1905: Der Massenstreik und die Arbeiterräte

Printer-friendly version

 Vor 90 Jahren begann das Proletariat in Rußland die erste revolutionäre Bewegung dieses Jahrhunderts: die Generalprobe für die siegreiche Revolution von 1917 und die internationale Welle von revolutionären Kämpfen, die sich ihr anschloß. 1905 entfaltete die Arbeiterklasse zum ersten Mal ihre spezifische Waffe im Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz: den Massenstreik. In Anbetracht der Schlüsselfragen, vor denen das Proletariat heute steht, ist es die Aufgabe der revolutionären Minderheiten, ihre Klasse an die gewaltigen, gegen ein System, das auf seinen Zusammenbruch hinraste, gerichteten Kämpfe von 1905 zu erinnern.Der Grund, weshalb es heute so wichtig ist, daß sich die Arbeiter die Lehren dieser Erfahrung aneignen, liegt darin, daß die Antworten auf die Fragen, vor denen die Arbeiter heute stehen, 1905 gegeben wurden: die Vereinigung der Arbeiterklasse durch die Ausdehnung und Selbstorganisierung des Kampfes, wodurch die Grundlagen für die revolutionäre Offensive gegen die kapitalistische Ordnung gelegt wurden.Die Revolution von 1905 wurde durch ein unbedeutendes Ereignis ausgelöst, das aber wie ein Funken bei einem Pulverfaß wirkte: im Dez. 1904 wurden zwei Arbeiter der Putilov-Werke in St. Petersburg deswegen entlassen, weil sie einer politischen Organisation angehörten. Am 3. Januar traten die Arbeiter der Putilov-Fabrik in den Streik, und am 7. Januar brachten 140.000 Streikende ihre Wut in den Fabriken von St. Petersburg zum Ausdruck, organisierten Vollversammlungen, in denen politische und ökonomische Forderungen formuliert wurden. Diese spiegelten die Revolte gegen die Autorität des Zaren, die Bedingungen der Misere und der Ausbeutung wider, welche durch die Wirtschaftskrise und den imperialistischen Krieg mit Japan aufgezwungen wurden. Insbesondere forderten sie Lohnerhöhungen, den 8-Stunden-Tag, Bürgerrechte, das allgemeine Wahlrecht. Von einem Priester, Gapon, angeführt, - von dem sich später herausstellte, daß er ein Polizeiagent war - marschierten die Arbeiter friedlich zum Winterpalais des Zaren. Sie wollten dem Zar eine Petition vortragen, in der sie demütig um eine Verbesserung ihrer Lebenslage nachsuchten. Aber ihnen traten die Truppen des Zaren entgegen, die wild auf die Menge schossen. Dieser ‘blutige Sonntag’ war Anlaß für die erste revolutionäre Explosion des Proletariats im ganzen Zarenreich, die erste Massenstreikbewegung in der Geschichte.

Die Ausdehnung des Massenstreiks

Während der nachfolgenden zwei Monate dehnte sich der Widerstand der Arbeiter über ganz Rußland aus, schloß später 132 Städte und nahezu eine Million Arbeiter ein. Dann flachte die Bewegung langsam ab, um spontan und mit vereinten Kräften im Herbst wieder aufzutauchen. Die Kämpfe im Herbst 1905 waren der Höhepunkt einer ganzen Bewegung. Wie im Januar 1905 wurden sie durch ein kleines Ereignis ausgelöst: am 19. Sept. traten die Arbeiter in der Sytine Druckerei in Moskau in den Streik, um ihrer Forderung nach Lohnerhöhungen und einer Verkürzung des Arbeitstages Nachdruck zu verleihen. Der erste Streik dehnte sich auf der Ebene der Branche aus: die Drucker aus andern Petersburger Druckereien legten aus Solidarität die Arbeit nieder, um die Moskauer Drucker zu unterstützen. Aber der Streik überwand schnell die Barrieren der Berufe und Branchen und dehnte sich geographisch aus. Der Funken sprang über auf die Eisenbahner und wurde noch verstärkt, als die Beschäftigten des Telegrafenamtes der Bewegung beitraten. Die Streikenden kamen zu Vollversammlungen zusammen, die sich sofort entschlossen, Räte (Sowjets) zu bilden, um ihre Kämpfe zu koordinieren und zentralisieren. 5 Tage nach der Schaffung des ersten Sowjets begann sich der Streik durch den Impuls der Eisenbahner auszudehnen, die die Eisenbahnlinien blockierten. Jegliche Verbindung zwischen Moskau und anderen Städten wurde unterbrochen. Das hinderte die Arbeiter nicht daran, die Verbindung untereinander aufrechtzuhalten. Trotz der Drohung der Repression (3-monatige Gefängnisstrafen für Streikende) ließen sich die Eisenbahner und die Telegrafenamtbeschäftigten nicht einschüchtern. Die Bewegung dehnte sich vom Zentrum zur Peripherie aus. Andere nichtausbeutende Schichten wurden ebenfalls in den Kampf einbezogen. Die Ausdehnung nahm zunehmend einen politischen Charakter an, insbesondere bei der Solidarität der Soldaten. Hier stellte das Proletariat sein Bewußtsein unter Beweis, indem es die Arbeiter und Bauern in Uniform auf seine Seite zog, deren Unterstützung gewann, was eine unabdingbare Bedingung für die Übernahme der Macht war. Die revolutionären Aufstände dehnten sich im Herbst 1905 auf ganz Rußland aus und ergriffen alle Gesellschaftsschichten. Überall nahmen die Streiks zu, es kam zu Studentendemos, Arbeiter- und Matrosenmeutereien, Bauernaufständen. Die herrschende Klasse war gezwungen, Konzessionen zu machen. Das Kriegsrecht wurde aufgehoben, Streiktage bezahlt, für die Aufständischen von Kronstadt wurde eine Amnestie ausgesprochen.

Der Massenstreik von 1905 bewies, daß das Proletariat durch die Ausdehnung seiner Kämpfe auf alle Bereiche seiner Stärke bewußt wird, und als das einzige Subjekt in der Geschichte auftreten kann.

Der ‘rote Oktober’ des Jahres 1905 bietet der Arbeiterklasse heute viele Lehren an. In Anbetracht der Hauptfrage, vor denen die Arbeiter immer wieder stehen, nämlich die Ausdehnung der Kämpfe, hat uns 1905 eine große Errungenschaft hinterlassen. In der Zeit des Massenstreiks (d.h. in der Dekadenz dieser Gesellschaft) ist die Dauer eines Kampfes keine Stärke an sich. Unter bestimmten Umständen besteht das Risiko, daß nicht die Bourgeoisie sondern das Proletariat gelähmt wird. So stellte in der Zeit vom Oktober bis November 1905 der Aufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit in bestimmten Branchen einen wichtigen Schritt der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats dar, der es ihm ermöglichte, seine Kämpfe später zu vereinigen. Die Züge wurden für die Beförderung von Delegierten eingesetzt, die Telegrafenleitungen für die Übermittlung von Anordnungen der Sowjets herangezogen, Druckereien gingen in die Kontrolle der Arbeiter über, um die Presse der Arbeiter zu drucken.

Die Arbeitskraft der Arbeiter nicht für das Kapital einzusetzen, sondern sie für die Ausdehnung des Streiks zu verwenden, das ist eine der Hauptlehren von 1905. Die Ausdehnung der Kämpfe für die Vereinigung der Klasse, die Entwicklung des Klassenbewußtseins, das Zurückdrängen der Bourgeoisie, die Notwendigkeit, den Massenstreik geschickt einzusetzen, so daß die Arbeiterklasse und nicht die Bourgeoisie gestärkt wird, das sind wichtige Lehren, die sich die Arbeiterklasse heute aneignen muß - so wie sie es in Polen 1980 auch gezeigt hatte.


Die Sowjets: Die Selbstorganisation des Proletariats

Aber die von den Arbeitern 1905 verwendeten Methoden zur Ausdehnung der Streiks beschränkten sich nicht nur auf die Kommunikationsmittel. Die bewußte Ausdehnung der Kämpfe erforderte ihre Koordinierung und somit die selbständige Organisierung der Klasse. Nur weil das Proletariat 1905 die ersten Arbeiterräte schuf, konnte es das große Potential der Massenstreiks ausschöpfen.

Im Okt. 1905 beschlossen die Petersburger Arbeiter, ihre Bewegung durch die Schaffung einer autonomen Arbeiterverwaltung zu zentralisieren. So wurde der erste Petersburger Arbeiterrat gegründet, in dem Delegierte aller Fabriken der Stadt vertreten waren, und der als das Nervenzentrum der revolutionären Bewegung auftrat. Drei Jahre nach der Gründung der Sowjets brachte das organisierte Proletariat eine Arbeiterpresse (Isvestia) (Nachrichten) heraus, das ein Verbindungs- und Propagandaorgan war. Im Sowjet waren Delegierte aus allen Fabriken vertreten, die gewählt und jederzeit abwählbar waren. Ständig fanden Treffen statt, deren Hauptdiskussionsthemen folgende waren:

- Wie den Kampf auf alle Bereiche ausdehnen? So schickte z.B. Anfang Oktober der Arbeiterrat große Delegationen zu den Textilfabriken Petrograds, die immer noch zögerten, sich dem Streik anzuschließen. Unmittelbar danach legten die Textilarbeiter die Arbeit nieder. Die Ausdehnung fand ohne Zwangsausübung statt. Die Sowjets hatten die zögernden Arbeiter durch ihre eigene Entschlossenheit überzeugt.

- Die Aufstellung einer Plattform von Forderungen (Garantie eines Raumes für Treffen, Lebensmittel- und Waffenlieferungen an das Proletariat...). Die Sowjets machten sich keine Illusionen über die Fähigkeit der Bourgeoisie, solche Forderungen zu erfüllen. Sie hatten vor allem agitatorischen Wert und dienten der Vertiefung des Bewußtseins des Proletariats.

Darum lag die zentralisierende Rolle der Sowjets. Indem sie die Arbeiterklasse vereinigten, bündelten sie alle Aspekte des Kampfes in sich zusammen: defensive und offensive, lokale und allgemeine, ökonomische und politische.

Die selbständige Organisation der Klasse in Arbeiterräten im dem Jahre 1905 zeigt uns andere wichtige Lehren für heute auf.

1) Der wirkliche Sieg oder die Niederlage werden nicht bestimmt durch einzelne Momente des Massenstreiks, sondern durch seinen Höhepunkt, den revolutionären Aufstand. Diese erste Lehre wurde von Nov. 1905 an deutlich. Als der Sowjet in Anbetracht des Drucks in den Reihen der Arbeiter die Kampagne für den 8-Stunden-Tag einleitete. In vielen Fabriken (insbesondere in der Textilindustrie und im Metallbereich) führten die Arbeiter ihn selbst ein. Aber die Bourgeoisie wollte nicht nachgeben und schloß Fabriken. Damit warf sie ca. 19.000 Arbeiter auf einen Schlag auf die Straße. Unter dem Zwang nachzugeben, nahmen die Arbeiter die Arbeit wieder zu den alten Bedingungen auf. Der Sowjet war sich bewußt, daß die Aussichten einer solchen Bewegung auf ‘Erfolg’ gering waren. Aber er wußte auch, daß sich hinter dieser unvermeidbaren wirtschaftlichen Niederlage ein politischer Sieg abzeichnete, der im Bewußtsein des Proletariats unauslöschliche Spuren hinterlassen würde. Denn indem das Proletariat auf eine unnachgiebige, krisengeschüttelte herrschende Klasse stieß, konnte es von 1905 an langsam die Notwendigkeit der Übernahme der Macht begreifen. So traten die Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat in all ihrer unverkennbaren Nacktheit auf. Die Bewegung für den 8-Std.-Tag, die durch die Selbstorganisierung des Proletariats vorangetragen wurde, sollte ein Vorspiel sein für den Aufstand im Dezember in Moskau.

2.) Die zweite wichtige Lehre, die die Erfahrung aus dem Sowjet von 1905 uns heute hinterlassen hat, ist die Erkenntnis, daß es unmöglich ist, einen Streik isoliert zu entwickeln. Das Beispiel des Streiks der Petersburger Arbeiter, die im November aus Solidarität mit Kronstadt die Arbeit niedergelegt hatten, ist aufschlußreich.

Am 26. Okt. 1905 brach ein Aufstand aus in den Kasernen von Kronstadt; am nächsten Tag wurde er von den Truppen des Zaren niedergeschlagen. Sofort gab es eine breite Protestbewegung in den Petersburger Fabriken, die von dem Sowjet in die Wege geleitet wurde. Die Bewegung brach jedoch auf dem Hintergrund des allgemeinen Zurückweichens der Kämpfe in Rußland aus, und sie blieb auf die Petersburger Gegend beschränkt. In Anbetracht der Schwierigkeit, den Streik auszudehnen, rief der Sowjet zur Wiederaufnahme der Arbeit am Ende der Woche auf, weil er begriffen hatte, daß die Fortführung des Streiks unter den Bedingungen der Isolierung nur zur Demoralisierung der Petersburger Arbeiter führen würde. So kann die Fähigkeit des Proletariats, seinen Kampf zu verstärken, ebenfalls von seiner Fähigkeit abhängen, einen Rückzug anzutreten, wenn die Bedingungen für eine sofortige Offensive nicht reif genug sind. Der Petersburger Sowjet brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: ‘Wir fürchten weder die Schlachten noch die Niederlagen. Niederlagen sind für uns Schritte, die uns zum Sieg führen... Für jede Schlacht suchen wir die besten Bedingungen. Die Zeit arbeitet für uns, und wir haben keinen Grund etwas zu überstürzen... Alle Vorteile sind auf unserer Seite, denn morgen, Genossen, werden wir stärker sein als heute, und übermorgen stärker als morgen! Wir sollten jetzt den Streik abbrechen... und alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, das zu schaffen und zu verstärken, was wir jetzt am meisten brauchen: Organisation und noch mal Organisation. Vergeßt nicht, daß wir in der Stunde der Entscheidung nur auf uns selbst zählen können’ (Rede des Berichterstatters vor dem Exekutivkomitee des Sowjets auf der Sitzung vom 5. Nov. 1905).

Die Kämpfe von 1905 bewiesen, daß die Arbeiterklasse ihre Kämpfe auf die neuen Bedingungen des Niedergangs des Kapitalismus einstellen konnte. Auch wenn die Gewerkschaften immer versuchen, das Proletariat in Sackgassen zu lenken (Kämpfe auf einen Bereich zu beschränken, lange, aber isolierte Streiks, ‘finanzielle’ Solidarität statt Ausdehnung und andere überholte Methoden), müssen wir aus der Erfahrung von 1905 alle Lehren ziehen. Avril


Geschichte der Arbeiterbewegung: 

Erbe der kommunistischen Linke: