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Internationale Revue 25

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100 Ausgaben der International Review

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Der folgende Artikel erschien in der hundertsten Ausgabe derInternational Review (engl./frz./

span. Ausgabe). Obwohl die Internationale Revue in deutscherSprache bis jetzt noch nicht so häufig erscheint, wie die vierteljährlicheenglische, französische und spanische Ausgabe, sind die Aussagen über dieBedeutung der Revue auch im deutschen Sprachraum gültig. Darüber hinaus gibtder Artikel gerade für diejenigen, die nicht regelmäßig die vierteljährlicheRevue lesen oder dies erst seit kurzem tun, einen guten Überblick über dieArtikel und Serien, die schon vor längerer Zeit publiziert wurden und teilweisebis jetzt auf Deutsch nicht zu lesen waren.

Die eher beiläufige Tatsache, dass die hundertste Ausgabeder International Review (eng./

franz./span. Ausgabe[i] [1])mit dem Beginn des Jahres 2000 zusammenfällt, ist nicht rein zufällig. Die IKSwar früh im Jahr 1975 offiziell gegründet worden, und die erste Ausgabe derReview erschien kurz darauf als ein Ausdruck der internationalen Einheit derStrömung. Von Beginn an war sie als theoretisches Organ gedacht, dasvierteljährlich in den drei Hauptsprachen der IKS – Englisch, Französisch undSpanisch – und weniger häufig in einer Anzahl weiterer Sprachen – Italienisch,Deutsch, Holländisch, Schwedisch – erschien. Vier Ausgaben im Jahr mal 25 Jahreergeben 100 Ausgaben. Dies ist an sich schon von einiger politischer Tragweite.In dem Artikel, den wir anlässlich des 20. Geburtstages der IKS veröffentlichthaben (International Review Nr. 80), bemerkten wir, dass nur wenigeinternationale proletarische Organisationen über so lange Zeit existiert haben.Und diese „Dauer“ muss angesichts einer Periode, in der so viele Gruppen, dieaus der Wiederbelebung des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre entstanden waren,sich seitdem im Nichts aufgelöst haben, als eine besondere Leistung gewürdigtwerden. Wir haben keinen Hehl aus unserer Zustimmung zu Lenins Sichtweisegemacht, dass die Verpflichtung zu einer regelmäßigen Presse das sine qua noneiner ernsthaften revolutionären Organisation ist; dass die Presse für jedeGruppe, die vom Parteigeist und nicht vom Zirkelgeist beseelt ist, derHaupt„organisator“ ist. Die International Review ist nicht die einzigeregelmäßige Publikation der IKS; letztere veröffentlicht 12 territorialeZeitungen oder Revuen in sieben verschiedenen Sprachen, desgleichen Bücher,Broschüren und viele Beilagen. Auch die territorialen Zeitungen erscheinenbeständig und regelmäßig. Die Review ist jedoch unsere zentrale Publikation,das Organ, durch das die IKS klar und deutlich und mit einer Stimme spricht unddas die eher lokalen Publikationen mit den grundsätzlichen Orientierungenversorgt.

Letztlich ist jedoch das Wichtigste an der InternationalReview nicht so sehr ihre Regelmäßigkeit noch ihr internationaler,zentralisierter Charakter, sondern ihre Fähigkeit, als ein Instrument dertheoretischen Klärung zu agieren. „Die Review wird vor allem der Ausdruck dertheoretischen Bemühungen unserer Strömung sein, da nur diese theoretischenBemühungen, basierend auf einer Kohärenz der politischen Positionen undOrientierungen, die Grundlage für die Umgruppierung und die reale Interventionder Revolutionäre schaffen kann.“ (Vorwort zur ersten Ausgabe der International

Review, April 1975)

Der Marxismus ist als der theoretische Standpunkt derrevolutionären Klasse im Nachdenken des Menschen über die gesellschaftlicheRealität am weitesten vorangeschritten. Doch Marx bestand in den Thesen überFeuerbach darauf, dass die Richtigkeit einer Denkweise nur in der Praxisgetestet werden kann. Der Marxismus hat seine Überlegenheit über alle anderengesellschaftlichen Theorien demonstriert, weil er fähig ist, ein globalesVerständnis der Wendungen der menschlichen Geschichte anzubieten und die Linienihrer weiteren Entwicklung vorauszusagen. Aber es reicht nicht zu behaupten,Marxist zu sein, um sich diese Methoden wirklich anzueignen, sie zum Leben zuerwecken und richtig anzuwenden. Wenn wir meinen, dass uns dies während derletzten drei Jahrzehnte einer sich beschleunigenden Geschichte gelungen ist,dann nicht deshalb, weil wir denken, dass uns dies vom Himmel gefallen war,sondern weil wir meinen, dass wir unsere Anregungen während dieser Periode ausden besten Traditionen der internationalen Linkskommunisten gewonnen haben.Zumindest war dies eines unserer ständigen Ziele gewesen. Und um dieseBehauptung zu untermauern, können wir keinen besseren Beweis dafür anführen alsunseren Fundus von etwas mehr als 600 Artikeln aus 100 Ausgaben der InternationalReview.

Kontinuität, Bereicherung und Debatte

Der Marxismus ist eine lebendige historische Tradition.Einerseits bedeutet dies, dass er sich vollkommen über die Notwendigkeit imKlaren ist, sich allen Problemen, mit denen er konfrontiert ist, von einemhistorischen Ausgangspunkt anzunähern, sie nicht als völlig „neu“ hinzustellen,sondern als Produkt eines langen historischen Prozesses. Vor allem erkennt erdie wesentliche Kontinuität des revolutionären Denkens an, die Notwendigkeit,auf den soliden Fundamenten der früheren revolutionären Minderheitenaufzubauen. Zum Beispiel sah sich in den 20er und 30er Jahren des 20.Jahrhunderts die italienische Linksfraktion, die während der 30er Jahre dieZeitschrift Bilan herausgab, der absoluten Notwendigkeit gegenüber, denCharakter des konterrevolutionären Regimes zu begreifen, das in Russlandentstanden war. Doch sie lehnte jede voreilige Schlussfolgerung ab undkritisierte besonders jene, die zwar früher als die Italienische Linke einekorrekte Charakterisierung der stalinistischen Macht (eine Form desStaatskapitalismus) entwickelt hatten, dies aber um den Preis der Deklassierungder gesamten Erfahrung des Bolschewismus und der Oktobererhebung als vonvornherein „bürgerlich“ taten. Bilan dachte gar nicht daran, die Kontinuität,in der sie mit der revolutionären Energie stand, die die bolschewistischePartei, die Rätemacht und die Kommunistische Internationale einst verkörperthatte, in Frage zu stellen.

Die Fähigkeit, die Verbindungen mit der vergangenenrevolutionären Bewegung aufrechtzuerhalten bzw. zu erneuern, war besonders indem proletarischen Milieu wichtig, das aus dem Wiedererwachen desKlassenkampfes Ende der 60 Jahre entstanden war, ein Milieu, das sichgrößtenteils aus neuen Gruppen zusammensetzte, die ohne organisatorische odergar politische Bindungen zu früheren Generationen von Revolutionären waren.Viele dieser Gruppen fielen der Illusion zum Opfer, dass sie aus dem Nirgendskommen, und blieben in völliger Unkenntnis der Beiträge der vergangenenGeneration, welche fast vollständig durch die Konterrevolution ausgelöschtworden war. Im Falle derjenigen, die von rätekommunistischen odermodernistischen Ideen beeinflusst waren, war die „alte Arbeiterbewegung“ in derTat etwas, was mit allen Mitteln zurückgelassen werden musste. Tatsächlich wardies eine theoretische Rechtfertigung für einen Bruch, der vom Klassenfeinddurchgesetzt worden war. In Ermangelung eines Ankers in der Vergangenheit hattedie große Mehrheit dieser Gruppen bald auch keine Zukunft mehr und verschwand.Es ist daher nicht überraschend, dass das heutige revolutionäre Milieu sichfast vollständig aus Gruppen zusammensetzt, die auf der einen oder anderenWeise von der linken Strömung abstammen, die am klarsten diese Frage der historischenKontinuität begriffen hat – die italienische Fraktion. Wir sollten hinzufügen,dass dieser historische Anker heute wichtiger denn je ist, angesichts derKultur des kapitalistischen Zerfalls, eine Kultur, die mehr denn je danachtrachtet, das historische Gedächtnis der Arbeiterklasse auszuradieren, und dieohne jegliche eigene Zukunftsperspektive nur versuchen kann, das Bewusstseinauf das Nächstliegende zu verengen, in der das Neue die einzige Tugend ist.

Andererseits ist der Marxismus nicht die bloße Verewigungeiner Tradition; er ist auf die Zukunft gerichtet, auf das endgültige Ziel desKommunismus, und muss daher ständig seine Fähigkeit erneuern, die Richtung derrealen Bewegung, der ewig schwankenden Gegenwart zu erfassen. In den 50erJahren versuchte der bordigistische Sprössling der Italienischen Linken, in derErfindung der Idee einer „Invarianz“ Zuflucht vor der Konterrevolution zufinden, und widersetzte sich jedem Versuch, das kommunistische Programm zubereichern. Aber diese Herangehensweise unterschied sich vollkommen vom GeistBilans, die, auch wenn sie nie die Verbindung zur revolutionären Vergangenheitabgebrochen hatte, auf der Notwendigkeit bestanden hatte, neue Situationen„ohne Tabus und Verfemung“, ohne Furcht davor, programmatisches Neuland zubetreten, zu prüfen. Vor allem hatte sich die Fraktion nicht davor gefürchtet,selbst die Thesen des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale inFrage zu stellen, etwas, wozu der „Bordigismus“ der späteren Jahre nicht fähigwar. In den 30er Jahren hatte Bilan einer neuen Situation gegenüber gestanden,die aus der Niederlage der Weltrevolution hervorgegangen war; auch die IKS wardazu gezwungen, ihre Analysen den neuen Bedingungen anzupassen, die durch dasEnde der Konterrevolution in den späten 60ern und erst jüngst durch die Periodegeschaffen wurden, die dem Zusammenbruch des Ostblocks folgte. Angesichts solchwechselnder Umstände können sich Marxisten nicht auf die Wiederholung erprobterund vertrauter Formeln beschränken, sondern müssen ihre Hypothesen einerständigen praktischen Verifizierung unterziehen. Dies bedeutet, dass sich derMarxismus wie jeder andere wissenschaftliche Zweig tatsächlich ständig neubereichert.

Gleichzeitig ist der Marxismus keine Form des akademischenWissens, des Lernens um des Lernens willen; er kämpft unerbittlich gegen dievorherrschende Ideologie an. Die kommunistische Theorie ist per Definition einepolemische und kämpferische Form des Wissens; ihr Ziel ist es, dasproletarische Klassenbewusstsein durch die Entlarvung und Verbannung derEinflüsse bürgerlicher Mystifikationen voran zu bringen, ob dieseMystifikationen nun in ihrer gröbsten Form innerhalb der Massen der Arbeiteroder in ihrer subtileren Verkleidung in den Reihen der proletarischen Avantgardeselbst auftreten. Es ist daher eine zentrale Aufgabe für jede gewissenhafterevolutionäre Organisation, eine ständige Kritik an den Konfusionen zu üben,die sich in anderen revolutionären Gruppen oder in den eigenen Reihen breitmachen. Es kann keine Klarheit erreicht werden, wenn man der Debatte und derKonfrontation ausweicht, wie dies leider zu oft der Fall ist innerhalb desheutigen politischen Milieus des Proletariats, das den Kontakt zu denTraditionen der Vergangenheit verloren hat – den Traditionen, die von Leninverteidigt worden waren, der nie vor einer Polemik, ob mit der Bourgeoisie, mitkonfusen Gruppen innerhalb der Arbeiterbewegung oder mit seinen eigenenGenossen, zurückgescheut war; Traditionen, die auch Bilan vertreten hatte,welche in ihrem Streben, das kommunistische Programm im Gefolge der vergangenenNiederlagen zu vervollkommnen, sich in Debatten mit all den verschiedenenStrömungen innerhalb der damaligen internationalen Arbeiterbewegung (die ausder internationalen Linksopposition, aus der Holländischen und Deutschen Linkenstammenden Gruppen, etc.) engagiert hatte.

In diesem Artikel können wir nicht einen komplettenÜberblick über all die Texte geben, die in der International Review erschienensind, obwohl wir beabsichtigen, eine vollständige Liste der Inhaltsangaben aufunserer Web Site zu veröffentlichen. Was wir versuchen werden, ist, zu zeigen,wie die International Review im Mittelpunkt unserer Bemühungen stand und steht,diese drei Schlüsselaspekte der theoretischen Auseinandersetzung des Marxismuszu erfüllen.

Die Wiederherstellungder revolutionären Vergangenheit des Proletariats

In Anbetracht der endlosen Diffamierungskampagnen gegen dieErinnerung an die Russische Revolution und der Bemühungen bürgerlicherHistoriker, das internationale Ausmaß der von der Oktobererhebung ausgelöstenrevolutionären Welle zu verschleiern, hat sich ein großer Teil der Reviewnotwendigerweise der Rekonstruktion der wahren Geschichte dieser Ereignissegewidmet, um die proletarische Erfahrung gegen die offenen Lügen undAuslassungen der Bourgeoisie zu bekräftigen und zu verteidigen und sowohl gegendie Verzerrungen durch den linken Flügel des Kapitals als auch gegen dieirrigen Schlussfolgerungen innerhalb der heutigen revolutionären Bewegung ihreauthentischen Lehren zu ziehen.

Um die wichtigsten Beispiele zu zitieren: Die InternationalReview Nr. 3 enthält einen Artikel, der einen Rahmen zum Verständnis derDegeneration der Russischen Revolution ausgearbeitet hat; eine Antwort auf dieKonfusionen innerhalb des damaligen revolutionären Milieus (in diesem Fall dieRevolutionary Workers Group aus den USA); sie enthält außerdem eine langeStudie der Lehren aus dem Kronstädter Aufstand, jenem Schlüsselmoment imZerfall der Revolution. Die International Review Nr. 12 und 13 enthaltenArtikel, die den proletarischen Charakter der bolschewistischen Partei und derOktobererhebung gegen die semi-menschewistischen Auffassungen desRätekommunismus neu bekräftigten; diese Artikel hatten ihren Ursprung in einerDebatte innerhalb jener Gruppe, die der direkteste Vorläufer der IKS war – derGruppe Internacionalismo aus Venezuela in den 60er Jahren - und wurden in derForm einer Broschüre mit dem Titel 1917, start of the world revolution (1917 –der Beginn der Weltrevolution) wiederveröffentlicht. Infolge des Zusammenbruchsder stalinistischen Regimes veröffentlichten wir in der International ReviewNr. 71, 72 und 75 eine Reihe von Artikeln als Antwort auf das propagandistischeSperrfeuer über den Tod des Kommunismus, in denen vor allem die Fabelzurückgewiesen wurde, dass der Oktober 1917 nichts anderes als einStaatsstreich durch die Bolschewiki gewesen war, und detailliert aufgezeigtwurde, dass es vor allen Dingen die Isolation der russischen Bastion gewesen war,die zu ihrem Ableben geführt hatte. Wir setzten 1997 dieses Thema mit einerweiteren Reihe von Artikeln fort, die einen näheren Blick auf denentscheidenden Zeitraum zwischen Februar und Oktober 1917 warf (s.International Review

Nr. 89, 90, 91). Von Anfang an bestand die Position der IKSin einer militanten Verteidigung der Russischen Revolution, doch gibt es keinenZweifel darüber, dass mit der Reifung der IKS schrittweise dierätekommunistischen Einflüsse über Bord geworfen wurden, die zum Zeitpunkt ihrerGründung noch sehr stark waren, und die Schüchternheit in der Frage der Parteioder solch bedeutender historischer Persönlichkeiten wie Lenin oder Trotzkiabgelegt wurde.

Die International Review enthält in einer ihrer erstenAusgaben (Nr. 2) auch eine Untersuchung der Lehren aus der DeutschenRevolution, und zwei weitere Artikel erschienen anlässlich des 70. Jahrestagesdieses äußerst wichtigen Ereignisses, das von der bürgerlichen

Geschichtsschreibung so sorgsam verdeckt worden war(International Review Nr. 55 und 56). Aber wir kehrten noch ausgiebiger zurDeutschen Revolution in einer Reihe von Artikeln zurück, die in derInternational Review Nr. 81-83, 85, 88–90, 93, 95, 97–99 veröffentlicht wurde.Einmal mehr sehen wir hier eine deutliche Reifung in der Herangehensweise derIKS an ihr Thema, auch hier kritisch gegenüber den politischen undorganisatorischen Mängeln der deutschen kommunistischen Bewegung und auf eintieferes Verständnis in der Frage des Aufbaus einer revolutionären Parteifußend. Eine Reihe von Artikeln befasste sich etwas allgemeiner auch mit derrevolutionären Welle von 1917–23, besonders die Artikel über Zimmerwald in derInternational Review Nr. 44, über die Gründung der KommunistischenInternationale in Nummer 57, über das Ausmaß und die Bedeutung derrevolutionären Welle in Nummer 80, über die Beendigung des Krieges durch dasProletariat in Nummer 96.

Auch anderen Schlüsselereignissen in der Geschichte derArbeiterbewegung wurde Platz in eigenen Artikeln in der International Revieweingeräumt: die Revolution in Italien (Nr. 2); Spanien 1936, insbesondere dieRolle des Anarchismus und der „Kollektive“ (Nr. 15, 22, 47, etc.); die Kämpfein Italien 1943 (Nr. 75) und, allgemeiner; Artikel, die die Verbrechen der„Demokratien“ während des Zweiten Weltkrieges an den Tag gelegt hatten (Nr. 66,79, 83); eine Reihe von Artikeln über den Klassenkampf im Ostblock, die sichmit den massiven Klassenbewegungen 1953, 1956 und 1970 befassten (Nr. 27 - 29);eine Reihe über China, die den Mythos des Maoismus entlarvte (Nr. 81, 84, 94,96); Reflexionen über die Bedeutung der Ereignisse in Frankreich im Mai 1968(Nr. 14, 53, 74, 93, etc.).

Eng verknüpft mit diesen Studien, hat es ständige Bemühungendarum gegeben, die fast verloren geglaubte Geschichte des Linkskommunismus indiesen gewaltigen Ereignissen wiederzuentdecken, was unser Verständniswiderspiegelt, dass es uns ohne diese Geschichte nicht geben würde. DiesesBemühen hat sowohl in Form von Veröffentlichungen seltener Texte, oft zumersten Mal in andere Sprachen übersetzt, als auch in Form eigenerNachforschungen der Positionen und der Entwicklung linker Strömungenstattgefunden. Wir wollen folgende Studien erwähnen, obwohl auch hier die Listenicht vollständig ist: über die russischen Linkskommunisten, deren Geschichtenatürlich direkt mit dem Problem der Degeneration der Russischen Revolutionverknüpft ist (International Review Nr. 8 und 9); über die Deutsche Linke(Artikelreihen über die Deutsche Revolution, s.o.; Wiederveröffentlichung vonKAPD-Texten – „Thesen über die Partei“ in der International Review Nr. 41 – undihres Programms in der International Review

Nr. 94); über die Holländische Linke, mit einer langenArtikelserie (Nr. 45–50, 52), die die Grundlage für das Buch bildete, das aufFranzösisch, Spanisch und Italienisch veröffentlicht wurde und demnächst aufEnglisch erscheint; über die italienische Linksfraktion, insbesondere durch dieVeröffentlichung von Texten über den spanischen Bürgerkrieg (InternationalReview Nr. 4, 6, 7), über den Faschismus (Nr. 71) und über die Volksfront (Nr.47); über die französischen Linkskommunisten in den 40er Jahren durch dieWiederveröffentlichung ihrer Artikel und Manifeste gegen den Zweiten Weltkrieg(Nr. 79 und 88), ihrer zahllosen Polemiken mit der Partito ComunistaInternazionalista (Nr. 33, 34, 36), ihrer Texte über den Staatskapitalismus unddie Organisation des Kapitalismus in seiner dekadenten Phase (Nr. 21, 61) undihrer Kritik an Pannekoeks Buch „Lenin als Philosoph“ (Nr. 27, 28, 30); über diemexikanische Linke (Texte aus den 30er Jahren über Spanien, China,Nationalisierungen in der International Review Nr. 19 und 20); über diegriechische Linke um Stinas (Nr. 72).

Ebenfalls untrennbar verbunden mit diesem historischenRekonstruktionswerk war die Energie gewesen, die wir in die Texte gesteckthatten, mit denen wir versuchten, unsere Positionen zu fundamentalenKlassenpositionen zu erarbeiten, die sowohl aus der praktischen Erfahrung desKlassenkampfes selbst als auch aus der theoretischen Interpretation dieserErfahrungen durch kommunistische Organisationen herstammen. In diesemZusammenhang sei auf solche Fragen hingewiesen wie:

–          dieÜbergangsperiode, insbesondere die Lehren, die aus der russischen Erfahrungüber das Verhältnis zwischen dem Proletariat und dem Übergangsstaat gezogenwerden müssen. Dies war eine wichtige Debatte im proletarischen Milieu, als dieIKS gegründet wurde, eine Tatsache, die durch die Veröffentlichung zahlreicherDiskussionstexte verschiedener Gruppen in der allerersten Ausgabe derInternational Review zum Ausdruck kam. Diese Debatte wurde in der IKSfortgesetzt und eine Reihe von Texten für oder gegen die Mehrheitspositioninnerhalb der IKS veröffentlicht (Nr. 6, 11, 15, 18);

–          dienationale Frage: Eine Artikelfolge, welche die Art und Weise untersucht, wiesich diese Frage in der Arbeiterbewegung der ersten beiden Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts gestellt hatte, wurde in der International Review Nr. 37 und 42veröffentlicht. Eine zweite Artikelserie erschien in den Nummern 66, 68 und 69,die den weiten Bereich von der revolutionären Welle bis zum Los der „nationalenBefreiungskämpfe“ in der Phase des kapitalistischen Zerfalls abdeckte;

–          dieökonomischen Fundamente des Imperialismus und der kapitalistischen Dekadenz: Ineiner Anzahl von Texten haben wir in unserer Entgegnung auf die Kritik andererproletarischer Gruppen für die Kontinuität gestritten, die im wesentlichenzwischen der Krisentheorie von Marx und der von Rosa Luxemburg in „DieAkkumulation des Kapitals“ und anderen Texten entwickelten Analyse besteht(siehe z.B. Nr. 13, 16, 19, 22, 29, 30). Parallel dazu haben wir eine ganzeArtikelreihe der Verteidigung des fundamentalen Konzeptes der kapitalistischenDekadenz gegen seine „radikalen“ Verunglimpfer aus dem parasitären Lager odersonstwoher gewidmet (Nr. 48, 49, 54, 55, 56, 58, 60)..

–          auch mitanderen allgemeinen Fragen haben wir uns beschäftigt, einschließlich derGewerkschaftsfrage in der Kommunistischen Internationale (Nr. 24 und 25), derBauernfrage (Nr. 24), der Theorie der Arbeiteraristokratie (Nr. 25), derkapitalistischen Umweltbedrohung, d.h. die „Ökologie“ (Nr. 63), des Terrors,Terrorismus und der Klassengewalt, letzteres ebenfalls das Produkt einerwichtigen Debatte in der IKS, insbesondere darüber, ob das Kleinbürgertumirgendwelche politischen Ausdrücke in der Periode der Dekadenz hat. DieUnterscheidung zwischen dem Staatsterror und dem kleinbürgerlichen Terrorismusund zwischen beiden und der proletarischen Klassengewalt durch die IKS beantwortetediese Frage voll und ganz (Nr. 14 und 15).

Dies ist vielleicht der geeignetste Moment, um auf dieArtikelserie über den Kommunismus hinzuweisen, die seit 1992 regelmäßig in derInternational Review erscheint und uns noch eine Weile erhalten bleibt.Ursprünglich war dieses Projekt als eine Reihe von vier oder fünf Artikelnvorgesehen, in denen die wahre Bedeutung des Kommunismus entgegen derbürgerlichen Lügen von der Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Stalinismusgeklärt werden sollte. Aber bei dem Versuch, die historische Methode so rigoroswie möglich anzuwenden, wuchs sich diese Serie aus zu einer tieferenUntersuchung der Biografie des sich ständig weiter entwickelndenkommunistischen Programms, das durch die Schlüsselerfahrungen der Klasse im allgemeinenund durch die Beiträge und Debatten der revolutionären Minderheiten imbesonderen immer weiter bereichert wurde. Obgleich die Mehrheit der Artikeldieser Reihe sich notwendigerweise mit den fundamentalen politischen Fragenbefasst, da der erste Schritt zur Schaffung des Kommunismus die Errichtung derDiktatur des Proletariats ist, ist es ebenfalls Prämisse dieser Reihe,darzustellen, dass der Kommunismus die Menschheit aus dem Reich der Politikführen und ihre wahre soziale Natur befreien wird. Diese Reihe stellt somit dasProblem der marxistischen Anthropologie aufs Trapez. Die Verflechtung der„politischen“ und „anthropologischen“ Dimensionen in dieser Reihe wartatsächlich eines ihrer Leitmotive. Der erste Teil dieser Reihe begann (abInternational Review Nr. 68) mit den Vorläufern des Marxismus und mit dergrandiosen Vision des jungen Marx von den endgültigen Zielen des Kommunismus;er endete auf dem Höhepunkt der Massenstreiks von 1905, die signalisierthatten, dass der Kapitalismus sich auf eine neue Epoche zu bewegte, wo sich diekommunistische Revolution von einer globalen Perspektive der Arbeiterbewegungzu einer dringenden Notwendigkeit auf der historischen Tagesordnung entwickelte(International Review Nr. 88). Der zweite Teil hat sich größtenteils auf dieDebatten und programmatischen Dokumente konzentriert, die aus der großenrevolutionären Welle von 1917- 23 entstanden waren; noch muss er sich durch dieJahre der Konterrevolution und der darauffolgenden Wiederbelebung der Debattenüber den Kommunismus in der Periode nach 1968 durcharbeiten und denDiskussionsrahmen über die Bedingungen der Revolution von morgen klären. AmEnde jedoch wird diese Reihe zur Frage zurückkehren, wie es mit unserer Speziesim künftigen Reich der Freiheit aussehen wird.

Eine weitere wichtige Komponente in den Bemühungen derReview, den von den Revolutionären vertretenen Klassenpositionen eine größereshistorisches Gewicht zu verleihen, war ihre konstante Verpflichtung zur Klärungder Organisationsfrage gewesen. Dies war sicherlich die schwierigste allerFragen für jene Generation von Revolutionären, die den späten 60ernentstammten, vor allem aufgrund des Traumas der stalinistischenKonterrevolution und des mächtigen Einflusses des individualistischen,anarchistischen und rätekommunistischen Verhaltens auf diese Generation. Weiterunten werden wir einige der zahlreichen Polemiken erwähnen, die die IKS mitanderen Gruppen des proletarischen Milieus über diese Frage geführt hatte. Doches trifft ebenso zu, dass einige der wichtigsten Texte in der Review überFragen der Organisation das direkte Produkt von Debatten innerhalb der IKSselbst und oft schmerzvoller Auseinandersetzungen waren, die die IKS in ihreneigenen Reihen führen musste, um sich die marxistische Auffassung von einerrevolutionären Organisation wieder anzueignen. Seit dem Beginn der 80er Jahrehat die IKS drei ernste innere Krisen durchlaufen, von denen jede in Spaltungenund Austritten endete, aus denen aber die IKS politisch wie organisatorisch gestärkthervorging. Um diese Schlussfolgerung zu stützen, verweisen wir auf dieQualität der Artikel, die aus diesen Kämpfen entstanden und das verbesserteVerständnis der IKS für die Organisationsfrage zusammenfassten. Soveröffentlichten wir in Antwort auf die Spaltung mit der Chenier-Tendenz in denfrühen 80ern zwei wichtige Texte – einen über die Rolle der revolutionärenOrganisation innerhalb der Klasse (Nr. 29), den anderen über ihre interneFunktionsweise (Nr. 33). Insbesondere der letztere war und bleibt einSchlüsseltext, denn die Chenier-Tendenz drohte, alle fundamentalen Auffassungenin unseren Statuten, unsere Funktions“regeln“, über Bord zu werfen. Der Text inder International Review Nr. 33 war eine klare Darstellung und Ausarbeitungjener Auffassungen (hier sollten wir auch auf einen weit früheren Text in derInternational Review Nr. 5 über die Statuten verweisen). Mitte der 80er Jahremachte die IKS einen weiteren Schritt in der Abrechnung mit den verbliebenenanti-organisatorischen und rätekommunistischen Einflüssen in ihrer Mitte, undzwar durch die Debatte mit der Tendenz, die dazu übergegangen war, eine„Externe Fraktion der IKS“ zu bilden, jetzt „Internationalist Perspective“genannt, ein typisches Element des parasitären Milieus. Die Haupttexte, die inder International Review im Rahmen dieser Debatte veröffentlicht wurden,veranschaulichen diese eminent wichtigen Streitpunkte: die Einschätzung derGefahr, die von den rätekommunistischen Ideen für das revolutionäre Lager vonheute ausgeht (Nr. 40 – 43); die Frage des Opportunismus und Zentrismus in derArbeiterbewegung (Nr. 43 und 44). Durch diese Debatte – und durch dieAusarbeitung ihrer indirekten Folgen für unsere Intervention im Klassenkampf –nahm die IKS endgültig das Verständnis einer revolutionären Kampforganisationan, einer militanten politischen Führung innerhalb der Klasse. Die dritteDebatte Mitte der 90er Jahre kehrte, auf einer höheren Ebene, zur Frage derFunktionsweise zurück und spiegelte die Bestimmtheit wider, mit der die IKSalle Überbleibsel des Zirkelgeistes anging, der während ihrer Anfangsphasegeherrscht hatte, um die offene und zentralisierte Funktionsweise zu stärken,die auf den von allen akzeptierten Statuten basieren, gegen anarchistischePraktiken, die auf freundschaftlichen Netzwerken und sippenhaften Intrigengegründet sind. Auch hier drückt eine Anzahl von Texten von echter Qualitätunsere Bemühungen aus, die marxistische Position zur innerorganisatorischenFunktionsweise wieder zu etablieren und zu vertiefen: insbesondere die Reihevon Texten, die sich mit dem Kampf zwischen dem Marxismus und dem Bakuninismusin der Ersten Internationale befassten (Nr. 84, 85, 87, 88) und die beidenArtikel „Sind wir Leninisten geworden?“ in den Nummern 96 und 97.

Die Analyse derrealen Bewegung

Die zweite Schlüsselaufgabe, die zu Beginn dieses Artikelshervorgehoben wurde – die ständige Einschätzung einer sich konstant änderndenWeltlage–, war immer auch ein zentrales Element in der International Review.

Fast ausnahmslos jede Ausgabe beginnt mit einem Editorialüber die wichtigsten Ereignisse des internationalen Geschehens. Diese Artikelstellen die allgemeine Orientierung der IKS hinsichtlich dieser Ereignisse dar,indem sie die Positionen lenken und zentralisieren, die von unserenterritorialen Publikationen angenommen wurden. Wenn man durch diese Editorialsblättert, kann man sich ein prägnantes Bild von der Antwort der IKS auf allewichtigen Ereignisse der 70er, 80er und 90er Jahre machen: die zweite unddritte Welle des internationalen Klassenkampfes; die Offensive desUS-Imperialismus in den 80er Jahren; die Kriege im Nahen Osten, im Golf vonPersien, in Afrika, auf dem Balkan; der Zusammenbruch des Ostblocks und dieEröffnung der Periode des kapitalistischen Zerfalls; die Schwierigkeiten desKlassenkampfes angesichts dieser neuen Periode und so weiter. Parallel dazumachte auch der regelmäßige Bericht zur Frage: „Welchen Punkt hat die Kriseerreicht?“ es möglich, die wichtigsten Trends und Momente im langen Abstieg desKapitalismus in den Morast seiner eigenen Widersprüche zu erkennen. Zusätzlichzu diesen vierteljährlichen Einschätzungen veröffentlichten wir auch Texte, diedie Entwicklung der Krise aus längerfristigem Blickwinkel betrachten, seitdemsie Ende der 60er Jahre ans Tageslicht trat; hierzu besonders erwähnenswertunsere aktuelle Artikelserie „30 Jahre offene Krise“ (International Review Nr.96 – 98). Längerfristige Analysen aller Aspekte der internationalen Lage sindauch in den Berichten und Resolutionen unserer alle zwei Jahre stattfindendeninternationalen Kongresse enthalten, die immer so vollständig wie möglich inder International Review veröffentlicht werden (s. Nr. 8, 11, 18, 26, 35, 44,51, 59, 67, 74, 82, 90, 92, 97, 98).

Im Grunde ist es nicht möglich, einen striktenTrennungsstrich zwischen Texten, die die gegenwärtige Situation analysieren,und historisch-theoretischen Artikeln zu ziehen. Die analytischen Bemühungenstimulieren unvermeidlich die Reflexion und Debatte, welche ihrerseits denAnlass zu wichtigen Orientierungstexten liefern, die die allgegenwärtigeDynamik der Periode feststellen und bestimmte grundsätzliche Konzepte klären.Diese Texte sind häufig das Produkt der internationalen Kongresse oder derTreffen des Zentralorgans der IKS.

Zum Beispiel nahm der III. Kongress der IKS 1979 solcheOrientierungstexte über den historischen Kurs und den Wechsel der linkenParteien des Kapitals in die Opposition an, womit der grundsätzliche Rahmen zumVerständnis des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in der Periode, diedurch das Wiedererwachen des Klassenkampfes 1968 eröffnet wurde, und zumVerständnis der überwiegend politischen Antwort der Bourgeoisie auf denKlassenkampf der 70er und 80er Jahre abgesteckt wurde (s. International ReviewNr. 18). Weitere Aufklärung darüber, wie die herrschende Klasse den Wahlprozessmanipuliert, bis er ihren eigenen Bedürfnissen entspricht, verschaffte derArtikel über den „Machiavellismus“ der Bourgeoisie in der International ReviewNr. 31 und die internationalen Korrespondenz über dieselbe Frage in Nr 39.Ebenso ist die erst kürzlich erfolgte Rückkehr der Bourgeoisie zu ihrerStrategie, die linken Parteien in der Regierung zu installieren, in einem Textdes XIII. Kongresses der IKS analysiert und in der International Review Nr. 98veröffentlicht worden.

Der IV. Kongress – 1981, im Gefolge des Massenstreiks inPolen, abgehalten – nahm einen Text über die Bedingungen für dieGeneralisierung des Klassenkampfes an, in dem besonders betont wurde, dass dieAusbreitung der Massenstreiks auf die Zentren des Weltkapitals eine Antwort aufdie Wirtschaftskrise des Kapitalismus sein wird, und nicht auf einenkapitalistischen Weltkrieg; einen weiteren Beitrag, der den Versuch eineshistorischen Überblicks über die Entwicklung des Klassenkampfes seit 1968unternahm (International Review Nr. 26). Debatten über die gesamte zweiteinternationale Welle von Kämpfen, in der die Kämpfe der polnischenArbeiterklasse den Höhepunkt darstellten, haben zu einer Reihe von anderenwichtigen Texten über die Charakteristiken des Massenstreiks (Nr. 27), über dieTheorie des schwächsten Glieds (Nr. 31, 37), über die Bedeutung der Kämpfe derfranzösischen Stahlarbeiter 1979 und die Intervention der IKS (Nr. 17, 20),über Arbeiterkampfgruppen (Nr. 21), die Arbeitslosenkämpfe (Nr. 14) u.s.w.geführt. Besonders wichtig war der Text „Der proletarische Kampf im dekadentenKapitalismus“(International Review Nr. 23), der aufzuzeigen beabsichtigte,warum die Kampfmethoden, die in der aufsteigenden Periode des Kapitalismus(gewerkschaftliche Streiks in einzelnen Bereichen, finanzielle Solidarität,etc.) angewendet worden waren, in der dekadenten Epoche durch die Methoden desMassenstreiks ersetzt werden mussten. Die stetigen Bemühungen um einePerspektive der internationalen Klassenbewegung setzte sich in zahlreichenArtikeln fort, die während der dritten Welle von Kämpfen zwischen 1983 und 1988geschrieben wurden.

1989 fand eine weitere wichtige historische Änderung in derinternationalen Lage statt: der Zusammenbruch des Ostblocks und der endgültigeBeginn der Zerfallsphase des Kapitalismus, eine Verschlimmerung all derAusgeburten eines dekadenten Systems, das vor allem durch den wachsenden Kriegjeder gegen jeden auf imperialistischer Ebene gekennzeichnet war. Obwohl dieIKS diesen „friedlichen“ Zusammenbruch des russischen Blocks im Vorfeld nichterwartet hatte, stellte sie schnell fest, aus welcher Richtung der Wind blies,denn sie war bereits mit dem theoretischen Rahmen ausgerüstet, um zu erklären,warum der Stalinismus sich nicht selbst reformieren konnte (s. die Artikel überdie Wirtschaftskrise im russischen Block in der International Review Nr. 22,23, 43 und insbesondere die Thesen über „Die internationale Dimension desArbeiterkampfes in Polen“ in der International Review Nr. 24). Dieser Rahmenbildete die Grundlage für den Orientierungstext „Über die ökonomische undpolitische Krise in den osteuropäischen Ländern“ in der International ReviewNr. 60, der lange, bevor dies mit dem Fall der Berliner Mauer und demAuseinanderbrechen der UdSSR eintrat, das Ableben des russischen Blocksvorausgesagt hatte. Gleichermaßen wichtig als Hilfe zum Verständnis derCharakteristiken der neuen Periode waren die Thesen mit dem Titel „Der Zerfall– die letzte Phase in der Dekadenz des Kapitalismus“ in der InternationalReview Nr. 62 und der Artikel „Militarismus und Zerfall“ in der InternationalReview Nr. 64. Letzterer ging noch weiter und präzisierte unsere Artikel„Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke“, die wir in der InternationalReview Nr. 52 und 53 veröffentlicht hatten, also vor dem Zusammenbruch desrussischen Blocks, und die den Begriff der Irrationalität des Krieges in derkapitalistischen Dekadenz erläuterten. Durch diese Beiträge wurde es möglich,den Rahmen zum Verständnis der Verschärfung der imperialistischen Spannungen ineiner Welt ohne Blockdisziplin zu erweitern. Die ganz offensichtlicheVerschärfung der interimperialistischen Konflikte, des chaotischen Kampfesjeder gegen jeden während dieses Jahrzehnts hat den in diesen Textenentwickelten Rahmen vollauf bestätigt.

Die Verteidigung desPrinzips der offenen Debatte zwischen den Revolutionären

Auf einem erst kürzlich stattgefundenen öffentlichen Forum,das von der Communist Workers‘ Organisation in London organisiert wurde undsich auf den Appell der IKS für gemeinsame Aktionen revolutionärer Gruppenangesichts des Balkankrieges bezog, stellte ein Genosse der CWO die Frage: „Wasführt die IKS im Schilde?“. Er äußerte die Ansicht, dass „die IKS mehrWendungen vollzogen hat als die stalinistische Komintern“ und dass ihre„freundschaftliche“ Haltung gegenüber dem Milieu nur die letzte dieserWendungen sei. Die bordigistische Gruppe Le Prolétaire beschrieb den Appell derIKS mit ähnlichen Worten und denunzierte ihn als ein „Manöver“ (s. RévolutionInternationale Nr. 294).

Solche Anschuldigungen lassen einen ernsthaft daranzweifeln, ob diese Genossen die IKS-Presse über die letzten 25 Jahre verfolgthaben. Ein kurzes Durchblättern der 100 Ausgaben der International Reviewreicht aus, um den Gedanken zurückzuweisen, dass der Aufruf zur Einheitzwischen den Revolutionären eine „neue Wendung“ der IKS ist. Wie wir bereitsgesagt haben, war für uns der Geist der Linkskommunisten, insbesondere der deritalienischen Fraktion, ein Geist der ernsthaften Debatte und Konfrontationzwischen allen verschiedenen Kräften innerhalb des kommunistischen Lagers undnatürlich auch zwischen den Kommunisten und denjenigen, die sich darum bemühen,das proletarisch-politische Terrain zu betreten. Von ihrer Gründung an – und imGegensatz zum weitverbreiteten Sektierertum, das als ein direktes Resultat deskonterrevolutionären Drucks in dem Milieu vorherrschte – hat die IKS auf:

–          die Existenzeines proletarisch-politischen Lagers, das sich aus verschiedenen Tendenzenzusammensetzt, die auf der einen oder anderen Weise Ausdrücke desKlassenbewusstseins des Proletariats sind;

–          auf diezentrale Bedeutung jener Gruppen innerhalb dieses Lagers, die aus denhistorischen Strömungen des Linkskommunismus stammen;

–          dieNotwendigkeit einer Einheit und Solidarität zwischen den revolutionären Gruppenangesichts des Klassenfeindes – seiner antikommunistischen Kampagnen, seinerRepression, seiner Kriege;

–          dieNotwendigkeit einer ernsthaften und verantwortungsbewussten Debatte über dierealen Divergenzen zwischen diesen revolutionären Gruppierungen;

–          dieultimative Notwendigkeit der Umgruppierung der revolutionären Kräfte als Teildes Prozesses, der zur Bildung der Weltpartei führt,

bestanden.

 

Bei der Verteidigung dieser Prinzipien hat es Zeitengegeben, in denen es notwendiger war, die Differenzen herauszustellen, undandere Zeiten, in denen die Aktionseinheit übergeordnet war, doch dies hat nieauch nur eines der fundamentalen Prinzipien in Frage gestellt. Wir erkennenauch an, dass das Gewicht des Sektierertums das ganze Milieu betrifft und auchwir nicht behaupten, völlig immun dagegen zu sein – selbst wenn wir aufgrundder bloßen Tatsache, dass wir im Gegensatz zu anderen Gruppen seine Existenzerkennen, bessere Ausgangsbedingungen haben. Auf jeden Fall passierte es da unddort, dass unsere Argumente von sektiererischen Übertreibungen geschwächtwurden: zum Beispiel trug ein sowohl in der World Revolution als auch in derRévolution Internationale veröffentlichter Artikel den Titel „Die CWO fällt dempolitischen Parasitismus zum Opfer“, aus dem sich ergeben konnte, dass die CWOtatsächlich ins parasitäre Lager übergewechselt sei und somit sich außerhalbdes proletarischen Milieus befände, wohingegen der Artikel in Wahrheit imWesentlichen durch die Notwendigkeit, eine nahestehende kommunistische Gruppevor den Gefahren des Parasitismus zu warnen, motiviert war. Auf ähnliche Weisekonnte der Titel des Artikels über die Gründung des IBRP 1985 – „Die Gründungdes IBRP – ein opportunistischer Bluff“ -, den wir in der International ReviewNr. 40 und 41 veröffentlicht hatten, den Eindruck erwecken, dass dieseOrganisation vollständig vom Virus des Opportunismus angesteckt sei, wohingegenwir tatsächlich die einzelnen Gruppen des IBRP stets als integralen Bestandteildes kommunistischen Lagers anerkannten, auch wenn wir immer offen und heftigihre opportunistischen Irrtümer kritisierten.

Schon aus den frühesten Ausgaben der International Reviewist leicht ersichtlich, wie unser tatsächliches Verhalten ausgesehen hat.

Die erste Ausgabe enthält Diskussionsartikel über dieÜbergangsperiode, welche die Diskussion zwischen den Gruppen, die die IKSbildeten, und anderen, die draußen blieben, widerspiegelten; dieselbeInternational Review hob gleichfalls hervor, dass einige dieser Gruppeneingeladen worden waren, an der Gründungskonferenz der IKS teilzunehmen. Fernerwurde die Praxis, Beiträge anderer Gruppen und Elemente in der InternationalReview zu veröffentlichen, seither ständig fortgeführt (u.a. Texte von der CWO,von der mexikanischen GPI, der argentinischen Gruppe Emancipacion Obrera, vonindividuellen Elementen aus Hongkong, Russland, etc.)

In der International Review Nr. 11 veröffentlichten wireinen Text, den unser zweiter Kongress 1977 verabschiedet hatte. Er definiertedie wesentlichen Konturen des proletarisch-politischen Milieus einerseits sowiedes „Sumpfes“ andererseits und unterstrich unsere allgemeine Politik gegenüberanderen proletarischen Organisationen und Individuen.

In den späten 70ern unterstützten wir mit ganzem Herzen denVorschlag von Battaglia Comunista, eine internationale Konferenz derlinkskommunistischen Gruppen abzuhalten, nahmen aktiv an allen folgendenKonferenzen teil, veröffentlichten ihre Sitzungsberichte und Artikel über siein der International Review und vertraten im Zusammenhang mit diesenKonferenzen die Notwendigkeit der beteiligten Gruppen, gemeinsameStellungnahmen zu zentralen Tagesthemen abzugeben (wie im Fall der russischenInvasion in Afghanistan). Aus dem gleichen Grund kritisierten wir heftig dieEntscheidung von Battaglia, diese Konferenzen abzubrechen (s. dazu dieInternational Review Nr. 10, 16, 17, 22 und auch die beiden Pamphlete „Texteund Sitzungsberichte der Internationalen Konferenzen der Linkskommunisten“).

In den frühen 80ern veröffentlichten wir eine Artikelserie,welche die Krise analysierte, von der eine Reihe von Gruppen aus demproletarischen Milieu betroffen war (International Review Nr. 29, 31).

Die International Review Nr. 35 enthält einen Appell anproletarische Gruppen, der von unserem V. Internationalen Kongress 1983verabschiedet worden war. In diesem Appell schlugen wir nicht die sofortigeWiedereinberufung der internationalen Konferenzen vor, sondern strebten danach,„bescheidenere“ Praktiken zu etablieren, wie unsere Anwesenheit auf denöffentlichen Veranstaltungen anderer Gruppen, umfassendere Polemiken in unsererPresse, etc.

In der International Review Nr. 46 Ende 1986 drückten wirunsere Zustimmung zum „internationalen Vorschlag“ aus, der von derargentinischen Gruppe Emancipacion Obrera zugunsten einer größeren Kooperationund der Organisation von Diskussionen zwischen den Revolutionären angeregtworden war.

In der International Review Nr. 67 veröffentlichten wireinen weiteren Appell an das proletarische Milieu, diesmal von unserem IX.Kongress 1991 verabschiedet.

Somit stellt die Politik der IKS seit 1996, zu einergemeinsamen Antwort auf solche Ereignisse wie die Kampagnen der Bourgeoisiegegen die Linkskommunisten oder den Balkankrieg aufzurufen, keineswegs eineneue Wendung oder irgendein verstecktes Manöver dar, sondern stimmt völlig mitunserer gesamten Haltung seit jeher gegenüber dem proletarische Milieu überein.

Die zahlreichen Polemiken, die wir in der InternationalReview veröffentlicht haben, sind gleichfalls Teil dieser Orientierung. Wirkönnen sie hier nicht alle auflisten, aber wir können sagen, dass wir durch dieInternational Review praktisch über jeden Aspekt des revolutionären Programmseine ständige Debatte mit all den Strömungen des proletarischen Milieus undeinigen an seinen Rändern geführt haben.

Die Debatten mit dem IBRP (Battaglia und CWO) warensicherlich die zahlreichsten und zeigten, wie ernst wir diese Strömung stetsgenommen haben. Einige Beispiele:

–          über diePartei: das Problem des Substitutionismus (International Review Nr. 17), dieunterirdische Reifung des Klassenbewusstseins (International Review Nr. 43),das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei (Nr. 60, 61, 64, 65);

–          über dieGeschichte der Italienischen Linken und die Ursprünge der Partito ComunistaInternazionalista (Nr. 8, 34, 39, 90, 91);

–          über dieAufgaben der Revolutionäre in den Peripherien des Kapitalismus (Nr. 46 und100);

–          über dieGewerkschaftsfrage (Nr. 51);

–          über denhistorischen Kurs (Nr. 36, 50, 89);

            über dieKrisentheorie und den Imperialismus (Nr. 13, 19, 86, etc.);

–          über dieNatur der Kriege in der Dekadenz (Nr. 79, 82);

–          über dieÜbergangsperiode (Nr. 47);

–          über denIdealismus und die marxistische Methode (Nr. 99).

Nicht zu erwähnen die zahllosen Artikel, die sich mit derPosition des IBRP zu den unmittelbareren Ereignissen oder Interventionenbefassten (z.B. über unsere Intervention im Klassenkampf in Frankreich 1979oder 1995, über die Streiks in Polen oder den Zusammenbruch des Ostblocks, dieUrsachen des Golfkrieges, etc., etc.)

Mit den Bordigisten haben wir über alle Fragen der Parteidebattiert (z.B. Nr. 14, 23), aber auch über die nationale Frage (Nr. 32), dieDekadenz (Nr. 77 und 78), den Mystizismus (Nr. 94), etc.

Wir sollten auch die Polemiken mit den Spätabkömmlingen desRätekommunismus (z.B. die holländische Gruppe Spartakusbond und Daad enGedachte in der International Review Nr. 2, die dänische Gruppe Rätekommunismusin der International Review Nr. 25) und mit der von Munis initiierten Strömung(Nr. 25, 29, 52) erwähnen. Parallel zu diesen Debatten innerhalb desproletarischen Milieus haben wir eine Anzahl von Kritiken über die Gruppen desSumpfes verfasst (Autonomia in Nr. 16, Modernismus in Nr. 34, Situationismus inNr. 80), so wie wir die Auseinandersetzung mit dem politischen Parasitismusgeführt haben, der in unseren Augen eine ernste Gefahr für das proletarischeLager darstellt, weil er von Elementen verkörpert wird, die behaupten, ein Teilvon ihm zu sein, die jedoch eine völlig destruktive Rolle spielen (s. z.B. dieThesen über den Parasitismus in der International Review Nr. 94, Artikel überdie EFICC (Nr. 46, 60, 70, 92), über die CGB (Nr. 83, etc.).

Selbst wenn wir sehr scharf gegen andere proletarischeGruppen polemisiert haben, so haben wir stets versucht, fair zu bleiben, indemwir unsere Argumentation nicht auf den Boden von Spekulationen und Verzerrungenstellten, sondern von den wahren Positionen anderer Gruppen ausgehen ließen.Heute versuchen wir angesichts der riesigen Verantwortung, die schwer auf denSchultern einer schmalen revolutionären Minderheit lastet, noch größereAnstrengungen zu unternehmen, um noch akkurater und grundsätzlich brüderlich zuargumentieren. Unsere Leser können durch unsere polemischen Artikel in derInternational Review schweifen und sich ihr eigenes Urteil darüber bilden, wieerfolgreich wir in dieser Hinsicht sind. Unglücklicherweise müssen wir jedochfeststellen, dass es nur wenige ernsthafte Antworten auf die meisten dieserPolemiken oder auf die vielen Orientierungstexte gab, die wir demproletarischen Milieu ausdrücklich als Diskussionsbeiträge angeboten haben.Viel zu häufig wurden unsere Artikel ignoriert oder als das jüngsteSteckenpferd der IKS abgetan, ohne jeden ernsthaften Versuch, sich mit denvorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen. Im Geiste unserer früherenAppelle an das proletarische Milieu können wir die anderen Gruppen nur dazuaufrufen, die sektiererischen Barrieren, die eine wirkliche Debatte zwischenden Revolutionären verhindern – eine Schwäche, von der letztendlich nur dieBourgeoisie profitiert -, zu erkennen und damit zu überwinden.

Genossen!

Helft uns dieInternational Review zu verbreiten!

Wir können eigentlich ganz stolz auf die InternationalReview sein und sind davon überzeugt, dass sie eine Publikation ist, die auchdie Zukunft meistern wird. Obwohl sich die Lage seit dem Beginn derInternational Review gründlich geändert hat, obwohl die Analysen der IKS reifergeworfen sind, denken wir nicht, dass die 100 Ausgaben der InternationalReview, die wir bis jetzt veröffentlicht haben, obsolet geworden sind,genausowenig wie das für die künftigen Ausgaben gilt. Es ist zum Beispiel keinZufall, dass viele unserer neuen Kontakte, sobald sie einmal richtigesInteresse an unseren Positionen gefunden haben, anfangen, eine Sammlung derfrüheren Ausgaben der International Review zusammenzustellen. Doch wir sind unsnur zu bewusst, dass unsere Presse im allgemeinen und die International Reviewim Besonderen immer noch nur eine verschwindende Minderheit erreicht. Wirwissen, dass es objektive historische Gründe für die numerische Schwäche derkommunistischen Kräfte von heute, für ihre Isolation in der Klasse als Ganzesgibt. Die Kenntnisnahme dieser Gründe erfordert zwar einen gewissenRealitätssinn unsererseits, ist aber keine Entschuldigung für eine Passivitätunsererseits. Die Verkaufszahlen der revolutionären Presse und somit derInternational Review können, wenn auch in bescheidenem Maße, durch eineAnstrengung des revolutionären Willens auf Seiten der IKS und ihrer Leser undSympathisanten durchaus erhöht werden. Daher wollen wir diesen Artikel miteinem Appell an unsere Leser schließen, aktiv an den Bemühungen zur Steigerungder Verteilung und des Verkaufs der International Review teilzunehmen – indemsie ältere Exemplare oder komplette Sammlungen (die wir zu einem Preis von £ 50oder entsprechend in anderer Währung, alles inklusive, verkaufen) bestellen,indem sie Exemplare für den Weiterverkauf ordern, indem sie mithelfen,Buchläden und Vertriebssagenturen ausfindig zu machen und zu beliefern und soweiter. Die theoretische Übereinstimmung mit der Auffassung von der Wichtigkeitder revolutionären Presse beinhaltet auch eine praktische Verpflichtung, sie zuverkaufen, da wir keine Anarchisten sind, die die Einbeziehung in dasschmutzige Geschäft von Verkauf und Abrechnung verachten, sondern Kommunisten,die ihre Klasse so weit wie möglich erreichen wollen, aber verstehen, dass diesnur auf organisierte und kollektive Art gelingen kann.

Zu Beginn dieses Artikels unterstrichen wir die Fähigkeitunserer Organisation, seit 25 Jahren vierteljährlich eine Zeitschrift zuveröffentlichen, ohne Unterbrechung, während viele andere Gruppen nurunregelmäßig oder wechselhaft veröffentlicht haben oder einfach verschwanden.Man könnte natürlich einwenden, dass die IKS nach einem Vierteljahrhundertihrer Existenz immer noch nicht die Häufigkeit ihrer theoretischen Organegesteigert hat. Dies ist offensichtlich ein Zeichen einer gewissen Schwäche,unserer Meinung nach jedoch nicht eine Schwäche in unseren politischenPositionen und Analysen. Es ist eine Schwäche, die dem gesamtenLinkskommunismus eigen ist, in dem die IKS trotz ihrer geringen numerischenStärke die bei weitem größte und am weitesten verbreitete Organisation ist. Esist eine Schwäche der gesamten Arbeiterklasse, die, obwohl sie sich Ende der60er Jahre als fähig erwiesen hatte, aus dem Schatten der Konterrevolutionhervorzutreten, auf einige gewaltige Hindernisse auf ihrem Weg gestoßen ist,last not least in Gestalt des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes unddes allgemeinen Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft. Ein besonderesKennzeichen des Zerfalls, das wir in unserer Presse hervorgehoben haben, istdie Entwicklung von allerlei Arten seichter, irrationaler oder mystischerSichtweisen in der ganzen Gesellschaft einschließlich der Arbeiterklasse, zumNachteil einer tiefen, zusammenhängenden und materialistischenHerangehensweise, deren bester Ausdruck allein der Marxismus ist. Heute findenBücher über die Esoterik ein weitaus größeres Interesse als die Werke desMarxismus. Selbst wenn wir die Kapazität besäßen, die International Reviewhäufiger zu veröffentlichen, ihr gegenwärtiger Verbreitungsgrad würde solcheMühen nicht rechtfertigen. Deshalb rufen wir unsere Leser dazu auf, uns in denBemühungen, unsere Presse weiter zu verbreiten, zu helfen. Indem sie sichdiesen Bemühungen anschließen, werden sie am Kampf gegen die Ansteckung durchbürgerliche Ideologie und Zerfall teilnehmen, die das Proletariat überwindenmuss, um den Weg zur kommunistischen Revolution freizumachen.

Amos, Dezember 1999


[i] [1] Immer wennin diesem Artikel von International Review die Rede ist, sprechen wir von derenglischen, französischen (Revue Internationale) und spanischen (RevistaInternacional) Ausgabe. Die Revue ist in diesen drei Sprachen identisch. MitInternationale Revue umgekehrt ist die Ausgabe in deutscher Sprache gemeint,die einen anderen Erscheinungsrhythmus und somit auch eine andere Numerierunghat.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

13.Kongress der IKS

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Bericht über den Klassenkampf

Ziel dieses Berichts ist es vor allem, die verbreiteten bürgerlichen Kampagnen über das „Ende des Klassenkampfes“ und das Verschwinden der Arbeiterklasse zu bekämpfen und den Standpunkt zu verteidigen, dass das Proletariat trotz aller aktuellen Schwierigkeiten sein revolutionäres Potenzial nicht verloren hat. Wie wir in den einleitenden Abschnitten, die wir hier aus Platzmangel weglassen müssen, betont hatten, gründet sich die bürgerliche Geringschätzung seines Potenzials auf eine rein immediatistische Konzeption, die den Stand des Klassenkampfes zu irgendeinem Zeitpunkt mit der wahren Dynamik des Proletariats in einem längeren Zeitraum verwechselt. Dieser seichten und empirischen Herangehensweise setzen wir die marxistische Methode entgegen, die feststellt, dass „das Proletariat... nur weltgeschichtlich existieren (kann), wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als ‚weltgeschichtliche' Existenz überhaupt vorhanden sein kann“ (Marx, Die deutsche Ideologie). Der Bericht über den Klassenkampf war also eingebettet in den Gesamtzusammenhang der historischen Klassenbewegung seit ihren ersten heroischen Versuchen zwischen 1917 und 1923, den Kapitalismus zu überwinden, und den darauffolgenden Jahrzehnten der Konterrevolution. Wir geben hier den Bericht ab der Stelle wieder, wo er sich insbesondere auf die Entwicklung der Klassenbewegung seit dem Wiederaufflammen der Klassenauseinandersetzungen Ende der 60er Jahre konzentriert. Einige Passagen, die sich mit aktuelleren und kurzzeitigen Entwicklungen befassen, haben wir hier ebenfalls weggelassen bzw. komprimiert.

1968–69: das Wiedererwachen des Proletariats

Und hier liegt die ganze Bedeutung der Ereignisse vom Mai bis Juni 1968 in Frankreich verborgen: das Auftreten einer neuen Generation von Arbeitern, die durch das Elend und die Niederlagen der vergangenen Jahrzehnte nicht gebrochen und demoralisiert waren, die sich an einen verhältnismäßig höheren Lebensstandard in den „Boomjahren“ nach dem Krieg gewöhnt hatten und die nicht bereit waren, sich den Forderungen einer erneut in die Krise schlitternden nationalen Wirtschaft zu beugen. Der zehn Millionen Arbeiter umfassende Generalstreik in Frankreich, der von einer riesigen politischen Gärung begleitet wurde, in der Begriffe wie Revolution oder die Veränderung der Welt wieder Gegenstand ernsthafter Diskussionen wurden, markierte den Wiederauftritt der Arbeiterklasse auf der historischen Bühne und das Ende des konterrevolutionären Albtraums, der so lange auf ihrer Brust gelastet hatte. Die Bedeutung des „wilden Mai“ in Italien und des „heißen Herbstes“ im darauffolgenden Jahr besteht darin, dass sie der Beweis für die Richtigkeit dieser Interpretation waren, entgegen jener Stimmen, die versuchten, den Mai 1968 als nicht mehr als eine kleine Studentenrevolte darzustellen. Der Ausbruch von Kämpfen unter den italienischen Arbeitern, damals mit ihrer mächtigen antigewerkschaftlichen Dynamik politisch die fortgeschrittenste Arbeiterklasse auf der Welt, zeigte ganz deutlich, dass der Mai 68 kein Tropfen auf dem heißen Stein, sondern die Ouvertüre einer ganzen Periode weltweit wachsender Klassenkämpfe war. Die folgenden Massenbewegungen (Argentinien 69, Polen 70, Spanien und Großbritannien 72) sind nur weitere Bestätigungen dieser Interpretation.

Nicht alle existierenden revolutionären Organisationen waren imstande, dies zu erkennen: Die älteren, besonders die bordigistische Strömung, wurden mit den Jahren immer kurzsichtiger und waren unfähig, den tiefgehenden Wandel im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu sehen. Doch diejenigen, die fähig waren, sowohl die Dynamik dieser neuen Bewegung zu erfassen als auch sich die „alten“ Methoden der Italienischen Linken wiederanzueignen, welche in den finstersten Zeiten der Konterrevolution ein bewundernswertes Maß an Klarheit besaß, hatten sich in die Lage versetzt, die Eröffnung einer neuen historischen Periode zu erklären, die sich markant unterscheidet von jener, die unter dem Gewicht der Konterrevolution vorgeherrscht und in der der  Kurs zum Krieg dominiert hatte. Der erneute Ausbruch der Weltwirtschaftskrise hätte sicherlich zu einer Verschärfung der imperialistischen Antagonismen geführt, die wiederum, wenn sie ihrer eigenen Dynamik überlassen worden wären, die Menschheit in einen dritten und höchstwahrscheinlich endgültigen Weltkrieg gestoßen hätte. Doch indem das Proletariat begonnen hatte, der Krise auf eigenem Klassenterrain entgegenzutreten, wirkte es als fundamentales Hindernis gegenüber dieser Dynamik. Und nicht nur das; es entwickelte zudem durch die Aufnahme seiner Abwehrkämpfe eine eigene Dynamik hin zu einem zweiten weltrevolutionären Ansturm gegen das kapitalistische System.

Der massive und offene Charakter dieser ersten Welle von Kämpfen und die Tatsache, dass sie es endlich wieder ermöglicht hatten, über die Revolution zu sprechen, führte viele der ungeduldigen Abkömmlinge der Bewegung dazu, „ihre Träume für bare Münze zu nehmen“ und zu denken, dass die Welt sich Anfang der 70er Jahre bereits am Rande einer revolutionären Krise befände. Dieser Art von Immediatismus fehlte das Verständnis dafür, dass:

–          die Wirtschaftskrise, welche die Triebkraft für den Kampf geschaffen hatte, sich noch ziemlich in der Anfangsphase befand, und im Gegensatz zu den 30er Jahren dieser Krise eine Bourgeoisie gegenüberstand, die ausgerüstet war mit den Lehren ihrer eigenen Erfahrungen und mit Instrumenten, die sie in die Lage versetzten, den Abstieg in den Abgrund zu ‚managen‘, wie der Gebrauch blockweiter Organe, die Fähigkeit, die schlimmsten Auswirkungen der Krise durch die Flucht in die Verschuldung und durch ihre Abwälzung in die Peripherien des Systems hinauszuzögern;

–          die politischen Folgen der Konterrevolution immer noch ein beträchtliches Gewicht innerhalb der Arbeiterklasse besaßen: der beinahe völlige Bruch in der organischen Kontinuität mit den politischen Organisationen der Vergangenheit, der niedrige Grad an politischer Kultur im Proletariat als Ganzes, sein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber der „Politik“, Resultat seiner traumatischen Erfahrung mit dem Stalinismus und der Sozialdemokratie.

Diese Faktoren sind ausschlaggebend dafür, dass die Periode des proletarischen Kampfes, die im Mai 68 eröffnet wurde, sich sehr lange hinziehen wird. Im Gegensatz zur ersten revolutionären Welle, die als Antwort auf den Krieg auftrat und so sehr schnell auf die politische Ebene katapultiert wurde – in vielerlei Hinsicht zu schnell, wie Rosa Luxemburg bezüglich der Novemberrevolution in Deutschland bemerkte –, können die revolutionären Schlachten der Zukunft nur durch eine Reihe von defensiven ökonomischen Auseinandersetzungen vorbereitet werden, welche – und dies ist in jedem Fall ein wesentlicher Zug in den allgemeinen Klassenkämpfen – dazu gezwungen sind, nach dem schwierigen und unregelmäßigen Muster von Fortschritt und Rückzug zu verlaufen.

Die Antwort der französischen Bourgeoisie auf den Mai 68 gab den Ton an für die Gegenattacke der Weltbourgeoisie: der Wahltrick wurde benutzt, um den Klassenkampf zu zerstreuen (sobald die Gewerkschaften letzteren erst einmal eingepfercht hatten); die Versprechungen einer linken Regierung, die den Arbeitern in Aussicht gestellt wurde, indem die blendende Illusion vermittelt wurde, dass sie all die Probleme erledigen werde, die den Ausbruch bewirkt hatten, und eine neue Herrschaft von Wohlstand und Gerechtigkeit, ja sogar ein bisschen „Arbeiterkontrolle“, installieren werde. Die 70er Jahre können also insofern als „Jahre der Illusion“ bezeichnet werden, als dass sich die Bourgeoisie angesichts eines relativ eingeschränkten Ausmaßes der Wirtschaftskrise noch in der angenehmen Lage befand, diese Illusion der Arbeiterklasse auch verkaufen zu können. Diese Gegenoffensive nahm der ersten internationalen Welle von Kämpfen die Spitze.

Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, auch nur eine ihrer falschen Versprechungen zu verwirklichen, bedeutete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Kämpfe wieder zurückkehrten. Die Jahre 1978 bis 1980 waren eine Zeit sehr konzentrierter Ausbrüche wichtiger Klassenkämpfe: Longwy-Denain in Frankreich mit den Bemühungen, den Kampf über den Stahlsektor hinaus auszudehnen und die Autorität der Gewerkschaft herauszufordern; der Rotterdamer Hafenarbeiterstreik, der das Auftauchen eines unabhängigen Streikkomitees erblickte; die Massenbewegung im Iran, die zum Sturz des Schah-Regimes führte; in England der „Winter des Unfriedens“, in dem es in einer Reihe von Bereichen gleichzeitig zum Ausbruch von Kämpfen kam, und der Stahlarbeiterstreik von 1980; und schließlich Polen 1980, der Höhepunkt dieser Welle und, in vielerlei Hinsicht, der gesamten Periode der wiederauflebenden Klassenkämpfe bis dahin.

Am Ende dieser turbulenten Dekade hatte die IKS bereits angekündigt, dass die 80er Jahre die „Jahre der Wahrheit“ werden, womit wir nicht meinten, wie häufig missgedeutet, dass dies das Jahrzehnt der Revolution sei, sondern ein Jahrzehnt, in dem die Illusionen der 70er Jahre durch die brutale Beschleunigung der Krise und dem daraus resultierenden Anschlag auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ausgetrieben werden. Ein Jahrzehnt, in dem die Bourgeoisie selbst die Sprache der Wahrheit spricht, „des Blutes, des Schweißes und der Tränen“, des „Es-gibt-keine-Alternative“ à la Thatcher – ein Wechsel in der Sprache, der auch dem Wechsel in der politischen Aufstellung der herrschenden Klasse entsprach, mit einer kaltschnäuzigen Rechten an der Macht, die offen die notwendigen Angriffe ausführte, und einer scheinbar radikalisierten Linken in der Opposition, damit beauftragt, die Antwort der Arbeiter von innen zunichte zu machen. Und schließlich waren die 80er Jahre „Jahre der Wahrheit“, weil die historische Alternative, der die Menschheit gegenübersteht – Weltkrieg oder Weltrevolution –, nicht nur deutlicher zutage trat, sondern in einem gewissen Sinn auch von den Ereignissen der folgenden Dekade entschieden wurde. Und in der Tat verdeutlichten dies die Ereignisse zu Anfang dieser Dekade: Auf der einen Seite warf die sowjetische Invasion in Afghanistan ein deutliches Schlaglicht auf die „Antwort“ der Bourgeoisie auf die Krise und eröffnete eine Periode der weiteren Verschärfung von Spannungen zwischen den Blöcken, was versinnbildlicht wurde durch Reagans Warnungen vor dem Reich des Bösen und den gigantischen Militärbudgets, die für Waffensysteme wie das „Star-Wars“-Projekt aufgewendet wurden. Auf der anderen Seite veranschaulichten die Massenstreiks in Polen die Antwort des Proletariats klar und deutlich.

Die IKS hat stets die enorme Bedeutung dieser Bewegung anerkannt, die die „Antwort“ auf all die in den vorherigen Schlachten gestellten Fragen lieferte: „Der Kampf in Polen hat Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen geliefert, die in den früheren Kämpfen gestellt worden waren, ohne je klar beantwortet zu werden:

–          die Notwendigkeit einer Ausweitung des Kampfes (Rotterdam);

–          die Notwendigkeit der Selbstorganisation (Stahlarbeiterstreik in England);

–          das Verhalten gegenüber der Repression (Longwy-Denain).

In all diesen Punkten stellten die Kämpfe in Polen einen großen Schritt vorwärts dar im weltweiten Kampf des Proletariats, weswegen diese Kämpfe die wichtigsten seit über einem halben Jahrhundert sind.“  („Resolution über den Klassenkampf“, 4. Kongress der IKS, 1980, veröffentlicht in International Review, Nr. 26)

Zusammengefasst zeigte die polnische Bewegung, wie das Proletariat selbst als eine einheitliche soziale Kraft auftreten kann, die nicht nur imstande ist, sich dem Angriff des Kapitals zu widersetzen, sondern auch in der Lage ist, die Perspektive der Arbeitermacht aufzustellen (eine Gefahr, die von der Bourgeoisie sehr wohl gewürdigt wurde, als sie zeitweise die imperialistischen Rivalitäten zurückstellte, um die Bewegung, insbesondere durch die Konstruktion der Solidarnosc, zu ersticken).

Indem der polnische Massenstreik die Frage beantwortete, wie der Kampf ausgeweitet und organisiert werden soll – nämlich durch seine Vereinigung –, stellte er eine neue Frage: Wie kann der Massenstreik über die nationalen Grenzen hinaus generalisiert werden – eine Vorbedingung für die Entwicklung einer revolutionären Situation? Doch wie unsere Resolution es damals ausdrückte, stand dies nicht in unmittelbarer Aussicht. Die Frage der Generalisierung konnte in Polen nur gestellt werden, doch es lag am Weltproletariat und insbesondere am Proletariat Westeuropas, darauf zu antworten. Bei dem Versuch, einen klaren Kopf über die Bedeutung der Ereignisse in Polen zu behalten, mussten wir zwei verschiedene Verirrungen bekämpfen: einerseits eine ernsthafte Unterschätzung der Wichtigkeit des Kampfes (z.B. in unserer Sektion in Großbritannien, unter den Kampfgenossen der gewerkschaftlichen Streikkomitees im britischen Stahlarbeiterstreik, welche die Bewegung in Polen als weniger wichtig einschätzten als das, was in Großbritannien geschah), und andererseits ein gefährlicher Immediatismus, der das kurzfristige revolutionäre Potenzial dieser Bewegung überschätzte. Um diese sich diametral gegenüberstehenden Irrtümer zu kritisieren, waren wir dazu gezwungen, die Kritik der Theorie des „schwächsten Gliedes“ weiterzuentwickeln.

Das zentrale Element dieser Kritik besteht in der Erkenntnis, dass der revolutionäre Durchbruch ein konzentriertes und vor allem ein politisch erfahrenes bzw. „kultiviertes“ Proletariat erfordert. Das Proletariat der osteuropäischen Länder besitzt eine ruhmreiche revolutionäre Vergangenheit, doch dies alles ist vom Schrecken des Stalinismus ausradiert worden, was die riesige Lücke zwischen dem Grad der Selbstorganisation und der Ausweitung der Bewegung in Polen einerseits und ihrem politischen Bewusstsein (die Vorherrschaft der Religion, aber vor allem der demokratischen und gewerkschaftlichen Ideologie) andererseits erklärt. Der politische Bewusstseinsgrad des Proletariats in Westeuropa, das jahrzehntelange Erfahrungen mit den demokratischen Ergötzlichkeiten hat, ist beträchtlich höher (eine Tatsache, die unter anderem durch das Phänomen ausgedrückt wird, dass die Mehrheit der revolutionären Organisationen der Welt in Westeuropa konzentriert ist). Es ist also zuallererst Westeuropa, auf das wir Acht geben müssen, wenn wir die Reifung der Bedingungen für die nächste revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse beurteilen wollen.

Einerlei, die tiefe Konterrevolution, die in den 20er Jahren über die Arbeiterklasse hergefallen war, hat ihren Tribut vom gesamten Proletariat erfordert. Man könnte sagen, dass das Proletariat von heute einen Vorteil gegenüber der revolutionären Generation von 1917 hat: Heute gibt es keine große Arbeiterorganisation, die, gerade erst zur herrschenden Klasse übergelaufen, noch fähig wäre, die grenzenlose Loyalität einer Klasse einzufordern, die noch nicht in der Lage war, die historischen Konsequenzen ihres Betruges wahrzunehmen. Dies war der Hauptgrund für die Niederlage der deutschen Revolution durch die Hände der Sozialdemokratie 1918/19. Doch die Sache hat auch eine Kehrseite. Die systematische Zerstörung der revolutionären Traditionen des Proletariats, das vom Proletariat entwickelte Misstrauen gegenüber allen politischen Organisationen, sein wachsender Gedächtnisverlust gegenüber seiner eigenen Geschichte (ein Faktor, der sich seit ungefähr einem Jahrzehnt beschleunigt) bilden eine große Schwäche der Arbeiterklasse auf dem gesamten Globus.

In keinem der nachfolgenden Ereignisse war das westeuropäische Proletariat bereit, die Herausforderung, die vom polnischen Massenstreik aufgestellt worden war, anzunehmen. Die zweite Welle von Kämpfen brach die Bourgeoisie durch die neue Strategie der Platzierung der Linken in der Opposition, und die polnischen Arbeiter fanden sich selbst genau zu jener Zeit in der Isolation wieder, in der sie den Ausbruch des Kampfes an anderer Stelle am dringendsten benötigten. Diese Isolation (bewusst von der Weltbourgeoisie erzwungen) öffnete die Tore für Jaruzelskis Panzer. Die Repression in Polen 1981 markierte das Ende der zweiten Welle von Kämpfen.

Historische Ereignisse von dieser Tragweite haben langfristige Konsequenzen. Der Massenstreik in Polen lieferte den endgültigen Beweis, dass der Klassenkampf die einzige Kraft ist, die die Bourgeoisie dazu nötigen kann, ihre imperialistischen Rivalitäten hintanzustellen. Er zeigte insbesondere, dass der russische Block – historisch durch seine schwache Position dazu verdammt, der „Aggressor“ in jedwedem Krieg zu sein – unfähig war, auf seine wachsende wirtschaftliche Krise mit einer Politik der militärischen Expansion zu antworten. Es war klar, dass die Arbeiter des Ostblocks (und selbst Russlands) als Kanonenfutter in irgendeinem künftigen Krieg für den Ruhm des „Sozialismus“ total ungeeignet waren. So war der Massenstreik in Polen ein wichtiger Faktor bei der kommenden Implosion des imperialistischen russischen Blocks.

Auch wenn sie nicht in der Lage war, die Frage der Generalisierung zu beantworten, blieb die Arbeiterklasse des Westens nicht lange auf dem Rückzug. Mit der ersten Serie von Streiks im öffentlichen Sektor Belgiens 1983 startete sie eine sehr lange „dritte Welle“, die, auch wenn sie nicht von der Ebene des Massenstreiks ausging, eine allgegenwärtige Dynamik in diese Richtung entwickelte.

In unserer oben zitierten Resolution von 1980 verglichen wir die Situation der Klasse von heute mit jener von 1917. Die Bedingungen des Weltkrieges garantierten, dass jeder Klassenwiderstand sofort mit der ganzen Macht des Staates konfrontiert war und somit die Frage der Revolution stellen musste. Gleichzeitig brachten die Kriegsbedingungen zahllose Nachteile mit sich – u.a. die Fähigkeit der Bourgeoisie, einen Keil zwischen die Arbeiter der „Sieger“ und der „besiegten“ Nationen zu treiben und durch die Beendigung des Krieges der Revolution den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine lang hingezogene und weltweite Wirtschaftskrise jedoch tendiert nicht nur dazu, einheitliche Bedingungen für die gesamte Klasse zu schaffen, sondern verschafft dem Proletariat auch mehr Zeit, seine Kräfte, sein Klassenbewusstsein durch eine ganze Reihe von Teilkämpfen gegen die kapitalistischen Angriffe zu entwickeln. Die internationale Welle der 80er Jahre besaß definitiv diese Charakteristik. Auch wenn keiner der Kämpfe eine ähnlich spektakuläre Gestalt annahm wie in Frankreich 1968 oder in Polen 1980, so vereinigten sie in sich wichtige Klärungen über Ziel und Zweck des Kampfes. Zum Beispiel zeigten die weitverbreiteten Solidaritätsappelle über sektorale Grenzen hinaus in Belgien 1983 und 1986 oder in Dänemark 1985 konkret, wie das Problem der Ausdehnung gelöst werden konnte; die Bemühungen, die Kontrolle über den Kampf zu erlangen (Eisenbahnarbeiterversammlungen in Frankreich 1986, Versammlungen von Schulbediensteten in Italien 1987) zeigten, wie man sich außerhalb der Gewerkschaften organisiert. Es gab auch erste, noch zaghafte Versuche, Lehren aus den Niederlagen zu ziehen: In Großbritannien z.B. deuteten Kämpfe gegen Ende des Jahrzehnts darauf  hin, dass die Arbeiter nach der Niederlage der militanten, aber lange hingezogenen und isolierten Kämpfe der Bergarbeiter und Drucker Mitte der 80er Jahre nicht gewillt waren, in dieselben Fußstapfen zu treten (so die britischen Telecom-Arbeiter, die schnell zuschlugen und dann zur Arbeit zurückkehrten, bevor sie ins Leere liefen, oder die gleichzeitigen Streiks in etlichen Branchen im Sommer 1988). Zur gleichen Zeit lieferte das Auftreten von aus dem Arbeiterkampf entstandenen Gruppen in etlichen Ländern die Antwort auf die Frage, wie sich die militantesten Arbeiter gegenüber den Kämpfen in ihrer Gesamtheit verhalten sollen. All diese scheinbar voneinander getrennten Strömungen mündeten in einen gemeinsamen Lauf, welcher eine qualitative Vertiefung des weltweiten Klassenkampfes darstellte.

Nichtsdestotrotz begann ab einem gewissen Punkt der Zeitfaktor immer weniger eine für das Proletariat günstige Rolle zu spielen. Angesichts der Vertiefung der Krise der gesamten Produktionsweise, einer geschichtlichen Gesellschaftsformation, hielt der Arbeiterkampf trotz seines allmählichen Fortschritts nicht mehr Schritt mit den sich allerorten überschlagenden Ereignissen, erreichte er nicht mehr die Qualität, die erforderlich war, um das Proletariat in seiner Rolle als positive revolutionäre Kraft zu bestätigen, auch wenn er immer noch den Weg zum Weltkrieg blockierte. So blieb die Existenz der dritten Welle von Arbeiterkämpfen der weiten Mehrheit der Menschheit und auch des Proletariats mehr oder weniger verborgen – sicherlich auch durch die Unterdrückung dieser Wahrheit durch die Bourgeoisie, aber vor allem durch die langsame, unspektakuläre Natur dieser Kämpfe. Die dritte Welle war selbst proletarischen politischen Organisationen „verborgen“ geblieben, die dazu neigten, nur die oberflächlichen Ausdrücke zu sehen und dies auch nur als getrennte und nicht miteinander verbundene Phänomene.

Diese Situation, in der es trotz der sich immer weiter vertiefenden Krise keiner der Hauptklassen gelang, ihre Lösung durchzusetzen, rief das Phänomen des Zerfalls hervor, das den 80er Jahren auf mannigfaltigen, miteinander verbundenen Ebenen seinen Stempel aufdrückte: auf der sozialen Ebene (wachsende Atomisierung der Individuen, Banditentum, Drogenmissbrauch etc.), auf ideologischer Ebene (Verbreitung irrationaler und fundamentalistischer Heilslehren), auf ökologischer Ebene usw. usf. Entstanden aus der Sackgasse im Klassenkampf, sorgte der Zerfall seinerseits dafür, dass die Fähigkeit des Proletariats geschwächt wurde, eine einheitliche Kraft zu schmieden. Zum Ende dieses Jahrzehnts hin rückte der Zerfall mehr und mehr in den Mittelpunkt und kulminierte in den gigantischen Ereignissen von 1989, die die endgültige Eröffnung einer neuen Phase im langen Abstieg des überflüssig gewordenen Kapitalismus markierte, eine Phase, in der das gesamte gesellschaftliche Gefüge zu krachen, zu wanken und zusammenzufallen beginnt.

1989–99: der Klassenkampf im Angesicht der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft

Der Zusammenbruch des Ostblocks fand also in einem Augenblick statt, in dem das Proletariat zwar immer noch kämpferisch war und langsam sein Bewusstsein entwickelte, aber noch nicht den Punkt erreicht hatte, an dem es imstande gewesen wäre, eine Antwort auf solch ein enormes historisches Ereignis auf seinem eigenen Klassenterrain parat zu haben. Der Kollaps des „Kommunismus“ stoppte die dritte Welle abrupt und hatte (bis auf eine sehr begrenzte politisierte Minderheit) einen äußerst negativen Einfluss auf das Schlüsselelement des Klassenbewusstseins – die Fähigkeit, eine Perspektive, ein allgemeingültiges Ziel für den Kampf zu entwickeln, was in einer Epoche, in der die defensiven Kämpfe je länger je weniger von den offensiven, revolutionären Kämpfen der Klasse getrennt werden können, notwendiger denn je ist. Der Kollaps des Ostblocks griff die Klasse auf zweierlei Weise an:

–          Er ermöglichte der Bourgeoisie, eine ganze Reihe von Kampagnen rund um das Thema „Das Ende des Kommunismus“, „Das Ende des Klassenkampfes“ zu entwickeln, was tiefe Spuren in der Fähigkeit der Klasse hinterließ, ihrem Kampf die Perspektive des Aufbaus einer neuen Gesellschaft zu verleihen, sich selbst als eine unabhängige, dem Kapital feindlich gesonnene Kraft zu positionieren und ihre eigenen Interessen zu verteidigen.

–   Gleichzeitig löste der Zusammenbruch des Ostblocks all die Kräfte des Zerfalls aus, die bereits im Verborgenen gelauert hatten, was die Klasse der korrupten Atmosphäre des Jeder-für-sich, der schlimmsten Einflüsse des Banditentums, Fundamentalismus etc. aussetzte. Darüber hinaus war die Bourgeoisie imstande, die Manifestationen des Zerfalls gegen die Arbeiterklasse zu nutzen, obwohl dies ihr System noch weiter in Mitleidenschaft zog. Ein klassisches Beispiel war die Dutroux-Affäre in Belgien, wo die schmutzigen Praktiken bürgerlicher Cliquen als Vorwand benutzt wurden, um die Arbeiterklasse in einer breiten demokratischen Kampagne für eine „saubere Regierung“ zu ertränken. Tatsächlich wurde die demokratische Mystifikation immer systematischer genutzt, war sie doch sowohl die logische „Schlussfolgerung“ aus dem „Scheitern des Kommunismus“ als auch das ideale Instrument, um die Klasse noch mehr zu atomisieren und sie mit Händen und Füßen an den kapitalistischen Staat zu fesseln. Auch die vom Zerfall verursachten Kriege – der Golfkrieg 1991, Ex-Jugoslawien etc. – hatten, auch wenn sie einer Minderheit erlaubten, die militaristische Natur des Kapitalismus noch deutlicher zu erkennen, den allgemeinen Effekt, dass das Gefühl der Machtlosigkeit, des Lebens in einer grausamen und irrationalen Welt, in der es keine andere Lösung gibt, als den Kopf in den Sand zu stecken, im Proletariat noch verstärkt wurde.

Die Lage der Arbeitslosen wirft ein deutliches Licht auf die Probleme, denen sich die Klasse hier gegenübersieht. In den späten 70er und den frühen 80er Jahren identifizierte die IKS die arbeitslosen Arbeiter als potenzielle Quelle der Radikalisierung der Klassenbewegung insgesamt, vergleichbar mit der Rolle, die die Soldaten in der ersten weltrevolutionären Welle gespielt hatten. Doch unter dem Gewicht des Zerfalls hat es sich für die Arbeitslosen als immer schwieriger erwiesen, ihre eigenen kollektiven Kampf- und Organisationsformen zu entwickeln, da sie für die zerstörerischsten sozialen Auswirkungen (Atomisierung, Kriminalität, etc.) besonders verwundbar sind. Dies trifft vor allem auf die Generation junger arbeitsloser Proletarier zu, die nie die kollektive Disziplin und Arbeitersolidarität erfahren haben. Gleichzeitig jedoch ist dieses negative Gewicht nicht von der Tendenz des Kapitals erleichtert worden, jene „traditionellen“ Bereiche zu „de-industrialisieren“, in denen die Arbeiter eine alte Erfahrung mit der Klassensolidarität besitzen – Bergbau, Schiffbau, Stahl etc. Statt ihre kollektiven Traditionen unter die Arbeitslosen zu bringen, neigten diese Proletarier dazu, in der anonymen Masse unterzugehen. Die Dezimierung dieser Bereiche hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Kämpfe der Beschäftigten selbst, da sie mit dazu beitrug, wichtige Quellen der Klassenidentität und –erfahrung zuzuschütten.

Die Gefahren der neuen Periode für die Arbeiterklasse und für die Zukunft ihrer Kämpfe darf nicht unterschätzt werden. Während der Klassenkampf in den 70er und 80er Jahren definitiv eine Barriere gegen den Krieg darstellte, wird der Prozess des Zerfalls von den Tageskämpfen weder gestoppt noch verlangsamt. Um einen Weltkrieg auszulösen, müsste die Bourgeoisie eine Reihe wichtiger Siege über die zentralen Bataillone der Arbeiterklasse erringen. Heute sieht sich das Proletariat einer längerfristigen, aber nicht minder gefährlichen Bedrohung des „Todes auf Raten“ gegenüber, wo die Arbeiterklasse in wachsendem Maße durch den ganzen Prozess bis zu dem Punkt niedergerungen werden kann, an dem sie die Fähigkeit verliert, sich selbst als Klasse zu behaupten, während der Kapitalismus von einer Katastrophe in die nächste stürzt (lokale Kriege, Umweltkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen, etc.), bis jener Punkt erreicht ist, an dem die Aussicht auf eine kommunistische Gesellschaft auf Generationen hinaus zerstört würde – ganz zu schweigen von der eigentlichen Vernichtung der Menschheit selbst.

Für uns jedoch ist die Fähigkeit des Proletariats, auf die Auflösung des kapitalistischen Systems zu antworten, trotz der vom gesellschaftlichen Zerfall aufgekommenen Probleme, trotz des Rückflusses des Klassenkampfes, den wir in den letzten paar Jahren erlebt hatten, nicht verschwunden, und die Tür zu massiven Klassenkonfrontationen bleibt geöffnet. Um dies zu belegen, ist es notwendig, sich aufs Neue der breiten Dynamik des Klassenkampfes seit dem Beginn der Zerfallsphase zu vergewissern.

Die Entwicklung der Kämpfe seit 1989

Wie die IKS zu jener Zeit vorhergesagt hat, war der Rückgang sowohl auf der Ebene des Bewusstseins als auch auf der des Kampfgeistes sehr markant. Die Arbeiterklasse stand voll und ganz im Bann der Kampagnen über den Tod des „Kommunismus“.

Ab 1992 begannen die Auswirkungen dieser Kampagnen, wenn nicht zu verschleißen, so doch zumindest sich abzuschwächen, und die ersten Anzeichen einer Rückkehr der Klassenmilitanz machten sich bemerkbar, insbesondere mit der Mobilisierung der italienischen Arbeiter gegen das Austeritätsprogramm der Regierung D'Amato im September 1992. Dem folgten die Bergarbeiterdemonstrationen gegen Zechenschließungen in Großbritannien im Oktober desselben Jahres. Das Ende des Jahres 1993 sah weitere Bewegungen in Italien, Belgien, Spanien und besonders in Deutschland, wo in einer Reihe von Branchen, besonders aber im Maschinenbau und in der Automobilindustrie, Streiks und Demonstrationen stattfanden. Die IKS erklärte im Editorial der International Review Nr.76 („The difficult resurgence of the class struggle“), dass „die Ruhe, die fast vier Jahre lang geherrscht hat, endgültig durchbrochen worden ist“.  Zwar begrüßte die IKS die Wiederbelebung des Kampfgeistes in der Klasse, doch betonte sie auch die Schwierigkeiten, die ihr gegenüberstanden: die wiedergenesene Stärke der Gewerkschaften, die Manövrierfähigkeit der Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse, die es ihr vor allem erlaubte, Zeitpunkt und Umfang einer jeder größeren Bewegung, die auszubrechen droht, zu bestimmen, und die ähnlich geartete Fähigkeit der herrschenden Klasse, vollen Gebrauch von den Phänomenen des Zerfalls zu machen, um die Atomisierung der Arbeiterklasse weiter voranzutreiben (die Aufdeckung von Skandalen wie z.B. die „Saubere-Hände“-Kampagne in Italien wurde in den letzten Jahren besonders stark ins Rampenlicht gerückt).

Im Dezember 1995 sahen sich die IKS im besonderen und das revolutionäre Milieu im allgemeinen einer harten Prüfung ausgesetzt. Im Zusammenhang mit den Kontroversen über die Eisenbahn und einer höchst provokanten Attacke auf den Mindestlohn aller Arbeiter schien es, als ob Frankreich sich an der Spitze der wichtigsten Klassenbewegungen befand, nachdem Streiks und Massenversammlungen viele Branchen ergriffen und Arbeiter skandiert hatten, dass der einzige Weg, Forderungen durchzusetzen, im gemeinsamen Kampf aller bestünde. Eine Reihe von revolutionären Gruppen, die dem Klassenkampf im allgemeinen skeptisch gegenüberstanden, brach angesichts dieser Bewegung in große Begeisterung aus. Die IKS jedoch warnte die Arbeiter, dass diese „Bewegung“ vor allem das Produkt eines gigantischen Manövers der herrschenden Klasse war, die sich der sich zuspitzenden Unzufriedenheit innerhalb der Klasse bewusst war und danach trachtete, mit einem Präventivschlag zu verhindern, dass die gärende Wut in wirkliche Militanz, in einen tatsächlichen Willen zur Aktion umschlägt. Indem die Bourgeoisie besonders die Gewerkschaften als Helden des Arbeiterkampfes, als Spezialisten der proletarischen Kampfmethoden (Versammlungen, das Entsenden von Massendelegationen in andere Sektoren etc.) darstellte, versuchte die Bourgeoisie in Vorbereitung auf weitaus wichtigere Konfrontationen in der Zukunft, die Glaubwürdigkeit ihres Gewerkschaftsapparates aufzupolieren. Obgleich die IKS wegen ihrer „konspirativen“ Ansicht über den Kampf heftig kritisiert worden war, wurde diese Analyse in der folgenden Periode bestätigt. Die deutsche und belgische Bourgeoisie kopierten die französischen Streiks bis aufs i-Tüpfelchen, und auch in Großbritannien (die Liverpooler Hafenarbeiter-Kampagne) sowie den USA (der Streik bei UPS) wurden weitere Versuche unternommen, um das Image der Gewerkschaften zu stärken.

Die wichtigste Bestätigung unserer Analyse wurde vom riesigen Streik in Dänemark im Sommer 1998 geliefert. Auf den ersten Blick wies diese Bewegung viele Ähnlichkeiten mit den Dezember-Ereignissen 1995 in Frankreich auf, doch wie wir im Editorial der International Review Nr.94 sagten, entsprach dies nicht der Realität: „Trotz des Scheiterns des Streiks und der Manöver der Bourgeoisie hat diese Bewegung eine andere Bedeutung als jene vom Dezember 1995 in Frankreich. Während besonders in Frankreich die Rückkehr zur Arbeit mit einer gewissen Euphorie einherging, die keinen Platz für die Infragestellung der Gewerkschaften ließ, brachte das Ende des dänischen Streiks ein Gefühl der Niederlage und weniger gewerkschaftliche Illusionen mit sich. Diesmal war das Ziel der Bourgeoisie nicht, eine riesige Operation durchzuführen, um die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften international wiederherzustellen wie 1995, sondern ‚Dampf abzulassen', um der Unzufriedenheit und der wachsenden Kampfbereitschaft zuvorzukommen, die sich Stück für Stück in Dänemark wie auch in anderen europäischen Ländern und anderswo angehäuft hatte.“

Das Editorial hebt auch andere wichtige Aspekte des Streiks hervor: sein bedeutender  Umfang (ein Viertel der Arbeitskräfte zwei Wochen lang im Streik), was ein wahres Zeugnis vom wachsenden Ausmaß der Wut und der Kampfbereitschaft ablegt, die sich in der Klasse angesammelt haben, und der intensive Gebrauch der Basisgewerkschaften, um diese Militanz und Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem offiziellen Gewerkschaftsapparat wegzuwischen.

Vor allem hatte sich der internationale Kontext geändert: eine wachsende Kampfbereitschaft, die in zahlreichen Ländern zum Ausdruck kam und sich seitdem fortgesetzt hat:

–          im Sommer 1998 in den USA mit dem Streik von nahezu 10.000 Arbeitern bei General Motors, von 70.000 Arbeitern bei Bell Atlantic, der Krankenhausangestellten in New York und mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und 40.000 Maschinenbauern in New York;

–          in Großbritannien mit den inoffiziellen Streiks von Sozialarbeitern in Schottland, von Postangestellten in London und mit den beiden Streiks der Elektriker in London, welche einen entschlossenen Willen offenbarten, gegen die Opposition der Gewerkschaftsführung zu kämpfen;

–          im Sommer in Griechenland, wo Kämpfe rund um den Erziehungssektor in Auseinandersetzungen mit der Polizei mündeten;

–          in Norwegen, wo im Herbst ein Streik stattfand, der in seinem Umfang mit jenem in Dänemark vergleichbar war;

–          in Frankreich, wo es eine ganze Reihe von Kämpfen in verschiedenen Bereichen gab, einschließlich Erziehung, Gesundheit, Post und Transport, wobei am bemerkenswertesten der Streik von Busfahrern im herbstlichen Paris war, als die Arbeiter gegen eine der Konsequenzen des Zerfalls – die steigende Zahl von Angriffen auf Transportarbeiter – auf eigenem Terrain reagierten, indem sie mehr Jobs statt mehr Polizei forderten;

–          in Belgien, wo die langsame, aber unaufhaltsame Steigerung der Kampfbereitschaft, ausgedrückt durch Streiks in der Automobilindustrie, im Transportwesen und in der Kommunikationsindustrie, von einer riesigen Kampagne der Bourgeoisie rund um das Thema „kämpferische Gewerkschaften“ eingehüllt wurde. Diese Kampagne hat mit der Förderung einer „Bewegung für die gewerkschaftliche Erneuerung“, die eine sehr radikale, „einheitliche“ Sprache benutzte und deren Führer, D'Orazio, den Nimbus der Radikalität erhalten hat, weil er wegen „Gewalttätigkeit“ vor Gericht gestellt worden war, eine ausgesprochen deutliche Gestalt angenommen;

–          in der Dritten Welt mit Streiks in Südkorea, mit dem Rumoren massiver gesellschaftlicher Unzufriedenheit in China und erst kürzlich in Simbabwe, wo ein Generalstreik ausgerufen wurde, um die Wut der Arbeiter nicht nur über die Regierung, sondern auch über die Opfer, die der Krieg in der Demokratischen Republik Kongo erfordert hatte, zu kanalisieren; dieser Streik fiel mit Desertionen und Protesten in den Truppen zusammen.

Es könnten noch weitere Beispiele gegeben werden, obgleich es schwierig ist, Informationen zu erhalten, da – im Gegensatz zu den großen, in der Öffentlichkeit breit getretenen Manövern von 1995/96 – die Bourgeoisie auf die meisten dieser Bewegungen mit der Taktik des Verschweigens geantwortet hat, was ein zusätzlicher Beweis dafür ist, dass diese Bewegungen eine reelle und wachsende Kampfbereitschaft ausdrückten, die die Bourgeoisie natürlich nicht ermutigen wollte.

Die Antwort der Bourgeoisie und die Perspektiven für den Klassenkampf

Angesichts der wachsenden Kampfbereitschaft wird die Bourgeoisie nicht untätig bleiben. Sie hat bereits eine ganze Reihe von Kampagnen lanciert oder intensiviert, sowohl auf dem direkten Kampfterrain als auch im allgemeineren politischen Spektrum, um die Militanz der Klasse zu untergraben und die Entwicklung ihres Bewusstseins zu behindern: eine Wiederbelebung der „kämpferischen“ Gewerkschaften (z.B. in Belgien, in Griechenland, im britischen Elektrikerstreik); das propagandistische Sperrfeuer der „Demokratie“ (Sieg der linken Regierungen, Pinochet-Affäre, etc.); Mystifikationen der Krise („Globalisierungskritik“, der Ruf nach einem „dritten Weg“, welcher den Staat benutzen möchte, um die zügellose „Marktwirtschaft“ zu kontrollieren); Fortsetzung der Verleumdungen gegen den Oktober 1917, gegen den Bolschewismus und die Linkskommunisten und so weiter.

Zusätzlich zu diesen Kampagnen wird das Kapital einen maximalen Nutzen aus all den Manifestationen des gesellschaftlichen Zerfalls ziehen, um all die Probleme, denen die Arbeiterklasse gegenübersteht, weiter zu erschweren. Es ist noch ein weiter Weg zurückzulegen von der Art von Bewegung, wie wir sie in Dänemark gesehen haben, bis zur Entwicklung massiver Klassenkonfrontationen in den Hauptländern des Kapitals, Konfrontationen, die die Perspektive der Revolution aller Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt wieder eröffnen werden.

Nichtsdestotrotz hat die Entwicklung der Kämpfe in der gegenwärtigen Periode gezeigt, dass trotz aller Schwierigkeiten, denen sie sich gegenübersah, die Arbeiterklasse immer noch ungeschlagen ist und ein riesiges Kampfpotenzial gegen das hinfällige System bewahrt hat. In der Tat gibt es etliche wichtige Faktoren, die dazu dienen können, die aktuelle Klassenbewegung zu radikalisieren und sie auf eine höhere Ebene zu heben:

–          die immer offenere Entwicklung der Weltwirtschaftskrise. Trotz aller bürgerlicher Versuche, ihr Ausmaß zu minimalisieren und ihre Ursachen zu verzerren, bleibt die Krise insofern der „Verbündete des Proletariats“, als dass sie dahin tendiert, die wahren Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise bloßzulegen. Während des letzten Jahres haben wir bereits eine große Vertiefung der Wirtschaftskrise gesehen, und wir wissen, dass das Schlimmste noch vor uns liegt. Vor allem die großen kapitalistischen Zentren beginnen jetzt, die Auswirkungen des letzten Sturzes am eigenen Leib zu verspüren.

–          Die Beschleunigung der Krise bedeutet auch die Beschleunigung der bürgerlichen Angriffe auf die Arbeiterklasse. Und sie bedeutet ebenfalls, dass die Bourgeoisie sich immer weniger in der Position befindet, wo sie diese Angriffe staffeln, strecken, auf einzelne Bereiche richten kann. Die gesamte Arbeiterklasse wird immer mehr unter die Knute geraten, und alle Aspekte ihres Lebensstandards werden bedroht werden. So wird die Notwendigkeit massiver Angriffe durch die Bourgeoisie in wachsendem Maße die Notwendigkeit einer massiven Antwort durch die Arbeiterklasse unumgänglich machen.

–            Gleichzeitig werden die wichtigsten kapitalistischen Zentren auch dazu gezwungen sein, sich immer mehr in militärischen Abenteuern zu engagieren. Die Gesellschaft wird in wachsendem Maße von einer Atmosphäre des Krieges durchdrungen werden. Wir haben bemerkt, dass unter gewissen Umständen (wie unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks) die Entwicklung des Militarismus das Gefühl der Machtlosigkeit im Proletariat steigern kann. Gleichzeitig bemerkten wir selbst während des Golfkrieges, dass solche Ereignisse durchaus auch einen positiven Effekt auf das Klassenbewusstsein ausüben können, besonders in einer politisierteren und militanteren Minderheit. Und es trifft weiterhin zu, dass die Bourgeoisie nicht in der Lage ist, das Proletariat en masse für seine militärischen Abenteuer zu mobilisieren. Einer der Faktoren, die die breite „Opposition“ in der herrschenden Klasse gegen die jüngsten Überfälle auf den Irak erklären, bestand in dem Problem, der Bevölkerung im allgemeinen und der Arbeiterklasse im besonderen diese Kriegspolitik zu verkaufen. Diese Schwierigkeiten der herrschenden Klasse werden noch weiter wachsen, so wie sie gezwungen sein wird, immer offener ihre (militärischen) Zähne zu zeigen.

Das Kommunistische Manifest beschreibt den Klassenkampf als einen „mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg“.  Bei allen Versuchen, die Illusion einer gesellschaftlichen Ordnung zu schaffen, in der Klassenkonflikte der Vergangenheit angehören, ist die Bourgeoisie nichtsdestotrotz dazu gezwungen, die eigentlichen Bedingungen, die die Gesellschaft in zwei Lager polarisieren und durch unversöhnliche Antagonismen spalten, noch weiter zu verschärfen. Je mehr die bürgerliche Gesellschaft in Agonie versinkt, desto mehr werden die Schleier, die diesen „Bürgerkrieg“ verhüllen, weggerissen. Angesichts immer weiter wachsender ökonomischer, sozialer und militärischer Widersprüche ist die Bourgeoisie dazu gezwungen, ihren totalitären politischen Griff auf die Gesellschaft zu verstärken, jede Herausforderung ihrer Ordnung für außergesetzlich zu erklären, immer mehr Opfer für immer weniger Belohnung zu fordern. Mit der Geburt des Kapitalismus, als das Manifest verfasst worden war, neigte der Arbeiterkampf mehr als einmal zu einem Kampf einer „außergesetzlichen Klasse“, einer Klasse, die nichts in dem herrschenden System zu verlieren hatte und deren Rebellionen und Proteste samt und sonders per Gesetz verboten waren. Hier liegt die Bedeutung dreier fundamentaler Aspekte im heutigen Klassenkampf:

–          der Kampf zur Schaffung eines Kräfteverhältnisses zugunsten der Arbeiter: dies ist der Schlüssel, der die Arbeiterklasse in die Lage versetzt, sich gegen alle korporatistischen Spaltungen, die von der bürgerlichen Ideologie im allgemeinen und von den Gewerkschaften im besonderen erzwungen wurden, und gegen die Atomisierung, die sich durch den kapitalistischen Zerfall verschlimmert,  wieder ihrer Klassenidentität zu besinnen. Es ist insbesondere ein praktischer Schlüssel, weil er sich in jedem Kampf als zwingende Notwendigkeit aufdrängt: Die Arbeiter können sich nur selbst verteidigen, wenn sie die Front ihres Kampfes so weit wie möglich verbreitern.

–          der Kampf, um aus dem gewerkschaftlichen Gefängnis auszubrechen: es sind die Gewerkschaften, die überall die kapitalistische „Legalität“ und die korporatistischen Spaltungen im Kampf verstärken, die danach trachten, die Arbeiter an der Schaffung eines Kräfteverhältnisses zu ihren Gunsten zu hindern. Die Fähigkeit der Arbeiter, den Gewerkschaften entgegenzutreten und ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln, werden somit ein Meilenstein bei der wirklichen Reifung des Kampfes in der vor uns liegenden Periode sein, gleichgültig, wie ungleichmäßig und schwierig dieser Prozess sein mag.

–          die Konfrontation mit den Gewerkschaften bedeutet gleichzeitig die Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat, und die Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat ist

–          unter der Teilnahme der fortgeschritteneren Minderheit – der Katalysator bei der Politisierung des Klassenkampfes. In vielerlei Hinsicht ist es die Bourgeoisie, welche die Initiative ergreift, um aus „jedem Klassenkampf einen politischen Kampf“ (Kommunistisches Manifest) zu machen, weil sie letztendlich den Klassenkampf nicht in ihr System integrieren kann. Die herrschende Klasse hat die „konfrontative“ Herangehensweise gewählt und wird auch in Zukunft nicht davon abweichen. Doch die Arbeiterklasse darf nicht nur auf dem Gebiet der unmittelbaren Selbstverteidigung reagieren, sondern muss vor allem mit der Entwicklung einer allgemeingültigen Perspektive ihres Kampfes antworten, indem sie jeden Teilkampf in den breiteren Zusammenhang des Kampfes gegen das gesamte System stellt. Für lange Zeit wird dieses Bewusstsein notwendigerweise auf eine Minderheit beschränkt bleiben. Aber diese Minderheit wird wachsen, und dieses Wachstum wird durch den steigenden Einfluss der revolutionären politischen Organisationen auf eine breitere Schicht von radikalisierten Arbeitern seinen Ausdruck finden. Fortan wird es für diese Organisationen überlebenswichtig, sehr aufmerksam der wirklichen Klassenbewegung zu folgen und in der Lage zu sein, so effektiv, wie es ihre Mittel erlauben, in ihr zu intervenieren.

Die Bourgeoisie mag uns die Lüge verkaufen, dass der Klassenkampf tot ist. Dabei ist sie schon längst dabei, den „unverhüllten Bürgerkrieg“ vorzubereiten, auf den die Zukunft dieser Ordnung unvermeidlich hinausläuft, sobald sie mit dem Rücken zur Wand steht. Die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Minderheiten müssen ebenfalls vorbereitet sein.

28.12.1998

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

Deutsche Revolution, Teil IX

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Die März-Aktion 1921: Die Gefahr kleinbürgerlicher Ungeduld

Im vorigen Artikel zum Kapp-Putsch 1920 haben wir herausgestellt, dass die Arbeiterklasse nach den Niederlagen von 1919 wieder auf dem Vormarsch war. Aber weltweit war die revolutionäre Welle, auch wenn die Kampfkraft der Arbeiterklasse noch nicht erloschen war, doch absteigend.

Die Beendigung des Krieges hatte in vielen Ländern den revolutionären Elan gebrochen und es vor allem der Bourgeoisie ermöglicht, die Spaltung der Arbeiterklasse in Arbeiter der „Siegermächte“ und der besiegten Staaten auszunutzen. Zudem schaffte es das Kapital, die revolutionäre Bewegung in Russland immer weiter zu isolieren. Die Siege der Roten Armee über die Weißen Truppen, die von den westlichen bürgerlichen Demokratien mächtig unterstützt wurden, hinderte die herrschende Klasse nicht daran, ihre Konteroffensive international fortzusetzen.

In Russland selber forderten die Isolierung der Revolution und die wachsende Integration der Bolschewistischen Partei in den russischen Staat ihren Preis. Im März 1921 erhoben sich in Kronstadt revoltierende Arbeiter und Matrosen.

Auf diesem Hintergrund sollte in Deutschland die Arbeiterklasse noch immer eine stärkere Kampfbereitschaft zeigen als in den anderen Staaten. Überall standen die Revolutionäre vor der Frage: nachdem der Höhepunkt der internationalen Welle revolutionärer Kämpfe überschritten war und die Bourgeoisie weiter in der Offensive blieb, wie auf diese Situation reagieren?

Innerhalb der Komintern setzte sich eine politische Kehrtwende durch. Die auf dem 2. Kongress im Sommer 1920 verabschiedeten 21 Aufnahmebedingungen verdeutlichten dies klar. Hierin wurde die Arbeit in den Gewerkschaften wie die Beteiligung an den Parlamentswahlen bindend vorgeschrieben. Damit hatte die Komintern einen Rückschritt zu den alten Methoden aus der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus gemacht, in der Hoffnung, dass man damit größere Kreise von Arbeitern erreichen würde.

Diese opportunistische Kehrtwende äußerte sich in Deutschland darin, dass die Kommunistische Partei im Januar 1921 einen „Offenen Brief“ an die Gewerkschaften und SPD wie auch an die Freie Arbeiterunion (Syndikalisten), USPD und KAPD richtete, in dem „sämtlichen sozialistischen Parteien und

Gewerkschaftsorganisationen vorgeschlagen (wurde), gemeinsame Aktionen zur Durchsetzung der dringendsten wirtschaftlichen und politischen Forderungen der Arbeiter zu führen“. Durch diesen Aufruf insbesondere an die Gewerkschaften und SPD sollte die „Einheitsfront der Arbeiter in den Betrieben“ hergestellt werden. Die VKPD betonte, „sie wollte zurückstellen die Erinnerung an die Blutschuld der mehrheitssozialdemokratischen Führer. Sie wollte für den Augenblick zurückstellen die Erinnerungen an die Dienste, die die Gewerkschaftsbürokratie den Kapitalisten im Krieg und in der Revolution geleistet hat.“ (aus „Offener Brief“, Rote Fahne, 8.1.1921). Während man mit opportunistischen Schmeicheleien Teile der Sozialdemokratie auf die Seite der Kommunisten ziehen wollte, wurde gleichzeitig in den Reihen der Partei zum ersten Mal die Notwendigkeit einer proletarischen Offensive theoretisiert. Und „sollten die Parteien und Gewerkschaften, an die wir uns wenden, nicht gewillt sein, den Kampf aufzunehmen, so würde die VKPD sich verpflichtet erachten, diesen Kampf allein zu führen, und sie ist überzeugt, dass ihr die Arbeitermassen folgen werden“. (ebenda).

Gleichzeitig hatte der im Dezember 1920 vollzogene Zusammenschluss zwischen KPD und USPD, der zur Gründung der VKPD führte, in der Partei die Auffassungen einer Massenpartei erstarken lassen. Dies wurde dadurch verstärkt, dass die Partei jetzt über 500000 Mitglieder verfügte. So ließ sich die VKPD selbst blenden durch den Stimmenanteil bei den Wahlen zum Preußischen Landtag, wo sie im Februar nahezu 30% aller Stimmen erzielte.[i] [3]

Die Idee machte sich breit, man könne die Lage in Deutschland „aufheizen“. Vielen schwebte die Idee eines Rechtsputsches vor, der wie ein Jahr zuvor im Kapp-Putsch eine mächtige Reaktion der gesamten Arbeiterklasse mit Aussichten auf die Machtergreifung auslösen würde. Diese irrigen Auffassungen sind im wesentlichen auf den verstärkten Einfluss des Kleinbürgertums in der Partei seit dem Zusammenschluss zwischen KPD und USPD zurückzuführen. Die USPD war wie jede zentristische Richtung in der Arbeiterbewegung stark von den Auffassungen und Verhaltensweisen des Kleinbürgertums beeinflusst. Das zahlenmäßige Wachstum der Partei neigte zugleich dazu, das Gewicht des Opportunismus, Immediatismus und der kleinbürgerlichen Ungeduld zu vergrößern.

Auf diesem Hintergrund – Rückgang der revolutionären Welle international, tiefgreifende Verwirrung innerhalb der revolutionären Bewegung in Deutschland – leitete die Bourgeoisie im März 1921 eine neue Offensive gegen das Proletariat ein. Hauptzielscheibe ihres Angriffs sollten die Arbeiter in Mitteldeutschland sein. Im Krieg war dort im Industriegebiet um Leuna, Bitterfeld und das Mansfelder Becken eine große Konzentration von Proletariern entstanden, die überwiegend relativ jung und kämpferisch waren, aber über keine große Organisationserfahrung verfügten. So zählte die VKPD dort allein über 66000 Mitglieder, die KAPD brachte es auf 3200 Mitglieder. In den Leuna-Werken gehörten von 20000 Beschäftigten ca. 2000 den Arbeiterunionen an.

Da nach den Auseinandersetzungen von 1919 und nach dem Kapp-Putsch viele Arbeiter bewaffnet geblieben waren, wollte die Bourgeoisie den Arbeitern weiter an den Kragen.

Die Bourgeoisie versucht die Arbeiter zu provozieren

Am 19. März 1921 zogen starke Polizeitruppen in Mansfeld ein, um die Arbeiter zu entwaffnen.

Der Befehl ging nicht vom „rechten“ Flügel der Herrschenden (innerhalb der Militärs oder der rechten Parteien) aus, sondern von der demokratisch gewählten Regierung. Es war die bürgerliche Demokratie, die die Henkersrolle der Arbeiterklasse spielte und darauf abzielte, diese mit allen Mitteln zu Boden zu werfen.

Es ging der Bourgeoisie darum, durch die Entwaffnung und Niederlage eines sehr kämpferischen, relativ jungen Teils des deutschen Proletariats die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen und zu demoralisieren. Vor allem aber verfolgte die Bourgeoisie das Ziel, der Vorhut der Arbeiterklasse, den revolutionären Organisationen einen fürchterlichen Schlag zu versetzen. Das Aufzwingen eines vorzeitigen Entscheidungskampfes in Mitteldeutschland sollte dem Staat vor allem die Gelegenheit geben, die Kommunisten gegenüber der gesamten Klasse zu isolieren, um diese Parteien dann in Verruf zu bringen und der Repression auszusetzen. Es ging darum, der frisch gegründeten VKPD die Möglichkeit zu rauben, sich zu konsolidieren, sowie die sich anbahnende Annäherung zwischen KAPD und VKPD zunichte zu machen. Schließlich wollte das deutsche Kapital stellvertretend für die Weltbourgeoisie die Russische Revolution und die Kommunistische Internationale weltweit weiter isolieren.

Die Komintern hatte gleichzeitig jedoch verzweifelt nach Möglichkeiten einer Hilfe von Außen für die Revolution in Russland gesucht. Man hatte gewissermaßen auf die Offensive der Bourgeoisie gewartet, damit die Arbeiter weiter in Zugzwang gerieten und endlich losschlagen würden. Anschläge wie der gegen die Siegessäule in Berlin am 13. März, der von der KAPD initiiert wurde, hatten dazu dienen sollen, die Kampfbereitschaft weiter anzustacheln.

Levi berichtete von einer Sitzung der Zentrale, wo der Moskauer Gesandte Rakosi meinte: „Russland befinde sich in einer außerordentlich schwierigen Situation. Es sei unbedingt erforderlich, dass Russland durch Bewegungen im Westen entlastet würde, und aus diesem Grunde müsse die deutsche Partei sofort in Aktion treten. Die VKPD zähle jetzt 500000 Mitglieder, mit diesen könne man 1500000 Proletarier auf die Beine bringen, was genügt, um die Regierung zu stürzen. Er sei also für sofortigen Beginn des Kampfes mit der Parole: Sturz der Regierung“. (P. Levi, „Brief an Lenin“, 27.03.1921)

„Am 17. März fand die Zentralausschusssitzung der KPD statt, in der die Anregungen oder Weisungen des aus Moskau gesandten Genossen zur Richtlinie gemacht wurden.

Am 18. März stellte sich die Rote Fahne auf diesen neuen Beschluss um und forderte zum bewaffneten Kampf auf, ohne zunächst zu sagen, für welche Ziele, und hielt diesen Ton einige Tage fest.“ (Levi, ebenda)

Die erwartete Offensive der Regierung im März 1921 war mit dem Vorrücken der Polizeitruppen nach Mitteldeutschland eingetreten.

Die Revolution forcieren?

Die vom sozialdemokratischen Polizeiminister Hörsing am 19. März nach Mitteldeutschland beorderten Polizeikräfte sollten Hausdurchsuchungen vornehmen und die Arbeiter um jeden Preis entwaffnen. Die Erfahrung aus dem Kapp-Putsch vor Augen, hatte die Regierung davor zurückgeschreckt, Soldaten der Reichswehr einzusetzen.

In derselben Nacht wurde vor Ort der Entschluss zum Generalstreik ab dem 21. März gefasst. Am 23. März kam es zu ersten Kämpfen zwischen Truppen der Sicherheits-Polizei und Arbeitern. Am gleichen Tag erklärten die Arbeiter der Leuna-Werke bei Merseburg den Generalstreik. Am 24. März riefen die VKPD und KAPD gemeinsam zum Generalstreik in ganz Deutschland auf. Nach diesem Aufruf kam es sporadisch in mehren Städten des Reichs zu Demonstrationen und Schießereien zwischen Streikenden und Polizei. Etwa 300000 Arbeiter beteiligten sich landesweit an den Streiks.

Der Hauptkampfplatz blieb jedoch das mitteldeutsche Industriegebiet, wo sich ca. 40000 Arbeiter und 17000 Mann Polizei- und Reichswehrtruppen gegenüberstanden. In den Leuna-Werken waren insgesamt 17 bewaffnete proletarische Hundertschaften aufgestellt worden. Die Polizeitruppen setzten alles daran, die Leuna-Werke zu stürmen. Erst nach mehreren Tagen gelang es ihnen, die Fabrik zu erobern. Dazu schickte die Regierung kurzerhand Flugzeuge und bombardierte die Leuna-Werke. Gegen die Arbeiterklasse waren ihr alle Mittel recht.

Auf Initiative der KAPD und VKPD wurden Dynamit-Attentate in Dresden, Freiberg, Leipzig, Plauen und anderswo verübt. Die besonders hetzerisch gegen die Arbeiter vorgehende Hallische – und Saale-Zeitung sollten am 26. März mit Sprengstoff zum Schweigen gebracht werden.

Während die Repression in Mitteldeutschland spontan die Arbeiter zu bewaffnetem Widerstand trieb, gelang es diesen jedoch wiederum nicht, den Häschern der Regierung einen koordinierten Widerstand entgegenzusetzen. Die von der VKPD aufgestellten Kampforganisationen, die von Hugo Eberlein geleitet wurden, waren militärisch und organisatorisch völlig unzureichend vorbereitet. Max Hoelz, der eine ca. 2500 starke Arbeiter-Kampftruppe aufgestellt und es geschafft hatte, bis einige Kilometer vor die von Regierungstruppen belagerten Leuna-Werke zu gelangen, versuchte vor Ort eine Zentralisierung aufzubauen. Aber seine Truppen wurden ebenso am 1. April aufgerieben, nachdem die Leuna-Werke zwei Tage zuvor schon erstürmt worden waren.

Obwohl in anderen Städten die Kampfbereitschaft nicht im Ansteigen begriffen war, hatten VKPD und KAPD zu einem sofortigen militärischen Zurückschlagen gegen die eingerückten Polizeikräfte aufgerufen.

„Die Arbeiterschaft wird aufgefordert, den aktiven Kampf aufzunehmen mit folgenden Zielen:

1. Sturz der Regierung...

2. Entwaffnung der Konterrevolution und Bewaffnung der Arbeiter“

(Aufruf vom 17. März).

In einem weiteren Aufruf der Zentrale der VKPD schrieb sie am 24. März:

„Denkt daran, dass ihr im Vorjahr in fünf Tagen mit Generalstreik und bewaffnetem Aufstand die Weißgardisten und Baltikumstrolche besiegt habt. Kämpft mit uns wie im Vorjahr Schulter an Schulter die Gegenrevolution nieder!

Tretet überall in den Generalstreik! Brecht mit Gewalt die Gewalt der Konterrevolution, Entwaffnung der Konterrevolution, Bewaffnung, Bildung von Ortswehren aus den Kreisen der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten!

Bildet sofort proletarische Ortswehren! Sichert Euch die Macht in den Betrieben! Organisiert die Produktion durch Betriebsräte und Gewerkschaften! Schafft Arbeit für die Arbeitslosen!“

Vor Ort jedoch waren die Kampforganisationen der VKPD und die spontan bewaffneten Arbeiter nicht nur schlecht organisatorisch und militärisch gerüstet; die örtlichen Parteileitungen selber hatten keinen Kontakt zu ihren Parteizentralen. Verschiedene Truppenverbände (die von Max Hoelz und Karl Plättner waren die bekanntesten) kämpften an mehreren Orten im Aufstandsgebiet unabhängig voneinander. Nirgendwo gab es Arbeiterräte, die ihre Aktionen hätten koordinieren können. Dagegen standen die Repressionstruppen der Bürgerlichen natürlich im engsten Kontakt mit ihrem Generalstab und koordinierten ihre Taktik!

Nachdem die Leuna-Werke gefallen waren, zog die VKPD am 31. März 1921 den Aufruf zum Generalstreik zurück. Am 1. April lösten sich die letzten bewaffneten Arbeitertruppen in Mitteldeutschland auf.

Wieder herrschten Ruhe und Ordnung! Wieder schlug die Repression zu. Wieder wurden viele Arbeiter ermordet und misshandelt. Hunderte waren erschossen worden, über 6000 wurden verhaftet.

Die Hoffnung großer Teile der VKPD und KAPD, ein provokatives Vorgehen des staatlichen Repressionsapparates würde eine Spirale des Widerstandes in den Reihen der Arbeiter auslösen, war enttäuscht worden. Die Arbeiter in Mitteldeutschland waren relativ isoliert geblieben.

In dieser Situation hatten die VKPD und die KAPD derart auf ein Losschlagen gebrannt, ohne die Gesamtlage im Auge zu behalten, dass sie sich durch die Devise „Wer nicht für uns ist, der ist wider uns“ (Editorial der Roten Fahne, 20. März), von den unentschlossenen und nicht-kampfbereiten Arbeitern völlig isolierten und einen Graben der Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse aushoben.

Anstatt zu erkennen, dass die Lage nicht günstig war, schrieb die Rote Fahne am 30. März: „Nicht nur auf das Haupt eurer Führer, auf das Haupt jedes einzelnen von euch kommt die Blutschuld, wenn ihr stillschweigend oder auch nur unter lahmen Protesten duldet, dass die Ebert, Severing, Hörsing den weißen Schrecken und die weiße Justiz gegen die Arbeiter loslassen (...)

Schmach und Schande über den Arbeiter, der jetzt noch beiseite steht, Schmach und Schaden über den Arbeiter, der jetzt noch nicht weiß, wo sein Platz ist.“

Um die Kampfbereitschaft weiter anzustacheln, hatte man die Arbeitslosen als Speerspitze einsetzen wollen.

„Die Arbeitslosen wurden als Sturmkolonnen vorangeschickt. Sie besetzten die Tore der Fabriken. Sie drangen in die Betriebe ein, löschten hier und da die Feuer und versuchten, die Arbeiter aus den Betrieben herauszuprügeln... Es war ein entsetzlicher Anblick, wie die Arbeitslosen, laut weinend über die Prügel, die sie empfangen, aus den Betrieben hinausgeworfen wurden, und wie sie denen fluchten, die sie dahin gesandt.“

Dass die VKPD-Zentrale vor dem Beginn der Kämpfe das Kräfteverhältnis falsch eingeschätzt hatte und nach Auslösung der Kämpfe ihre Einschätzung nicht revidierte, war schon tragisch genug. Es kam noch schlimmer, denn statt dessen verbreitete sie die Parole: „Leben oder Tod“. Nach dem falschen Motto: „Kommunisten weichen nie zurück“!

„Unter keinen Umständen darf ein Kommunist, auch wenn er in Minderheit ist, zur Arbeit schreiten. Die Kommunisten gingen hinaus aus den Betrieben. In Trupps von 200, 300 Mann, oft mehr, oft weniger, gingen sie aus den Betrieben: der Betrieb ging weiter. Sie sind heute arbeitslos, die Unternehmer haben die Gelegenheit benutzt, die Betriebe ‘kommunistenrein’ zu machen in einem Falle, in dem sie selbst ein groß Teil der Arbeiter auf ihrer Seite hatten.“ (Die Rote Fahne)

Welche Bilanz aus den März-Kämpfen?

Während dieser Kampf der Arbeiterklasse von der Bourgeoisie aufgezwungen wurde und sie ihm nicht ausweichen konnte, hatte die VKPD den Fehler begangen, dass sie „den defensiven Charakter des Kampfes nicht klar genug hervorhob, sondern durch den Ruf von der Offensive den gewissenlosen Feinden des Proletariats, der Bourgeoisie, der SPD und der USPD Anlass gab, die VKPD als Anzettlerin von Putschen dem Proletariat zu denunzieren. Dieser Fehler wurde von einer Anzahl von Parteigenossen gesteigert, indem sie die Offensive als die hauptsächlichste Methode des Kampfes der VKPD in der jetzigen Situation darstellten“ („Thesen und Resolutionen des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale“, S. 52/53, Juni 1921).

Dass die Kommunisten weiter für eine Verstärkung der Kampfbereitschaft eintraten, war ihre erste Pflicht. Aber Kommunisten sind nicht einfach Aufpeitscher der Kampfbereitschaft. Die „Kommunisten sind (...) praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegungen voraus.“ (Kommunistisches Manifest) Deshalb müssen sie sich gegenüber der Klasse insgesamt durch ihre Fähigkeit auszeichnen, das Kräfteverhältnis richtig einzuschätzen, die Strategie des Klassengegners zu durchschauen, denn eine für entscheidende Kämpfe noch zu schwache Arbeiterklasse in eine sichere Niederlage zu führen, oder sie in die von der Bourgeoisie gestellten Fallen zu treiben, ist das Unverantwortlichste, was Revolutionäre tun können. Insbesondere erfordert dies vor allem auch die Fähigkeit zu entwickeln, den jeweiligen Bewusstseinsstand und die Kampfbereitschaft innerhalb der Arbeiterklasse einschätzen zu können, und die Vorgehensweise der Herrschenden zu durchschauen. Nur so können revolutionäre Organisationen ihre wirkliche Führungsrolle in der Klasse übernehmen.

Sofort nach dem Ende der März-Aktion kam es zu heftigen Debatten innerhalb der VKPD und der KAPD.

Falsche Organisationsauffassungen — eine Fessel für die Fähigkeit der Partei zur Selbstkritik

In einem Leitartikel vom 4.–6. April verkündete die Rote Fahne, dass die „VKPD eine revolutionäre Offensive eingeleitet“ habe und die März-Aktion „der Beginn, der erste Abschnitt der entscheidenden Kämpfe um die Macht“ sei.

Am 7./8. April tagte der Zentralausschuss der VKPD. Anstatt eine kritische Einschätzung der Intervention zu liefern, versuchte Heinrich Brandler vor allem die Politik der VKPD-Zentrale zu rechtfertigen. Er begründete die Hauptschwäche in einer mangelnden Disziplin der VKPD-Mitglieder vor Ort und im Versagen der sogenannten Militärorganisation. Brandler meinte gar, „Wir haben keine Niederlage erlitten, wir hatten eine Offensive“.

Gegenüber dieser Einschätzung sollte Paul Levi innerhalb der VKPD zum heftigsten Kritiker der Vorgehensweise der Partei in der März-Aktion werden.

Nachdem er neben Clara Zetkin im Februar 1921 schon aus dem Zentralausschuss ausgeschieden war, weil es unter anderem zu Divergenzen um die Gründung der KP in Italien gekommen war, sollte er sich erneut als unfähig erweisen, die Organisation durch Kritik nach vorne zu treiben. Das Tragische war, dass er „mit seiner Kritik an der März-Aktion 1921 in Deutschland in vielem dem Wesen der Sache nach recht“ hatte (Lenin, „Brief an die deutschen Kommunisten“, Werke Bd. 32, S. 541). Aber anstatt seine Kritik innerhalb des Rahmens der Organisation den Regeln und Prinzipien derselben folgend vorzubringen, verfasste er am 3./4. April eine Broschüre, die am 12. April veröffentlicht wurde, ohne dass die Partei ihren Inhalt kannte.[ii] [3]

In dieser Broschüre brach er nicht nur die Organisationsdisziplin, sondern er veröffentliche Details aus dem internen Leben der Partei. Somit brach er ein proletarisches Prinzip, gefährdete gar die Organisation, indem er in aller Öffentlichkeit die Funktionsweise der Organisation preisgab. Dafür wurde er am 15. April aus der Partei wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen.[iii] [3]

Levi, der wie wir in einem früheren Artikel zum Oktoberparteitag der KPD 1919 festgestellt haben, dazu neigte, jede Kritik als Angriff auf die Organisation, als Infragestellung einer ganzen Linie und somit als Bedrohung der Organisation, aber auch seiner Person aufzufassen, sabotierte jeden Versuch einer kollektiven Funktionsweise. Seine Einstellung offenbart dies: „Ist die März-Aktion richtig, dann gehöre ich hinausgeworfen (aus der Partei). Oder ist die März-Aktion ein Fehler, dann ist meine Broschüre gerechtfertigt“ (Levi, „Brief an die Zentrale der VKPD“). Diese organisationsschädigende Haltung war von Lenin wiederholt kritisiert worden. Nach Bekanntwerden seines Austritts aus der Zentrale der VKPD im Februar schrieb Lenin dazu: „Aber Austritt aus der Zentrale!!?? Das jedenfalls der größte Fehler! Wenn wir solche Gepflogenheiten dulden werden, dass verantwortliche Mitglieder der Zentrale austreten, wenn sie in der Minderheit geblieben sind, dann wird die Entwicklung und Gesundung der kommunistischen Parteien niemals glatt gehen. Statt auszutreten – die strittige Frage mehrere Male besser mit der Exekutive ventilieren (...). Alles mögliche und etwas unmögliches dazu zu tun – aber, es koste was es wolle, Austritt vermeiden und Gegensätze nicht verschärfen.“ (Lenin an Clara Zetkin und Paul Levi, 16.4.1921).

Levis zum Teil maßlose und überspitzte Beschuldigungen (dass er die Verantwortung der Bourgeoisie für die Kämpfe im März in den Hintergrund geraten ließ und der VKPD praktisch die Alleinschuld aufbürdete) verzerrten die Wirklichkeit.

Nachdem er aus der Partei ausgeschlossen war, gab er eine kurze Zeit die Zeitschrift Sowjet heraus, die zum Sprachrohr der Gegner dieses Kurses der VKPD wurden. Levi wollte seine Kritik an der Taktik der VKPD dem Zentralausschuss vortragen, wurde aber zur Tagung nicht mehr zugelassen. Statt dessen trug Clara Zetkin eine Reihe seiner Kritiken vor. „Die Kommunisten haben nicht die Möglichkeit (...) die Aktion an Stelle des Proletariats, ohne das Proletariat, am Ende gar gegen das Proletariat zu machen“ (Levi). Zetkin schlug eine Gegenresolution zur Stellungnahme der Partei vor. Mehrheitlich verwarf die Sitzung des Zentralausschusses jedoch die Kritik und hob hervor, dass ein „Ausweichen vor der Aktion (...) unmöglich für eine revolutionäre Partei, (...) ein glatter Verzicht auf ihren Beruf, die Revolution zu führen“ gewesen wäre. Die VKPD „muss, wenn sie ihre geschichtliche Aufgabe erfüllen will, festhalten an der Linie der revolutionären Offensive, die der März-Aktion zugrunde liegt, und sie muss entschlossen und sicher auf diesem Wege fortschreiten“ („Leitsätze über die März-Aktion“, Die Internationale Nr. 4, April 1921).

Die Zentrale bestand auf der Fortsetzung der eingeschlagenen Offensivtaktik und verwarf alle Kritiken. In einem vom 6. April 1921 gezeichneten Aufruf hatte das EKKI (Erweitertes Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen) noch die Haltung der VKPD gebilligt und aufgerufen, „Ihr habt richtig gehandelt (...) Rüstet zu weiteren Kämpfen“ (Rote Fahne, 14.4.1921).

So war auf dem 3. Weltkongress der Komintern weder das EKKI noch der Kongress selber einig über die Einschätzung der deutschen Ereignisse. Vor allem die Gruppe um Clara Zetkin in der KPD wurde in dem ersten Teil der Diskussion erbittert angegriffen. Erst das Eingreifen und die Autorität Lenins und Trotzkis in der Debatte brachte die Wende in der Auseinandersetzung, indem die Hitzköpfe zur Abkühlung gebracht wurden.

Lenin, der sowohl durch die Ereignisse in Kronstadt wie auch durch die Staatsführung so beschäftigt war, dass er die Ereignisse und die Debatten um die Bilanz nicht hatte näher verfolgen können, fing an, sich eingehend mit der Bilanz der März-Aktion zu befassen. Während er den Disziplinbruch Levis auf das schärfste verwarf, trat er dafür ein, dass die März-Aktion wegen ihrer „großen internationalen Bedeutung dem 3. Weltkongress der Komintern unterbreitet werden solle“. Breitestmögliche, ungehinderte Diskussion innerhalb der Partei, hieß seine Devise.

W. Koenen, der Vertreter der VKPD beim EKKI, wurde im April vom EKKI mit dem Auftrag nach Deutschland geschickt, dass der Zentralausschuss keine endgültigen Beschlüsse gegen die Opposition fassen sollte. In der Parteipresse kamen dann auch wieder die Kritiker der März-Aktion zu Wort. Die Diskussion über die Taktik wurde fortgesetzt.

Dennoch vertrat die Mehrheit der Zentrale weiterhin ihre im März eingenommene Haltung. Arkady Maslow verlangte die neuerliche Billigung der März-Aktion. Guralski, ein Gesandter des EKKI forderte gar: „keine Beschäftigung mit der Vergangenheit. Die beste Antwort auf Angriffe der Richtung Levi sind die weiteren politischen Kämpfe der Partei“. Auf der Sitzung des Zentralausschusses vom 3.-5. Mai trat Thalheimer dafür ein, die Aktionseinheit der Arbeiter wieder aufzunehmen. Fritz Heckert plädierte für verstärkte Arbeit in den Gewerkschaften.

Am 13. Mai veröffentlichte die Rote Fahne Leitsätze, die auf eine künstliche Beschleunigung der revolutionären Entwicklung abzielten. Als Beispiel wurde dafür die März-Aktion hingestellt. Die Kommunisten „müssen in zugespitzten Situationen, wo wichtige Interessen des Proletariats bedroht sind, den Massen einen Schritt vorausgehen und versuchen, sie durch ihre Initiative in den Kampf zu führen, auch auf die Gefahr hin, nur Teile der Arbeiterschaft mit sich zu reißen“. Wilhelm Pieck, der sich in der Januar-Woche 1919 schon mit Karl Liebknecht entgegen den Parteibeschluss am Aufstand beteiligt hatte, meinte: Auseinandersetzungen unter den Arbeitern „werden wir noch häufiger erleben. Die Kommunisten müssen sich gegen die Arbeiter wenden, wenn diese nicht unseren Aufrufen folgen“.

Die Reaktion der KAPD

Während VKPD und KAPD einen Schritt vorwärts gemacht hatten und zum ersten Mal gemeinsam losschlagen wollten, lag das Drama darin, dass diese Aktionen selbst unter ungünstigen Bedingungen stattgefunden hatten. Auch war der gemeinsame Nenner der VKPD und KAPD bei der März-Aktion gewesen, der Arbeiterklasse in Russland zu Hilfe zu eilen. Im Gegensatz zu den späteren Rätekommunisten verteidigte die KAPD damals noch die Revolution in Russland.

Gegenüber der Bilanz der März-Aktion waren die Haltung und Intervention der KAPD jedoch widersprüchlich. Einerseits rief sie gemeinsam mit der VKPD zum Generalstreik auf, schickte F. Jung und F. Rasch als Vertreter der Zentrale nach Mitteldeutschland zur Unterstützung der Koordinierung der Kampfhandlungen. Andererseits hielten die örtlichen Führer der KAPD, Utzelman und Prenzlow, aufgrund ihrer Kenntnis der Lage im mitteldeutschen Industriegebiet einen Aufstandsversuch für unsinnig und wollten nicht über den Generalstreik hinausgehen. Deshalb waren sie gegenüber den Leuna-Arbeitern dafür eingetreten, im Werksbereich zu verbleiben und sich auf einen Defensivkampf einzustellen. Die KAPD-Leitung reagierte ohne Abstimmung mit der Partei vor Ort.

Im Anschluss an die Bewegung lieferte die KAPD Ansätze zu einer kritischen Einschätzung ihrer eigenen Intervention. Sie reagierte sehr widersprüchlich. In einer Antwort auf die Broschüre Levis griff sie jedoch die grundsätzliche Problematik auf, die hinter der Vorgehensweise der VKPD-Zentrale stand. So schrieb Herman Gorter: „Die VKPD hatte durch die parlamentarische Aktion – die unter dem bankerotten Kapitalismus keine andere Bedeutung mehr hat, als die Irreführung der Massen – das Proletariat vom revolutionären Handeln abgelenkt. Sie hatte Hunderttausende von nichtkommunistischen Mitgliedern gesammelt, war also zu einer ‘Massenpartei’ geworden. Die VKPD hatte durch die Zellentaktik die Gewerkschaften unterstützt (...) als die deutsche Revolution immer machtloser zurückwich, als ihre besten Elemente dadurch unzufrieden, stets mehr auf die Aktion drängten – da beschloss sie auf einmal eine große Aktion zur Eroberung der politischen Gewalt. D.h. vor der Herausforderung Hörsings und der Sipo hat sie zu einer künstlichen Aktion von oben, ohne spontanen Drang großer Massen, d.h. zur Putschtaktik, den Beschluss gefasst.

Das Exekutiv-Komitee und seine Repräsentanten in Deutschland hatten schon lange darauf gedrängt, die VKPD solle losschlagen. Sie sollte sich als eine richtige revolutionäre Partei erweisen. Als ob in dem Losschlagen allein schon das Wesen einer revolutionären Taktik besteht! Wenn eine Partei, die statt die revolutionäre Kraft des Proletariats aufzubauen, Parlament und Gewerkschaften unterstützt und dadurch das Proletariat schwächt und seine revolutionäre Kraft unterminiert, dann (nach diesen Vorbereitungen!!) auf einmal losschlägt und eine große, angreifende Aktion beschließt, für dies selbe, von ihr selbst geschwächte Proletariat, so ist das im Grunde ein Putsch. Das heißt eine von oben beschlossene, nicht aus den Massen selbst hervorkommende, von vornherein zum Scheitern verdammte Tat. Und diese Putschtaktik ist nicht revolutionär, sondern genau so opportunistisch, wie der Parlamentarismus und die Zellentaktik selbst. Ja, diese Putschtaktik ist die notwendige Gegenseite des Parlamentarismus und der Zellentaktik, der Sammlung nichtkommunistischer Elemente, der Führer – statt Massen- oder besser Klassenpolitik. Diese schwache, innerlich faule Taktik muss notwendig zu Putschen führen.“ („Lehren der März-Aktion“, Nachschrift zum „Offenen Brief an den Genossen Lenin“ von Herman Gorter, in Der Proletarier, 5/1921)

Damit legte dieser KAPD-Text richtigerweise den Finger auf den Widerspruch zwischen der Taktik der Einheitsfront, die die Illusionen der Arbeiter über Gewerkschaften und Sozialdemokratie verstärkt hatte, und dem plötzlichen gleichzeitigen Aufruf zum Sturmangriff gegen den Staat. Gleichzeitig finden sich in diesem Text jedoch Widersprüche, denn während die KAPD einerseits von einer Verteidigungshandlung der Arbeiter sprach, schätzte sie die März-Aktion gleichzeitig als „ersten bewussten Angriff der revolutionären Arbeiter Deutschlands gegen die bürgerliche Staatsmacht“ ein (S. 21). Dabei hatte die KAPD selbst festgestellt, dass „selbst die großen Arbeitermassen neutral, wenn nicht feindlich gegenüber der kämpferischen Avantgarde eingestellt blieb“ (S. 24). Auch auf dem außerordentlichen Parteitag der KAPD im September 1921 wurden die Lehren aus der März-Aktion nicht weiter aufgegriffen.

Auf diesem Hintergrund heftiger Debatten innerhalb der VKPD und widersprüchlicher Reaktionen der KAPD begann Ende Juni der 3. Weltkongress der Komintern.

Die Haltung der Komintern zur März-Aktion

Innerhalb der Komintern war der Prozess der Bildung verschiedener Flügel in Gang gekommen. Das EKKI selber hatte gegenüber den Ereignissen in Deutschland weder eine einheitliche Meinung, noch sprach es mit einer Stimme. Bei der Einschätzung der Lage in Deutschland war das EKKI lange Zeit gespalten.

Radek hatte zahlreiche Kritiken an den Positionen und dem Verhalten des Vorsitzenden der KPD, Levi, entwickelt, die von anderen Mitgliedern der Zentrale aufgegriffen wurden.

Innerhalb der KPD wurden diese Kritiken jedoch nicht offen und auf einem Parteitag oder in anderen Parteiinstanzen in entsprechender Form formuliert.

Anstatt offen über die Einschätzung der Lage zu debattieren, war von Radek eine Funktionsweise gefördert worden, die der Partei zutiefst schädlich sein sollte. Kritiken wurden häufig nicht brüderlich in aller Deutlichkeit vorgetragen, sondern in verdeckter Form. Im Mittelpunkt stand oft nicht die jeweilige Fehleinschätzung durch ein Zentralorgan, sondern die Suche nach Schuldigen. Der Trend setzte sich durch, Positionen jeweils mit Personen zu verbinden. Anstatt die Einheit als Organisation um eine Position und Vorgehensweise herzustellen, anstatt für und als ein kollektiv funktionierender Körper zu kämpfen, untergrub man das Organisationsgewebe auf eine völlig unverantwortliche Weise.

Darüber hinaus waren die Kommunisten in Deutschland selber ebenfalls zutiefst gespalten. Zum einen gehörten zum damaligen Zeitpunkt der Komintern die VKPD und die KAPD an, die allerdings aufs heftigste wegen der Orientierung der Organisation aufeinander prallten.

Gegenüber der Komintern waren vor der März-Aktion von Teilen der VKPD sowohl Informationen über die Einschätzung der Lage verschwiegen wie auch die unterschiedlichen Positionen und Einschätzungen der Komintern nicht umfassend mitgeteilt worden.

In der Komintern selber gab es keine wirklich gemeinsame Reaktion und kein einheitliches Vorgehen gegenüber der Entwicklung. Der Kronstädter Aufstand hatte die ganze Aufmerksamkeit der Führung der Bolschewistischen Partei auf sich gezogen und sie daran gehindert, die Lage in Deutschland näher zu verfolgen. Zudem war es oft nicht klar, wie Entscheidungen innerhalb des Exekutivkomitees zustande gekommen waren und wie Mandate erteilt wurden. Gerade gegenüber Deutschland scheinen die Mandate von Radek und anderen Delegierten des EKKI nicht immer klar genug festgelegt worden zu sein.[iv] [3]

So hatten in dieser Situation der zunehmenden Spaltung innerhalb der VKPD Mitglieder des EKKI, unter Radeks Federführung, inoffiziellen Kontakt mit Flügeln in beiden Parteien – VKPD und KAPD – aufgenommen, um unter Umgehung der Zentralorgane der beiden Organisationen Vorbereitungen für putschistische Maßnahmen zu treffen. Anstatt also auf eine Klärung und Mobilisierung der Organisationen zu drängen, begünstigte man eine Spaltung der Parteien und förderte Schritte, die Entscheidungen außerhalb der verantwortlichen Organe zu treffen. Diese Haltung, die im Namen des EKKI eingenommen wurde, leistete somit dem organisationsschädlichen Verhalten innerhalb VKPD und KAPD Vorschub.

Paul Levi kritisierte: „Der Fall war schon häufiger, dass Abgesandte des EKKI über ihre Vollmacht hinausgingen, d.h. dass sich nachträglich ergab, die Abgesandten hätten zu dem oder jenem keine Vollmachten gehabt.“ („Unser Weg, Wider den Putschismus“, S. 63, 3. April 1921).

Von den Statuten festgelegte Entscheidungsstrukturen in der Komintern wie auch innerhalb der VKPD und KAPD wurden umgangen. Tatsache war, dass in der März-Aktion dann von beiden Organisationen zum Generalstreik aufgerufen wurde, ohne dass die ganze Organisation an der Einschätzung der Lage und den Entscheidungen beteiligt war. In Wirklichkeit hatten Genossen des EKKI mit den Elementen und den Flügeln innerhalb der beiden Organisationen Kontakt aufgenommen, die nach Aktionen drängten. Die Partei als solche wurde „umgangen“!

So konnte es nie zu einer einheitlichen Vorgehensweise der einzelnen Parteien und noch weniger zu einem gemeinsamen Vorgehen der beiden Parteien kommen.

Aktivismus und Putschismus hatten in diesen Organisationen teilweise die Oberhand gewonnen – mit einem sehr zerstörerischen Verhalten für die Partei und die Klasse insgesamt. Jeder Flügel fing an, seine eigene Politik zu betreiben und seine eigenen informellen, parallelen Kanäle aufzubauen. Die Sorge um die Einheit der Partei, eine statutengemäße Funktionsweise war einem Großteil der Partei abhanden gekommen.

Obwohl die Komintern durch die Identifikation der Bolschewistischen Partei mit den Interessen des russischen Staates und durch die opportunistische Kehrtwendung hin zur Einheitsfront geschwächt war, sollte der 3. Weltkongress dennoch ein Moment der kollektiven, proletarischen Kritik an der März-Aktion werden.

Für den Kongress hatte das EKKI aus richtiger politischer Sorge auf Anregung Lenins auch die Entsendung von Vertretern der Opposition innerhalb der VKPD durchgesetzt. Während die Delegation der VKPD-Zentrale weiter jegliche Kritik an der Haltung der VKPD zur März-Aktion unterbinden wollte, beschloss das Politbüro der KPR(B) auf Vorschlag Lenins: „Als Grundlage der Resolution ist der Gedanke zu nehmen, dass man vielmals detaillierter die konkreten Fehler der VKPD in der März-Aktion aufzeigen und vielmals energischer vor der Wiederholung dieser Fehler warnen muss.“

Wie Haltung einnehmen?

In der Eingangsdiskussion über „Die wirtschaftliche Krise und die neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale“ hatte Trotzki hervorgehoben: „Erst jetzt sehen und fühlen wir, dass wir nicht so unmittelbar nahe dem Endziel, der Eroberung der Macht, der Weltrevolution stehen. Wir haben damals im Jahre 1919 uns gesagt: es ist die Frage von Monaten, und jetzt sagen wir, es ist die Frage vielleicht von Jahren (...) Der Kampf wird vielleicht langwierig sein, wird nicht so fieberhaft, wie es wünschenswert wäre, voranschreiten, der Kampf wird höchst schwierig und opferreich sein (...)“ („Protokoll des 3. Kongresses“, S. 90).

Lenin: „Deshalb musste der Kongress gründlich mit den linken Illusionen aufräumen, dass die Weltrevolution ununterbrochen in ihrem stürmischen Anfangstempo weiterrase, dass wir von einer zweiten revolutionären Welle getragen würden, und dass es einzig und allein vom Willen der Partei und ihrer Aktion abhänge, den Sieg an unsere Fahne zu fesseln (...)“ (Zetkin, „Erinnerungen an Lenin“)

Für den Kongress hatte die VKPD-Zentrale unter der Federführung A. Thalheimers und Bela Kuns einen Thesenentwurf zur Taktik geschickt, der forderte, dass die Komintern jetzt zu einer neuen Periode der Aktionen übergehen müsse. In einem Brief vom 10. Juni an Sinowjew hatte Lenin den Thesenentwurf als „politisch grundfalsch, als linksradikale Spielerei“ eingeschätzt und gefordert, ihn gänzlich abzulehnen. „Die Mehrheit der Arbeiterklasse haben die kommunistischen Parteien noch nirgends erobert. Nicht für die organisatorische Führung, aber auch nicht für die Prinzipien des Kommunismus (...) Deshalb muss die Taktik darauf gerichtet werden, unentwegt und systematisch um die Mehrheit der Arbeiterklasse, in erster Linie innerhalb der alten Gewerkschaften zu ringen.“ (10. Juni, 1921, Lenin, Briefe, Bd. 7, S. 269). Gegenüber dem Delegierten Heckert meinte Lenin: „Die Provokation lag doch glatt auf der Hand. Statt von der Verteidigung aus die Arbeitermassen gegen die Angriffe der Bourgeoisie zu mobilisieren und so den Massen zu zeigen, dass das Recht auf eurer Seite ist, habt ihr die sinnlose ‘Offensivtheorie’ erfunden, die allen Polizeikerls und den reaktionären Regierungen die Möglichkeit gibt, euch als die Angreifer darzustellen, vor denen man das Volk schützen muss.“ (Erinnerungen, F. Heckert, „Meine Begegnungen mit Lenin“)

Während Radek selbst vorher die März-Aktion unterstützt hatte, sprach er in seinem Referat im Namen des EKKI vom widersprüchlichen Charakter der März-Aktion, lobte den Heldenmut der kämpfenden Arbeiter und kritisierte andererseits die falsche Politik der Zentrale der VKPD. Trotzki charakterisierte die März-Aktion als ganz unglücklichen Versuch, der, „wenn er wiederholt werden sollte, diese gute Partei wirklich zugrunde richten könnte“. Er unterstrich, „wir sind verpflichtet, der deutschen Arbeiterschaft klipp und klar zu sagen, dass wir diese Offensivphilosophie als die größte Gefahr und in der praktischen Anwendung als das größte Verbrechen auffassen“. („Protokoll des 3. Kongresses“, S. 644-646).

Die Delegation der VKPD und die gesondert eingeladenen Delegierten der VKPD-Opposition prallten auf dem Kongress aufeinander.

Der Kongress war sich der Gefahren für die Einheit der Partei bewusst. Deshalb drängte man auf eine Einigung zwischen VKPD-Führung und Opposition. Eine Übereinkunft mit folgendem Inhalt wurde erzielt: „Der Kongress erachtet jede weitere Zerbröckelung der Kräfte innerhalb der VKPD, jede Sonderbündelei – von Spaltung gar nicht zu sprechen – als die größte Gefahr für die ganze Bewegung“. Gleichzeitig wurde vor einer revanchistischen Haltung gewarnt: „Der Kongress erwartet von der Zentrale und der Mehrheit der VKPD die tolerante Behandlung der früheren Opposition, falls diese die vom 3. Kongress gefassten Beschlüsse loyal durchführt“ („Resolution zur März-Aktion und über die Lage in der VKPD“, 21. Sitzung des 3. Weltkongresses, 9.7.1921).

In den Debatten auf dem 3. Kongress äußerte sich die KAPD-Delegation kaum selbstkritisch zur März-Aktion. Sie schien sich mehr auf die Prinzipienfrage der Arbeit in den Gewerkschaften und den Parlamentarismus zu konzentrieren.

Während der 3. Kongress so selbstkritisch vor den putschistischen Gefahren, die in der März-Aktion sichtbar geworden war, gewarnt hatte und diesem „blinden Aktionismus“ eine Abfuhr erteilt hatte, schlug der Kongress selber tragischerweise den unheilvollen Kurs der „Einheitsfront von Unten“ ein. Zwar hatte er die putschistische Gefahr abgewandt, aber die opportunistische Kehrtwende, die durch die Verabschiedung der 21 Thesen eingeleitet worden war, wurde bestätigt und beschleunigt. Die wirklichen Fehler, die in der Grundsatzkritik der KAPD von Gorter aufgeworfen worden waren, nämlich die Rückkehr zur gewerkschaftlichen und parlamentarischen Ausrichtung, wurden nicht korrigiert.

Ermuntert durch die Ergebnisse des 3. Kongresses schlug die VKPD dann ab Herbst 1921 den Kurs der Einheitsfront ein.

Gleichzeitig hatte der 3. Kongress der KAPD ein Ultimatum gestellt: entweder Beitritt zur VKPD oder Ausschluss aus der Komintern.

Im September 1921 trat die KAPD dann aus der Komintern aus – Teile von ihr stürzten sich anschließend in das Abenteuer der Bildung einer Kommunistischen Arbeiterinternationale. Nur wenige Monate vergingen bis zur Spaltung der KAPD.

Für die KPD (die im August 1921 wieder ihren Namen von VKPD zu KPD geändert hatte) war die Tür zu einer opportunistischen Entwicklung weiter aufgestoßen.

Die Bourgeoisie ihrerseits hatte ihr Ziel erreicht: Erneut hatte sie mit der März-Aktion ihre Offensive fortsetzen können. Sie hatte die Arbeiterklasse weiter geschwächt.

Aber noch verheerender als die Konsequenzen dieser putschistischen Haltung für die Arbeiterklasse insgesamt waren die Folgen für die Kommunisten selber: erneut wurden sie Opfer der Repression. Die Jagd auf Kommunisten wurde wieder verschärft. Bei der KPD kam es zu einer großen Austrittswelle aus der Partei. Viele Mitglieder zeigten sich zutiefst enttäuscht über die gescheiterte Erhebung. Anfang des Jahres zählte die VKPD ca. 35000-400000 Mitglieder. Ende August 1921 gehörten ihr nur noch ca. 160000 an, im November sogar nur noch 135000-150000 zahlende Mitglieder.

Zum wiederholten Male hatte die Arbeiterklasse in Deutschland gekämpft, ohne eine starke, schlagkräftige Partei an ihrer Seite zu haben.                        

Dv.


[i] [3] Bei den Wahlen zum Preußischen Landtag im Februar 1921 entfielen auf die VKPD 1.1 Mio., die USPD 1.1 Mio. und die SPD 4.2 Mio. Stimmen. In Berlin übertrafen VKPD und USPD die SPD-Stimmenanteile.

[ii] [3] Clara Zetkin, die mit der inhaltlichen Kritik Paul Levis übereinstimmte, hatte in mehreren Briefen aufgefordert, sich nicht organisationsschädlich zu verhalten. So schrieb sie am 11. April an Levi: „(...) dem Vorwort sollten Sie die persönliche Note nehmen. Ebenso scheint mir politisch wirksam, dass Sie über die Zentrale und ihre Mitglieder kein ‘persönliches Urteil’ fällen, sie reif für die Kaltwasserheilanstalt erklärten und ihre Entfernung fordern etc. (...) Es ist klüger, dass Sie sich bloß an die Politik der Zentrale halten, die Leute außer Spiel lassen, die ihre Träger sind (...) Nur die persönlichen Wallungen sollten gestrichen werden.“ Levi ließ sich nicht belehren. Stolz und Rechthaberei, sowie sein monolithisches Organisationsverständnis sollten fatale Folgen haben.

[iii] [3] „Paul Levi hat der Parteileitung von seiner Absicht, eine solche Broschüre zu veröffentlichen, weder Kenntnis gegeben noch ihr Mitteilung von den in der Broschüre aufgestellten Behauptungen gemacht (...)

Paul Levi hat seine Broschüre in Druck gegeben am 3. April, zu einer Zeit, wo der Kampf noch in vielen Teilen des Reiches im Gange war und in der Tausende von Kämpfern vor den Sondergerichten stehen, die Paul Levi durch die Veröffentlichung seiner Broschüre zu den Bluturteilen gerade anreizt (...)

Die Zentrale anerkennt in vollem Umfange das Recht der Parteikritik vor und nach Aktionen, die von der Partei geführt werden. Kritik auf dem Boden des Kampfes und dem der vollen Kampfsolidarität ist eine Lebensnotwendigkeit für die Partei und revolutionäre Pflicht. Paul Levis Haltung (...) läuft nicht auf die Stärkung, sondern auf die Zerrüttung und Zerstörung der Partei hinaus“. (Zentrale der VKPD, 16.4.1921)

[iv] [3] Der Delegation des EKKI gehörten Bela Kun, Pogany und Guralski an. Karl Radek wirkte insbesondere seit der Gründung der KPD als „Verbindungsmann“ zwischen der KPD und der Komintern. Ohne immer über ein klares Mandat zu verfügen, praktizierte vor allem er die Politik der „informellen“ und parallelen Kanäle.

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [4]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [5]

Internationale Revue 25 - Editorial

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Wohin der Kapitalismus die Welt treibt

Kriege in allen Kontinenten, immer mehr Armut, Not, Hunger und Katastrophen aller Art. Eine Übersicht über die Lage auf der Welt zeigt, wie katastrophal alles ist.

„Ein Jahr nach Beginn des Kosovokrieges hinterlassen die tödlichen Racheakte, die Zunahme der Kriminalität, die inneren politischen Konflikte, Einschüchterungen und Korruption in diesem Gebiet einen unangenehmen Eindruck [....]. Der Kosovo ist ein Schlamassel.“ (The Guardian, 17.3.00).[i] [6] Seit dem Kosovokrieg und der Besetzung des Landes durch die NATO haben Hass und Gewalt nur noch weiter zugenommen. Der Tschetschenienkrieg wird fortgesetzt – seine Opfer sind Tausende Verletzte und Tote – von denen die meisten Zivilisten sind – sowie Hunderttausende Flüchtlinge, die in den Lagern hungern. Wie im Kosovo und zuvor in Bosnien sind die Gewalttaten unglaublich schrecklich. Die Hauptstadt Grosny wurde von der Karte ausradiert, zerstört. Die amerikanischen Generäle brüsten sich, mittels der NATO-Bombardierungen Serbien um 50 Jahre zurückgebombt zu haben. Die russischen Generäle haben sich in Tschetschenien als noch „leistungsfähiger“ erwiesen: „Diese kleine kaukasische Republik läuft somit Gefahr, in ihrer Entwicklung um ein Jahrhundert zurückgeworfen zu werden“ (Le Monde Diplomatique, Februar 2000). Die Kämpfe, die bislang das Land zerstört haben, gehen weiter, und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen.

Die Zahl der kriegerischen Spannungsgebiete wird immer größer. Insbesondere in Südostasien sind sie sehr zahlreich und ausgesprochen gefährlich. „In keiner anderen Region auf der Erde stehen wir vor solch dramatischen Fragen.“ (Bill Clinton, International Herald Tribune, 20.3.00).

Armut und Not dehnen sich überall auf der Welt aus

„Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Armut“ (International Herald Tribune, 17.3.00). Das ganze Gerede von Wohlstand wird durch die dramatische Lage von Milliarden Menschen widerlegt. „Während die weltweite Grundnahrungsmittelproduktion 110% der Bedürfnisse deckt, sterben weiterhin jedes Jahr 30 Millionen Menschen an Hunger, und mehr als 800 Millionen Menschen sind unterernährt“ (Le Monde Diplomatique, Dezember 2000).

Die Lage in den Ländern der Peripherie, die vor kurzem noch als „Dritte-Welt-Staaten“ und heute als „Schwellen-“ oder „Entwicklungsländer“ bezeichnet werden, entblößt die Lügen der gegenwärtigen Propaganda, denn überall nehmen Verarmung und absolute Armut zu. „Es gibt immer noch eine große Anzahl von Unterernährten, obwohl es einen Nahrungsmittelüberschuss gibt. In den Entwicklungsländern leiden 150 Millionen Kinder an Untergewicht, d.h. ca. ein Drittel aller Kinder“ (International Herald Tribune, 9.3.00).

Selbst wenn man uns heute eintrichtern will, dass die asiatische Krise vom Sommer 1997 überwunden und die „asiatischen Tiger“ wieder genesen seien, die Rezession in Asien und Lateinamerika viel weniger verheerend als befürchtet gewesen sei und es wieder positive Wachstumszahlen gebe, „leben in Asien und Lateinamerika 2,2 Milliarden Menschen mit weniger als 2 Dollar pro Tag“ (International Herald Tribune, 14.7.00, James D. Wolfensohn, Präsident der Weltbank).  Die Inflation sei unter Kontrolle, die Produktion ziehe wieder an, somit sei „Russland ein kleines Wunder, wenn man den makro-ökonomischen Indikatoren glauben soll“ (Le Monde, 24.3.00). Aber wie in den Ländern Asiens und Lateinamerikas vollzieht sich diese Besserung der „wirtschaftlichen Grundlagen“ auf Kosten der Bevölkerung und dank einer wachsenden Verarmung. „Russland ist weiterhin nahezu pleite, angeschlagen durch eine Auslandsschuld von annähernd 170 Mrd. Dollar [....]. Die allgemeine Entwicklung des Lebensstandards ist seit 1990 rückläufig und heute beträgt das Durchschnittseinkommen ca. 60 $ im Monat, ein Durchschnittslohn 63 $ und eine Durchschnittsrente 18 $. 1998 lebten zur Zeit des Börsenkrachs 48% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (die auf 50 $ festgelegt worden war), Ende 1998 lebten schon 54% unter dieser Grenze und mittlerweile sind es ca. 60%“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 14.3.00).

Armut und Not in den Industriestaaten 

Die Idee, dass die Industriestaaten eine Oase des Wohlstands seien, hält auch keiner Überprüfung stand – auch nicht einer oberflächlichen. Allein der Anblick von Hunderten von Millionen von Männern und Frauen, hauptsächlich Arbeitern mit oder ohne Stelle, genügt. Wie wir in der Nummer 100 unserer International Review (engl./frz./span. Ausgabe) schrieben, leben 18% der amerikanischen Bevölkerung, d.h. mindestens 36 Millionen Menschen, unter der Armutsgrenze, in Großbritannien sind es 8 Mio. und in Frankreich 6 Mio. Wenn die Arbeitslosenzahl  gesunken ist, dann steckt dahinter eine täglich größer werdende Flexibilität, immer prekärere Bedingungen und ein drastischer Lohnverfall. Neben den USA und Großbritannien werden die Niederlande oft als Beispiel eines wirtschaftlichen Erfolgs erwähnt. Wie kann man den Rückgang der Arbeitslosenzahlen in den Niederlanden von 10% 1983 auf weniger als 3% 1999 erklären, fragt sich Le Monde. „Mehrere Erklärungen sind schon angeführt worden: [....] Die Ausbreitung der Teilzeitarbeit, die 1997 38,4% der Gesamtbeschäftigten ausmachte, zahlreiche Pensionierungen von Beschäftigten, die als behindert eingestuft wurden (besonders weit verbreitet in Holland, da sie nahezu 11% der aktiven Bevölkerung umfassen), schließlich die Zurückhaltung bei den Löhnen während der 80er Jahre, all das sind Gründe, die eine Erklärung für den starken Rückgang der Arbeitslosigkeit liefern“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 14.3.00). Das Rätsel des Erfolgs ist gelöst. Einer von zehn Erwachsenen ist in einem der höchst entwickelten Industriestaaten der Erde behindert. Aber das ist kein Grund zum Lachen. Der Erfolg Hollands? Größtmögliche Ausdehnung prekärer Arbeitsbedingungen und von Teilzeitarbeit, Zahlenspielereien mit den Wirtschaftsstatistiken und den Gesundheitszahlen, schließlich drastische Lohnsenkungen. Da haben wir das „Erfolgsrezept“. Und es wird in allen Ländern angewandt.[ii] [7]

Zu diesen Zahlen, die nur einen Teileinblick in die wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit der Industriestaaten darstellen, müsste man die gewaltige öffentliche und private Verschuldung der USA, die Ausdehnung ihres Handelsdefizits hinzufügen[iii] [8] und die gewaltige Börsenspekulationsblase der Wall Street sowie aller anderen Börsen der Welt. Der viel gepriesene ununterbrochene US-amerikanische Wachstumszyklus der 90er Jahre wurde von den anderen Staaten der Welt durch eine gewaltige Ausbreitung der Verschuldung und eine gesteigerte Ausbeutung der Arbeiterklasse finanziert. Der andere große Industriestaat, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, Japan, hat die offizielle Rezession, d.h. die offiziell als solche anerkannt wird, noch nicht überwunden. Und das obwohl man eine astronomische Staatsverschuldung eingegangen ist, die „sich Ende 1999 auf 3300 Milliarden Dollar belief, womit Japan weltweiter Spitzenreiter war [....]. Japan hat somit die USA überholt, die zuvor die höchst verschuldete Nation der Erde war“ (Le Monde 4.3.00).

Die wirkliche Lage der Weltwirtschaft ist genau das Gegenteil der Idylle, die uns immer wieder geschildert wird.

Mörderische Katastrophen und Zerstörung des Planeten

Umwelt- und Naturkatastrophen häufen sich. Die todbringenden Überschwemmungen in Venezuela und Mosambik, die denen in China und anderswo folgten, haben Tausende von Toten und Verschwundenen, Hunderttausende Obdachlose und Hungernde hinterlassen. Gleichzeitig haben Dürreperioden, die weniger „spektakulär“ sind, in Afrika und in den von Überflutungen heimgesuchten Ländern zu einem anderen Zeitpunkt eine Unzahl von Opfern gefordert und Zerstörungen bewirkt. Aber die Tausenden von Toten, die in den Trümmern ihrer Elendshütten um Caracas verschüttet und begraben wurden, sind keine Opfer von Naturphänomenen geworden, sondern sie sind Opfer der Lebensbedingungen und der Anarchie des Kapitalismus. Die reichen Länder sind von den Katastrophen auch nicht ausgespart geblieben, auch wenn sie dort unmittelbar weniger dramatische Auswirkungen hinterlassen haben. Die Zahl der ‚Zwischenfälle“ in den Atomkraftwerken häuft sich. Genauso wie die Fälle von ‚Ölpest“, die nach dem Schiffbruch von Billigflaggschiffen entstehen, und die Zahl von Eisenbahn- und Flugzeugunfällen. Oder die Vergiftung von Flüssen wie die Einleitung von großen Quecksilbermassen in die Donau. Das Wasser ist mehr und mehr vergiftet und wird zu einer Mangelware. „Eine Milliarde Menschen hat keinen Zugang zu sauberem und trinkbarem Wasser, hauptsächlich deshalb, weil sie arm sind“ (International Herald Tribune, 17.3.00). Die Luft in den Städten und auf dem Lande wird immer verschmutzter. Krankheiten wie Cholera und Tuberkulose, die als überwunden galten, tauchen wieder auf und verbreiten sich. „Dieses Jahr werden 3 Millionen Menschen an Tuberkulose sterben, und 8 Millionen werden dadurch infiziert, fast alle leben in den armen Ländern [....]. Die Tuberkulose ist keineswegs nur ein medizinisches Problem. Sie ist ein politisches und soziales Problem, das unberechenbare Folgen für zukünftige Generationen haben könnte“, so die Aussage von Ärzten ohne Grenzen (zit. nach International Herald Tribune, 24.3.00).

Die Zerstörung des sozialen Gewebes und dessen dramatische Folgen

Diese Verschlechterung der Lebensbedingungen sowohl auf ökonomischer als auch auf allgemeiner Ebene geht einher mit einer Explosion der Korruption, dem Aufblühen von Mafia-Organisationen und schlimmster Kriminalität. Ganze Länder werden von Drogen, Kriminalität und Prostitution überschwemmt. Die Veruntreuung von Geldern des IWF in Russland in Milliardenhöhe durch Mitglieder der Jelzin-Familie sind nur ein karikaturaler Ausdruck der weit verbreiteten Korruption, die auf der ganzen Welt um sich greift.

Die Hölle, in der sich Millionen von Kinder auf der Welt befinden, ist unglaublich. „Die Liste der Tätigkeitsfelder, wo Kinder zu Waren werden, ist lang [....]. Aber die Kinder werden keineswegs nur für den internationalen ‚Markt“ der Adoption verkauft. Man verkauft sie auch wegen ihrer Arbeitskraft [....]. Das Sex-Gewerbe – Kinderprostitution, Erwachsenenprostitution – ist heute so lukrativ geworden, dass es fast 15% des Bruttoinlandprodukts einiger asiatischer Länder ausmacht (Thailand, Philippinen, Malaysia). Die immer jüngeren Opfer leben überall in einer immer größeren Armut, vor allem wenn sie krank auf der Straße landen oder in ihre Dörfer zurückgeschickt werden, wo sie dann von ihren Familien verworfen und somit von allen im Stich gelassen werden“ (Le Monde, 21.3.00, Claire Bisset, Direktorin des Französischen UNICEF-Komitees).[iv] [9]

Genauso schrecklich ist die Ausbreitung der Prostitution junger Mädchen. Infolge der Intervention der NATO im Kosovo landeten Tausende junger Frauen in den Flüchtlingslagern. Während ihre Brüder von der Mafia der UCK zwangsrekrutiert wurden, sich am Drogenhandel beteiligten und der Kriminalität verfielen, sind die Frauen ebenfalls zu Opfern der Mafia geworden. „Oft werden sie in den Flüchtlingslagern gekauft oder entführt, um dann ins Ausland oder in den Kneipen an die Soldaten von Pristina verkauft zu werden [....]. Die meisten von ihnen erleiden Misshandlungen, insbesondere Vergewaltigungen, bevor sie gezwungen werden sich zu prostituieren. ‚Anfangs glaubte ich nicht, dass es wirkliche Konzentrationslager gab, in denen sie vergewaltigt und auf die Prostitution vorbereitet werden“, erklärte eine französischer Polizist“ (Le Monde, 15.3.00).

Auf allen Ebenen: Kriege, Wirtschaftskrise, Armut, in ökologischer und sozialer Hinsicht ein düsteres und katastrophales Bild.

Wohin treibt der Kapitalismus die Welt?

Aber handelt es sich um eine zugegebenermaßen schreckliche und dramatische Übergangsperiode hin zu einer besseren Welt mit Frieden und Wohlstand? Oder handelt es sich um einen unaufhaltsamen Abstieg in die Hölle? Handelt es sich um eine Gesellschaft, die schlimmste Zeiten durchmacht, bis dann wieder eine neue außergewöhnliche Entwicklung dank neuer Technologien möglich wird? Oder befinden wir uns in einem unumkehrbaren Zerfall des Kapitalismus? Welche tiefgreifenden Tendenzen gibt es, die ausschlaggebend sind für alle Aspekte im Kapitalismus?

Hin zu einer Zerstörung der Umwelt

Trotz der Reden der Grünen und ihrer Regierungsbeteiligung werden Katastrophen aller Art und die Zerstörung des Planeten durch den Kapitalismus nur noch zunehmen und sich weiter zuspitzen. Wenn die Wissenschaftler es schaffen, eine „objektive“ und ernsthafte Untersuchung zu erstellen, und wenn sie zu Wort kommen, sind ihre Vorhersagen verheerend. So äußerte sich ein Wasserspezialist: „Es ist, als ob wir auf eine Mauer zurasen [....]. Das schlimmste Zukunftsszenario besteht darin, dass, wenn wir so weitermachen wie heute, dann steht die Krise fest [....]. 2025 wird die Mehrheit der Menschen mit einer schwachen oder katastrophal schwachen Wasserversorgung konfrontiert sein“ (Le Monde, 14.3.00). Die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers: „Eine Änderung der globalen Politik ist dringend geboten“.

Wir brauchen gar nicht mehr auf das Loch in der Ozonschicht zurückzukommen, auch nicht auf die Erwärmung der Erde, die zu einem Eisschmelzen an den beiden Polen führt und den Meerwasserspiegel ansteigen lässt. Die Luft in den meisten Megastädten der Erde ist kaum noch zu atmen und die damit verbundenen Krankheiten, Asthma, chronische Bronchitis und andere, wie Krebs, steigen schnell an. Aber nicht nur die Großstädte und die Industriegebiete sind davon betroffen, sondern der ganze Erdball. Die Wolke von Industrieabgasen, für die die Industrie in Indien und China verantwortlich ist, hing wochenlang über dem Indischen Ozean und war so groß wie die Fläche der USA. Welche Antwort bietet der Kapitalismus? Kann er die Verschmutzung einstellen oder zumindest reduzieren? Keinesfalls. Seine Antwort? Sich Luft ‚anzueignen“ und sie als Ware verkaufen: „Zum ersten Mal wird die Luft, universeller Lebensbestandteil, zu einer Ware [....]. Das Prinzip eines Marktes für zugelassene Emissionen (d.h. Rechte zu verschmutzen) ist einfach [....]. Ein Land, das mehr CO2 ausstößt als erlaubt, kann von einem anderen Land, das weniger ausstößt, dessen Emissionsanteile abkaufen“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 21.3.00). Mit dem Wasser wird schon so verfahren, genauso wie mit Kindern und mit den Arbeitern. Statt die Zerstörung der Umwelt zu stoppen, oder sie zumindest zu reduzieren, beschleunigt der Kapitalismus den ganzen Zerstörungsprozess, indem er alles zu einer Ware werden lässt.

Hin zu noch mehr Armut und Not

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich die Lebensbedingungen der Weltbevölkerung – die Arbeiterklasse der Industriestaaten eingeschlossen – trotz des technischen Fortschritts und einer Entwicklung der quantitativ gewaltigen Produktivkräfte wesentlich verschlechtert, ohne all die Opfer und die Armut zu erwähnen, die durch die beiden Weltkriege verursacht wurden. Wie die Kommunistische Internationale 1919 feststellte, war der Zeitraum der Dekadenz des Kapitalismus eröffnet worden.

In den 70er Jahren gingen die Staaten Afrikas bankrott und der Schuldenberg Lateinamerikas erreichte astronomische Ausmaße. In den 80er Jahren gingen diese beiden Kontinente pleite und die Verschuldung Osteuropas explodierte. In den 90er Jahren ging Osteuropa pleite, dann kam die Explosion der Verschuldung und Pleite Asiens. Ob Afrika, Lateinamerika, oder jetzt Asien und Osteuropa – die Lage hat sich Ende des vorigen Jahrhunderts dramatisch verschlechtert. Anfang der 70er Jahre betrug die Zahl der Armen (die der Weltbank zufolge weniger als einen Dollar pro Tag verdienten) ca. 200 Millionen. Anfang der 90er Jahre war diese Zahl auf ca. 2 Milliarden angestiegen.

Nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Staatskapitalismus in Osteuropa wurde allen der große Wohlstand des Westens versprochen. „Doch statt eines Anstiegs der Löhne und des Lebensstandards auf das Niveau Westeuropas vergrößerte sich das Gefälle zwischen Ost- und Westeuropa nach 1989 noch mehr. Das Bruttoinlandprodukt fiel gar in den höchst entwickelten Ländern um 20%. Zehn Jahre nach dem Beginn des Übergangs hat einzig Polen sein Bruttoinlandprodukt von 1989 übertroffen, während Ungarn sich erst Ende der 90er Jahre diesem Niveau nähert“ (Le Monde Diplomatique, Febr. 2000).

Über Asien, wo die Krise vom Sommer 1997 angeblich überwunden sei, hört man: „Viele Banken sitzen noch auf gewaltigen Schulden, bei denen es auch bei einer Besserung des Wirtschaftsklimas keine Aussichten auf eine Rückzahlung gibt“ (The Economist, in „Die Welt im Jahr 2000“). Sicher ist die Bourgeoisie entzückt über die Genesungskraft der asiatischen Wirtschaften. „Die Wiederbelebung der Wirtschaft der Region ist ‚bemerkenswert“, meinte der Vizepräsident der Weltbank, zuständig für Ostasien und den Pazifik. Aus seiner Sicht ‚nimmt die Armut nicht weiter zu, die Währungskurse sind stabil, die Reserven beträchtlich, die Exporte steigen, Auslandsinvestitionen nehmen zu und die Inflation bleibt gering“ (Le Monde, 24.3.00).  Hinter der Aussage, „die Armut nimmt nicht weiter zu“, steckt in Wirklichkeit die Zerstörung ganzer Bereiche der Wirtschaft Asiens und eine gewaltige Verarmung der Bevölkerung, eine gestiegene öffentliche und private Verschuldung, die die Erklärung dafür liefert, dass „die Reserven beträchtlich“ sind; dahinter steckt auch eine abgewertete Landeswährung, was die Exporte und Auslandsinvestitionen begünstigt. Aber selbst im Falle Südkoreas, das vor der Krise vom Sommer 1997 als zehntgrößte Industriemacht eingestuft wurde, sind die Experten geteilter Meinung, und nicht alle lassen sich von den Erfordernissen der Propaganda beeindrucken.

„Hilton Root, ein ehemaliger Wirtschaftsprofessor an der Wharton School, beschrieb ein beunruhigendes Bild des koreanischen Wiederaufschwungs, der sehr zerbrechlich sei und nicht auf fest Füßen stehe. Auf den mächtigen südkoreanischen Chaebols (Konglomerate) lasten immer noch gigantische Schulden, und im Land bündelt sich der Reichtum noch immer in den Händen einiger weniger Familien, die Korruption treibt weiter Blüten und schadet dem politischen und Rechtssystem der Nation. Mr. Root bezweifelt, dass der koreanische Wiederaufschwung andauert, auch wenn Mr. Kim stärker als je zuvor erscheint. Viele Menschen befürchten, dass Südkorea schnell wieder einen Rückschlag erleidet“ (International Herald Tribune, 18.3.00).  Man kann sehen, auch wenn die Erklärung der Schwierigkeiten durch diesen Ökonomen keineswegs ausreichen, dass die Wirklichkeit überhaupt nicht so rosig aussieht, wie sie uns die Spezialisten der internationalen Bourgeoisie darstellen wollen.

Für die meisten Länder der Peripherie, d.h. für die meisten Kontinente, Länder und den Großteil der Weltbevölkerung lauten die Perspektiven: noch mehr Zerstörung, noch mehr Armut und Hunger.

Hin zu noch mehr Arbeitslosigkeit und noch prekäreren Arbeitsbedingungen in den reichen Ländern

Wie können wir behaupten, dass der Kapitalismus bankrott ist, obwohl man doch Wachstum verzeichnet? Sind wir denn blind? Wird die „neue Wirtschaft“ die Wirtschaft nicht noch mehr ans Laufen bringen und einen ununterbrochenen Wohlstand garantieren? Wird es nicht „Vollbeschäftigung“ geben, wie die Regierungen behaupten? Wirklichkeit oder Traum? Ist all dies möglich oder handelt es sich um Lügen?

Die Wirtschaftsvorhersagen, die uns von den Medien vorgetragen werden, sind nichts als Propaganda. Sie dienen nur dazu, den allgemeinen Bankrott zu übertünchen. Die Politiker, Spezialisten und Journalisten legen uns manipulierte Zahlen vor, die deren Lügen decken sollen. Im Mittelpunkt der Kampagne, wonach es bald wieder Vollbeschäftigung geben werde, steht die „neue Wirtschaft“.[v] [10] Wie soll das geschafft werden? Durch immer mehr prekäre Bedingungen, aufgezwungene Teilzeitarbeit und Tricks: „Während sich die Zeiten ändern, ändern sich auch die Orientierungspunkte. In besseren Zeiten sprach man von Vollbeschäftigung, als die Arbeitslosigkeit nur 3% betrug. Seit neustem meinen die Experten, könne man davon sprechen, wenn es nur 6% Arbeitslosigkeit gebe. Einige wollen die Zahl gar auf 8,5% anheben“ (Le Monde, Wirtschaftsbeilage, 21.3.00).  Die Tatsache, dass ihre Kriterien ständig geändert werden, untergräbt jetzt schon die versprochene Rückkehr zur „Vollbeschäftigung“ und zeigt das geringe Vertrauen, das man in ihre Prognosen haben kann. Die Arbeitslosigkeit und die prekären Arbeitsbedingungen werden sich noch weiter verschlimmern und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse weltweit verschlechtern.

Das Gleiche trifft für die Wachstumszahlen zu. In Zahlentricks geübt, haben es sich die japanischen Politiker angewöhnt, die Rezession in ihrem Land zu leugnen. „Auch wenn das Bruttoinlandprodukt jetzt schon zwei Halbjahre in Folge[vi] [11] rückläufig ist, glauben wir nicht, dass wir in einer Rezession stecken“ (Le Monde, 14.3.00).  Warum sollten sie davor zurückschrecken? Weil die Zahlen so verfälscht sind, damit sie in bestem Licht erscheinen. „Früher hätte man eine Wachstumsrate von 1–1,5% der Weltwirtschaft als Rezession betrachtet. Bei den drei vergangenen weltweiten ‚Rezessionen“ – 1975, 1982, 1991 – ist die Weltproduktion nie wirklich zurückgegangen“ (The Economist, „Die Welt 1999“, veröffentlicht in Courrier International). Unter diesen Bedingungen sind die triumphierenden Erklärungen über das wieder anziehende Wachstum in den Industriestaaten keineswegs glaubwürdig.

Es geht den Herrschenden heute darum, in den Augen der Weltbevölkerung, insbesondere gegenüber der Arbeiterklasse der Industriestaaten, den wirtschaftlichen Bankrott des Kapitalismus zu verschleiern. Eine der himmelschreiendsten Ausdrücke dieses Bankrotts ist der Rückgang der Produktion, die Rezession, mit ihren dramatischen und gewalttätigen Folgen. Die lyrischsten Schwärmereien über das US-Wachstum, dessen künstlicher Charakter und dessen Preis, den die US-Bevölkerung dafür zu zahlen hat, wir erwähnt haben, sollen die weltweite Rezession übertünchen. Wie viele Artikel und Lobpreisungen über das US-Wachstum im Vergleich zu den seltenen, verstreuten Erwähnungen der „tiefgreifenden Rezession in den meisten Ländern der Dritten Welt“ (The Economist) und in Osteuropa?

Hin zu einer Zuspitzung der Widersprüche der US-Wirtschaft

Trotz der Tricks ist die Bourgeoisie dennoch gezwungen, für sich mehr Klarheit zu schaffen, auch wenn es nur darum geht zu sehen, wie sie ihren Bankrott besser kontrollieren kann. Auf diesem Hintergrund also die gegenwärtige Diskussion über die „sanfte Landung“. Die asiatische „Krise“ vom Sommer 1997, die vor allem Asien, Lateinamerika und Osteuropa erfasste, konnte in Nordamerika und in Westeuropa eingedämmt werden, auch wenn Westeuropa und insbesondere die USA eine wachsende öffentliche und private Verschuldung hinnehmen mussten, mit der Folge, dass die Inflation ansteigt, die Wirtschaft überhitzt und eine noch größere und „irrationalere“ Börsenspekulation einsetzt als vorher.

Allen Lobliedern über die angebliche blendende Gesundheit der Wirtschaft, die revolutionäre Energie und den Boom der mit dem Internet verbundenen „neuen Wirtschaft“ zum Trotz, haben die ernsthaftesten Wirtschaftsspezialisten und Verantwortlichen nur eine einzige wahre Sorge: „die sanfte Landung“ der Weltwirtschaft. In Wirklichkeit handelt es sich um ein stillschweigendes Eingeständnis, dass die Wirtschaft schon dabei ist abzusinken. „Eine Sache ist klar: die Expansion der US-Wirtschaft wird sich abschwächen [....]. Könnte die Bremsung so heftig werden, dass sie zu einer weltweiten Rezession führt? Dies ist wenig wahrscheinlich, aber das Risiko kann man nicht ausschließen. (Dennoch) befürchten wir zwei beunruhigende Folgen. Erst wird die notwendige Verlangsamung, um eine Rückkehr der Inflation in den USA im Jahr 2000 zu vermeiden, ziemlich stark sein [....]. Wenn die neue Wirtschaft ein Mythos ist, oder wenn sie jedenfalls weniger reell ist, als man behauptet, sind die gegenwärtigen Börsennotierungen der US-Firmen völlig überzogen. Wenn man sich die Notwendigkeit einer Abschwächung der globalen Nachfrage und die überbewerteten Aktienkurse (die Anleger haben sich auf den Verlust von Illusionen wenig eingestellt) vor Augen führt, lassen sich keine Bedingungen für eine erfolgreiche Landung erkennen“ (The Economist, „Die Welt im Jahre 2000“).

Zweifel machen sich breit. Wird es die Bourgeoisie schaffen, den Absturz zu kontrollieren um solch einen brutalen und unkontrollierten Schock wie 1929 vermeiden können? Es geht nicht darum, ob sich die Pleite vermeiden lässt oder nicht. Die Pleite ist längst schon eingetreten. Wachstum oder Rezession? Die Rezession hat sich längst schon niedergelassen, wie oben aufgezeigt. Wohlstand oder Armut? Die Armut ist längst eingezogen. Arbeitslosigkeit – prekäre Arbeitsbedingungen oder Vollbeschäftigung? Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsbedingungen gehören längst zum Alltag. Nein, es geht darum: Wird die Bourgeoisie weiterhin den Absturz so kontrollieren können, wie sie es heute tut? Kontrollierter oder unkontrollierter Absturz? Zweifel und Fragestellungen sind in einem anderen Artikel der gleichen Zeitung zu erkennen. „Wenn eine sanfte Landung gelingt, werden die USA ein genauso erstaunliches Wunder vollbracht haben wie das fortgesetzte Wachstum während der letzten Jahre“ (ebenda). Zum Teufel! Zwei „Wunder“ hintereinander! Welch blinder Glaube. Und welches Vertrauen in die Tugenden der kapitalistischen Wirtschaft. Wie beim ersten wird dieses neue „Wunder“, falls es jemals eintreten sollte, nicht durch den Markt bewirkt werden, sondern durch das autoritäre Eingreifen der Staaten – an führender Stelle der USA – in die Wirtschaft, durch politische Entscheidungen der Regierungen und der „Techniker“ der Zentralbanken, die erneut versuchen werden, das Wertgesetz außer Kraft zu setzen, nicht um die Wirtschaft zu retten, sondern um so „sanft“ wie möglich zu landen.

Hin zu mehr Kriegen und Chaos

Wir haben in unserer Presse aufgezeigt[vii] [12], dass in Tschetschenien kein Frieden einkehren wird – genau so wenig wie auf dem Balkan. Und es gibt eine Vielzahl von Spannungsherden. Aus dieser Vielfalt von lokalen Antagonismen ragen besonders die Spannungen zwischen China und Taiwan, Indien und Pakistan und damit Indien und China heraus, d.h. den drei Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Darüber hinaus spitzen sich die Gegensätze zwischen den industriellen Großmächten zu, auch wenn diese Zuspitzung bislang teilweise noch verdeckt ist. Diese Rivalitäten schüren die lokalen Konflikte und spitzen sie zu, wenn sie nicht gar deren direkte Ursache sind wie in Jugoslawien. Die Divergenzen hinsichtlich des Kosovos und des Einsatzes der NATO-Truppen verdeutlichen dies.

Wiederaufflammen der lokalen Konflikte, Zuspitzung der Gegensätze zwischen den imperialistischen Großmächten, dahin treibt uns der Kapitalismus immer mehr.

Auf der Ebene der lokalen imperialistischen Gegensätze hat der gegenwärtige Zeitraum des Zerfalls in den meisten Kontinenten ein Chaos hervorgerufen. „In den südlichen Staaten ist der Staat dabei zusammenzubrechen. Gebiete, in denen es kein Rechtssystem mehr gibt, wo immer mehr unregierbare chaotische Zustände herrschen, versinken in einen Zustand der Barbarei, wo nur die Banden von Plünderern dazu in der Lage sind, ihr Gesetz durchzusetzen, indem sie die Bevölkerung erpressen“ (Le Monde Diplomatique, Dez. 1999). Afrika, das aufgegeben zu sein scheint, zeigt es am deutlichsten. Die gewaltigen Regionen Zentralasiens haben den gleichen Weg eingeschlagen, und obwohl es noch nicht die gleiche Stufe erreicht hat, ist Lateinamerika auch von dieser Entwicklung erfasst, wie uns das Beispiel Kolumbien zeigt.[viii] [13]

Genauso wie in ökologischer und ökonomischer Hinsicht stürzt diese unumkehrbare Tendenz des zerfallenden Kapitalismus die Menschheit ins Chaos und in die Katastrophe. „Dieses [russische] Reich, das in selbständige Regionen zerfällt, diese Einheit ohne Gesetze, ohne Zusammenhalt, dieses aufleuchtende Universum, wo die größten Reichtümer und die furchtbarsten Gewalttätigkeiten gleichzeitig anzutreffen sind, liefert uns ein klares Bild von diesem neuen Mittelalter, in das der ganze Planet zurückfallen könnte, falls wir die Globalisierung nicht in den Griff kriegen“ (J. Attali, ehemaliger Berater des französischen Präsidenten F. Mitterand, L’Express, 23.3.00).

Hat die Menschheit eine Zukunft?

Ein Überblick über die Welt von heute zeigt, wie schrecklich und katastrophal die Lage ist. Die Perspektiven, die der Kapitalismus der Menschheit anzubieten hat, sind schauderhaft und apokalyptisch, aber auch unausweichlich. Es sei denn, wir schaffen es, die Ursache dieses Übels zu überwinden: den Kapitalismus.

„Der Mythos besteht weiterhin, dass der Hunger die Folge eines Mangels an Nahrungsmitteln sei [....]. Aber die eigentliche Ursache des Hungers in den reichen und armen Staaten ist die Armut“ (International Herald Tribune, 9.3.00). Die kapitalistische Welt hat ausreichend Produktivkräfte entwickelt, um die ganze Menschheit zu ernähren. Dies geschah sogar, obwohl während des 20. Jahrhunderts ungeheure Reichtümer und die Produktivkräfte massiv zerstört wurden. Der Überfluss an Gütern und das Ende der Armut – all das bleibt weiter im Bereich des Möglichen für die Menschheit und damit auch die Beherrschung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Verteilung der Güter, das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, das Ende der Kriege und der Massaker, das Ende der Umweltzerstörung. In ökonomischer und technischer Hinsicht ist diese Frage seit Anfang des 20. Jahrhunderts längst geklärt. Aber die Aufgabe der Zerstörung des Kapitalismus muss noch erfüllt werden.

Dem gegenüber will die herrschende Klasse uns immer eintrichtern, dass jegliches revolutionäre Projekt unvermeidbar zu einem blutigen Scheitern verurteilt sei; sie verbreitet die Lüge, dass der Kommunismus seiner Negation, dem Stalinismus, gleichzusetzen sei. Mit Hilfe ihrer „Oppositionskräfte“ leiert sie demokratische Kampagnen gegen Pinochet an, gegen die extreme Rechte in Österreich, gegen die Vorherrschaft der Finanzgiganten über die Gesellschaft, gegen die Auswüchse des Liberalismus, gegen die Welthandelsorganisation während der großen Medienshow um die Gipfelgegner in Seattle, für die Tobin-Steuer in Frankreich. In jedem Land werden diese Kampagnen jeweils an die nationalen Verhältnisse angepasst – so wie bei der Dutroux-Affäre in Belgien, dem Kampf gegen den ETA-Terrorismus in Spanien, den Mafia-Skandalen in Italien und der Anti-Rassismus Kampagne in Frankreich. Ein Leitgedanke dieser demokratischen Kampagnen besteht darin, dass die Bevölkerung und an erster Stelle die Arbeiterklasse sich als „Bürger“ um ihren Staat zusammenschließen, um diesem zu helfen, und bei den radikalsten unter ihnen, um ihn zu zwingen, die Demokratie zu verteidigen.

Das Ziel dieser Kampagnen und dieser demokratischen Verschleierungen ist klar. Der Kampf der Arbeiterklasse wird ersetzt durch die Bürgerbewegung aller Klassen und aller Interessensgruppierungen. Dem Kampf gegen den Kapitalismus und seinen Repräsentanten und höchsten Verteidiger, den Staat, stellt man die Unterstützung des Staates entgegen. Die Arbeiterklasse würde alles verlieren, wenn sie sich in dieser Vermischung aller Klassen der Bürger und des Volkes auflösen würde. Sie würde alles verlieren, wenn sie sich hinter den kapitalistischen Staat stellte. Die Bourgeoisie verbreitet auch die Idee, dass der Klassenkampf und die Arbeiterklasse als solche verschwunden seien. Aber die Tatsache, dass diese Kampagnen überhaupt angeleiert werden, ihre oft internationale Orchestrierung und ihr Ausmaß belegen, dass die Arbeiterklasse aus der Sicht der Bourgeoisie weiterhin eine Gefahr darstellt und als Klasse bekämpft werden muss.

Und dies gilt umso mehr, als sich heute wieder mehr Klassenkämpfe entfalten, die sicherlich noch zerstreut und von den Gewerkschaften und den politischen Kräften der Linken kontrolliert und in Niederlagen geführt werden. Aber diese Kämpfe verdeutlichen nichtsdestotrotz eine wachsende Unzufriedenheit mit den Angriffen des Kapitals. In Deutschland, in Großbritannien, in Frankreich gab es zwar schüchterne und von den Gewerkschaften noch voll kontrollierte, aber dennoch bedeutsame Klassenbewegungen.[ix] [14] Die Proteste der New Yorker U-Bahn-Beschäftigten im Nov.-Dez. 99 (siehe Internationalism Nr. 111, Zeitung der IKS in den USA) waren sicherlich ein Ausdruck der Stärken und Schwächen sowie der Grenzen der Arbeiterklasse heute. Denn es gab auf der einen Seite eine Kampfbereitschaft, die Weigerung, die Opfer ohne Widerstand hinzunehmen, eine Bereitschaft, sich zu versammeln und über die Bedürfnisse und Mittel des Kampfes zu diskutieren, sowie auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den gewerkschaftlichen Manövern; auf der anderen Seite ein mangelndes Selbstvertrauen, eine mangelnde Entschlossenheit der Arbeiter zur Überwindung der gewerkschaftlichen Hindernisse, damit sie offen in den Kampf eintreten und versuchen können, die Ausdehnung auf andere Bereiche in die Hand zu nehmen.

Die Lügen über die gute Gesundheit der Wirtschaft zielen darauf ab, die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse zu verhindern und vor allem so lange wie möglich zu verzögern. Es geht nicht so sehr darum, die Bewusstwerdung über die Angriffe und die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verhindern – denn die Arbeiter erleben das alltäglich und sind sich darüber im klaren –, sondern vor allem die Bewusstwerdung über den Bankrott des Kapitalismus soll verhindert werden. Und auf ideologischer und politischer Ebene steht die ständige und systematische Kampagne über die Notwendigkeit der Verteidigung der Demokratie und ihrer Verstärkung im Mittelpunkt der politischen Offensive der Bourgeoisie gegen das Proletariat in der heutigen Zeit.

Auf geschichtlicher Ebene steht viel auf dem Spiel. Für den Kapitalismus geht es darum, die Entwicklung von massiven und vereinten Kämpfen so lange wie möglich hinauszuschieben und sie in Sackgassen zu lenken,  um damit auch eine Verstärkung des Selbstbewussteins der Arbeiter zu vereiteln. Damit sollen die Abwehrkämpfe der Arbeiter erschöpft, zerstreut und schließlich in Niederlagen geführt werden. Es wäre eine Katastrophe für die ganze Menschheit, wenn das internationale Proletariat in den zukünftigen entscheidenden Klassenzusammenstößen geschlagen und zu Boden geworfen werden würde.               

R.L. 26.3.00

 


[i] [15] Die Übersetzung der Zitate aus der englischen bzw. französischen Presse ist von uns.

[ii] [16] Teilzeitarbeit und Flexibilität sowie Zahlentricks auch in Großbritannien: „Obwohl es ein wichtiges Faktum ist, wird der große Rückgang der aktiven Bevölkerung meist verschwiegen [....] .  Ein anderer Faktor ist zu berücksichtigen: der starke Anstieg der Teilzeitarbeit, denn seit 1992 sind zwei von drei neu geschaffenen Arbeitsplätzen Teilzeitjobs. Das ist ein Rekord in Europa! Schließlich verfährt man nach einem alten Rezept, die Arbeitslosenzahlen werden in Großbritannien frisiert. Jeder Arbeitswillige, der aber nicht aktiv eine Beschäftigung sucht (d.h. eine Million Menschen) wird aus der Statistik gestrichen, genauso wie diejenigen, die nicht sofort zur Arbeitsaufnahme zur Verfügung stehen (ca. 200000)“ (Le Monde Diplomatique, Febr. 1998). Siehe auch Le Monde Diplomatique April 1998 mit Zahlen zu den prekären Arbeitsbedingungen und Zwangsteilzeitarbeit in den Hauptindustriestaaten USA, Großbritannien, Frankreich usw.

[iii] [17] „Das Defizit beträgt 338,9 Milliarden Dollar 1999, ein Anstieg um 53.6% im Vergleich zu den 220,6 Mrd. Dollar 1998. Seit Einführung der Statistiken, d.h. nach dem 2. Weltkrieg, gab es noch nie ein solch großes Defizit“ (Le Monde, 17.3.00).

[iv] [18] Kinder als Waren sind keine auf die armen Länder beschränkte Erscheinung, wo ein totales Chaos

herrscht. „Großbritannien ist ebenfalls europäischer Spitzenreiter der Kinderarbeit, wie ein Bericht einer unabhängigen Kommission, die Low Pay Unit, aufdeckt, der am 11. Februar veröffentlicht wurde: Zwei Millionen Jugendliche zwischen 6 und 15–16 Jahren, darunter 500000 unter 13 Jahren, gehen einer fast regelmäßigen Beschäftigung nach. Dabei handelt es sich nicht nur um geringfügige Beschäftigungen, sondern um Tätigkeiten, die normalerweise von Erwachsenen in der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe ausgeübt werden sollte, und die lächerlich gering bezahlt werden. Das Generationsdumping, das ist das neueste britische Modell“ (Le Monde Diplomatique, April 1998).

[v] [19] Wir können im Rahmen dieses Artikels die neue Entdeckung, den neusten Trick, das Internet und die „neue Ökonomie“, welche die Menschheit und den Kapitalismus aus der Sackgasse führen soll, nicht ausführlich analysieren, kritisieren und denunzieren. Wir können jedoch ganz einfach feststellen, dass der Enthusiasmus der letzten Monate am zusammenbrechen und die Raserei und spekulative Hitze auf dem Internet bereits am abkühlen ist. Die mit dem Internet verknüpften astronomischen Ziffern der Kapitalisierung der Gesellschaften an der Börse stehen in keinem Verhältnis zu den Zahlen der Bruttoumsätze und noch weniger zu den Profiten, wenn diese überhaupt existieren, was selten der Fall ist. Dass immense Kapitalmassen die „alte Ökonomie“ verlassen, also diejenige, welche Produktions- und Konsumgüter herstellt, und sich auf Unternehmen stürzen, welche nichts produzieren und nur die Spekulation zum Ziel haben, ist eine deutliche Bestätigung der Sackgasse des Kapitalismus. „Im Januar gab es einen Zustrom von 32 Milliarden Dollar in Technologiefonds, die stark wachsen (die „neue Ökonomie“ im Zusammenhang mit dem Internet). In dieser Zeit zogen die Investoren ihr Geld aus anderen Geschäften zurück, welche einen Rückgang von 13 Milliarden verzeichneten. Die Zahlen im Dezember waren genauso eindrücklich: 26 Milliarden für die Spitzentechnologie, und 13 Milliarden flohen aus anderen Sektoren.“ (International Herald Tribune, 14.3.2000)

[vi] [20] Laut den Spielregeln der Ökonomen braucht es drei aufeinanderfolgende Quartale mit zurückgehendem Wachstums, damit man „offiziell“ von Rezession sprechen kann. Doch wie The Economist hervorhebt, sind die negativen Zahlen nur Anzeichen einer „offenen“ Rezession, welche keinesfalls die Existenz einer Rezession auch im Falle positiver Zahlen in Frage stellt.

[vii] [21] Siehe die letzten Nummern der International Review mit ausführlicheren Analysen und Stellungnahmen zu den imperialistischen Konflikten, vor allem im Kosovo, Timor und Tschetschenien (Nr. 97, 98, 99, 100 engl./ franz./ span. Ausgabe) 

[viii] [22] Es gilt zu erwähnen, dass „Kolumbien nach Israel und Ägypten der drittgrößte Empfänger amerikanischer Militärhilfe ist“ („Die Welt im Jahre 2000“, Courrier International).  

[ix] [23] In Deutschland „haben sich die sozialen Spannungen zugespitzt (...) als die Regierung einschneidende Veränderungen in der Beschäftigungspolitik einleitete“ (International Herald Tribune, 24.3.00). Siehe auch Weltrevolution, unsere deutschsprachige zweimonatliche Presse. Zu England siehe unsere monatlich erscheinende World Revolution Nr. 228 und 229, sowie die Stellungnahme der Communist Workers Organisation in Revolutionary Perspectives Nr. 15 und 16 zu den verschiedenen Einschätzungen über die gegenwärtigen Arbeiterkämpfe. Zu Frankreich siehe unsere Monatspresse Revolution International.

Die bedeutendsten Bewegungen sind nicht die, über welche in den Medien am meisten geschrieben wird. So haben in Frankreich die zahlenmäßig unbedeutenden und korporatistischen Streiks der Steuerbeamten und im Schulwesen die Schlagzeilen mit Siegesmeldungen beherrscht, die auf das Konto der Gewerkschaften geschrieben wurden, während umgekehrt eine Vielzahl von Konflikten im privaten und öffentlichen Sektor, wie z.B. bei der Post, gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche und deren Konsequenzen heruntergespielt, wenn überhaupt vermittelt, werden.

 

Polemik mit dem IBRP: Die marxistische Methode und der Aufruf der IKS gegenüber dem Krieg in Ex-Jugoslawien

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Nach den Anzeichen gegenseitiger Anerkennung und Debatten unter den Gruppen der Kommunistischen Linken in den vergangenen Jahren (so zum Beispiel eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP) mit der IKS in Grossbritannien) war der von der NATO geführte Krieg auf dem Balkan ein Test für die Fähigkeit dieser Organisationen zu einer gemeinsamen Verteidigung des proletarischen Internationalismus auf möglichst breiter Ebene. Leider haben diese Gruppierungen den Aufruf der IKS zu einer gemeinsamen Stellungnahme gegen die imperialistische Schlächterei in Ex-Jugoslawien zurückgewiesen. Wir haben in der Internationalen Revue Nr. 24 bereits eine erste Bilanz über die Reaktionen gegenüber unserem Aufruf veröffentlicht.

Im vorliegenden Artikel wollen wir auf die Idee des IBRP, laut der unser Aufruf auf einer „idealistischen“ Methode beruhe, antworten.

„Wenn ihr in eurem Flugblatt schreibt, dass `die Weltarbeiterklasse seit den massiven Streiks vom Mai 68 in Frankreich ihre Kämpfe entfaltet und sich damit geweigert hat, sich der Logik des krisengeschüttelten Kapitalismus zu unterwerfen, (weshalb) sie die Auslösung eines 3. Weltkrieges hat verhindern können`, dann bleibt ihr Gefangene eures Schemas, welches wir schon zuvor als idealistisch charakterisiert haben und das heute für die Bedürfnisse der theoretisch-politischen Klarheit und Solidarität, um in der Arbeiterklasse zu intervenieren, besonders unbrauchbar ist.“ (Brief des IBRP vom 8.4.1999, von uns aus dem Englischen übersetzt)

Tatsächlich wäre der Idealismus für eine revolutionäre Organisation eine grosse Schwäche. Der Idealismus ist ein gewichtiges Bollwerk der bürgerlichen Philosophie. Er sieht die vorwärtstreibenden Kräfte der Geschichte in den Ideen, der Moral und den Wahrheiten, welche durch das menschliche Bewusstsein hervorgebracht wurden. Damit bildet er ein wichtiges Fundament für die verschiedenen bürgerlichen Ideologien, welche die Ausbeutung der Arbeiterklasse verschleiern und ihr jegliche Fähigkeit zur Selbstbefreiung absprechen. Die Teilung der Gesellschaft in Klassen, sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit der kommunistischen Revolution mit dem Ziel, diese Gesellschaft zu überwinden, können nur mit einer materialistischen Sichtweise der Geschichte begriffen werden. Die Geschichte des Denkens erklärt sich aus der Geschichte des Seins, und nicht umgekehrt.

Der Idealismus und der historische Kurs

Weshalb soll denn die Auffassung des „historischen Kurses“, der zum Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in einer gegebenen Periode Stellung bezieht und zur Schlussfolgerung kommt, dass heute nicht der Kurs hin zu einem generalisierten imperialistischen Krieg offen ist, sondern nach wie vor in Richtung einer verstärkten Klassenkonfrontation schreitet, wohl „idealistisch“ sein? Der Brief der Communist Workers Organisation (das IBRP in Grossbritannien) an die IKS, in dem der Vorschlag zu einer gemeinsamen öffentlichen Diskussionsveranstaltung zurückgewiesen wird, versucht uns dies zu erklären:

„Für euch scheint dies eine Nebensächlichkeit zu sein, doch für uns unterstreicht es, wie stark ihr von der Realität entfernt seid. Wir sind absolut bestürzt über die geringe proletarische Antwort gegenüber den momentanen Ereignissen. Das Motto „Sozialismus oder Barbarei“ hat in dieser Krise seine wahre Gültigkeit. Doch wie könnt ihr weiterhin behaupten, die Arbeiterklasse verhindere den Krieg, wenn die Ereignisse in Jugoslawien zeigen, wie die Imperialisten (ob klein oder gross) freie Hand haben?(...) Dieser Krieg ist nur 800 Meilen (ein Krähenflug) von London entfernt. Muss er sich nach Brighton ausdehnen, bis ihr eure Perspektiven korrigiert? Der Krieg ist ein direkter Schritt hin zur Barbarei. Wir können nicht zusammenspannen im Kampf für eine kommunistische Alternative, wenn ihr behauptet, dass man in der gegenwärtigen Periode auf die Arbeiterklasse zählen könne.“ (Brief der CWO vom 26.4.1999, von uns aus dem Englischen übersetzt)

Der Idealismus, unser Idealismus, scheint also nichts mit der „Realität“, den „Ereignissen“, zu tun zu haben, welche das IBRP als Tatsachen beschreibt. Der vom IBRP erhobene schwerwiegende Vorwurf des Idealismus ist kaum brauchbar, da er eine historische Frage auf ein Problem des „gesunden Menschenverstandes“ reduziert.

Dieser kurze Abschnitt, in welchem das IBRP seine Version der Realität darstellt, entbehrt jedoch einer seriösen materiellen Grundlage und gründet allzufest auf Überlegungen des „gesunden Menschenverstandes“, die durch kurzzeitige und lokale Fakten bestimmt sind. Sicherlich passt der Ausdruck „Sozialismus oder Barbarei“ zur gegenwärtigen Situation: die historischen Alternativen der zwei hauptsächlichen Klassenfeinde in der Gesellschaft stehen auf dem Balkan auf dem Spiel. Das IBRP widerspricht sich einige Zeilen später, wenn es behauptet, das Proletariat und seine historische Perspektive, der Sozialismus, habe in der gegenwärtigen Situation kein Gewicht.

Das IBRP hält die Fahne der kommunistischen Alternative offenbar alleine auf der ganzen Welt aufrecht. Seine widersprüchlichen Analysen über die Realität, die „unmittelbare“ Realität, die „wirklichen Ereignisse“ sind nicht „dialektisch“ wie es das IBRP gerne möchte, da es nicht fähig ist, zu begreifen, wie sich die grundlegenden historischen Tendenzen in einer gegebenen Situation ausdrücken.

Während die IKS versucht hat, zumindest das historische Gewicht der Arbeiterklasse in bezug auf den Krieg auf dem Balkan zu verstehen, ohne den Ernst der Situation herunterzuspielen, begibt sich das IBRP auf die Ebene des Empirismus à la Bacon und Lockei [24], und misst die Ereignisse an ihrer geografischen Nähe zu Brighton und London. Das Proletariat ist offenbar keine Kraft, „auf die man in der gegenwärtigen Periode zählen kann“, da es keine greifbaren Fakten gibt, welche dies beweisen und die sich empirisch belegen lassen. Das IBRP sieht in der heutigen historischen Periode das Proletariat nicht, riecht, fühlt oder hört es nicht, und deshalb existiert es nicht. Und jeder, der behauptet, die Arbeiterklasse sei eine Kraft, auch wenn eine bescheidene, ist offenbar ein Idealist.

So werden die Gegentendenzen zur anscheinenden Abwesenheit des Proletariats – vor allem die mangelnde Kriegsbegeisterung der Arbeiterklasse in Westeuropa und den USA – übersehen. Doch wer mit der historischen Wirklichkeit in Einklang stehen will, muss auch die unter der Oberfläche verborgenen Tendenzen in den Ereignissen wahrnehmen, die manchmal nur ein negativer Abdruck der Situation sind, wie eine Spur im Sand.

Eine Methode, welche die Ereignisse nur als simple Fakten betrachtet, ohne die historischen Zusammenhänge mit einzubeziehen, ist nur in einem metaphysischen Sinne materialistisch:

„Und indem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus der Naturwissenschaft sich in die Philosophie übertrug, schuf sie die spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte, die metaphysische Denkweise. Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen; seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: Ein Ding kann ebenso wenig es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schliessen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehn ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äusserst einleuchtend, weil sie diejenige des sogenannten gesunden Menschenverstands ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstands ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stösst doch jedes Mal früher oder später auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehen, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergisst, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. (Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW, Bd. 19, S. 203-204)

Der Empirismus - der gesunde Menschenverstand - setzt den historischen Materialismus und seine dialektische Methode dem Idealismus gleich und versteht nicht, dass der Marxismus sich weigert, die Dinge nur als einzelne Erscheinungen zu betrachten.

Das IBRP widerspricht der Geschichte der revolutionären Bewegung, wenn es das „Schema“ des historischen Kurses als idealistisch bezeichnet. War die linke Fraktion der italienischen Kommunistischen Partei, welche in den 30er Jahren die Zeitschrift BILAN herausgab, vom Idealismus beseelt, als sie dieses Konzept entwickelte, um herauszufinden, ob die Geschichte in Richtung Krieg oder Revolution führe? ii [24] Dies ist eine Frage, auf die das IBRP eine Antwort geben muss, da BILAN ein Bestandteil der Geschichte der Italienischen Kommunistischen Linken ist, auf welche es sich beruft.

Auf der einen Seite meint das IBRP, den historischen Materialismus einseitig anwenden zu können, um eine angebliche und offensichtliche Wahrheit der Tatsachen zu proklamieren; auf der anderen Seite aber greift es auf mechanische Schemata zurück, um nicht existierende Tatsachen zu erfinden. In seinem internationalistischen Flugblatt gegen den Krieg in Ex-Jugoslawien behauptet es, dass der Hauptgrund der NATO-Intervention „die Kontrolle über das Öl im Kaukasus“ sei. Wie ist das IBRP zu dieser Fantasie gelangt? Durch die Anwendung des Schemas, nach dem die Haupttriebkraft des Imperialismus heute die Suche nach ökonomischen Profiten sei, „um sich die Kontrolle und Verwaltung des Erdöls anzueignen, der Ölprofite und der Finanz- und Handelsmärkte“.

Dies ist zwar ein materialistisches Schema, jedoch eines mechanischen Materialismus. Der Hauptfaktor des modernen Imperialismus sind zwar die wirtschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus, doch übergeht dieses Schema die politischen und strategischen Faktoren, welche im Konflikt zwischen den Ländern Überhand genommen haben.

Die marxistische Methode und die Intervention der Revolutionäre gegen den Krieg

Auch wenn das IBRP in der Frage der Rolle der Arbeiterklasse in der Geschichte eine empiristische Herangehensweise übernimmt, zeigt es in den generellen und entscheidenden Fragen die Fähigkeit, eine marxistische Sichtweise anzuwenden, zu welcher der gesunde Menschenverstand nicht fähig ist. Sein Flugblatt über den Krieg – genauso wie die Flugblätter der anderen Gruppen der Kommunistischen Linken – deckte auf, dass hinter den angeblich humanitären Zielen der Grossmächte im Kosovo eine breite und unvermeidbare Konfrontation steckte. Es zeigte auf, wie die Pazifisten und Linken trotz ihrer grossen Erklärungen gegen die Gewalt in Wirklichkeit das Feuer des Krieges schürten. Und schliesslich, auch wenn es das Proletariat nicht als eine Kraft in der heutigen Situation sehen kann, hob es dennoch hervor, dass der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse das alleinige Mittel ist, um der um sich greifenden kapitalistischen Barbarei ein Ende zu setzen.

Die gemeinsame internationalistische, proletarische Position gegen den imperialistischen Krieg der verschiedenen Gruppen der Kommunistischen Linken, die auch von der IKS und dem IBRP geteilt wird, ist marxistisch und der Methode des historischen Materialismus treu.

Spätestens hier bricht der Vorwurf des Idealismus gegenüber der IKS zusammen.

Das Problem der Einheit in der Geschichte der revolutionären Bewegung

In seinem Brief an Wilhelm Bracke von 1875, der die Einleitung zur Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands bildete, schrieb Marx: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme“(MEW Bd. 19, S. 13) Dieser berühmte Satz ist ein Referenzpunkt für die gemeinsame Aktion der Revolutionäre. Er ist eine perfekte Anwendung der ebenfalls berühmten Thesen über Feuerbach von 1845, die zeigten, dass der historische Materialismus keine neue beschauliche Philosophie ist, sondern eine Waffe des proletarischen Handelns:

„Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst werden und rationell verstanden werden.“ und „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern.“ (Thesen über Feuerbach, MEW, Bd. 3, S. 6-7)

In seinem Einleitungsbrief und dem folgenden Text kritisierte Marx scharf das Einheitsprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wegen der gegenüber den Lassalleanern gemachten Kompromisse.iii [24] Er ging davon aus, dass „...eine Übereinkunft für Aktionen gegen den gemeinsamen Feind...“ von grosser Wichtigkeit war und schlug vor, die Abfassung des Programms „...bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war...“. (Brief an Bracke, a.a.O.) Die grossen Differenzen waren kein Hindernis zu einer gemeinsamen Aktion, sondern wurden gerade in diesem Zusammenhang ausgetragen.


Wie wir schon in unserem Aufruf hervorgehoben haben, wandten Lenin und die anderen Vertreter der marxistischen Linken dieselbe Methode auf der Konferenz von Zimmerwald im September 1915 an, wo sie das aufsehenerregende Manifest gegen den Ersten Weltkrieg unterschrieben. Dennoch hatten sie Kritiken und Uneinigkeiten an den schwerwiegenden Schwächen des Manifests angebracht und legten ihren eigenen Standpunkt iv [24] zur Abstimmung vor, der von der Mehrheit der Konferenz verworfen wurde.


Das IBRP hat bereits versucht aufzuzeigen, dass dieses Beispiel der Einigkeit unter den Revolutionären unter anderen Umständen stattfand und sich deshalb nicht auf die heutige Zeit übertragen lasse. In anderen Worten: Das IBRP will den Faden, der aus der Vergangenheit von Zimmerwald hin zur Aktualität führt, nicht sehen. Es sieht darin nur eine abgeschlossene Episode aus der Vergangenheit, welche nur noch für die Geschichtsschreiber von Wert ist.

Die unterschiedlichen Umstände, unter denen sich die Einheit der Revolutionäre in der Vergangenheit bewährte, beweisen nicht ihre Ungültigkeit für die heutige revolutionäre Bewegung, sondern vielmehr, dass die Grundsätze immer noch anwendbar sind.

 

Das Bemerkenswerteste an der Verteidigung der Zusammenarbeit der Revolutionäre durch Marx und Lenin in den zwei angeführten Beispielen ist, dass die Differenzen zwischen den Eisenachern und den Lassalleanern im einen, und zwischen der marxistischen Linken (vor allem den Bolschewiki) und den Sozialisten von Zimmerwald im anderen Beispiel, erheblich grösser waren als die Meinungsverschiedenheiten unter den Gruppen der Kommunistischen Linken von heute.

Marx befürwortete die Zusammenarbeit in einer Partei mit einer Tendenz, welche den „freien Staat“, die „Gleichheit“ und „die gerechte Verteilung des Arbeitsertrags“ verteidigte und vom „ehernen Lohngesetz“ und anderen bürgerlichen Vorurteilen sprach. Das Zimmerwalder Manifest war eine gemeinsame Stellungnahme gegen den ersten imperialistischen Weltkrieg, einerseits durch die unbeugsamen Internationalisten, welche zum Klassenkrieg gegen den imperialistischen Krieg und zur Bildung einer neuen Internationalen aufriefen, und andererseits den Pazifisten, Zentristen und anderen Zweiflern, die mit der Versöhnung mit den Sozialpatrioten liebäugelten und die Parolen der revolutionären Linken in Frage stellten. Im Gegensatz dazu existieren im heutigen kommunistischen Milieu keine Konzessionen gegenüber demokratischen und humanistischen Illusionen. Es gibt eine gemeinsame Anprangerung des Krieges als imperialistischen Krieg, eine gemeinsame Denunzierung des Pazifismus und Chauvinismus der Linken und ein gemeinsames Engagement für den „Klassenkrieg“, um dem imperialistischen Krieg die Perspektive und Notwendigkeit einer proletarischen Revolution entgegenzusetzen.

Lenin unterzeichnete das Zimmerwalder Manifest mit all seinen Schwächen und Haltlosigkeiten, um die tatsächliche Bewegung voranzutreiben. In einem direkt nach der ersten Zimmerwalder Konferenz veröffentlichten Artikel schreibt er:

„Dass dieses Manifest einen Schritt vorwärts macht zum wirklichen Kampf gegen den Opportunismus, ist eine Tatsache. Es wäre Sektierertum, wollte man darauf verzichten, gemeinsam mit der Minderheit der Deutschen, Franzosen, Schweden und Schweizer diesen Schritt vorwärts zu machen, solange wir uns die volle Freiheit und die volle Möglichkeit wahren, die Inkonsequenz zu kritisieren und mehr anzustreben. Es wäre schlechte militärische Taktik, wollte man es ablehnen, gemeinsam mit der wachsenden internationalen Protestbewegung gegen den Sozialchauvinismus zu marschieren, weil sich diese Bewegung langsam entwickelt, weil sie „nur“ einen Schritt vorwärts macht, weil sie bereit und gewillt ist, morgen wieder einen Schritt zurück zu machen und mit dem alten Internationalistischen Büro Frieden zu schliessen.“ (Lenin, Ein erster Schritt, 11. Oktober 1915, Ges. Werke, Bd. 21, S. 393-394)


Radek gelangte in einem anderen Artikel über diese Konferenz zur selben Schlussfolgerung:

„... die Linke hat aus folgenden Gründen beschlossen, für die Resolution zu stimmen. Es wäre doktrinär und sektiererisch, uns von den Kräften abzuwenden, welche in einem gewissen Grade begonnen haben, in ihrem eigenen Land gegen den Sozialpatriotismus zu kämpfen, während sie mit heftigsten Attacken der Sozialpatrioten konfrontiert sind.“ (Die Zimmerwalder Linke, von uns aus dem Englischen übersetzt)

Zweifellos müssen die heutigen Revolutionäre der Entfaltung des imperialistischen Krieges mit derselben Methode entgegentreten wie Lenin und die Zimmerwalder Linke gegen den Ersten Weltkrieg. Das Vorankommen der revolutionären Bewegung als Ganzes ist die wichtigste Priorität. Der hauptsächliche Unterschied zwischen den Bedingungen von damals und denen von heute ist der, dass es heute eine viel grössere Übereinstimmung unter den internationalistischen Gruppen gibt als zwischen der Linken und dem Zentrum in Zimmerwaldv [24], und deshalb auch eine viel grössere Notwendigkeit und Berechtigung zu einer gemeinsamen Aktion.

Eine gemeinsame internationalistische Erklärung und andere Ausdrücke von gemeinsamen Aktionen gegen den Krieg der NATO hätte die politische Präsenz der Kommunistischen Linken im Vergleich mit dem Widerhall, den jede Gruppe alleine hat, enorm verstärkt. Dies wäre ein handfester Gegenpol gegen die nationalistischen Spaltungen der herrschenden Klasse gewesen. Das gemeinsame Bestreben, die reale Bewegung voranzubringen, hätte ein verstärkter Anziehungspol für nach kommunistischen Positionen suchende Elemente dargestellt, welche heute von der verwirrenden Verstreutheit der einzelnen Gruppen enttäuscht sind. Und die Vereinigung der Kräfte hätte auf die Arbeiterklasse als ganzes eine grössere Wirkung gehabt. Zudem hätte dies ein historischer Referenzpunkt für die Revolutionäre der Zukunft dargestellt, wie dies beim Zimmerwalder Manifest der Fall war, welches über die Schützengräben hinweg ein Hoffnungsschimmer für die angehenden Revolutionäre war. Wie soll man eine politische Methode beschreiben, welche eine solche gemeinsame Aktion zurückweist? Die Antwort wurde von Lenin und Radek gegeben: sie ist doktrinär und sektiererisch. vi [24]

Wenn wir hier nur zwei historische Beispiele aufführen, dann aus Platzgründen und nicht weil es an gemeinsamen Aktionen unter Revolutionären in der Vergangenheit gemangelt hätte. Die Erste, Zweite und Dritte Internationale wurden alle mit der Teilnahme von Elementen gegründet, die nicht einmal die wichtigsten marxistischen Voraussetzungen erfüllten, wie den Anarchisten in der Ersten Internationale oder den französischen und spanischen Anarchosyndikalisten, welche den Internationalismus und die Russische Revolution verteidigten und in die Kommunistische Internationale aufgenommen wurden.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass der Spartakist Karl Liebknecht, der von der gesamten marxistischen Linken als einer der heroischsten Verteidiger der Arbeiterklasse im Ersten Weltkrieg anerkannt wurde, ein Idealist im wahren Sinne des Wortes war, da er den historischen Materialismus zugunsten des Kantismus zurückwies.

Die Methode der Konfrontation der Positionen in der revolutionären Bewegung

Die Mehrheit der heute existierenden revolutionären Gruppierungen gehen davon aus, dass eine Einheit zu einer wenn auch nur kleinen gemeinsamen Aktion die wichtigen Differenzen mit den anderen überdecken oder verwischen würden. Nichts ist falscher als dies! Nach der Gründung der deutschen Sozialdemokratischen Partei und nach Zimmerwald gab es keineswegs eine opportunistische Verwässerung der Meinungsverschiedenheiten, die unter den einzelnen Teilnehmern existierten, sondern im Gegenteil eine Zuspitzung und schlussendlich eine Bestätigung der klarsten Positionen in der Praxis. Die Marxisten errangen in der deutschen Sozialdemokratie und nach 1875 in der Zweiten Internationale über die Lassalleaner klar die Oberhand. Nach Zimmerwald setzten sich die unbeugsamen Positionen der Linken, welche in der Minderheit gewesen waren, gänzlich durch. Vor allem als die revolutionäre Welle 1917 in Russland begann, wurde ihre Politik durch den Gang der Ereignisse und das Zurückfallen der Zentristen in die Arme der Sozialpatrioten bestätigt.

Hätten sie ihre Positionen nicht in einer wenn auch beschränkten gemeinsamen Aktion auf den Prüfstein gelegt, wäre deren Erfolg nicht möglich gewesen. Die Kommunistische Internationale hat ihre Wurzeln in der Zimmerwalder Linken. vii [24]


Diese Beispiele aus der Geschichte der revolutionären Bewegung bestätigen ebenfalls eine bekannte These über Feuerbach:

„Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ (MEW, Bd. 3, S. 5, Hervorhebungen durch Marx selbst)

Diejenigen Gruppen der Kommunistischen Linken, welche einen praktischen Rahmen für ihre gemeinsame Bewegung zurückweisen, in dem ihre Differenzen ausgetragen werden könnten, reduzieren ihre Meinungsverschiedenheiten über die marxistische Theorie auf ein scholastisches Niveau. Auch wenn diese Gruppen den Willen zeigen, die Gültigkeit ihrer Positionen der Praxis des breiten Klassenkampfes zu stellen, so bleibt dies ein frommer Wunsch, solange sie ihr eigenes Haus nicht in Ordnung bringen und ihre Positionen in der praktischen Zusammenarbeit mit den anderen internationalistischen Tendenzen nicht überprüfen.

Die Anerkennung eines Minimums an gemeinsamer Aktivität ist für Elemente, die aus den Reihen der Arbeiterklasse kommen, besonders in den Ländern, in welchen die Kommunistische Linke noch über keine organisierte Präsenz verfügt, die Basis, auf der die Meinungsverschiedenheiten klar dargelegt, konfrontiert, getestet und überprüft werden können. Die heutigen kommunistischen Gruppierungen weigern sich leider, dies zu verstehen. Die Gruppierungen der bordigistischen Strömung verteidigen das Sektierertum als ein Prinzip. Ohne selbst soweit zu gehen versucht das IBRP jegliche seriöse Konfrontation der politischen Positionen zu umgehen: „Wir kritisieren die IKS (...), auf ein, wie sie es nennt ‚politisches proletarisches Milieu‘ zu warten, welches ihre immer seltsameren politischen Anliegen aufnehmen und debattieren soll.“ viii [24] (von uns aus dem Englischen übersetzt) Dies steht in Internationalist Communist Nr. 17, der Zeitschrift des IBRP, eine Nummer, die vor allem der Darstellung der Differenzen mit der IKS gewidmet ist und eine Antwort an suchende Elemente in Russland geben soll, Elemente die sich gerade über die Frage der Verantwortung der Internationalisten und ihrer gemeinsamen Aktion gegen den imperialistischen Krieg in Unklarheit befinden. Es ist wirklich bedauernswert, dass das internationalistische Milieu jede seriöse Debatte aus Angst vor der Konfrontation der unterschiedlichen Positionen zurückweist. Die heutige revolutionäre Bewegung braucht wieder Vertrauen, wie sie die Revolutionäre der Vergangenheit in ihre Ideen und Positionen hatten.

Die Anschuldigung, nach der die IKS idealistisch sei, ist absolut haltlos. Wir erwarten zumindest Kritiken, die solide und gründlich ausgeführt sind.

Angesichts der internationalen Situation und der Herausforderung, vor der die Arbeiterklasse steht, sollte klar sein, dass die materialistische Methode der revolutionären marxistischen Bewegung eine gemeinsame Antwort erfordert. Die Kommunistische Linke war angesichts des Krieges im Kosovo nicht fähig, ihre Verantwortung voll wahrzunehmen. Doch die Herausforderungen der Zukunft werden uns dazu zwingen, dies verstärkt zu tun. 11.9.1999 Como

 


 

 

i [24] Francis Bacon (1561-1626) und John Locke (1632-1704) waren zwei materialistische englische Philosophen.

ii [24] In einem Artikel mit dem Titel „Der Kurs hin zum Krieg“ stellte BILAN in Nr. 29 im März 1936 die Frage des historischen Kurses ausdrücklich: „Die heutigen Regierenden (...) haben ein Recht auf die ewige Anerkennung der kapitalistischen Herrschaft, da sie das Weltproletariat wie nie zuvor plattgewalzt haben. Doch durch die Erwürgung der einzigen Kraft, welche fähig ist, eine neue Gesellschaft zu gründen, haben sie auch die Türe zum unabwendbaren Krieg geöffnet, dem extremsten Ausdruck der Widersprüche der kapitalistischen Herrschaft. (...) Wann wird der Krieg ausbrechen? Niemand kann dies voraussagen. Nur eines ist sicher: alles ist bereit dazu.“ Ein anderer Artikel in derselben Nummer kommt auf die Frage der Vorbedingungen des Krieges zurück: „Wir sind überzeugt, dass mit der Politik des sozial-zentristischen Verrats der das Proletariat als Klasse in den `demokratischen` Ländern zur Ohnmacht geführt hat; dass mit dem Faschismus, der mit dem Terror zum selben Ziel gelangte, die Weichen für eine neue weltweite Schlächterei gestellt worden sind. Die Degenerierung der UdSSR und der Komintern ist eines der alarmierendsten Signale für den Kurs hin zum Abgrund des Krieges.“

Nebenbei ist es interessant, das IBRP und die bordigistischen Gruppen an den Vorschlag zu erinnern, welchen BILAN den übriggebliebenen kommunistischen Kräften machte: „Die alleinige Antwort, die diese Kommunisten den Ereignissen, in denen wir uns befinden, entgegensetzen können, die einzige politische Handlung, die auf dem Weg zum Sieg von morgen ein Wegweiser sein kann, ist eine internationale Konferenz, welche die traurigen Überbleibsel des Gehirns der Weltarbeiterklasse sammelt.“ Unsere Sorge, den historischen Kurs zu erkennen, und unser Appell zu einer gemeinsamen Verteidigung des Internationalismus befinden sich in der Tradition der Italienischen Linken, ob man dies nun wahrhaben will oder nicht.

iii [24] Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands entstand durch die Vereinigung der zwei grossen Strömungen, die kleinbürgerliche, nach ihrem Führer Lassalle benannt, und die marxistische, die Eisenacher, benannt nach der Stadt, in der sich diese Strömung als Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands 1869 gegründet hatte.

iv [24] Wir haben die Gültigkeit einer einheitlichen Politik wie der Zimmerwalder Linken auch für das internationalistische Lager von heute in der Internationalen Revue Nr. 44 (engl./franz./span.) beschrieben.

v [24] Man kann sogar sagen, dass die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Zimmerwalder Linken selbst grösser waren als diejenigen innerhalb des heutigen internationalistischen Lagers. Es gab bedeutende Differenzen, ob die Möglichkeit der nationalen Befreiung noch vorhanden war und ob deshalb die Losung „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ in der marxistischen Politik noch eine Gültigkeit hatte. Die verschiedenen und sich widersprechenden Auffassungen Lenins auf der einen und Trotzkis und Radeks auf der anderen Seite über den Aufstand von Ostern 1916 in Dublin zeigte klar die Differenzen innerhalb der Zimmerwalder Linken auf. Selbst innerhalb der bolschewistischen Partei existierten zu dieser Zeit bedeutende Differenzen zur Forderung der nationalen Selbstbestimmung mit Bucharin und Piatakov, welche diese als überlebt bezeichneten, und über die Gültigkeit der Losung des „revolutionären Defätismus“ und der „Vereinigten Staaten von Europa“.

vi [24] Lenins Politik der internationalen Einheit beschränkte sich nicht auf die Zimmerwalder Bewegung. Er wandte sie auch innerhalb der russischen Sozialdemokratie an, indem er die Zusammenarbeit mit Trotzkis nicht-bolschewistischer Gruppe Nasche Slovo befürwortete. Wenn diese Bemühungen bis hin zur Russischen Revolution nicht von Erfolg gekrönt waren, dann nur wegen der Zweifel und des Sektierertums Trotzkis.

vii [24] „Die Zimmerwalder und Kienthaler Konferenzen hatten zu der Zeit Bedeutung, wo es wichtig war, all diejenigen Elemente des Proletariats zu vereinigen, welche bereit waren, in dieser oder jener Form gegen das imperialistische Morden zu protestieren.(...) Die Zimmerwalder Vereinigung hat sich überlebt. Alles was wirklich revolutionär in der Zimmerwalder Vereinigung war, geht in die Kommunistische Internationale über.“ Dieser Text ist von Rakowski, Lenin, Sinowjew, Trotzki und Platten unterzeichnet. (Erklärung der Teilnehmer von Zimmerwald auf dem Kongress der Kommunistischen Internationale, Die Kommunistische Internationale Bd. 1, S. 97, Intarlit Verlag 1984)

viii [24] „We critisice the ICC (…) for expecting what they call the “proletarian political milieu” to take up and debate their increasingly outlandish political concerns.”

Geographisch: 

  • Balkan [25]

Historische Ereignisse: 

  • Zusammenbruch des Balkans [26]

Theoretische Fragen: 

  • Krieg [27]

Wirtschaftskrise: II. Die 80er Jahre

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30 Jahre offene Krise des Kapitalismus

II. Die 80er Jahre

In der letzten Ausgabe der Internationalen Revue sahen wir, wie der Kapitalismus seit 1967 dem offenen Wiederauftreten seiner historischen Krise durch die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsintervention begegnet war. Damit versuchte die Bourgeoisie, die Krise zu verlangsamen und ihre schlimmsten Auswirkungen auf die Peripherie, auf die schwächsten Sektoren ihres eigenen nationalen Kapitals und natürlich auf die Gesamtheit der Arbeiterklasse zu schieben. Wir analysierten die Entwicklung der Krise und die Antwort des Kapitalismus in den 70er Jahren. Nun wollen wir auf die Entwicklung ihres Verlaufs während der 80er Jahre blicken. Diese Analyse wird es uns gestatten zu begreifen, dass die staatliche Politik der „Krisenbegleitung, um den Absturz zu verzögern und abzufedern“, nichts gelöst hat, noch dass sie irgendetwas anderes gebracht hat als die Vertiefung der fundamentalen Widersprüche des Kapitalismus.

Die Krise von 1980-82

Auf dem 2. Internationalen Kongress der IKS, der 1977 abgehalten worden war1, warfen wir ein Schlaglicht auf die Art und Weise, wie die vom Kapitalismus geförderte expansionistische Politik immer weniger Wirkung zeigte und in die Sackgasse geraten war. Die Schwankungen zwischen „Erholung“, die die Inflation provozierte, und plötzlichen Drosselungen, die in der Rezession endeten, führten zu dem, was „Stagflation“ genannt wird (Rezession und Inflation zur gleichen Zeit) und demonstrierten die ernste Lage des Kapitalismus sowie den unlösbaren Charakter dieser Widersprüche. Die unheilbare Krankheit der Überproduktion verschärfte ihrerseits global die imperialistischen Spannungen dergestalt, dass es in den letzten Jahren dieses Jahrzehnts eine bemerkenswerte Verschärfung militärischer Konfrontationen und die Entwicklung des Rüstungswettlaufes sowohl auf der nuklearen als auch auf der konventionellen Ebene gegeben hat2.

Die 80er Jahre begannen mit einer offenen Rezession, die bis 1982 dauerte und die in vielerlei Hinsicht schlimmer war als die vorherige Rezession 1974/75: Die Produktion stagnierte (die Wachstumsraten waren in Großbritannien und den europäischen Ländern negativ), die Arbeitslosigkeit wuchs spektakulär (1982 registrierte man in den USA allein in einem Monat den Verlust von einer halben Million Arbeitsplätzen); die Industrieproduktion fiel in Großbritannien 1982 auf den Stand von 1967 zurück, und das erste Mal seit 1945 ging der Welthandel in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zurück3. Dies führte zur Schließung von Fabriken und zur Massenarbeitslosigkeit in einem Maße, wie es seit 1929 nicht mehr gesehen worden war. Was industrielle und landwirtschaftliche Verwüstung genannt wurde, begann sich nun zu entwickeln und setzte sich seither ständig fort. Einerseits sahen ganze Regionen alter traditioneller Industrien die systematische Schließung von Fabriken und Zechen, und die Arbeitslosigkeit schoss auf 30%. Dies passierte in solchen Gebieten wie Manchester, Liverpool oder Newcastle in Großbritannien, Charleroi in Belgien, Lorraine in Frankreich oder Detroit in den Vereinigten Staaten. Andererseits war die landwirtschaftliche Überproduktion in vielen Ländern dermaßen groß, dass die Regierungen für die Beseitigung weiter landwirtschaftlicher Flächen zahlten und die Hilfen für Landwirtschaft und Fischerei brutal beschnitten wurden, was den wachsenden Ruin kleiner und mittlerer Bauern sowie Arbeitslosigkeit unter den Landarbeitern verursachte.

Nach 1983 gab es jedoch eine wirtschaftliche Erholung, die anfangs auf die Vereinigten Staaten beschränkt blieb, aber ab 1984/85 auch auf Europa und Japan übergriff. Diese Erholung wurde grundsätzlich durch die kolossalen Schuldenstände der Vereinigten Staaten bewirkt, die die Produktion steigerten und der Wirtschaft Japans und Westeuropas stufenweise erlaubten, auf den Zug des Wachstums aufzuspringen.

Es handelte sich hier um die berühmten „Reaganomics“, welche damals als die große Lösung der Krise des Kapitalismus vorgestellt wurden. Diese „Lösung“ wurde auch als Rückkehr zu den „Ursprüngen des Kapitalismus“ bezeichnet. Angesichts der „Exzesse“ des Staatsinterventionismus, die die staatliche Wirtschaftspolitik in den 70er Jahren kennzeichneten (Keynesianismus) und denen  „Sozialismus“ oder der „Hang“ zum Sozialismus nachgesagt wurde, präsentierten sich die neuen Wirtschaftstheoretiker selbst als „Neoliberale“, und ihre Rezepte für „weniger Staat“, den „freien Markt“, etc. wurden in nah und fern gerühmt.

In Wahrheit waren die Reaganomics weder die große Lösung (ab 1985 war es, wie wir sehen werden, notwendig, den Preis für die Schuldenstände der USA zu zahlen), noch handelte es sich um einen angeblichen „Rückzug des Staates“. Was die Reagan-Regierung tat, war, ein gigantisches Rüstungsprogramm (unter dem Namen „Star Wars“ leistete es einen mächtigen Beitrag dafür, ihren rivalisierenden Block in die Knie zu zwingen) unter massiver Zuhilfenahme staatlicher Schulden aufzulegen. Die berühmte Lokomotive wurde nicht mit dem gesunden Brennstoff einer wirklichen Marktexpansion betrieben, sondern mit dem verdünnten Brennstoff allgemeiner Schulden.

Die „neue“ Schuldenpolitik

Das einzig Neue an Reagans Politik war die Art und Weise, wie diese Schuldenstände erreicht wurden. Während der 70er Jahre war der Staat direkt verantwortlich für die Finanzierung der wachsenden Defizite der öffentlichen Ausgaben, indem er die Geldmenge erhöhte. Dies bedeutete, dass der Staat das Geld bereitstellte, das die Banken benötigten, um Geld an Geschäfte, an private Kreditnehmer oder an andere Staaten auszuleihen. Dies verursachte einen kontinuierlichen Wertverlust des Geldes und führte so zu einer explosionsartigen Inflation.

Wir haben bereits den wachsenden Engpass gesehen, in dem sich die Weltwirtschaft befand, insbesondere die Wirtschaft Amerikas Ende der 70er Jahre. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, änderte der Präsident der Federal Reserve, Volcker, in den letzten beiden Jahren der Carter-Administration radikal die Kreditpolitik. Er schloss die Geldhähne, was die Rezession von 1980-82 provozierte, aber gleichzeitig den Weg öffnete für eine massive Finanzierung durch die Ausgabe von Obligationen und Anleihen, die konstant auf dem Markt erneuert wurden. Diese Orientierung wurde übernommen und verallgemeinert von der Reagan-Administration und über die ganze Welt verbreitet.

Der Mechanismus des „Finanz-Engineering“ war wie folgt. Auf der einen Seite gab der Staat Obligationen und Anleihen aus, um seine beträchtlichen und ständig wachsenden Defizite zu finanzieren, zu denen auch die Finanzmärkte (Banken, Geschäfte, Individuen) beisteuerten. Auf der anderen Seite drängte er die Banken dazu, nach Anleihen auf den Finanzmärkten zu suchen und gleichzeitig Obligationen und Anleihen zu emittieren sowie die sukzessive Expansion von Kapital (Ausgabe von Aktien) durchzuführen. Es handelte sich hierbei um einen höchst spekulativen Mechanismus, der versuchte, die Entwicklung einer wachsenden Menge von fiktivem Kapital (toter Mehrwert, der nicht in neues Kapital investiert werden kann) auszubeuten.

Auf diese Weise wurde das Gewicht privater Fonds größer als das der öffentlichen Fonds bei der Finanzierung der Schulden (öffentlicher und privater).

Die Finanzierung der öffentlichen Schulden in den USA (in Milliarden Dollar):

Fonds              1980             1985            1990            1995            1997

öffentlich            24            45            70            47            40

privat               46           38        49            175            260

(Quelle: Global Development Finance)

Das heißt nicht, dass es eine Verringerung des  staatlichen Gewichts (wie die „Liberalen“ behaupten) gegeben hat, vielmehr war dies eine Antwort auf die wachsenden Bedürfnisse der Finanzierung (und besonders der sofortigen Liquidität), die eine massive Mobilisierung allen verfügbaren Kapitals erforderte.

Diese angeblich „liberale“ und „monetaristische“ Politik bedeutete, dass der Rest der Weltwirtschaft die famose US-Wirtschaft finanzierte. Besonders der japanische Kapitalismus mit seinen enormen Handelsüberschüssen kaufte massive Beträge von Obligationen und Anleihen des amerikanischen Staats genauso wie die verschiedenen Emissionen durch Gesellschaften in diesem Land auf. Das Resultat war, dass die Vereinigten Staaten, die seit 1914 der Hauptkreditgeber auf der Welt gewesen waren, sich ab 1985 in einen Netto-Schuldner verwandelten und ab 1988 zum Hauptschuldner dieser Welt wurden. Eine andere Konsequenz war, dass ab dem Ende der 80er Jahre die japanischen Banken fast 50% der amerikanischen Vermögensanteile hielten. Schließlich bedeutete diese Form von Verschuldung, dass, „während in der Periode von 1980 bis 1982 die Industrieländer 49 000 Millionen Dollar mehr in den sog. Entwicklungsländern verteilten, als sie erhielten, letztere in der Periode von 1983 bis 1989 an erstere 242 000 Millionen Dollar mehr abführten“ (Prometeo, Nr. 16, Organ von Battaglia Comunista, aus dem Artikel „Eine neue Phase in der kapitalistischen Krise“, Dezember 1998).

Die Methode, die benutzt wurde, um den Zins und die Schuld selbst der ausgegebenen Obligationen zurückzuzahlen, bestand in der Ausgabe neuer Anleihen und Obligationen. Dies bedeutete wachsende Schuldenstände und das Risiko, dass die Gläubiger die neuen Ausgaben nicht zeichneten. Um weiterhin Investoren anzuziehen, gab es regelmäßige Wiederaneignungen von Dollars durch mannigfaltige künstliche Neubewertungen des Devisenaustausches. Das Resultat war einerseits eine enorme Dollarflut, die sich über den Weltmarkt ergoss, und andererseits ein gigantisches Handelsdefizit der USA, das von Jahr zu Jahr neue Rekorde brach. Die Mehrheit der Industrieländer folgte mehr oder weniger derselben Politik: Sie benutzten das Geld als ein Instrument zur Kapitalgewinnung.

All dies ermutigte eine Tendenz, die während der 90er Jahre noch vertieft wurde: die völlige Verfälschung und Manipulation des Geldes. Die klassische Funktion des Geldes im Kapitalismus war es, Wertmaßstab und Preisstandard zu sein. Um dieser Funktion nachzukommen, musste das Geld der verschiedenen Staaten durch einen minimalen Anteil wertvoller Metalle gestützt werden4. Diese Edelmetallreserven drückten tendenziell das Wachstum und die Entwicklung des Reichtums eines Landes aus, der auch durch den Wechselkurs seines Geldes dargestellt wurde.

Wir haben im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue Nr. 24) bereits gesehen, wie der Kapitalismus das 20. Jahrhundert hindurch diese Reserven abschaffte, was bedeutete, dass das Geld ohne jegliches Äquivalent zirkulierte, mit all den Risiken, die dies zur Folge hatte. Nichtsdestotrotz stellten die 80er Jahre einen wirklich qualitativen Schritt hin zum Abgrund dar: Das schon an sich ernste Phänomen, dass das Geld vollkommen getrennt von einem Äquivalent in Gold oder Silber war, verschärfte sich im Laufe des Jahrzehnts noch. Dazu kamen: erstens das Spiel mit der Auf- und Abwertung, um Kapital anzuziehen, was ungeheure Spekulationen in ihnen hervorrief; zweitens eine immer systematischere Zuflucht zur „wettbewerbsbedingten Abwertung“, d.h. die Senkung des Geldpreises per Dekret, mit dem Ziel, die Exporte anzukurbeln.

Die Säulen dieser „neuen“ Wirtschaftspolitik waren einerseits der konstante Schneeballeffekt der massiven Emissionen von Anleihen und Obligationen und andererseits die zusammenhangslose Geldmanipulation durch die Mittel eines komplizierten und raffinierten „Finanzsystems“, das in Wahrheit das Werk des gesamten Staates und der großen Finanzinstitutionen (Banken, Sparkassen und Investmentgesellschaften, die in enger Verbindung zum Staat stehen) war. Dem äußeren Anschein nach war es ein „liberaler“ und „nicht-interventionistischer“ Mechanismus, in der Praxis war es eine typische Konstruktion des Kapitalismus der westlichen Staaten, nämlich ein Management auf der Basis einer Kombination der vom privaten und vom staatlichen Kapital dominierten Sektoren.

Diese Politik wurde als der magische Zaubertrank präsentiert, der in der Lage sei, Wirtschaftswachstum ohne Inflation zu bewerkstelligen. In den 70er Jahren sah sich der Kapitalismus vor dem unlösbaren Dilemma von Inflation oder Rezession gestellt, jetzt konvertierten die Regierungen, ungeachtet ihrer politischen Couleur („Sozialisten“, „Linke“ oder die „Mitte“), zum Glaubensbekenntnis der „Neoliberalen“ und „Monetaristen“ und behaupteten, dass der Kapitalismus dieses Dilemma überwunden hätte und dass die Inflation auf ein Niveau zwischen 2 und 5% reduziert worden sei, ohne das Wirtschaftswachstum zu beeinträchtigen.

Diese Politik des „Kampfes gegen die Inflation“ und des angeblichen „Wachstums ohne Inflation“ beruhte auf folgenden Instrumenten:

1.         Die Eliminierung der „überflüssigen“ industriellen und landwirtschaftlichen Kapazitäten, die zur Schließung zahlloser industrieller Einrichtungen und zu massiven Entlassungen führte.

2.         Die drastischen Streichungen von Subventionen für Industrie und Landwirtschaft, was ebenfalls Entlassungen und Schließungen mit sich brachte.

3.         Der Druck der Kostenreduzierungen und Produktionssteigerungen bedeutete in Wirklichkeit eine verdeckte und allmähliche Deflation, die auf brutalen Angriffen gegen die Arbeiterklasse der zentralen Länder und einer permanenten Senkung der Rohstoffpreise beruhte.

4.         Das Abwälzen der inflationären Effekte auf die Länder der unmittelbaren Peripherie durch Mechanismen des Währungsdrucks und insbesondere durch die Abwertung des Dollars. So gab es in Brasilien, Argentinien, Bolivien etc. Explosionen von Hyperinflationen, die zu Preissteigerungen von 30% am Tag (!) führten.

5.         Vor allem die Bezahlung alter Schulden durch neue Schulden. Die Schuldenfinanzierung ging von der Ausgabe neuen Papiergeldes über auf die Ausgabe von Schuldverschreibungen (staatliche Schuldpapiere und Obligationen, Geschäftsanteile etc.), was zur Verlangsamung der langfristigen Auswirkungen der Inflation führte. Die Schulden, die durch die Ausgabe von Schuldpapieren gemacht worden waren, wurden durch neue Ausgaben zurückgezahlt. Diese Schuldverschreibungen waren Objekt einer nicht aufzuhaltenden Spekulation. Die Überbewertung ihres Preises (diese Überbewertung wurde durch die Manipulation des Geldpreises ergänzt) bedeutete, dass der zugrundeliegende enorme inflationäre Druck bis irgendwann in der Zukunft hinausgezögert wurde.

Maßnahme 4 löst nicht die Inflation, sondern nimmt einfach einen Ortswechsel vor (indem sie sie auf die schwächsten Länder abwälzt). Maßnahme 5 mag die Inflation bis in die Zukunft hinauszögern, aber dies um dem Preis, ihre Schattenseite gefördert zu haben: die Bombe der währungspolitischen und finanziellen Instabilität und Unordnung.

Was die Maßnahmen 1 und 3 anbetrifft, so mögen diese kurzfristig die Inflation reduziert haben, aber mittel- bis langfristig werden ihre Konsequenzen weitaus ernsthafter sein. Tatsächlich bilden diese Maßnahmen eine versteckte Deflation, das heißt, eine methodische und organisierte Reduzierung der realen Produktionskapazitäten durch den Staat. Wie wir in der International Review (engl./franz./span. Ausgabe) Nr. 59 betonten: „Diese Produktion mag den Gütern entsprechen, die tatsächlich hergestellt werden, aber es ist keine Produktion von Werten (...), der Kapitalismus ist in seinem Wachstum nicht reicher, sondern ärmer geworden.“ 5

Der Prozess der industriellen und landwirtschaftlichen Verwüstung, die enormen Kostenreduzierungen, die Entlassungen und die allgemeine Verarmung der Arbeiterklasse - all dies wurde systematisch und methodisch von allen Regierungen in den 80er Jahren ausgeführt und erlebte in den 90ern eine weitere Eskalation, die in Gestalt einer versteckten und permanenten Deflation antrat. Während 1929 eine brutale und offene Deflation stattfand, wurde in den 80er Jahren eine bis dahin unbekannte Tendenz ausgelöst: kontrollierte und geplante Deflation, eine Form allmählicher und methodischer Zerstörung der Basis der kapitalistischen Akkumulation, ein Zustand langsamer aber unumkehrbarer De-Akkumulation.

Die Streichung von Kosten, die Eliminierung der entbehrlichen und nicht wettbewerbsfähigen Bereiche, das gigantische Wachstum an Produktivität waren keine Symptome für Wachstum und Entwicklung des Kapitalismus an sich. Sicherlich begleiteten diese Phänomene die Phasen des Kapitalismus im 19.Jahrhundert. Jedoch hatten sie damals noch eine reelle Bedeutung, weil sie der Ausweitung und Erweiterung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Bildung sowie dem Wachstum des Weltmarktes gedient hatten. Ihre Funktion in den 80er Jahren dieses Jahrhunderts entsprach einem diametral entgegengesetzten Ziel: dem Schutz vor der Überproduktion, und ihre Ergebnisse sind kontraproduktiv, indem sie alles noch schlimmer machen.

Wenn also diese Politik der „konkurrenzbedingten Deflation“, wie die Ökonomen sie schamhaft nennen, kurzfristig die Inflationsbasis reduziert, so wird sie mittel- bis langfristig sie verstärken und stimulieren, da die Reduzierung des globalen Kapitals einerseits nur durch eine ständig steigende Schuldenmenge und andererseits durch unproduktive Ausgaben (Rüstung, Staat, Finanz- und Handelsbürokratie) kompensiert werden kann. Wie wir im Bericht über die Wirtschaftskrise auf unserem 12. Internationalen Kongress sagten: „Die wirkliche Gefahr des in die Inflation führenden Wachstums liegt woanders: in der Tatsache, dass jedes solche Wachstum heute, jede sogenannte Erholung auf einer riesigen Schuldensteigerung, auf der künstlichen Stimulierung der Nachfrage basiert - in anderen Worten, auf  fiktives Kapital. Dies ist die Matrix, die die Inflation in die Welt setzt, da diese eine profunde Tendenz im dekadenten Kapitalismus ausdrückt: die wachsende Spaltung zwischen Geld und Wert, zwischen dem, was in der ‘realen’ Welt der Produktion von Dingen abläuft, und einem Austauschprozess, der zu solch einem ‘äußerst extremen und künstlichen Mechanismus’ geworden ist, dass selbst Rosa Luxemburg, wenn sie heute noch leben würde, verblüfft sein würde.“ (International Review

Nr. 92  engl./franz./span. Ausgabe)

Daher war das Einzige, das dem Fallen der Inflationsrate während der 80er und 90er Jahre standgehalten hatte, die Aufschiebung der Schuldentilgung durch das Karussell des neuen Schuldenmachens, mit dem die alten beglichen werden, und die Explosion der globalen Inflation in immer zahlreicheren schwachen Ländern.

All dies wurde deutlich durch die Schuldenkrise illustriert, die ab 1982 in den „Drittwelt“-Ländern (Brasilien, Argentinien, Mexiko, Nigeria, etc.) ausbrach. Diese Staaten, die ihre Expansion in den 70er Jahren durch enorme Schulden gefüttert haben (s. den ersten Teil dieses Artikels), drohten damit, sich selbst für bankrott zu erklären. Die wichtigsten Länder reagierten sehr schnell und kamen ihnen mit Plänen für eine „Umschuldung“ (der Brady-Plan) und durch direkte Intervention des Internationalen Währungsfonds „zu Hilfe“. In Wirklichkeit war das, wonach sie trachteten, die Verhinderung eines brutalen Zusammenbruchs dieser Staaten, was das gesamte Weltwirtschaftssystem destabilisiert hätte. 

Die Gegenmittel, die angewendet wurden, waren eine Kopie der „neuen Schuldenpolitik“:

 –         Die Anwendung brutaler Deflationspläne unter der direkten Kontrolle des IWF und der Weltbank, was fürchterliche Angriffe auf die Arbeiterklasse und die gesamte Bevölkerung bedeutete. Jene Länder, die in den 70ern noch von einer „Entwicklung“ träumten, wachten in einem Alptraum allgemeiner Armut auf, aus der es für sie kein Entrinnen gab.

–          Die Umwandlung der Anleihen der nationalen Verschuldung in Schuldverschreibungen, die eine hohe Zinsrate (10 bis 20% mehr als der Weltdurchschnitt) und eine wunderbare Spekulationsgelegenheit boten. Die Schulden verschwanden nicht: Sie waren nur umgewandelt in ausgesetzte Schulden. Weit entfernt davon zu fallen, sind die Schulden der „Drittwelt“-Länder in den 80er und 90er Jahren in schwindelerregende Höhe gewachsen.

Der Krach von 1987

Ab 1985 begann der amerikanischen Lokomotive der Dampf auszugehen. Die Wachstumsraten fielen langsam, aber unerbittlich, und dies übertrug sich allmählich auf die europäischen Länder. Politiker und Ökonomen sprachen von einer „sanften Landung“, das heißt, sie versuchten, dem Verschuldungsmechanismus die Zügel anzulegen, der hinter einer wachsend unkontrollierbaren Spekulation stand. Der Dollar wurde nach Jahren der Aufwertung einer brutalen Abwertung unterzogen: er fiel zwischen 1985 und 1987 um mehr als 50%. Dies erleichterte zeitweilig das amerikanische Defizit und bewirkte eine Reduzierung der Zinszahlungen für diese Schulden, aber die Schattenseite davon war der brutale 27%-Fall der New Yorker Börse im Oktober 1987.

Diese Zahl war quantitativ geringer als die 1929 erreichte Quote (mehr als 30%), doch ein Vergleich der Situation von 1929 und 1987 erlaubt es uns zu begreifen, dass die Probleme 1987 weitaus schlimmer waren (siehe unten).

Die Börsenkrise von 1987 bedeutete eine brutale Entleerung der spekulativen Blase, die die Reaktivierung der Wirtschaft durch die Reagonomics gefüttert hatte. Seither ist diese Reaktivierung dahingeschwunden. In der letzten Hälfte der 80er Jahre sahen wir Wachstumsraten zwischen 1 und 3%: im Endeffekt Stagnation. Aber gleichzeitig endete das Jahrzehnt mit dem Kollaps Russlands und seiner Satelliten im Ostblock, ein Phänomen, das, auch wenn es seine Wurzeln in den Besonderheiten dieser Regimes hatte, grundsätzlich eine Konsequenz der brutalen Verschlimmerung der Weltwirtschaftskrise war.

Zusammen mit dem Kollaps des imperialistischen russischen Blocks trat eine sehr gefährliche Tendenz ab 1987 auf: die Instabilität des gesamten Weltfinanzsystems, die zu immer häufigeren Beben führen sollte und seine wachsende Fragilität und Verwundbarkeit demonstrierte.

Allgemeine Bilanz der 80er Jahre

Wir werden jetzt einige Schlussfolgerungen aus der Gesamtheit des Jahrzehnts ziehen; so wie im vorherigen Artikel werden diese die Entwicklung der Ökonomie genauso wie die Lage der Arbeiterklasse betreffen. Ein Vergleich mit den 70er Jahren enthüllt einen ernsten Verfall.

Die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation

1.         Das Produktionswachstum erreichte 1984 seinen Höchststand: 4,9%. Der Durchschnitt für diese Periode lag bei 3,4%, wohingegen er im vorherigen Jahrzehnt noch bei 4,1% lag.

2.         Es gab eine strikte Straffung des industriellen und landwirtschaftlichen Apparates. Dies war ein neues Phänomen nach 1945, das die Hauptindustrieländer betraf. Die folgende Tabelle, die sich auf drei zentrale Länder (Deutschland, Großbritannien und die USA) bezieht, demonstriert die fallenden Produktionszahlen in Industrie und Bergbau und eine wachsende Verlagerung zu unproduktiven und spekulativen Sektoren.

Produktionsentwicklung nach Sektoren zwischen 1974 und 1987 (%)

                                    Deutschland      GB            USA

Bergbau                                   -8,1            -42,1            -24,9

Industrie                                   -8,2            -23,8             -6,5

Bau                                          -17,2   -5,5     12,4

Handel & Dienstleistungen            -3,1     5,0       15,2

Finanzen & Versicherungen            11,5     41,9     34,4

(Quelle: OECD)

3.         Die Mehrheit der produktiven Bereiche erlitt einen Einbruch in ihrer Produktion. Dies konnte bei den Kürzungen bei den industriellen Spitzenreitern (Autos, Elektronik, Haushaltgeräte) wie auch in den „traditionellen“ Bereichen (Schiff-, Maschinenbau, Textil, Bergbau) beobachtet werden. So waren die Produktionsstände in der Autoindustrie 1978 dieselben wie 1987.

4.         Die Lage in der Landwirtschaft war katastrophal:

–          Die Länder des Ostens und der Dritten Welt waren zum ersten Mal seit 1945 gezwungen, Grundnahrungsmittel zu importieren.

–          Die Europäische Union entschied, 20 Millionen Hektar Land brachzulegen.

5.         Die Produktion in der Informationstechnologie, Telekommunikation und Elektronikindustrie wuchs, dennoch konnte sie die Einbußen in der Schwerindustrie und Landwirtschaft nicht ausgleichen.

6.         Die Erholungsphasen erfassten nicht die gesamte Weltwirtschaft; außerdem waren sie kurz und begleitet von Stagnationsphasen (z.B. zwischen 1987 und 1989).

–          Die Erholung in den USA während der Periode von 1983 und 1985 war groß, aber zwischen 1986 und 1989 war sie weit unter dem Durchschnitt von 1970.

–          Die Erholung war in allen westeuropäischen Ländern schwächer (eine globale Situation der Semi-Stagnation) außer in Westdeutschland.

–          Eine gute Zahl von „Drittwelt“-Ländern war vom Wachstumszug abgekoppelt und fiel der Stagnation anheim.

–          Die Länder des Ostens litten an einer fast generellen Stagnation während des gesamten Jahrzehnts (ausgenommen Ungarn und die Tschechoslowakei).

7.         Japan und Deutschland schafften es, ab 1983 akzeptable Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Dieses Wachstum war höher als der Durchschnitt und erlaubte beträchtliche Handelsüberschüsse, was sie zu wichtigen finanziellen Gläubigern werden ließ. Jedoch waren diese Wachstumsraten nicht so hoch wie in den beiden vorhergegangenen Jahrzehnten.

Jährliches Durchschnittswachstum des BIP in Japan:

1960 bis 1970                      8,7%

1970 bis 1980                     5,9%

1980 bis 1990                     3,7%

(Quelle: OECD)

8.         Die Rohstoffpreise fielen während des gesamten Jahrzehnts (ausgenommen die Jahre 1987-88). Dies erlaubte den Industrieländern, das grundlegende Gewicht der Inflation auf Kosten der „Drittwelt“-Länder (den Produzenten der Rohstoffe) abzumildern, die fortschreitend in eine totale Stagnation fielen.

9.         Die Rüstungsproduktion erlebte ihr bedeutendstes historisches Wachstum: Zwischen 1980 und 1988 wuchs sie in den USA gemäß den offiziellen Zahlen um 41%. Dieses Wachstum bedeutet, wie die Linkskommunisten stets gezeigt haben, letztlich die Schwächung der Wirtschaft. Beweis dafür ist das amerikanische Kapital: Zur gleichen Zeit, als es unaufhörlich seinen Anteil an der globalen Rüstungsproduktion steigerte, fiel der Anteil seiner Exporte in wichtigen Bereichen des Welthandels, wie man aus folgender Tabelle ersehen kann:

Exporte im Welthandel in %

1980            1987

Maschinenbau              12,7%            9,0%

Kraftfahrzeuge            11,5%            9,4%

Informatik                    31,0%            22,0%

10.                   Die Verschuldung erlebte eine starke Explosion auf quantitativer wie auf qualitativer Ebene

Auf quantitativer Ebene

–          In der „Dritten Welt“ wuchsen die Schulden auf unkontrollierbare Weise:

Die Gesamtschulden der unterentwickelten Länder in Millionen Dollar

1980:   580000

1985:   950000

1988:            1320000

(Quelle: Weltbank)

–          In den USA schossen sie spektakulär in die Höhe:

Die Gesamtschulden der USA

in Millionen Dollar  

1970:   450000

1980:            1069000

1988:            5000000

(Quelle: OECD)

–          In Deutschland und Japan waren sie jedoch moderat.

Auf qualitativer Ebene

Nachdem sie 71 Jahre lang Gläubiger gewesen waren, wurden die USA 1985 zu einem Schuldnerland;

–          1988 waren die Vereinigten Staaten zum höchstverschuldeten Land auf dem Planeten nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ mutiert. Dies wird klar ersichtlich aus der Tatsache, dass, während Mexikos Auslandsschulden neun Monate seines BSP und Brasiliens Verpflichtungen sechs Monate des BSP ausmachten, sie in den USA zwei Jahre ihres BSP betrugen!

–          In den Industrieländern machte das Gewicht der Zinszahlungen auf Anleihen durchschnittlich 19% des Staatshaushaltes aus.

11.                   Ab 1987 wurde der Finanzapparat, der bis dahin verhältnismäßig stabil und gesund war, zunehmend Opfer von durch den Schuldendienst verursachten immer ernsthafteren Turbulenzen.

–            Bedeutende Banken brachen zusammen, am ernstesten war der Kollaps der Sparkassen in Amerika mit Schulden in Höhe von 500000 Millionen Dollar..

–          1987 begann eine Serie von Börsenkrächen: 1989 gab es einen weiteren Börsenkrach, auch wenn er infolge staatlicher Maßnahmen, die den Börsenhandel sofort aussetzten, als die Kurse um 10% fielen, weniger ernst war.

–          Die Spekulation nahm spektakuläre Züge an. In Japan z.B. verursachte die Immobilienspekulation 1989 einen Crash, dessen Konsequenzen immer noch spürbar sind.

Die Lage der Arbeiterklasse

1.         Wir erleben die schlimmste Welle der Arbeitslosigkeit seit 1945. Die Arbeitslosigkeit stieg in den Industrieländern brutal an:

Die Arbeitslosenzahlen in den 24 Ländern der OECD

1979:            18000000

1989:            30000000

2.            Während in der „Dritten Welt“ die Unterbeschäftigung zur Allgemeinheit wurde, trat sie in den Industrieländern tendenziell auf (Zeitarbeit, Teilzeitarbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse).

3.         Ab 1985 ergriffen die Regierungen der Industriestaaten Maßnahmen, die unter dem Vorwand des „Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit“ zu Zeitarbeitsverträgen ermutigten. So waren 1990  8% der Arbeitskräfte von Zeitverträgen betroffen, während die Zahl der Dauerarbeitsplätze abnahm.

4.         Die Nominallöhne wuchsen sehr bescheiden (im Durchschnitt stiegen sie in den OECD-Ländern zwischen 1980 und 1988 um 3%) und konnten die Inflation trotz ihrer sehr geringen Rate nicht ausgleichen.

5.         Die Sozialausgaben (soziale Sicherheitssysteme, Wohngeld, Gesundheit, Erziehung, etc.) erlitten ihre ersten bedeutenden Kürzungen.

Der Verfall der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse war dramatisch in den „unterentwickelten“ Ländern und ernst in den Industrieländern. In letzteren war er nicht mehr so sanft und langsam wie im vorhergegangenen Jahrzehnt, trotz der Tatsache, dass die Regierungen, um die Vereinigung der Kämpfe zu vermeiden, die Angriffe langsam und wohldurchdacht organisierten und sich vor plötzlichen und generalisierten Attacken hüteten.

Dennoch war der Kapitalismus das erste Mal seit 1945 nicht mehr in der Lage, die Gesamtzahl der Arbeitskräfte zu steigern: Die Zahl der Lohn- und Gehaltsempfänger wuchs langsamer als die Weltbevölkerung. 1990 legte die Internationale Arbeitsorganisation die Zahl von 800 Millionen Arbeitslosen vor. Dies zeigt deutlich die Verschlimmerung der Krise des Kapitalismus und enthüllte gründlich die verlogenen Reden der Bourgeoisie über die Gesundung der Wirtschaft.      

Adalen


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