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Teil 3
Die Debatte während der revolutionären Welle und die Lehren für heute
In den vorhergehenden Artikeln haben wir die Debatten unter den Kommunisten über das Verhältnis zwischen der proletarischen Revolution und der nationalen Frage betrachtet:
- am Vorabend der Dekadenz des Kapitalismus über das Thema, ob die Revolutionäre das „Recht der Nationen auf Selbstbestimmung" unterstützen sollen;
- während des Ersten imperialistischen Weltkrieges innerhalb der Zimmerwalder Linken über die Folgen der neuen Bedingungen der Dekadenz für das alte „Minimalprogramm" der Sozialdemokratie und für den Klassencharakter der Nationalkriege.
Im dritten und letzten Artikel wollen wir die wohl wichtigste Feuerprobe für die damalige revolutionäre Bewegung untersuchen: die historischen Ereignisse zwischen der Machtergreifung durch die russischen Arbeiter 1917 und dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationalen 1920, vom ersten optimistischen Schritt zur Zerstörung des Kapitalismus bis zu den ersten Anzeichen der Niederlage der Arbeiterkämpfe und der Degeneration der Bewegung in Russland.
In diesen Jahren wurden die Irrtümer der Bolschewiki in der Frage der Selbstbestimmung in die Praxis umgesetzt: Auf der Suche nach Verbündeten schlug die junge Kommunistische Internationale einen opportunistischen Kurs in Richtung einer Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe in den Kolonien ein. Auch wenn die KI in dieser Periode noch immer eine revolutionäre Kraft war, so tat sie dennoch bereits die ersten fatalen Schritte zu ihrer Kapitulation unter der bürgerlichen Konterrevolution. Dies allein unterstreicht die Notwendigkeit, heute eine Kritik dieser proletarischen Erfahrung zu verfassen, um eine Wiederholung dieser Fehler zu vermeiden – ein Punkt, den Viele im revolutionären Milieu noch immer nicht verstehen.
Der Irrtum der „Selbstbestimmung" in der Praxis
Die Etablierung der Diktatur des Proletariats in Russland 1917 stellte die konkrete Frage: Welche Klasse herrscht? Angesichts der Bedrohung durch eine weltweite Rätemacht wurde die Bourgeoisie, was auch immer ihre nationalen Bestrebungen waren, mit dem Kampf ums eigene Überleben als Klasse konfrontiert. Selbst in den entferntesten Winkeln des alten zaristischen Reiches war die Kernfrage, die die Geschichte stellte, die Konfrontation zwischen den Klassen – nicht die „demokratischen Rechte" oder die „Vervollständigung der bürgerlichen Revolution". Nationalistische Bewegungen wurden zum Faustpfand der imperialistischen Mächte in ihrem Kampf zur Zerstörung der proletarischen Bedrohung.
Inmitten dieses Klassenkrieges wurden die Bolschewiki schnell zum Eingeständnis gezwungen, dass die generelle Anerkennung der Selbstbestimmung nur zur Konterrevolution führen kann. Schon 1917 erhielt die Ukraine ihre Unabhängigkeit, nur um sich sogleich mit dem französischen Imperialismus zu verbünden und sich gegen das Proletariat zu wenden. Innerhalb der bolschewistischen Partei existierte eine starke Opposition gegen diese Politik, die, wie wir gesehen haben, von Bucharin und Pjatakow einschließlich Djerschinskis, Lunartscharskis und anderer angeführt wurde. 1917 gelang es Bucharin beinahe, die Debatte in die Partei zu tragen, indem er die Parole ausgab: „Weg mit allen Grenzen!". Das unter Lenins Einfluss zu Stande gekommene Ergebnis war ein Kompromiss: Selbstbestimmung für die Arbeiterklasse in jedem Land. Dies ließ alle Widersprüchlichkeiten in dieser Politik unangetastet.
Die Gruppe um Pjatakow, die die Mehrheit der Partei in der Ukraine stellte, widersetzte sich diesem Kompromiss und rief stattdessen zur Bündelung aller proletarischen Kräfte in der Kommunistischen Internationalen auf, als ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Klasseneinheit gegen die nationale Fragmentierung. Dieses Argument der linken Bolschewiki wurde von Lenin damals ins Lächerliche gezogen; doch aus der Perspektive der späteren Degeneration der Russischen Revolution erwies sich ihre Betonung des proletarischen Internationalismus gleich als doppelt richtig. Als Lenin ihre Position als „großrussischen Chauvinismus" geißelte, verriet er eine nationale Sichtweise der Rolle der Revolutionäre, deren Ausgangspunkt doch eigentlich die Interessen der Weltrevolution sein sollten.
Die katastrophalen Ergebnisse der bolschewistischen Politik wurden am deutlichsten in den hochentwickelten kapitalistischen Regionen des zaristischen Reiches; und hier konzentrierte Rosa Luxemburg ihre Angriffe gegen die Selbstbestimmung in der Praxis (nach ihrer Ermordung veröffentlicht). Sowohl Polen als auch Finnland beherbergten gut entwickelte nationale Bourgeoisien, die sich vor allem vor einer proletarischen Revolution fürchteten. Beide stellten, sobald sie die Unabhängigkeit erhalten hatten, ihre Existenz unter den Schutzschild der imperialistischen Mächte. Unter der Parole der Selbstbestimmung massakrierte die Bourgeoisie dieser Länder Arbeiter und Kommunisten, löste die Räte auf und gestattete es dem Imperialismus und der weißen Reaktion, ihre Territorien als Sprungbrett für deren Armeen zu benutzen.
Luxemburg betrachtete all dies als eine bittere Bestätigung ihrer eigenen Vorkriegspolemik gegen Lenin: „Dass sich die militärische Niederlage in den Zusammenbruch und Zerfall Russlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: den staatlichen Zerfall Russlands. (…) Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, dass sie als Verfechter der nationalen Freiheit ‚bis zur staatlichen Absonderung’ Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: Eine nach der anderen von diesen ‚Nationen’ benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Russland selbst zu tragen" (Zur russischen Revolution, Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd 4, S. 345). Die Praktizierung der Selbstbestimmung nach 1917 enthüllte den Widerspruch zwischen den eigentlichen Absichten Lenins, den Imperialismus zu schwächen, und der daraus resultierenden Bildung von Bollwerken gegen die proletarische Revolution, wo die Bourgeoisie in der Lage war, die Arbeiterkämpfe in nationalen Kriegen und Massakern zu kanalisieren. Die Bilanz dieser Erfahrung ist daher durchweg negativ.
Der Erste Kongress der Dritten Internationalen
Die Dritte (Kommunistische) Internationale verkündete in dem Einladungsschreiben zu ihrem Ersten Kongress 1919 den Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Phase, „die Periode der Auflösung und des Zusammenbruchs des gesamten kapitalistischen Weltsystems".
Die Komintern stellte eine deutlich internationale Perspektive für die Arbeiterklasse vor: Das gesamte kapitalistische System war nicht mehr fortschrittlich und musste durch die Massenaktion der in Arbeiterräten bzw. Sowjets organisierten Arbeiter zerstört werden. Die Weltrevolution, die mit der Ergreifung der politischen Macht durch die Sowjets in Russland begonnen hatte, zeigte konkret, dass die Zerstörung des kapitalistischen Staates auf der unmittelbaren Tagesordnung stand.
In den ersten Jahren ihres Wirkens fand die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe oder auf das „Recht auf Selbstbestimmung der Nationen" keinerlei Erwähnung in der Komintern. Stattdessen stellte sie die Notwendigkeit eines internationalen Klassenkampfes voran. Die Komintern wurde am Höhepunkt der revolutionären Welle geboren, die den imperialistischen Krieg zu einem abrupten Halt brachte und die Krieg führenden Bourgeoisien dazu zwang, sich in ihren Anstrengungen, die proletarische Bedrohung zu zerstören, zu vereinen. Der Klassenkampf in den kapitalistischen Herzländern – in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und in Amerika – verlieh den Anstrengungen der Internationalen unerhörten Auftrieb, die Bedürfnisse der Weltrevolution, die damals dem Siege nahe schien, zu klären; und aus diesem Grunde stellen die Haupttexte des Ersten Kongresses in vielen Belangen den Gipfel an Klarheit in der Komintern dar.
Das Manifest der Komintern an „das Proletariat der gesamten Welt" befasst sich sehr ausführlich mit der historischen Perspektive der nationalen Frage und beginnt mit der Erkenntnis: „der nationale Staat, der der kapitalistischen Entwicklung einen Impuls gegeben hat, ist für die Fortentwicklung der Produktivkräfte zu eng geworden". Ausgehend von dieser Perspektive, behandelt es zwei spezifische Fragen:
- die kleinen, unterdrückten Nationen Europas, die lediglich eine illusorische Unabhängigkeit besaßen und vor dem Krieg von den ununterbrochenen Antagonismen zwischen den imperialistischen Mächten abhingen. Diese Nationen hatten ihre eigenen imperialistischen Absichten und hingen nun von den Garantien verbündeter Imperialismen ab, die sie unter der Parole der „Selbstbestimmung" unterdrückten und nötigten: „Den kleinen Völkern eine freie Existenzmöglichkeit zu sichern vermag nur die proletarische Revolution, welche die produktiven Kräfte aller Länder aus der Enge der Nationalstaaten befreit…"(ebenda).
- die Kolonien, die ebenfalls in den Krieg hineingezogen wurden, um für den Imperialismus zu kämpfen. Dies offenbarte deutlich ihre Rolle als Lieferant von Kanonenfutter für die Hauptmächte und führte zu einer Reihe von offenen Aufständen und zur revolutionären Gärung in Indien, Madagaskar, Indochina etc. Erneut betonte das Manifest: „Die Befreiung der Kolonien ist nur zusammen mit der Befreiung der Metropolen möglich. Die Arbeiter und Bauern nicht nur von Annam, Algier, Bengalien, sondern auch von Persien und Armenien erhalten die Möglichkeit einer selbständigen Existenz erst dann, wenn die Arbeiter Englands und Frankreichs Llyod George und Clemenceau gestürzt und die Staatsmacht in ihre Hände genommen haben (…) Kolonialsklaven Afrikas und Asiens! Die Stunde der proletarischen Diktatur in Europa wird auch die Stunde Euerer Befreiung sein!
Die Botschaft der Komintern war klar. Die Befreiung der Massen in der gesamten Welt war nur möglich durch den Sieg der proletarischen Revolution, deren Schlüssel in den kapitalistischen Herzländern Westeuropas lag, mit den Kämpfen der stärksten und erfahrensten Arbeiterkonzentrationen. Der Ausweg für die Massen in den unterentwickelten Ländern lag in der Vereinigung "Unter dem Banner der Arbeiterräte, des revolutionären Kampfes für die Macht und die Diktatur des Proletariats, unter dem Banner der Dritten Internationale, Proletarier aller Länder vereinigt Euch!"
Diese kurzen Stellungnahmen, die alle auf der Anerkennung der Dekadenz des Kapitalismus beruhten, strahlen auch heute noch als Leuchttürme der Klarheit. Allerdings stellen sie keineswegs eine kohärente Strategie dar, der das Proletariat und seine Partei in einer revolutionären Periode folgen konnten; es war immer noch notwendig, die eigentliche Frage des Klassencharakters der nationalen Befreiungskämpfe zu klären wie auch das Verhalten der Arbeiterklasse gegenüber den unterdrückten Massen und nicht ausbeutenden Schichten in den unterentwickelten Ländern zu definieren, die für die Seite des Proletariats in seinen Kämpfen gegen die Weltbourgeoisie gewonnen werden müssen.
Diese Fragen wurden vom Zweiten Kongress der Komintern 1920 aufgegriffen. Doch auch wenn dieser Kongress, mit seiner weitaus größeren Beteiligung und tieferen Debatte, viele Fortschritte auf der Ebene der Konkretisierung der Lehren der Russischen Revolution und der Notwendigkeit einer zentralisierten, disziplinierten Organisation von Revolutionären erzielte, machten sich auf ihm auch die ersten wichtigen Anzeichen eines Rückschritts gegenüber der auf dem Ersten Kongress erreichten Klarheit bemerkbar – die Anfänge der opportunistischen und zentristischen Tendenzen innerhalb der jungen Kommunistischen Internationalen. Jeder Versuch, eine Bilanz der Arbeit des Zweiten Kongresses zu ziehen, muss daher bei diesen Schwächen beginnen, die sich als fatal erweisen sollten, als die revolutionäre Welle verebbte.
Der Opportunismus war in der Lage, unter den Bedingungen der Isolation und Erschöpfung in der russischen Bastion Fuß zu fassen. Bereits zurzeit des Ersten Kongresses hatte die Revolution in Deutschland mit der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg sowie von 20.000 Arbeitern einen ernsten Rückschlag erlitten, doch überall in Europa loderten revolutionäre Kämpfe, die immer noch drohten, die Bourgeoisie ins Wanken zu bringen. Zu jener Zeit, als die Delegierten sich für den Zweiten Kongress versammelten, hatte sich das Gleichgewicht jedoch bereits zugunsten der Bourgeoisie zu neigen begonnen, und die Bolschewiki in Russland waren gezwungen, mehr in Begriffen einer lang anhaltenden Zermürbung als in denen einer raschen Niederlage des Weltkapitalismus zu denken. Während also auf dem Ersten Kongress die Betonung auf der Unmittelbarkeit der Revolution in Westeuropa und auf der spontanen Energie der Arbeiterklasse gelegen hatte, unterstrich der Zweite Kongress:
- das Problem der Organisierung der Rätebewegung auf der gesamten Welt;
- die Notwendigkeit, der Bastion in Russland Schutz zu verschaffen.
Niedergedrückt von den rauen Bedingungen der Hungersnot und des Bürgerkriegs, begannen die Bolschewiki, die ursprüngliche Klarheit der Kommunistischen Internationalen zugunsten zweckdienlicher Bündnisse mit dubiosen, ja ausgesprochen bürgerlichen Elementen aus den Trümmern der bankrotten Zweiten Internationalen aufs Spiel zu setzen, um „Massenparteien" in Europa zu bilden, die der Bastion maximale Hilfe gewährleisten sollten. Die Suche nach möglicher Unterstützung unter den nationalen Befreiungskämpfen in den unterentwickelten Ländern muss im selben Licht betrachtet werden.
Vorwand für diesen opportunistischen Kurs war der Krieg gegen den linken Flügel in der Internationalen, von Lenin in seinem berühmten Pamphlet „Der Linksradikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" verkündet. Sicherlich, in seiner Eröffnungsrede an den Zweiten Kongress betonte Lenin immer noch: „der Opportunismus ist unser Hauptfeind (…) Im Vergleich damit wird die Korrektur der Fehler der ‚linken’ Strömung im Kommunismus eine leichte Aufgabe sein" (Lenin, Werke, Bd 31, S. 220). Jedoch konnte in einer Periode des Rückflusses des Klassenkampfes die Wirkung dieser Taktik die Tür nur noch weiter dem Opportunismus öffnen, während gleichzeitig ihr unnachgiebigster Opponent, der linke Flügel, geschwächt wurde. Wie Pannekoek später an den Anarchisten Mühsam schrieb: „Wir kritisieren den Kongress nicht dafür, dass er zu unnachgiebig, sondern viel zu nachgiebig war. Wir werfen den Führern der Dritten Internationalen nicht vor, uns ausgeschlossen zu haben; wir kritisieren an ihnen, dass sie versucht haben, so viele Opportunisten wie möglich aufzunehmen. Bei unserer Kritik geht es uns nicht um uns selbst, wir kritisieren auch nicht die zweitrangige Tatsache, dass wir aus der Gemeinschaft der Kommunisten ausgeschlossen wurden, sondern vielmehr dass die Dritte Internationale in Westeuropa eine falsche und für das Proletariat desaströse Taktik verfolgt." (Die Aktion, 19. März 1921).
Dies sollte sich auch im Falle der Position der Komintern zu nationalen Befreiungskämpfen als richtig erweisen.
Der Zweite Kongress: „Der Opportunismus ist unser Hauptfeind"
Die Thesen über die nationale und koloniale Frage, die auf dem Zweiten Kongress angenommen wurden, enthüllen vor allem einen untauglichen Versuch, eine prinzipiell internationalistische Position und eine Denunzierung der Bourgeoisie mit der direkten Unterstützung dessen zu vereinbaren, was als „national-revolutionäre" Bewegungen in den rückständigen Ländern und in den Kolonien bezeichnet wurde:
„Die Kommunistische Partei als bewusster Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes zur Abschüttlung des Jochs der Bourgeoisie soll entsprechend ihrer Hauptaufgabe – Kampf gegen die bürgerliche Demokratie und Entlarvung ihrer Lüge und Heuchelei – auch in der Nationalitätenfrage nicht abstrakte und formelle Prinzipien in den Vordergrund rücken, sondern erstens die genaue Wertung des geschichtlich gegebenen und vor allem wirtschaftlichen Milieus; zweitens die ausdrückliche Ausscheidung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der so genannten Volksinteressen, die die Interessen der herrschenden Klasse bedeuten; drittens eine ebenso genaue Trennung der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Nationen als Gegengewicht zu der bürgerlich-demokratischen Lüge, welche die der Epoche des Finanzkapitals und Imperialismus eigene koloniale und finanzielle Knechtung der ungeheuren Mehrheit der gesamten Bevölkerung der Welt durch eine geringe Minderheit der reichsten, fortgeschrittensten kapitalistischen Länder vertuscht" (Zweite These, Der 1.und 2. Kongress der Kommunistischen Internationale, S. 170)..
Diese These definierte als vorrangige Aufgabe der Kommunistischen Partei den Kampf gegen die bürgerliche Demokratie, ein Punkt, der in vielen anderen Texten der Komintern wiederholt wurde. Dies war unerlässlich für eine marxistische Herangehensweise. Die zweite Betonung lag auf der Ablehnung der „nationalen Interessen", die allein der Bourgeoisie überlassen blieben. Wie das Kommunistische Manifest bereits 70 Jahre zuvor mit großer Klarheit verkündet hatte, haben die Arbeiter kein Vaterland zu verteidigen. Der fundamentalste Antagonismus in der kapitalistischen Gesellschaft ist der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der allein eine revolutionäre Dynamik zur Zerstörung des Kapitalismus und zur Schaffung des Kommunismus in Aussicht stellt. Jeder Versuch, diesen Gegensatz zwischen den historischen Interessen zu verschleiern, vertritt bewusst oder unbewusst die Interessen der herrschenden Klasse.
In diesem Sinne müssen wir die dritte Hervorhebung in der Zweiten These verstehen, die viel vager bleibt und bei einer simplen Beschreibung der Lage des Imperialismus verharrt, in der die Mehrheit der unterentwickelten Länder gnadenlos von einer Minderheit von höher entwickelten kapitalistischen Ländern ausgeplündert wurde. Auch in den „unterdrückten Ländern" gab es keine „nationalen Interessen" für das Proletariat zu verteidigen. Der Kampf gegen den Patriotismus war ein Grundprinzip der Arbeiterbewegung, das nicht gebrochen werden durfte. Ferner betonte die These die vorrangige Bedeutung des Klassenkampfes: „Aus den dargelegten Grundsätzen folgt, dass der gesamten Politik der Kommunistischen Internationalen der Nationalitäten- und Kolonialfrage hauptsächlich der Zusammenschluss der Proletarier und werktätigen Massen aller Nationen und Länder zum gemeinsamen revolutionären Kampf für den Sturz der Grundbesitzer und der Bourgeoisie zugrunde gelegt werden muss" (Vierte These, ebenda, S. 171).
Es gab jedoch eine Zweideutigkeit in dieser Hervorhebung der Trennung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen, eine Zweideutigkeit, die in wachsendem Maße dazu missbraucht wurde, um eine Politik zu rechtfertigen, die darauf hinauslief, dass das Proletariat nationalen Befreiungskämpfen direkte Unterstützung gewährte, mit dem Ziel der „Schwächung" des Imperialismus. So wurde, während es als notwendig für die Kommunistischen Parteien erachtet wurde,
…"beständig darüber aufzuklären, dass nur die Sowjetordnung imstande ist, den Nationen eine wirkliche Gleichberechtigung dadurch zu sichern, dass sie erst die Proletarier und darauf die ganze Masse der Werktätigen im Kampf gegen die Bourgeoisie vereinigt" (Neunte These, ebenda, S. 173) und im gleichen Atemzug festgestellt, dass es notwendig sei, „die revolutionären Bewegungen unter den abhängigen und nicht gleichberechtigten Nationen (z.B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.) und in den Kolonien durch die kommunistische Partei des betreffenden Landes direkt zu unterstützen" (Neunte These, ebenda, S. 173).
Es gibt eine weitere Zweideutigkeit: Was ist der exakte Klassencharakter dieser „revolutionären Bewegung"? Es gibt keinen Bezug zum politischen Milieu des embryonalen Proletariats in den rückständigen Ländern. Die gleiche Ungenauigkeit in der Terminologie durchzieht die gesamten Thesen, die manchmal von „revolutionären Befreiungsbewegungen", manchmal von „nationalen Befreiungsbewegungen" sprechen. Hinzu kommt, dass die tatsächliche Form, die diese Unterstützung annehmen sollte, den einzelnen Kommunistischen Parteien, wo sie denn existierten, überlassen wurde.
Zumindest in der elften These werden die potenziellen Gefahren solcherlei Unterstützung erkannt, warnt sie doch:
„Notwendig ist ein entschlossener Kampf gegen den Versuch, der nicht wirklich kommunistischen revolutionären Freiheitsbewegung in den zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen umzuhängen. Die Kommunistische Internationale hat die Pflicht, die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und in den rückständigen Ländern nur zu dem Zweck zu unterstützen, um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien (…) in allen rückständigen Ländern zu sammeln und sie zum Bewusstsein ihrer besonderen Aufgaben zu erziehen, und zwar zu den Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratische Richtung in der eigenen Nation. Die Kommunistische Internationale soll ein zeitweiliges Zusammengehen, ja selbst ein Bündnis mit der revolutionären Bewegung der Kolonien und der rückständigen Länder herstellen, darf sich aber nicht mit ihr zusammenschließen, sondern muss unbedingt den selbständigen Charakter der proletarischen Bewegung – sei es auch in ihrer Keimform – aufrechterhalten" (11. These, Punkt e), ebenda S. 175).
Die Frage, um die es hier geht, war, ob nationale Befreiungskämpfe in den Kolonien immer noch einen fortschrittlichen Charakter besaßen. Es war noch nicht eindeutig klar, dass die Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolutionen in Afrika, Asien und in Fernost endgültig vorbei war. Selbst jene Kommunisten in Westeuropa, die sich während des Krieges der Parole der „Selbstbestimmung" widersetzt hatten, machte im Falle der Kolonien eine Ausnahme. Es hatte sich noch nicht die Erfahrung des Proletariats durchgesetzt, dass selbst in den entferntesten Winkeln des Globus der kapitalistische Aufstieg beendet war und dass auch die Bourgeoisien in den Kolonien nur überleben konnten, wenn sie sich gegen ihr „eigenes" Proletariat wandten.
Doch das schlimmste Versagen des Zweiten Kongresses bestand darin, diese Frage nicht in offener Debatte auszufechten, besonders wenn man bedenkt, dass die Stoßrichtung vieler Beiträge von Kommunisten aus den unterentwickelten Ländern in Richtung einer Ablehnung jeglicher Unterstützung der Bourgeoisie, selbst in den Kolonien, ging.
Innerhalb der Kommission über die nationale und koloniale Frage gab es eine Debatte über die „Zusatzthesen", die vom indischen Kommunisten M.N. Roy vorgestellt wurden, der, obwohl er viele Ansichten Lenins und der Mehrheit der Komintern teilte, einen wachsenden Widerspruch zwischen bürgerlich-nationalistischen Bewegungen, die politische Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Erhaltung der kapitalistischen Ordnung anstrebten, und den Interessen der armen Bauernschaft konstatierte. Roy sah die wichtigste Aufgabe der Kommunistischen Internationalen in der Bildung von "Schaffung kommunistischer Organisationen der Bauern und Arbeiter, um diese zur Revolution und zur Errichtung der Sowjetrepublik zu führen. Auf diese Weise werden die Volksmassen in den rückständigen Ländern nicht durch die kapitalistische Entwicklung, sondern durch die Entwicklung des Klassenbewusstseins, unter der Führung des bewussten Proletariats, dem Kommunismus angeschlossen werden." Dies würde einen Kampf gegen die Vorherrschaft der bürgerlich-nationalistischen Bewegungen beinhalten.
Um seine Thesen zu untermauern, wies Roy auf die rapide Industrialisierung von Kolonien wie Indien, Ägypten, das niederländische Ostindien und China hin, mit der ein Wachstum des Proletariats einherging. In Indien hat es enorme Streikwellen und die Entwicklung einer unabhängigen Bewegung unter den ausgebeuteten Massen außerhalb der Kontrolle der Nationalisten gegeben.
Die Debatte in der Kommission ging darüber, ob es für die Kommunistische Internationale im Prinzip richtig war, bürgerlich-nationalistische Bewegungen in den rückständigen Ländern zu unterstützen. Es gab ein zögerliches Verständnis darüber, dass die imperialistische Bourgeoisie aktiv solche Bewegungen für ihre eigenen Zwecke ermutigte, wie Lenin in seiner Einleitungsrede an den Kongress feststellte: „Es ist eine gewisse Verständigung zwischen der Bourgeoisie der ausbeutenden und der kolonialen Länder eingetreten, so dass sehr oft, vielleicht sogar in den meisten Fällen, die Bourgeoisie der unterdrückten Länder, trotzdem sie auch nationale Bewegungen unterstützt, dennoch in gewissem Einvernehmen mit der imperialistischen Bourgeoisie, d.h. zusammen mit ihr, gegen alle revolutionären Bewegungen und revolutionären Klassen kämpft". (Protokoll 2.Kongress, S. 139).
Doch die „Lösung" dieser Divergenzen in der Kommission, die auch von Roy bejaht wurde, erschöpfte sich darin, das Wort „bürgerlich-nationalistisch" durch den Begriff „national-revolutionär" zu ersetzen: „Der Sinn ist, dass wir als Kommunisten die bürgerlichen Freiheitsbewegungen in den kolonialen Ländern nur dann unterstützen werden, wenn ihre Vertreter nicht dagegen sind, dass wir die Bauernschaft und die großen Massen der Ausgebeuteten im revolutionären Sinne erziehen und organisieren. Wenn das nicht geht, sind die Kommunisten auch dort verpflichtet, gegen die reformistische Bourgeoisie (…) zu kämpfen." (ebenda, S. 140).
In Anbetracht der zahllosen Ungereimtheiten der Komintern bei der Gewährung von Unterstützung für nationalistische Bewegungen war auch dies ein klarer Fall von Zentrismus, des Zurechtstutzens von Streitfragen. Die Änderung der Terminologie hat in der Wirklichkeit keinen Bestand und verdunkelt nur den Blick auf die historische Alternative, die sich durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz ergibt: entweder der internationale Klassenkampf gegen die nationalen Interessen der Bourgeoisie oder die Unterordnung des Klassenkampfes unter die Bourgeoisie und ihre konterrevolutionären nationalistischen Bewegungen. Das Einverständnis mit einer möglichen Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe in den unterentwickelten Ländern durch die zentristische Mehrheit der Komintern ebnete den Weg für noch offensichtlichere Formen des Opportunismus.
Der Kongress von Baku und die Folgen des Opportunismus
Diese opportunistische Tendenz erhärtete sich nach dem Zweiten Kongress. Unmittelbar darauf wurde ein Kongress der Völker des Ostens in Baku abgehalten, auf dem die Führer der Kommunistischen Internationalen erneut ihre Unterstützung von bürgerlich-nationalistischen Bewegungen bekräftigten und sogar dazu übergingen, zum „heiligen Krieg" gegen den britischen Imperialismus aufzurufen.
Die Politik, die von der Weltpartei des Proletariats verfolgt wurde, wurde mehr und mehr von den möglichen Bedürfnissen für die Verteidigung der Sowjetrepublik diktiert, und nicht von den Interessen der Weltrevolution. Der zweite Kongress hatte dies zur Hauptachse der Komintern gemacht. Der Kongress von Baku folgte dieser Achse, indem er sich besonders an die nationalen Minderheiten in jenen Ländern wandte, die an der belagerten Sowjetrepublik angrenzten und wo der britische Imperialismus seinen Einfluss zu stärken und so neue Sprungbretter für bewaffnete Interventionen gegen die russische Bastion zu schaffen drohte.
Die schönen Reden auf dem Kongress und die Solidaritätserklärungen des europäischen Proletariats mit den Bauern des Ostens, mit vielen korrekten Stellungnahmen zur Notwendigkeit von Sowjets und der Revolution, reichten nicht aus, um den opportunistischen Kurs zur wahllosen Unterstützung von nationalistischen Bewegungen zu verbergen: „Radek, Kongress der Völker des Osten) Wir appellieren, Genossen, an die kriegerischen Gefühle, die einst die Völker des Ostens inspirierten, als diese – angeführt von ihren großen Eroberern – in Europa einmarschierten. Wir wissen, Genossen, dass unsere Feinde sagen werden, wir gedenken an den großen Kalifen des Islams. Aber wir sind überzeugt davon, dass ihr gestern eure Dolche und Revolver gezogen habt, um Eroberungsziele zu verfolgen, nicht um Europa in einen Friedhof zu verwandeln, sondern ihr habt euch bewaffnet, um zusammen mit den Arbeitern der ganzen Welt eine neue Zivilisation zu schaffen, die der freien Arbeiter" (
Das Manifest, das vom Kongress verabschiedet wurde, schloss mit der Aufforderung an die Völker des Ostens, sich am „ersten wirklich heiligen Krieg unter der Fahne der Kommunistischen Internationale" zu beteiligen – noch spezifischer: an einem Dschihad gegen „den gemeinsamen Feind, den britischen Imperialismus".
Selbst zu jener Zeit gab es eine Reaktion gegen diesen eklatanten Versuch, den reaktionären Nationalismus mit dem proletarischen Internationalismus zu versöhnen. Lenin selbst warnte davor, den Nationalismus zu verharmlosen. Noch deutlicher und bereits vor seinem Beginn kritisierte Roy den Kongress; er verweigerte seine Teilnahme an dem, was er „Sinowjews Zirkus" nannte. Auch John Reed, ein amerikanischer Linkskommunist, erhob scharf Einspruch gegen die „Demagogie und Zurschaustellungen" des Kongresses.
Doch diese Antworten nannten die Wurzeln des folgenden opportunistischen Kurses nicht beim Namen, blieben auf dem zentristischen Terrain der Versöhnung mit noch offeneren Ausdrücken des Opportunismus und versteckten sich hinter den Thesen des Zweiten Kongresses, die – gelinde gesagt – eine Vielfalt von Sünden der revolutionären Bewegung verbargen.
Bereits 1920 steuerte dieser opportunistische Kurs auf die direkte Unterstützung der bürgerlich-nationalistischen Bewegung von Kemal Pascha zu, obwohl Kemal zu jener Zeit der religiösen Macht des Sultans Unterstützung gewährte. Dies entsprach keineswegs der Politik der Kommunistischen Internationalen, wie Sinowjew bemerkte, doch „aber gleichzeitig sagen wir, dass wir bereit sind, jeden revolutionären Kampf gegen die Britische Regierung zu unterstützen" Ein Jahr später hat der Führer dieses „revolutionären Kampfes" die Führer der türkischen Kommunistischen Partei exekutieren lassen. Nichtsdestotrotz erblickten die Bolschewiki und die Komintern in dieser nationalistischen Bewegung bis zu Kemals Allianz mit der Entente 1923 weiterhin ein „revolutionäres Potenzial" und zogen es vor, die Massakrierung der Arbeiter und Kommunisten zugunsten der Suche nach Alliierten in einem strategisch wichtigen Land an Russlands Grenzen zu ignorieren.
Die Politik der Komintern in Persien und Fernost bewirkte ähnlich katastrophale Resultate und bewies, dass Kemal kein Unfall war, sondern ein Ausdruck der neuen Epoche der kapitalistischen Dekadenz, in der der Nationalismus und die proletarische Revolution vollkommen unvereinbar waren.
Das Ergebnis dieses Opportunismus war fatal für die Arbeiterbewegung. Angesichts einer Weltrevolution, die immer tiefer in die Niederlage versank, und einem Proletariat in Russland, das von Hunger und Bürgerkrieg ausgepowert und dezimiert war, wurde die Kommunistische Internationale mehr und mehr zu einem Instrument der Außenpolitik der Bolschewiki, die sich selbst in der Rolle der Manager des russischen Kapitals wiederfanden. Einst ein ernster Fehler innerhalb der Arbeiterbewegung, wurde in den späten 1920er Jahren die Politik der Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe in die imperialistische Strategie einer kapitalistischen Macht umgewandelt. Ein entscheidender Moment in dieser Rückbildung war die Unterstützung der bösartigen, gegen die Arbeiterklasse gerichteten Nationalisten der Kuomintang, die 1927 zum Verrat und zur Massakrierung des Schanghaier Arbeiteraufstandes führte. Solch offenkundige Akte des Verrats demonstrierten, dass die stalinistische Fraktion, die bis dahin nahezu die völlige Vorherrschaft über die KI und ihre Parteien errungen hatte, nicht mehr eine opportunistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung war, sondern ein direkter Ausdruck der kapitalistischen Konterrevolution.
Dennoch ist es eine Tatsache, dass die Wurzeln dieser Politik in den Irrtümern und Schwächen innerhalb der Arbeiterbewegung lagen. Und es ist die Pflicht der Kommunisten, diese Wurzeln heute zu erforschen, um sich besser gegen den Prozess der Degenerierung zu wappnen:
Der Zweite Kongress warf ein Licht auf die Gefahren für die Arbeiterbewegung, die ihr in Gestalt des Opportunismus und Zentrismus aus den eigenen Reihen drohen. Und auch wenn der Opportunismus erst unter den Bedingungen eines tief greifenden Rückzugs des internationalen Klassenkampfes und der Isolation der russischen Arbeiter endgültig zu triumphieren in der Lage war, so konnte er an erster Stelle in all den herrschenden Schwankungen der revolutionären Bewegung und in ihrem Zaudern Fuß fassen, indem er all die „gut gemeinten" Bemühungen ausnutzte, mit schönen Worten die Wogen zu glätten, statt sich ehrlich mit den ernsthaften Divergenzen zu befassen.
Dies sind die typischen Charakteristiken des Zentrismus, die am Beispiel des holländischen Kommunisten Sneevliet („Maring") deutlich werden, der augenscheinlich für die „Lösung" der Divergenzen zwischen den Thesen von Lenin und Roy verantwortlich war, indem er als Sekretär der Kommission über die nationale und koloniale Frage vorschlug, dass der Kongress beide Thesensammlungen annimmt. Tatsächlich stimmte Sneevliet mit Lenin darin überein, dass es notwendig war, vorübergehende Bündnisse mit bürgerlich-nationalistischen Bewegungen zu schließen. In Wirklichkeit war dies die Sichtweise (und nicht Roys Ablehnung solcher Bündnisse), die die Politik der Komintern dominieren sollte.
Sneevliet wurde ins Exekutivkomitee der Komintern berufen und als ihr Fernost-Repräsentant nach China gesandt. Er gelangte zu der Überzeugung, dass die nationalistische Kuomintang in China ein „revolutionäres Potenzial" habe, und schrieb im offiziellen Organ der Komintern: "Falls wir Kommunisten, die aktiv Verbindungen zu den Arbeitern Nordchinas aufbauen, erfolgreich sein wollen, müssen wir uns um freundliche Beziehungen zu den Nationalisten bemühen. Die Thesen des 2. Kongresses der Komintern können in China nur angewandt werden, indem man den nationalistischen Elementen des Südens (d.h. die Kuomintang – KMT) eine aktive Unterstützung anbietet. Wir müssen dafür sorgen, dass die revolutionären nationalistischen Elemente an unserer Seite bleiben und die ganze Bewegung nach links drängen" (Kommunistische Internationale, 13. September 1922).
Fünf Jahre später enthaupteten dieselben „revolutionären Elemente" in einem Blutbad Kommunisten und Arbeiter in den Straßen von Shanghai.
Es ist wichtig zu betonen, dass Sneevliet nur ein einzelnes Beispiel für die Gefahr des Zentrismus und Opportunismus im Angesicht der revolutionären Bewegung war. Seine Ansicht wurde von der Mehrheit der Komintern geteilt.
Sie wurden mehr oder weniger auch von den Linkskommunisten geteilt, denen es nicht gelang, klar ihre Positionen darzustellen. Jene Kommunisten wie Bucharin oder Radek, die sich der Parole der Selbstbestimmung widersetzt hatten, akzeptierten nun die mehrheitliche Ansicht, und auch die Italienische Linke um Bordiga und die Abstentionistische Fraktion, die gegen die opportunistische Taktik des „revolutionären Parlamentarismus" waren, unterstützten vorbehaltlos Lenins Thesen. Die deutsche Linke, die ihre Position auf dem Werk von Rosa Luxemburg basierte, war von allen linken Fraktionen in der günstigsten Position, um am entschlossensten und grundsätzlichsten Stellung gegen die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe in der Komintern zu beziehen, doch die Delegierten der KAPD, einer von ihnen war Otto Rühle, beteiligten sich zum Teil aufgrund ihrer rätekommunistischen Vorurteile nicht einmal an den Debatten.
Die theoretischen Errungenschaften, die von den westeuropäischen Linken in den Debatten innerhalb der Zimmerwalder Linken während des Krieges erzielt worden waren, wurden auf dem Zweiten Kongress nicht konkretisiert. Erst mit der Niederlage der revolutionären Welle in den späten 1920ern waren ein paar überlebende Linksfraktionen, besonders die Italienische Linke um die Zeitung Bilan, im Stande, den Schluss zu ziehen, dass das Proletariat den nationalistischen Bewegungen selbst in den Kolonien keinerlei Unterstützung gewähren dürfe. Nach Bilan bewiesen die Massaker in China 1927: „Die Thesen von Lenin auf dem Zweiten Kongress müssen durch eine radikale Änderung ihres Inhalts vervollständigt werden (…) das einheimische Proletariat kann nur (…) zum Träger eines anti-imperialistischen Kampfes werden, wenn es sich mit dem internationalen Proletariat verbindet…" (Bilan, Nr. 16, Februar 1935) Es war die Italienische Linke und später die mexikanische sowie französische Linke, die schließlich in der Lage waren, eine höhere Synthese des Werkes von Rosa Luxemburg über den Imperialismus und der Erfahrungen aus der revolutionären Welle von 1917-23 anzufertigen.
„Der Stalinismus fiel nicht vom Himmel, auch kam er nicht von irgendwo her. Und während man nicht das Kind mit dem Badewasser ausschütten darf, darf man nicht die Kommunistische Internationale dafür schuldig halten, dass sich der Stalinismus in ihren Reihen entwickelte und schließlich triumphierte. Aber es ist nicht wenig absurd zu behaupten, dass das schmutzige Badewasser immer ganz sauber war und die Geschichte der Komintern in zwei deutlich voneinander abgrenzbare Zeiträume aufgeteilt werden könnte – den ersten Zeitraum, der als ‚sauber’, revolutionär, makellos, ohne Schwächen gelten könnte, bis er plötzlich von dem Ausbruch der Konterrevolution unterbrochen wurde. Diese Bilder eines glücklichen Paradieses und einer schrecklichen Hölle haben nichts mit der wirklichen Entwicklung, mit der Geschichte der kommunistischen Bewegung gemein, wo Kontinuität auch mit tief greifenden Spaltungen verbunden ist und wo zukünftige Brüche ihre Saat in der kontinuierlichen Bewegung haben" (Einleitung der IKS zu den Texten der Mexikanischen Linken 1938 – in International Review Nr. 20).
Lehren für heute
Die Fehler der Komintern sind natürlich keine Entschuldigung für die gleichen Irrtümer durch heutige Revolutionäre. Die Stalinisten wechselten bereits vor langer Zeit auf die Seite der Konterrevolution und nahmen dabei die Kommunistische Internationale mit. Für die Trotzkisten wurde aus der „Möglichkeit" einer Unterstützung der nationalen Kämpfe eine bedingungslose Unterstützung, und so endeten sie in der Beteiligung am Zweiten imperialistischen Weltkrieg.
Innerhalb des proletarischen Lagers ersannen die Bordigisten der degenerierten Italienischen Linken eine Theorie der geographischen Zonen, nach der für die weitaus größte Mehrheit der Weltbevölkerung in den unterentwickelten Ländern die „anti-imperialistische bürgerlich-demokratische Revolution" noch immer auf der Tagesordnung stand. Indem sie sich an Punkt und Komma der Thesen des Zweiten Kongresses hielten, übernahmen die Bordigisten den Zentrismus und Opportunismus der Komintern mit allem Drum und Dran. Die Gefahren beim Versuch, diese unpraktizierbare Politik in der Dekadenz des Kapitalismus anzuwenden, wurden letztendlich durch die Auflösung der Internationalen Kommunistischen Partei (Kommunistisches Programm) 1981 infolge der tiefen Zersetzung durch den Opportunismus gegenüber etlichen nationalistischen Bewegungen demonstriert.
Was uns schließlich zu den „verlegenen" Bordigisten der Internationalistischen Kommunistischen Partei (Battaglia Comunista, mittlerweile teilweise vereinigt mit der Communist Workers Organisation) bringt. Battaglia vertritt – als eine Gruppe aus dem politischen Milieu des Proletariats - eine Position gegen nationale Befreiungskämpfe in der Dekadenz. Jedoch zeigt diese Gruppe gewisse Schwierigkeiten, endgültig mit dem Opportunismus und Zentrismus der frühen Komintern in dieser und anderer wichtiger Fragen zu brechen. Zum Beispiel versäumte es BC, in ihrem Vorbereitungstext für die Zweite Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken die Position des Zweiten Kongresses oder die Praxis der frühen Komintern zu kritisieren; stattdessen gab BC der Unterstützung der Polemik gegen Rosa Luxemburg den Vorzug! BC’s Ansicht über eine künftige Partei, die die „Bewegungen der nationalen Befreiung in proletarische Revolutionen umwandelt", führt die Gefahr des Opportunismus durch die Hintertür wieder hinein und hat BC, zusammen mit der CWO, bereits zu einem Flirt mit der iranischen nationalistischen Gruppe UCM (mittlerweile die „Kommunistische Partei Irans" – eine maoistische Gruppierung) verleitet. Diese Beziehungen wurden mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, jenen „neuen Militanten bei der Orientierung zu helfen", die aus einem Land kommen, „das keine kommunistische Geschichte oder Tradition besitzt, ein rückständiges Land…" (aus einem Dokument, das von Battaglia auf einer öffentlichen Veranstaltung der IKS in Neapel im Juli 1983 präsentiert wurde).
Dieses gönnerhafte Verhalten ist nicht nur eine Ausrede für die schlimmste Art des Opportunismus, es ist auch eine Beleidigung der kommunistischen Bewegung in den unterentwickelten Ländern, einer Bewegung, die trotz der kriecherischen Ausreden Battaglias eine reichhaltige und stolze Geschichte der prinzipiellen Opposition gegen die bürgerlich-nationalistischen Kämpfe besitzt. Es ist eine Beleidigung der Militanten der persischen Kommunistischen Partei, die auf dem Zweiten Kongress warnten: „Wollte man in Ländern, die bereits eine Erfahrung von 10 oder mehr Jahren hinter sich haben, oder in solchen, in denen die Bewegung bereits die Macht in Händen gehabt hat, wie in Persien, entsprechend den Leitsätzen verfahren, so hieße das, die Massen der Gegenrevolution in die Arme zu treiben. Es handelt sich darum, im Gegensatz zu den demokratisch-bürgerlichen Bewegungen eine rein kommunistische zu schaffen und aufrecht zu erhalten"(Sultan Sade, Protokoll des 2. Weltkongresses, s. 169). Es ist eine Beleidigung der Position des indischen Kommunisten Roy (der eigentlich ein Delegierter der mexikanischen KP war). Es ist eine Beleidigung jener Militanter in der jungen chinesischen Kommunistischen Partei wie Tschang Kuo-Tao, der sich der offiziellen Politik der Komintern des Entrismus in die nationalistische KMT widersetzte.
Gorter sprach einst von einem kommunistischen Programm, das „so hart wie Stahl, so klar wie Glas" sei. Mit den unendlich dehnbaren, unverständlichen Äußerungen von Battaglia Comunista sind wir zurück auf demselben Terrain wie der zweite Kongress 50 Jahre zuvor: auf dem Terrain des Opportunismus und Zentrismus unter Hinzufügung einer Prise gönnerhaften Chauvinismus. Es ist ein Terrain, dem sich die Revolutionäre in einem permanenten Kampf widersetzen müssen. Dies ist die nachhaltigste Lehre der vergangenen Debatten unter den Kommunisten über die nationale Frage.
S. Ray