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Unfähig, neue kapitalistische Absatzmärkte zu erobern, konnten die Widersacher nur militärisch reagieren: Die Kolonialmächte verhinderten im Nahen Osten die Bildung einer neuen arabischen Nation, und die lokalen arabischen Bourgeoisien widersetzten sich den Versuchen, einen neuen palästinensischen Nationalstaat zu errichten.

Um die Situation im Nahen Osten nach dem Niedergang des osmanischen Reiches und dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenzufassen, möchten wir folgende Punkte hervorheben:

– Die beiden europäischen Mächte Frankreich und Grossbritannien, die in Rivalität zueinander standen und ihre „Protégés“ gewählt hatten, beherrschten die Region.

– Deutschland und Russland mit ihren starken imperialistischen Ambitionen in der Region wurden zurückgedrängt.

– Die arabische Bourgeoisie war nicht in der Lage, einen lebensfähigen panarabischen Nationalstaat zu schaffen.

– Die neu geschaffene Einheit, das Protektorat Palästina, mit einer verkrüppelten, rückständigen herrschenden Klasse Palästinas an der Spitze, geriet in Konflikt mit einer „Schutz“macht (Grossbritannien), die dazu nicht in der Lage war, und mit dem neuen zionistischen Rivalen, der von aussen einsickerte.

Die arabische Bourgeoisie, die mit den Kolonialmächten aneinander geriet, die sie daran hindern wollten, einen neuen, lebensfähigen Staat zu bilden, widersetzte sich ihrerseits der Bildung einer neuen palästinensischen „Einheit“.

Die USA, Hauptnutzniesser des Ersten Weltkrieges, waren noch nicht bereit. Im Zentrum der imperialistischen Rivalitäten stand nicht die Eroberung von bestimmten Rohstoffen, sondern die Eroberung strategischer Positionen.

Wir sehen, dass die Situation im Nahen Osten die von Rosa Luxemburg während des Ersten Weltkrieges entwickelte Analyse voll und ganz bestätigte: „Der Nationalstaat, die nationale Unabhängigkeit und Einheit, das war das ideologische Banner, unter dem sich im letzten Jahrhundert die grossen bürgerlichen Staaten Zentraleuropas bildeten. Der Kapitalismus ist nicht vereinbar mit dem Partikularismus der Kleinstaaten, mit einem politischen und wirtschaftlichen Zerbröckeln; er braucht ein grösstmögliches zusammenhängendes Gebiet mit einem einheitlichen Zivilisationsniveau, um sich auszubreiten; ohne diese Voraussetzung könnte man weder die gesellschaftlichen Bedürfnisse auf die von der kapitalistischen Warenproduktion erzielte Ebene heben, noch würde der Mechanismus der modernen bürgerlichen Herrschaft funktionieren. Vor ihrer Ausbreitung über die ganze Erdkugel hat die kapitalistische Wirtschaftsweise versucht, sich ein zusammenhängendes Gebiet in den nationalen Grenzen eines Staates zu schaffen (…) Die nationale Phrase dient heute nur dazu, mehr schlecht als recht imperialistische Ansprüche zu maskieren, wenn sie nicht als Kriegsruf in den imperialistischen Konflikten verwendet wird, als einziges und letztes ideologisches Mittel, um die Zustimmung der Volksmassen zu fangen und sie die Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen spielen zu lassen.“[8]

DE

Fußnoten:

1. Friedrich Engels, Angriff“, in: MEW Bd. 14, S. 68

2. 1900 betrug der Erdölverbrauch etwa 20 Millionen Tonnen und diese Nachfrage wurde durch die amerikanischen und russischen Quellen abgedeckt (Hauptförderregion war der Golf von Mexiko). Die verschärfte Militarisierung und die Ablösung der Kohle durch Öl in der Industrie und als Treibstoff für Lokomotiven erhöhten die Nachfrage stark. Zwischen 1900 und 1910 hat sich die Erdölproduktion mehr als verdoppelt und erreichte 43.8 Millionen Tonnen. Die Erfindung des Dieselmotors für den Lokomotivantrieb und die Dampfschiffe schufen die technische Grundlage, aber erst die Erfordernisse einer militarisierten Wirtschaft führten zur Verdoppelung der Rohölproduktion. Vor dem I. Weltkrieg spielte der Nahe Osten lediglich eine zweitrangige Rolle in der Erdölversorgung des Weltmarktes. Erst nach dem I. Weltkrieg stieg die Ölförderung im Nahen Osten beträchtlich an.

3. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

4. Der deutsche Imperialismus schwankte zwischen der Unterstützung für die Türkei und für die nationalistischen jüdischen Siedler. Wenn die Zionisten mit deutscher Unterstützung eine jüdische Heimstatt in Palästina eingerichtet hätten, hätte dies einen Konflikt mit dem osmanischen Reich hervorgerufen. Doch Deutschland wollte es nicht riskieren, seine Verbindung mit der Türkei zu lösen, weil diese sein wichtigster Verbündeter im weltweiten Machtkampf mit Grossbritannien war.

5. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff. Rosa Luxemburg war eine der Ersten, die die historischen Folgen der neuen Bedingungen, die der Anfang der Dekadenz mit sich brachte, erfasste. Schon in ihrem Buch über Die wirtschaftliche Entwicklung Polens 1898 zeigte sie, dass die Kommunisten die Bildung eines polnischen Staates nicht mehr unterstützen konnten. In dem Text Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie 1896 und in Die nationale Frage und die Autonomie 1908 zeigte sie den historischen Wandel auf, der zwischen dem Aufstieg und dem Niedergang eingetreten war und jede Unterstützung für die Türkei verunmöglichte.

6. Rohrbach schrieb in seinem Buch Die Bagdadbahn“: „Grossbritannien kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: von Ägypten (…) Die Türkei kann aber nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, dass sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt. Die Bagdadbahn war von Anfang an dazu bestimmt, Konstantinopel und die militärischen Kerngebiete des türkischen Reiches in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen. Natürlich war in diesem Plan das Projekt inbegriffen, türkische Truppen nach Ägypten zu transportieren.“ (Paul Rohrbach, zitiert nach Rosa Luxemburg, in: Der Krieg und die deutsche Politik).

7. Obwohl der Nahe Osten ein Nebenkriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges war, liessen von den 20 Millionen Opfern etwa 350.000 aus dem Nahen Osten ihr Leben in diesem Krieg. Die türkische und alliierte Seeblockade der arabischen Häfen sowie Epidemien und Hungersnöte erforderten zahlreiche Tote. 30 Prozent der ägyptischen Männer wurden von der britischen und australischen Armee eingezogen, um als Handlanger zu dienen.

8. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

Geographisch: 

  • Naher Osten [14]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [15]

Resolution über die Entwicklung des Klassenkampfes

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Auf seiner Plenarsitzung im Herbst 2003 hat das Zentralorgan der IKS hervorgehoben, dass ein Wendepunkt in der Entwicklung des Klassenkampfes eingetreten ist:

„Die breiten Mobilisierungen vom Frühling 2003 in Frankreich und in Österreich stellen in den Klassenkämpfen seit 1989 einen Wendepunkt dar. Sie sind ein erster wichtiger Schritt in der Wiederaneignung der Kampfbereitschaft der Arbeiter nach der längsten Rückflussperiode seit 1968.“ Aber dieser Bericht, der auf dieser Plenarsitzung verabschiedet wurde, stellte fest: “Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene befindet sich die Kampfbereitschaft (...) noch im embryonalen Stadium und ist noch sehr heterogen.“ Und er fuhr fort mit der Feststellung: „Auf viel allgemeinerer Ebene muss man in der Lage sein, zwischen einer Situation zu unterscheiden, in der man eines Morgens aufwacht und die Welt ist nicht mehr dieselbe wie am Vortag, und Änderungen, die von der Allgemeinheit beinahe unbemerkt vor sich gehen wie beispielsweise der Gezeitenwechsel. Die gegenwärtige Entwicklung gehört unbestreitbar letzterer an. In diesem Sinn bedeuten die Mobilisierungen vor Kurzem gegen die Angriffe auf das Rentenwesen in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation ...“

Acht Monate nach der Verabschiedung dieser Perspektiven durch unsere Organisation ist es notwendig, sich zu fragen, inwieweit sie sich bewahrheitet haben. Das ist das Ziel der vorliegenden Resolution.

1) Was sich zweifellos bestätigt hat, ist, dass es „in keiner Weise eine unmittelbare und spektakuläre Anpassung der Situation“ gegeben hat, denn seit den Kämpfen im Frühjahr 2003 in verschiedenen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich, gab es keine massive oder bemerkenswerte Bewegung im Klassenkampf. Auf dieser Grundlage gibt es kein entscheidendes Element, das es erlauben würde, die Idee zu bestätigen, wonach die Kämpfe des Jahres 2003 tatsächlich einen Wendepunkt in der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen darstellen. Insofern kann die Überzeugung, dass unsere Analyse richtig ist, nicht auf der Beobachtung der Situation der Arbeiterkämpfe im Laufe des letzten Jahres beruhen, sondern muss auf der Untersuchung aller Elemente der historischen Situation fussen, die die gegenwärtige Phase des Klassenkampfs kennzeichnen. Eine solche Untersuchung beruht darauf, dass man sich den Rahmen der Analyse vergegenwärtigt, den wir uns für die gegenwärtige historische Periode gegeben haben.

2) Im Rahmen dieser Resolution können wir notgedrungen nur in zusammengefasster Form die für die Lage des Klassenkampfes wesentlichen Elemente darlegen:

– Insgesamt ist die Weltlage seit dem Ende der 1960er-Jahre durch das Ende der Konterrevolution gekennzeichnet, die im Laufe der 1920er-Jahre auf das Proletariat niedergegangen war. Das historische Wiederaufflammen der Kämpfe, das insbesondere durch den Generalstreik im Mai 1968 in Frankreich, den „heissen Herbst“ von 1969 in Italien, den „Cordobazo“ in Argentinien im gleichen Jahr, die Streiks im Winter 1970–71 in Polen usw. gekennzeichnet war, eröffnete den Kurs in Richtung Klassenauseinandersetzungen: Trotz der Verschärfung der Wirtschaftskrise war die Bourgeoisie nicht imstande. ihre „traditionelle“ Antwort zu geben, d.h. einen Weltkrieg auszulösen, da die ausgebeutete Klasse aufgehört hatte, unter den Fahnen ihrer Ausbeuter zu marschieren.

– Dieser historische Kurs hin zu Klassenkonfrontationen, und nicht Richtung Weltkrieg, hat sich insofern gehalten, als das Proletariat weder eine direkte noch eine tiefe ideologische Niederlage erlitten hat, die es für die Sache der Bourgeoisie, z.B. für die Demokratie oder den Antifaschismus, mobilisiert hätte.

– Aber diese historische Wiederaufnahme der Kämpfe ist insbesondere während der 1980er-Jahre auf eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gestossen, die einerseits durch die von der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse inszenierten Manöver, andererseits aber auch durch den organischen Bruch verursacht wurden, den die kommunistische Avantgarde aufgrund der Konterrevolution erlitt (keine bzw. verspätete Entstehung der Klassenpartei, mangelnde Politisierung der Kämpfe). Einer der wachsenden Faktoren bei den Schwierigkeiten, die die Arbeiterklasse betreffen, ist die Zuspitzung des Zerfalls der todkranken kapitalistischen Gesellschaft.

– Gerade der spektakulärste Ausdruck dieses Zerfalls, nämlich der Zusammenbruch der so genannten „sozialistischen“ Regimes und des Ostblocks Ende der 1980er-Jahre, markierte den Beginn eines bedeutenden Rückgangs des Bewusstseins in der ganzen Klasse aufgrund des Einflusses der dadurch ermöglichten Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“.

– Dieser Rückzug der Klasse wurde Anfang der 1990er-Jahre noch durch eine ganze Reihe von Ereignissen vertieft, die das Gefühl der Machtlosigkeit der Arbeiterklasse auf die Spitze trieben:

– die Krise und der Krieg am Persischen Golf 1990–91;

– der Krieg in Jugoslawien seit 1991;

– die zahlreichen anderen Kriege und Massaker in vielen anderen Gegenden der Welt (Kosovo, Ruanda, Timor, etc.), die meist mit Beteiligung der Grossmächte unter der Losung der „humanitären Prinzipien“ stattfanden.

– Der massive Einsatz humanitärer Themen(wie zum Beispiel 1999 im Kosovo), bei denen die grausamsten Ausdrücke des Zerfalls (wie „die ethnische Säuberung“) ausgenutzt wurden, stellte einen zusätzlichen Faktor der Verunsicherung der Arbeiterklasse dar, insbesondere in den fortgeschrittenen Ländern, wo die Klasse aufgefordert wurde, ihren Regierungen für die militärischen Abenteuer Beifall zu spenden.

– Die Anschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten haben es der Bourgeoisie der fortgeschrittenen Länder erlaubt, eine weitere Ladung an Mystifikationen über das Thema der „terroristischen Bedrohung“, des „notwendigen Kampfes“ gegen diese Bedrohung zu verbreiten – eine Mystifikation, die es insbesondere ermöglichte, den Krieg in Afghanistan Ende 2001 und den Krieg im Irak von 2003 zu rechtfertigen.

– Abgesehen davon erhielt die Wirtschaftskrise, deren unvermeidliche Verschärfung nach 1989 eine Arznei gegen das Gift der Kampagnen über den „Bankrott des Kommunismus“ und die „Überlegenheit des liberalen Kapitalismus“ hätte sein können, im Laufe der 1990er-Jahre einen Aufschub (der sich in einem gewissen Rückgang der Arbeitslosigkeit niederschlug); so hielten sich die Illusionen, die durch diese Kampagnen geschaffen wurden, während dieser Jahre auch mit der Unterstützung der Propaganda über die „Erfolgsgeschichten“ der asiatischen „Drachen“ und „Tiger“ und über die „Revolution der neuen Technologien“.

– Schliesslich zogen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in den meisten Ländern linke Parteien in die Regierungen ein, was einerseits durch den Rückgang des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, andererseits durch die relative Beruhigung der Wirtschaftskrise ermöglicht wurde; dieser Einzug der Linken in die Regierung erlaubte es der herrschenden Klasse (und dies war das Hauptziel dieser Politik), eine Reihe von wirtschaftlichen Angriffen gegen die Arbeiterklasse zu richten, ohne dabei grössere Mobilisierungen derselben zu riskieren; solche Mobilisierungen sind eine der Bedingungen dafür, dass die Klasse das Selbstvertrauen zurückgewinnen kann.

3) Erst auf der Grundlage dieser Elemente in ihrer Gesamtheit kann man feststellen, dass es wirklich einen Wendepunkt im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen gibt. Man kann sich einen ersten Begriff davon machen, wenn man die unterschiedliche Situation während zweier Momente in einem derjenigen Länder vergleicht, die seit 1968 (aber auch schon während dem 19. Jahrhundert) so etwas wie ein „Labor“ des Klassenkampfes und der dagegen gerichteten Manöver der Bourgeoisie dargestellt haben: in Frankreich. Die beiden wichtigsten Momente waren einerseits die Kämpfe im Herbst 1995 insbesondere im Transportsektor gegen den „Juppé-Plan“ zur Reform der Sozialversicherung und andererseits die Streiks im Frühjahr 2003 im öffentlichen Dienst gegen die Rentenreform, die in diesem Bereich eine Erhöhung des Rentenalters und eine Rentenkürzung bedeutete.

Wie die IKS schon seinerzeit unterstrich, waren die Kämpfe von 1995 die Fortsetzung eines Manövers, das von den verschiedenen Teilen der Bourgeoisie ausgearbeitet worden war und ganz grundsätzlich darauf abzielte, den Ruf der Gewerkschaften in einer Zeit aufzuwerten, wo die wirtschaftliche Lage nicht unmittelbar zu heftigen Angriffen zwang, damit die Gewerkschaften in Zukunft die Kämpfe des Proletariats wirksamer kanalisieren und sabotieren können.

Demgegenüber waren die Streiks im Frühling 2003 die Reaktion auf einen massiven Angriff auf die Arbeiterklasse, der für die Bourgeoisie notwendig geworden war, um der kapitalistischen Krise entgegenzutreten. In diesen Kämpfen zielte die Intervention der Gewerkschaften nicht darauf ab, ihr Image aufzupolieren, sondern die Bewegung so stark wie möglich zu sabotieren und sicherzustellen, dass der Kampf in einer schmerzhaften Niederlage endete.

Trotz dieser Unterschiede gab es auch Merkmale, die den beiden Episoden des Klassenkampfes gemeinsam waren: Der Hauptangriff, der alle Branchen oder mindestens grosse Sektoren der Arbeiterklasse traf (1995 der „Juppé-Plan“ zur Reform der Sozialversicherung, 2003 die Rentenreform im öffentlichen Dienst), wurde von einem spezifischen Angriff auf einen bestimmten Sektor begleitet (1995 die Reform der Altersrenten der Eisenbahner, 2003 die „Dezentralisierung“ eines Teils des Personals im Unterrichtswesen). Diese spezifisch angegriffenen Sektoren traten aufgrund ihrer gesteigerten und breiteren Kampfbereitschaft als Speerspitze der Bewegung auf. Nach einigen Streikwochen wurden diesen spezifischen Sektoren „Zugeständnisse“ gemacht, die die betroffenen Sektoren dazu bewegten, die Arbeit wieder aufzunehmen, was schliesslich einen allgemeinen Streikabbruch begünstigte, da ja die „Avantgarde“ selbst den Kampf aufgegeben hatte. Im Dezember 1995 führte die Rücknahme der Reform der Altersrenten der Eisenbahner zum Abbruch der Bewegung; 2003 trug der „Rückzug“ der Regierung bei den „Dezentralisierungs“-Massnahmen gegenüber bestimmten Teilen des Personals des Erziehungswesens zur Wiederaufnahme der Arbeit im Ausbildungssektor bei.

Doch traf die Wiederaufnahme der Arbeit in den beiden Episoden beileibe nicht auf die gleiche Stimmung:

– Im Dezember 1995 herrschte ein „Siegesgefühl“ vor, obgleich die Regierung am „Juppé-Plan“ festhielt (der zudem die Unterstützung einer der wichtigsten Gewerkschaften, der CFDT, erhalten hatte). Wenigstens in einem Punkt, bei den Altersrenten der Eisenbahner, musste die Regierung schlicht und einfach ihren Plan aufgeben;

– Ende Frühjahr 2003 hingegen wurden die wenigen Zugeständnisse, die hinsichtlich des Status bestimmter Kategorien des Personals im Unterrichtswesen gemacht wurden, keineswegs als Sieg empfunden (dies um so weniger, als die Hauptmasse, die Lehrer, von den Massnahmen und somit auch von deren Rücknahme überhaupt nicht betroffen waren), sondern als Ernüchterung angesichts der Tatsache, dass die Regierung nur gerade so viel nachgeben wollte; und das Gefühl der Niederlage wurde zusätzlich durch die Ankündigung der Behörden verstärkt, dass die Streiktage im Gegensatz zum bisherigen Brauch im öffentlichen Dienst vollumfänglich vom Lohn abgezogen sollten.

Wenn man versucht, eine Gesamtbilanz über diese beiden Episoden des Klassenkampfes zu ziehen, kann man die folgenden Punkte hervheben:

– 1995 begünstigt das in der Arbeiterklasse weitverbreitete Gefühl des Sieges die Erneuerung der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften merklich. (Dieses Phänomen betrifft nicht allein Frankreich, sondern die meisten europäischen Länder, hauptsächlich Belgien und Deutschland, wo man ähnliche bürgerliche Manöver wie jenes in Frankreich erleben konnte. Wir haben in der Presse darauf hingewiesen.)

– 2003 führt das starke Gefühl der Niederlage in den Frühlingstreiks (in Frankreich, aber ebenso in anderen Ländern wie in Österreich) zu keiner grösseren Diskreditierung der Gewerkschaften, denen es gelungen war, eine Entlarvung zu vermeiden, und die in gewissen Fällen sogar als „kämpferischer als die Basis“ erschienen. Dennoch kündigt dieses Gefühl der Niederlage den Beginn eines Prozesses an, in dem die Gewerkschaften Federn lassen müssen, in dem die Vervielfachung ihrer Manöver es erlauben wird aufzuzeigen, dass unter ihrer Führung der Kampf immer in einer Niederlage enden wird und dass ihr Spiel genau darauf abzielt.

In diesem Sinn sind die Perspektiven für die Entwicklung der Kämpfe und des Bewusstseins des Proletariats nach 2003 viel besser als nach 1995, und zwar aus folgenden Gründen:

– Das Schlimmste für die Arbeiterklasse ist nicht eine offene Niederlage, sondern das Gefühl eines Scheinsieges nach einer reellen Niederlage. Das Gefühl eines solchen „Sieges“ (gegen den Faschismus und für die Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes“) bildete das wirksamste Mittel, um das Proletariat während vier Jahrzehnten Mitte des 20. Jahrhunderts in die Konterrevolution zu versenken.

– Die Gewerkschaften als Hauptkontrollinstrument der Arbeiterklasse und als Sabotagemittel ihrer Kämpfe sind in eine Schwächephase geraten.

4) Auch wenn man die Existenz eines Wendepunktes in den Kämpfen und im Bewusstsein der Arbeiterklasse empirisch durch die einfache Überprüfung der Unterschiede zwischen der Situation 2003 und 1995 feststellen kann, stellt sich dennoch die Frage, weshalb dieser Wendepunkt jetzt eintritt und nicht beispielsweise schon vor fünf Jahren eingetreten ist.

Darauf kann man zunächst eine einfache Antwort geben: Es sind die gleichen Gründe, die dafür verantwortlichen sind, dass die Antiglobalisierungsbewegung vor knapp fünf Jahren entstanden war und heute bereits zu einer wahrhaften Institution geworden ist, deren Kundgebungen Hunderttausende mobilisieren und die Aufmerksamkeit aller Medien auf sich ziehen.

Konkreter und präziser kann man als Antwort folgende Elemente benennen:

– Nach der enormen Auswirkung der Kampagne über den „Tod des Kommunismus“ seit Ende der 80er-Jahre musste eine gewisse Zeit, eigentlich ein ganzes Jahrzehnt, vergehen, bis sich der Nebel, die Verwirrung aufgrund dieser Kampagnen verflüchtigte, der Einfluss ihrer „Argumente“ nachliess. Diese Kampagnen waren um so erfolgreicher, als der innere Zusammenbruch dieser Regimes, die sich selbst über ein halbes Jahrhundert hinweg als „sozialistisch“, „proletarisch“ und „antikapitalistisch“ präsentiert haben (und auch so dargestellt wurden), ein enorm wichtiges Ereignis war. Das Weltproletariat benötigte vierzig Jahre, um aus der Konterrevolution herauszufinden, es wird ein gutes Viertel dieser Zeit benötigen, um sich von den Schlägen durch den Tod der Speerspitze eben dieser Konterrevolution, des Stalinismus, zu erholen, dessen „stinkender Kadaver noch immer die Umwelt vergiftet“ (wie wir bereits 1989 geschrieben haben).

– Vor allem die von Bush senior verkündete Idee, dass der Zusammenbruch der „sozialistischen“ Regimes und des Ostblocks die Errichtung einer neuen Weltordnung erlauben würde, musste erst vollständig ad absurdum geführt werden. Dies begann bereits auf brutale Weise mit der Golfkrise und dem anschliessenden Krieg 1990/91, setzte sich dann mit dem Krieg in Jugoslawien fort, der mit der Offensive im Kosovo bis 1999 dauerte. Darauf folgten die Attentate vom 11. September und jetzt der Krieg im Irak, während sich die Situation in Israel-Palästina unaufhörlich verschlechtert. Tagtäglich wird offensichtlicher, dass die herrschende Klasse nicht mehr in der Lage ist, sowohl ihren eigenen imperialistischen Zusammenstössen als auch dem globalen Chaos und der Wirtschaftskrise ein Ende zu bereiten.

– Gerade die letzte Periode und insbesondere der Beginn des 21. Jahrhunderts haben nach den Illusionen der 90er-Jahre über den „Aufschwung“, die „Drachenstaaten“ und die „Revolution der neuen Technologien„ wieder die Wirtschaftskrise des Kapitalismus auf die Tagesordnung gesetzt. Gleichzeitig hat dieser neue Schritt in die Krise die herrschende Klasse zur Intensivierung der ökonomischen Angriffe gegen die Arbeiterklasse, zur Generalisierung der Attacken gezwungen.

– Indessen haben die Gewalt und der immer systematischere Charakter der Angriffe gegen die Arbeiterklasse bisher zu keiner massiven oder spektakulären Antwort geführt. Nicht einmal eine Antwort im Ausmass vergleichbar zu 2003 ist erzielt worden. Weshalb also hat sich - in anderen Worten – der „Wendepunkt“ 2003 nicht in der Form einer ansteigenden Kurve oder in Gestalt einer Explosion von Kämpfen manifestiert (wie beispielsweise 1968 und in den folgenden Jahren)?

5) Auf diese Frage muss man auf verschiedenen Ebenen antworten.

An erster Stelle hat sich, wie wir bereits aufgezeigt haben, der historische Wiederaufschwung der Arbeiterklasse sehr langsam vollzogen: So lagen zwischen den ersten grossen Ereignissen dieses historischen Wiederaufschwungs, nämlich dem Generalstreik im Mai 1968 in Frankreich, und seinem Kulminationspunkt, den Streiks im Sommer 1980 in Polen, mehr als 12 Jahre. Ebenso vergingen zwischen dem Fall der Mauer in Berlin im November 1989 und den Streiks vom Frühling 2003 dreizehneinhalb Jahre, d.h. mehr als zwischen dem Beginn der ersten Revolution in Russland im Januar 1905 und der Oktoberrevolution 1917.

Die IKS hat bereits die Ursachen dieser Langsamkeit analysiert, mit der diese Entwicklung im Vergleich mit derjenigen vor der Revolution 1917 vor sich ging: Heute geht der Klassenkampf von der Wirtschaftskrise des Kapitalismus aus und nicht vom imperialistischen Krieg. Die Bourgeoisie ist in der Lage – das hat sie immer wieder bewiesen – den Rhythmus dieser Krise zu verlangsamen.

Die IKS hat auch andere Faktoren aufgezeigt, die für das langsame Entwicklungstempo der Kämpfe und des Bewusstseins des Proletariats verantwortlich sind. Es handelt sich um Faktoren im Zusammenhang mit dem durch die Konterrevolution verursachten organischen Bruch (weshalb auch die Bildung der Partei in Verspätung begriffen ist) und um den Zerfall des Kapitalismus, insbesondere die Tendenzen zur Hoffnungslosigkeit, zum Eskapismus und zum Rückzug, die alle das Proletariat betreffen.

Um die Langsamkeit dieses Prozesses zu verstehen, muss man übrigens auch die Auswirkungen der Krise selbst in Rechnung stellen: Sie äussert sich durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit, die einen wichtigen Lähmungsfaktor für die Arbeiterklasse darstellt. Das ist insbesondere bei den neuen Generationen der Fall, die zwar traditionellerweise die kämpferischste ist, die aber heute oft in die Arbeitslosigkeit gestürzt wird, bevor sie überhaupt die Erfahrung der assoziierten Arbeit und der Solidarität unter den Arbeitern hat machen können. Heute werden immer mehr Massenentlassungen vorgenommen, die eine Explosivkraft enthalten, auch wenn sie sich in den Fällen von Unternehmungsschliessungen nur schwer in der klassischen Form des Streiks ausdrücken kann, der in solchen Fällen unwirksam wäre. Aber während heute die Arbeitslosigkeit ansteigt, weil Pensionierte üblicherweise ganz einfach nicht mehr ersetzt werden, sind Arbeiter, die erst gar keine Stelle finden, oft orientierungslos.

Die IKS hat des öfteren darauf hingewiesen, dass der unausweichliche Anstieg der Arbeitslosigkeit eines der beweiskräftigsten Elemente des definitiven Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise darstellt, denn die wichtigste historische Funktion dieser Produktionsweise

war die weltweite und massive Ausbreitung der Lohnarbeit. Auf unmittelbarer Ebene aber ist die Arbeitslosigkeit hauptsächlich ein Faktor

der Demoralisierung der Arbeiterklasse und der

Lähmung ihrer Kämpfe. Erst in einer fortgeschritteneren Etappe der Klassenbewegung kann der subversive Charakter dieses Phänomens ein Entwicklungsfaktor des Kampfes und des Bewusstseins werden. Das wird der Fall sein, wenn sich die Perspektive der Überwindung des Kapitalismus wieder in den Reihen der Arbeiterklasse verbreitet, wenn auch noch nicht auf massive, so zumindest auf bedeutsame Weise.

6) Gerade hier liegt ein Grund für den langsamen Entwicklungsrhythmus der Arbeiterkämpfe heute, für die relativ schwache Antwort der Arbeiter auf die zunehmenden Angriffe des Kapitalismus: Es existiert heute ein noch sehr konfuses Gefühl – das in Zukunft aber noch entwicklungsfähig ist – dass es für die Widersprüche des Kapitalismus heute keine Lösung gibt, sei es auf wirtschaftlicher Ebene oder auf den anderen Ebenen seiner historischen Krise wie die permanenten kriegerischen Zusammenstösse, das zunehmende Chaos und die Barbarei, die jeden Tag klarer ihren unüberwindbaren Charakter aufzeigen.

Das Zurückschrecken des Proletariats vor der Ungeheuerlichkeit seiner Aufgaben haben bereits Marx und der Marxismus Mitte des 19. Jahrhunderts aufgezeigt.[1] Dieses Phänomen erklärt teilweise das Paradoxon der gegenwärtigen Situation: Einerseits haben die Kämpfe Mühe, sich trotz des Ausmasses der gegenwärtigen Angriffe gegen die Arbeiterklasse auszubreiten; andererseits sieht man in der Klasse bereits die Entwicklung einer tiefgreifenden Reflexion, obwohl sie gegenwärtig noch weitgehend unterirdisch stattfindet, wovon ein Ausdruck, der sich hartnäckig hält, das Auftauchen einer ganzen Reihe von Elementen und Grup

Fußnoten:

1. s. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, S. 111ff.

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [12]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [13]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/79/internationale-revue-34

Links
[1] http://www.ibrp.org [2] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/sud-und-mittelamerika [3] https://de.internationalism.org/tag/2/40/das-klassenbewusstsein [4] http://www.sinistra.net/komintern/dok/1krichtkid.html [5] https://de.internationalism.org/tag/3/54/zerfall [6] https://de.internationalism.org/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus [7] https://membres.lycos.fr/rgood/formprod.htm [8] https://users.skynet.be/ippi/4discus1tex.htm [9] https://members.lycos.fr/resdint [10] https://membres.lycos.fr/ [11] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke [12] https://de.internationalism.org/tag/3/42/historischer-kurs [13] https://de.internationalism.org/tag/2/29/proletarischer-kampf [14] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/naher-osten [15] https://de.internationalism.org/tag/3/43/imperialismus