Imperialistische Rivalitäten (Teil I)

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Anmerkungen zur Geschichte der imperialistischen Konflikte im Nahen Osten (Teil I)

Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war der Nahe Osten oft Schauplatz imperialistischer Kriege.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten drei offene Kriege zwischen Israel und seinen feindlichen Nachbarn (1949, 1967, 1973), ein permanenter Kriegszustand zwischen Israel und den bewaffneten palästinensischen Kämpfern (mit den bewaffneten Terroristenbanden und Selbstmordattentätern auf der einen und dem israelischen Staatsterror auf der anderen Seite), ein acht Jahre langer Krieg zwischen Iran und Irak, unablässige Scharmützel zwischen kurdischen Nationalisten und dem türkischen Staat, 20 Jahre Krieg in Afghanistan, der Golfkrieg 1991 und die Besetzung des Iraks 2003, die nur eine Verschlimmerung des Kriegszustandes zur Folge hatte.

Kein anderer Teil der Erde zeigt deutlicher, dass der Kapitalismus nur durch Krieg und Zerstörung überleben kann, dass alle Länder – ob gross oder klein – imperialistisch sind, dass keine systemimmanente Auflösung der kapitalistischen Widersprüche möglich ist, dass der Krieg seine eigene Dynamik geschaffen hat und die Arbeiter sich auf dem internationalistischen Terrain vereinigen und gemeinsam jeden Nationalismus bekämpfen müssen.

Diese kurze Geschichte des Nahen Ostens hat zum Ziel aufzuzeigen, dass die Vielzahl der regionalen und lokalen Konflikte in dieser Region nur im Zusammenhang mit dem weltweiten Imperialismus verstanden werden kann.

Der Nahe Osten: Schnittpunkt der imperialistischen Interessen aller kapitalistischer Mächte

Zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer, zwischen Asien, Europa und Afrika gelegen, war der Nahe Osten schon lange bevor seine Erdölvorkommen entdeckt wurden ein umstrittenes Gebiet.

Seit dem Beginn der Expansion des kapitalistischen Europas in diese Region haben die globalen strategischen Interessen die Politik der verschiedenen Mächte bestimmt. Diese haben sich nie nur wegen der Nachfrage nach diesem oder jenem Rohstoff die Stirn geboten.

Schon in seiner frühen Expansionsphase, noch bevor die industrielle Revolution voll in Schwung kam, beeilte sich der britische Kapitalismus, in Indien Fuss zu fassen und seinen französischen Rivalen von dort zu vertreiben. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde Grossbritannien zur vorherrschenden Macht. Systematisch bemühte sich Grossbritannien darum, strategisch wichtige Stellungen auf dem Weg nach Indien zu besetzen. 1839 wurde Aden (im heutigen Yemen) besetzt und die Briten übernahmen die Polizeifunktion an der Golfküste, wo Piraten die Handelsentwicklung beeinträchtigt hatten.

Aber der Nahe Osten entwickelte sich schnell auch zu einem Expansionsziel des russischen Kapitalismus. Nach den Zusammenstössen mit Persien (1828) und seinen wiederholten Kriegen gegen das osmanische Reich – allein im 19. Jahrhundert führten Russland und die Türkei dreimal Krieg gegeneinander (1828, 1855 und 1877); im Krimkrieg von 1853–56 stiess Russland mit der Türkei, mit Grossbritannien, Frankreich und Italien am Schwarzen Meer zusammen – Russland versuchte, in Richtung Kaukasusregion, Kaspisches Meer und in Richtung der heute unter den Namen Kasachstan und Tadschikistan geläufigen Region zu expandieren. Sein Hauptziel war der Zugang zum Indischen Ozean via Afghanistan und Indien.

Um die russische Expansion in diese Gegend abzuwehren, nahm Grossbritannien zweimal Afghanistan ein (1839–1842 und 1878–1880). Nach seinem Sieg im zweiten Afghanistankrieg errichtete Grossbritannien ein Marionettenregime in diesem Land.[1]

Als sich Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Imperialismus in Richtung Balkan und Naher Osten ausbreitete, beschlossen Grossbritannien und Russland, ihren Konflikt über die Vorherrschaft in Asien beizulegen. Sie einigten sich darauf, das Gebiet rund um Afghanistan aufzuteilen, um dem deutschen Vorrücken Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig installierte Grossbritannien 1893 in Afghanistan die „Durand-Linie“. Durand weitete entgegen den Absichten des afghanischen Königs die Grenze gen Osten durch einen schmalen Landstreifen, den Wakhan, aus, der sich durch das Pamirgebirge bis nach China erstreckt, um eine Pufferzone zwischen Russland und Indien zu installieren. 1907 unterzeichneten Grossbritannien und Russland einen Vertrag, der die Gebiete rund um den Iran aufteilte.

Ausserdem erzielte Grossbritannien 1882 einen strategisch bedeutenden Sieg, indem es Ägypten militärisch besetzte und seinen französischen Widersacher, der den 1869 eröffneten Suez-Kanal gebaut hatte, verdrängte. Der Suez-Kanal wurde zum Dreh- und Angelpunkt der britischen Vorherrschaft im Nahen Osten und war von allerhöchster Bedeutung für die britische Herrschaft in Indien und anderen Teilen Asiens und Afrikas. Noch 1956 entsandten Grossbritannien und Frankreich Truppen, um die Kontrolle über den Kanal zu verteidigen, und widersetzten sich damit den USA.

Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hatte Grossbritannien die bestimmende Position im Nahen Osten inne und hielt damit seine europäischen Widersacher Russland und Frankreich in Schach.

Wie oben erwähnt, betrachteten die europäischen Kolonialmächte, als sie ihre Kolonien „einsammelten“ und ihre imperialistischen Ziele definierten, die Frage der Rohstoffe, ob Erdöl oder andere, nicht als vorrangig. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Erdölvorkommen des Nahen Ostens von geringer Bedeutung, und auch andere Rohstoffe spielten keine entscheidende Rolle.[2] Schon damals spielten eher strategische und militärische Erwägungen die Hauptrolle.

Die Natur der imperialistischen Konflikte entwickelte jedoch einen qualitativ neuen Charakter, als die Erdkugel Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen den europäischen Grossmächten aufgeteilt war.

Sobald die europäischen Mächte bei dem Versuch, die Welt unter sich und weiteren aufzuteilen (Nordafrika unter Italien und Frankreich, Ägypten und Fachoda/Sudan unter Frankreich und Grossbritannien, Zentralasien unter Grossbritannien und Russland, der Ferne Osten zwischen Russland und Japan, China unter Japan und Grossbritannien, der Pazifik-

raum unter den USA und Japan, Marokko unter Deutschland und Frankreich), aneinander gerieten, nahmen auch die Spannungen im Nahen Osten stark zu.

Deutschland, das verspätet auf dem Weltmarkt erschienen war und verzweifelt versuchte, sich Kolonien anzueignen, konnte diese bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch Ländern entreissen, die sich bereits „etabliert“ hatten. Das hatte zur Folge, dass Deutschland vor allem versuchte, die Positionen der alleinigen Weltmacht, nämlich Grossbritanniens, zu untergraben. Schon Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich Deutschland darum, eine militärische Präsenz zu errichten. Doch wie wir gesehen haben, war der deutsche Imperialismus zwar in der Lage, die britischen Interessen in dieser Region zu bedrohen und zu untergraben, aber er war unfähig, die britische Herrschaft zu stürzen. Auch wenn er ein ständiger Herausforderer und „Unruhestifter“ besonders der britischen Interessen war, besass er, anders als der britische Imperialismus, nicht die Mittel, um seine Präsenz in der Region zu erzwingen.

Deutschland versuchte also, sich weiter östlich auf dem Balkan auszuweiten (es ist kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg dort ausgelöst wurde, nachdem sich die imperialistischen Gegensätze in zwei Balkankriegen 1912–1913 zugespitzt hatten, während denen das osmanische Reich seine europäischen Gebiete an Bulgarien, Serbien, Griechenland und Albanien verlor). Das sich auflösende osmanische Reich wurde zum Angelpunkt der deutschen imperialistischen Ansprüche im Nahen Osten.

Während Marx noch die territoriale Einheit der Türkei als Barriere gegen die russischen Ambitionen im Nahen Osten unterstützt hatte, erkannte Rosa Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sich die Weltlage verändert hatte und die Unterstützung der Türkei ein reaktionäres Projekt geworden war. „Dass bei der Vielfältigkeit der nationalen Fragen, welche den türkischen Staat zersprengen: der armenischen, kurdischen, syrischen, arabischen, griechischen (bis vor kurzem noch der albanischen und makedonischen), bei der Mannigfaltigkeit der ökonomisch-sozialen Probleme in den verschiedenen Teilen des Reiches (…) war für jedermann und namentlich für die deutsche Sozialdemokratie seit langem ganz klar, dass eine wirkliche Regeneration des türkischen Staates eine vollständige Utopie ist, und dass jede Anstrengung, diese verfaulten und zusammenbrechenden Ruinen aufrechtzuerhalten, nur ein reaktionäres Unternehmen darstellen kann.“[3]

Für den deutschen Imperialismus war die Türkei das Schlüsselland für seine Ambitionen.[4] Deutschland unterstützte die Türkei militärisch (es bildete den türkischen Generalstab aus, lieferte Waffen und unterzeichnete 1914 einen Beistandspakt für den Kriegsfall); es wurde auch zum wichtigsten Zulieferer finanzieller und technischer Hilfe. Darum hat „die Position des deutschen Imperialismus ihn in Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten im Nahen Osten gebracht. Vor allem zu Grossbritannien. Die Errichtung strategischer Bahnen und die Stärkung des türkischen Imperialismus unter deutschem Einfluss wurden aber hier an einem der weltpolitisch empfindlichsten Punkte für Grossbritannien vorgenommen: in einem Kreuzungspunkt zwischen Zentralasien, Persien, Indien einerseits und Ägypten andererseits.“[5]

Eine weitere Ambition des deutschen Imperialismus zu jener Zeit war der Bau der Bagdadbahn, die den deutschen Truppen als elementarer logistischer Hebel dienen sollte.[6]

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches war entscheidend für die Ausbreitung der imperialistischen Konflikte sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen Osten.

Bis zum Ersten Weltkrieg war der grösste Teil des Nahen Ostens unter der Kontrolle des osmanischen Reiches. In Asien kontrollierte die Türkei Syrien (einschliesslich Palästina), einen Teil der arabischen Halbinsel (die damals noch keine festen Grenzen hatte), einen Teil der Kaukasusregion und Mesopotamiens (bis nach Bassorah).

Der Zusammenbruch des osmanischen Reiches führte weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten zur Bildung einer grossen Industrienation, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig gewesen wäre. Im Gegenteil, der imperialistische Druck führte zu einer Aufsplitterung, zur Bildung einer Reihe von „verkrüppelten Kleinstaaten“. Diese Kleinstaaten auf dem Balkan waren während des gesamten 20. Jahrhunderts und bis in unsere Tage ebenso Objekt der imperialistischen Rivalitäten zwischen den Grossmächten, wie der asiatische Teil der Trümmer des osmanischen Reiches, der Nahe Osten, Schauplatz andauernder imperialistischer Konflikte blieb.

Der Ferne Osten blieb, abgesehen von einigen weniger wichtigen Konflikten, abseits des Ersten Weltkrieges. Im Gegensatz dazu war der Nahe Osten schon immer Schlachtfeld konkurrierender Parteien gewesen.[7] Schon in der Zeit des Ersten Weltkrieges, lange bevor die Palästinafrage und die Frage eines jüdischen Staates gestellt wurde, war die Region ein imperialistisches Minenfeld gewesen. Wie wir aber sehen werden, trugen die Konflikte um Palästina und einen zionistischen Staat zu einer weiteren Verschärfung in einer Region bei, die ohnehin Brennpunkt imperialistischer Konflikte ist.

Der Fall des osmanischen Reiches und die imperialistischen Konstellationen am Ende des Ersten Weltkrieges

Während des Ersten Weltkrieges versuchten die europäischen Länder, ihre „Verbündeten“ in der Region für ihre Kriegsanstrengungen zu mobilisieren.

Grossbritannien, das zusammen mit Russland Deutschland und die Türkei bekämpfte, versuchte, die arabische Bourgeoisie für ein Bündnis gegen die osmanischen Herrscher zu gewinnen. Es ermutigte alle Unabhängigkeitsbestrebungen gegen die türkischen Herrscher, stachelte Stämme der Hedjas (im westlichen Teil der arabischen Halbinsel) auf und unterstützte Sherif Hussein aus Mekka.

Bereits im Ersten Weltkrieg dienten die lokalen Führer als Schachfiguren in den Machtkämpfen der europäischen Mächte. Die Briten konnten sich mit Hilfe von Lawrence von Arabien, der eine wichtige Rolle als Verbindungsoffizier zu den arabischen Rebellen spielte, deren Kampf gegen die Türken zunutze machen. Auch die jüdischen Einwanderer wurden als Kanonenfutter für den englischen Imperialismus rekrutiert.

Nachdem Deutschland die Türkei im Februar 1915 dazu gedrängt hatte, eine Offensive gegen die englischen Stellungen in Ägypten zu führen, um sich des Suez-Kanals zu bemächtigen (eine Offensive, die bereits nach wenigen Tagen aus Mangel an logistischer Unterstützung und an Waffenlieferungen scheiterte), erwies sich die Türkei als die grosse Verliererin des Krieges.

Dies entfachte umgekehrt die imperialistischen Gelüste sowohl der europäischen Mächte als auch der lokalen arabischen Herrscher. In der Hoffnung, von der Gelegenheit zu profitieren, lieferten sich im Sommer 1917 die von Sherif Hussein kommandierten arabischen Truppen ein richtiggehendes Wettrennen mit der englischen Armee, um sich Teile des türkischen Gebietes zu schnappen. Dieselben Truppen marschierten im Oktober 1918 in Damaskus ein und riefen ein arabisches Königreich aus. So zeigten die arabischen Führer ihre eigenen imperialistischen Ambitionen, nachdem sie als Kanonenfutter für die englischen imperialistischen Interessen in der Türkei gedient hatten. Sie wollten ein „panarabisches Reich“ mit Damaskus als Hauptstadt errichten. Doch diese nationalistischen Ambitionen stiessen sofort mit den englischen und französischen Interessen zusammen: Es gab keinen Raum für die arabischen imperialistischen Ansprüche.

Als das osmanische Reich auseinanderbrach und die deutsch-türkische Niederlage sich abzeichnete, begannen Frankreich und Grossbritannien Pläne zu schmieden, um den Nahen Osten unter sich aufzuteilen.

Die arabischen Staaten wurden von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen. Die Bildung einer grossen arabischen Nation, die die Überbleibsel des kollabierten osmanischen Reiches umfassen würde, war historisch unmöglich geworden. Die Hoffnungen der herrschenden Klasse Arabiens, eine grosse arabische Nation aufzubauen, waren zum Scheitern verurteilt, weil die europäischen imperialistischen Haie keinen lokalen Widersacher dulden konnten.

Im Frühjahr 1915 teilten die europäischen Mächte Grossbritannien, Frankreich, Russland, Italien und Griechenland nach Geheimverhandlungen den Nahen Osten unter sich auf. Grossbritannien und Frankreich unterzeichneten im Mai 1916 ein Geheimabkommen (Sykes-Picot-Vertrag), demzufolge

– Grossbritannien die Kontrolle über Haifa, Acca, die Negev-Wüste, Südpalästina, den Irak, die arabische Halbinsel, sowie Transjordanien (heute: Jordanien),

– Frankreich den Libanon und Syrien bekommen erhalten sollte.

Im April 1920 erhielt Grossbritannien das Mandat des Völkerbundes für Palästina, Jordanien, Iran, Irak; Frankreich erhielt das Mandat für Syrien und Libanon und trat die Kontrolle über Mossul (mit seinen reichen Ölquellen) gegen englische Zugeständnisse in Elsass-Lothringen und Syrien ab.

Von da an waren Deutschland als geschlagenes Land und Russland nach der Oktoberrevolution 1917 für eine lange Zeit auf der imperialistischen Bühne im Nahen Osten nicht mehr präsent. Die Zahl der Widersacher in der Gegend sank beträchtlich. Grossbritannien und Frankreich wurden die herrschenden Kräfte, wobei Grossbritannien klar die stärkste Stellung innehielt. Die bestimmenden Kräfte waren während des Krieges und bis in die 30er-Jahre europäisch, die USA spielten noch keine bedeutende Rolle.

Um sein Kolonialreich zu verteidigen, das von anderen Mächten untergraben wurde, musste Grossbritannien ein besonderes Augenmerk auf die strategisch hoch bedeutende Region von Palästina legen. Palästina bedeutete für Grossbritannien die Verbindung zwischen dem Suez-Kanal und dem zukünftigen britischen Mesopotamien. Keiner anderen Macht, weder einer europäischen noch einer arabischen, sollte es erlaubt werden, einen Keil zwischen Mesopotamien und den Suez-Kanal zu treiben. 1916 erklärte Grossbritannien die Kontrolle über Palästina zum ausschliesslichen Ziel seiner Politik.

Bis zum Ersten Weltkrieg, solange das osmanische Reich Bestand hatte, wurde Palästina stets als Teil Syriens angesehen. Aber mit dem Mandat Grossbritanniens für Palästina hatten die imperialistischen Mächte eine neue „Einheit“ geschaffen. Wie alle im Laufe der Dekadenz des Kapitalismus neu geschaffenen „Einheiten“ war auch sie dazu bestimmt, zum permanenten Schauplatz von Konflikten und Kriegen zu werden.

Die lokalen palästinensischen Herrscher waren noch schwächer als die anderen arabischen Herrscher. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit verfügten sie weder über eine industrielle Basis noch über Finanzkapital, sie hatten keinerlei wirtschaftliches Potenzial und konnten sich nur auf militärische Mittel stützen, um ihre Interessen zu verteidigen.

1919 wurde der erste palästinensische Nationalkongress einberufen und Amin al-Hussein wurde zum Mufti von Jerusalem ernannt. Die palästinensischen Nationalisten nahmen Kontakt mit Frankreich auf, um die englische Herrschaft in Palästina ins Wanken zu bringen. Mit der Hilfe Syriens und der französischen Besatzungstruppen in Syrien wurde ein militärischer Aufstand gegen die Briten organisiert, der indes von der britischen Armee schnell niedergeschlagen wurde.

Gleichzeitig wurden die palästinensischen Herrscher, die ihre Unabhängigkeit in einer Welt beanspruchten, die keinen Raum für einen neuen Nationalstaat bot, mit einem neuen, vom Ausland kommenden „Widersacher“ konfrontiert.

Nach der Balfour-Erklärung von Grossbritannien im November 1917, die Unterstützung bei der Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina versprach, nahm die Zahl der jüdischen Einwanderer beständig zu. Die Zionisten begannen einen blutigen Überlebenskampf gegen die palästinensischen Herrscher.

Grossbritannien nutzte die jüdischen Siedler an zwei Fronten. Nachdem es während des Krieges im Kampf gegen den türkischen Rivalen das „Zion Mule Corps“ seiner Armee angegliedert hatte, benutzte Grossbritannien nun die jüdischen Nationalisten gleichzeitig gegen seinen Hauptgegner Frankreich und gegen die arabischen Nationalisten. So stiftete Grossbritannien die Zionisten dazu an, vor dem Völkerbund zu erklären, dass die Juden in Palästina weder französischen noch internationalen, sondern nur britischen Schutz wünschten.

Obwohl in Rivalität miteinander verbunden, handelten Frankreich und Grossbritannien resolut und gemeinsam gegen lokale arabische Nationalisten, sobald sich deren Ruf nach nationaler Unabhängigkeit erhob. So setzten sie nun militärische Mittel ein, um ihre Unabhängigkeitsansprüche der arabischen Nationalisten zu unterdrücken, nachdem sie sich noch während des 1. Weltkrieges gegen die Türken ihrer bedient hatten. Kaum hatte Scheich Feisal im Oktober 1918 in Damaskus ein „unabhängiges arabisches Reich“ proklamiert, das Palästina umfassen sollte, unterwarfen ihn im Juli 1920 französische Truppen – wobei sie Bombenflugzeuge gegen die arabischen Nationalisten einsetzten.

Im März 1918 fanden in Ägypten eine Reihe von Protesten von ägyptischen Nationalisten, Arbeitern und Bauern statt, die soziale Reformen forderten. Sie wurden von der britischen und ägyptischen Armee gemeinsam niedergeworfen, wobei mehr als 3.000 Ägypter getötet wurden. Auch 1920 wurde eine Protestbewegung im irakischen Mossul von Grossbritannien niedergeschlagen.

Die lokale Bourgeoisie hatte in keinem der arabischen Länder oder Protektorate die Mittel, unabhängige, vom kolonialen Zugriff und den „Schutzmächten“ befreite Staaten zu errichten.

Die Forderung nach nationaler Befreiung war nichts anderes als eine reaktionäre Forderung. Während Marx und Engels einige nationalistische Bewegungen unter der einzigen Bedingung unterstützt hatten, dass die Bildung der Nationalstaaten das Wachstum und die Verstärkung der Arbeiterklasse beschleunigen würde, damit Letztere als Totengräber des Kapitalismus handeln konnte, zeigten die Entwicklungen im Nahen Osten dagegen, dass es keinen Raum für die Bildung einer neuen arabischen oder palästinensischen Nation gab. Nachdem der Kapitalismus in die Phase seines Niederganges eingetreten war, konnten – wie auch überall sonst auf der Welt – keine nationale Fraktion des Kapitals eine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Unfähig, neue kapitalistische Absatzmärkte zu erobern, konnten die Widersacher nur militärisch reagieren: Die Kolonialmächte verhinderten im Nahen Osten die Bildung einer neuen arabischen Nation, und die lokalen arabischen Bourgeoisien widersetzten sich den Versuchen, einen neuen palästinensischen Nationalstaat zu errichten.

Um die Situation im Nahen Osten nach dem Niedergang des osmanischen Reiches und dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenzufassen, möchten wir folgende Punkte hervorheben:

– Die beiden europäischen Mächte Frankreich und Grossbritannien, die in Rivalität zueinander standen und ihre „Protégés“ gewählt hatten, beherrschten die Region.

– Deutschland und Russland mit ihren starken imperialistischen Ambitionen in der Region wurden zurückgedrängt.

– Die arabische Bourgeoisie war nicht in der Lage, einen lebensfähigen panarabischen Nationalstaat zu schaffen.

– Die neu geschaffene Einheit, das Protektorat Palästina, mit einer verkrüppelten, rückständigen herrschenden Klasse Palästinas an der Spitze, geriet in Konflikt mit einer „Schutz“macht (Grossbritannien), die dazu nicht in der Lage war, und mit dem neuen zionistischen Rivalen, der von aussen einsickerte.

Die arabische Bourgeoisie, die mit den Kolonialmächten aneinander geriet, die sie daran hindern wollten, einen neuen, lebensfähigen Staat zu bilden, widersetzte sich ihrerseits der Bildung einer neuen palästinensischen „Einheit“.

Die USA, Hauptnutzniesser des Ersten Weltkrieges, waren noch nicht bereit. Im Zentrum der imperialistischen Rivalitäten stand nicht die Eroberung von bestimmten Rohstoffen, sondern die Eroberung strategischer Positionen.

Wir sehen, dass die Situation im Nahen Osten die von Rosa Luxemburg während des Ersten Weltkrieges entwickelte Analyse voll und ganz bestätigte: „Der Nationalstaat, die nationale Unabhängigkeit und Einheit, das war das ideologische Banner, unter dem sich im letzten Jahrhundert die grossen bürgerlichen Staaten Zentraleuropas bildeten. Der Kapitalismus ist nicht vereinbar mit dem Partikularismus der Kleinstaaten, mit einem politischen und wirtschaftlichen Zerbröckeln; er braucht ein grösstmögliches zusammenhängendes Gebiet mit einem einheitlichen Zivilisationsniveau, um sich auszubreiten; ohne diese Voraussetzung könnte man weder die gesellschaftlichen Bedürfnisse auf die von der kapitalistischen Warenproduktion erzielte Ebene heben, noch würde der Mechanismus der modernen bürgerlichen Herrschaft funktionieren. Vor ihrer Ausbreitung über die ganze Erdkugel hat die kapitalistische Wirtschaftsweise versucht, sich ein zusammenhängendes Gebiet in den nationalen Grenzen eines Staates zu schaffen (…) Die nationale Phrase dient heute nur dazu, mehr schlecht als recht imperialistische Ansprüche zu maskieren, wenn sie nicht als Kriegsruf in den imperialistischen Konflikten verwendet wird, als einziges und letztes ideologisches Mittel, um die Zustimmung der Volksmassen zu fangen und sie die Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen spielen zu lassen.“[8]

DE

Fußnoten:

1. Friedrich Engels, Angriff“, in: MEW Bd. 14, S. 68

2. 1900 betrug der Erdölverbrauch etwa 20 Millionen Tonnen und diese Nachfrage wurde durch die amerikanischen und russischen Quellen abgedeckt (Hauptförderregion war der Golf von Mexiko). Die verschärfte Militarisierung und die Ablösung der Kohle durch Öl in der Industrie und als Treibstoff für Lokomotiven erhöhten die Nachfrage stark. Zwischen 1900 und 1910 hat sich die Erdölproduktion mehr als verdoppelt und erreichte 43.8 Millionen Tonnen. Die Erfindung des Dieselmotors für den Lokomotivantrieb und die Dampfschiffe schufen die technische Grundlage, aber erst die Erfordernisse einer militarisierten Wirtschaft führten zur Verdoppelung der Rohölproduktion. Vor dem I. Weltkrieg spielte der Nahe Osten lediglich eine zweitrangige Rolle in der Erdölversorgung des Weltmarktes. Erst nach dem I. Weltkrieg stieg die Ölförderung im Nahen Osten beträchtlich an.

3. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

4. Der deutsche Imperialismus schwankte zwischen der Unterstützung für die Türkei und für die nationalistischen jüdischen Siedler. Wenn die Zionisten mit deutscher Unterstützung eine jüdische Heimstatt in Palästina eingerichtet hätten, hätte dies einen Konflikt mit dem osmanischen Reich hervorgerufen. Doch Deutschland wollte es nicht riskieren, seine Verbindung mit der Türkei zu lösen, weil diese sein wichtigster Verbündeter im weltweiten Machtkampf mit Grossbritannien war.

5. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff. Rosa Luxemburg war eine der Ersten, die die historischen Folgen der neuen Bedingungen, die der Anfang der Dekadenz mit sich brachte, erfasste. Schon in ihrem Buch über Die wirtschaftliche Entwicklung Polens 1898 zeigte sie, dass die Kommunisten die Bildung eines polnischen Staates nicht mehr unterstützen konnten. In dem Text Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie 1896 und in Die nationale Frage und die Autonomie 1908 zeigte sie den historischen Wandel auf, der zwischen dem Aufstieg und dem Niedergang eingetreten war und jede Unterstützung für die Türkei verunmöglichte.

6. Rohrbach schrieb in seinem Buch Die Bagdadbahn“: „Grossbritannien kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: von Ägypten (…) Die Türkei kann aber nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, dass sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt. Die Bagdadbahn war von Anfang an dazu bestimmt, Konstantinopel und die militärischen Kerngebiete des türkischen Reiches in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen. Natürlich war in diesem Plan das Projekt inbegriffen, türkische Truppen nach Ägypten zu transportieren.“ (Paul Rohrbach, zitiert nach Rosa Luxemburg, in: Der Krieg und die deutsche Politik).

7. Obwohl der Nahe Osten ein Nebenkriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges war, liessen von den 20 Millionen Opfern etwa 350.000 aus dem Nahen Osten ihr Leben in diesem Krieg. Die türkische und alliierte Seeblockade der arabischen Häfen sowie Epidemien und Hungersnöte erforderten zahlreiche Tote. 30 Prozent der ägyptischen Männer wurden von der britischen und australischen Armee eingezogen, um als Handlanger zu dienen.

8. Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Absatz 4, in Gesammelte Werke Bd 4, S. 83ff.

Geographisch: 

Theoretische Fragen: