Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen (Teil 2)

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Die politischen Konsequenzen der Dekadenz
des Kapitalismus

Gewerkschaftskampf, Parlamentarismus, Massenparteien, der Kampf um soziale Reformen, die Unterstützung der Kämpfe um die Bildung neuer Nationalstaaten - all dies sind keine wirksamen Kampfformen der Arbeiterklasse mehr. Die Realität der offenen Krise, von welcher der Kapitalismus erschüttert wird, die Erfahrung der sozialen Kämpfe, die von ihr erzeugt werden, lassen dies Hunderten von Millionen Proletariern auf der ganzen Welt immer deutlicher werden.
Aber wie konnten diese Kampfformen, die im vorigen Jahrhundert für die Arbeiterbewegung so wichtig gewesen waren, in das umgewandelt werden, was sie heute sind?
Es reicht nicht aus, "dagegen" zu sein. Um dauerhaft im Klassenkampf zu intervenieren, um in der Lage zu sein, die Desorientierung durch die bürgerliche Ideologie zu bekämpfen, muß man auch wissen, warum man gegen etwas ist.
Heute versuchen, entweder aus Ignoranz oder um sich das Leben leichter zu machen, einige Gruppen, die zur Schlußfolgerung gelangt sind, daß Gewerkschaftskampf, Parlamentarismus, etc. bürgerlich sind, auf dieses Problem zu antworten, indem sie Zuflucht suchen in anarchistischen oder utopischen Konzepten, die in einer marxistischen Sprache formuliert sind, um sie seriöser zu machen. Eine dieser Gruppen ist die Groupe Communiste Internationaliste (GCI).(1)
Aus der Sicht der GCI hat der Kapitalismus sich seit seinen Anfängen nicht verändert, die Kampfformen des Proletariats ebenso wenig. Warum also sollte das von revolutionären Organisationen formulierte Programm geändert werden? Dies ist die Theorie der "Invarianz" (Unveränderlichkeit).
Für diese Vorsänger der "ewigen Revolte" war der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf, der Kampf um Reformen seit jeher das, was er heute ist - Methoden, um das Proletariat in den Kapitalismus zu integrieren. Die Analyse der Existenz zweier Phasen in der Geschichte des Kapitalismus, denen unterschiedliche Kampfformen entsprechen, sei nichts anderes als eine Erfindung aus den 1930er Jahren, deren Zweck es gewesen sei, das "historische Programm zu verraten", ein Programm, das in einer quasi ewigen Wahrheit zusammengefaßt werden könne: "gewaltsame und weltweite Revolution".
Sie formulieren dies folgendermaßen:
"Diese Theoretisierung über die Eröffnung einer neuen kapitalistischen Phase, die Niedergangsphase, macht es so im Nachhinein möglich, eine formale Kohärenz aufrechtzuerhalten zwischen den 'Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts' (es handelt sich hier natürlich um bürgerliche 'Errungenschaften' der Sozialdemokratie: Gewerkschaften, Parlamentarismus, Nationalismus, Pazifismus, 'der Kampf um Reformen', der Kampf um die Eroberung des Staats, die Ablehnung der revolutionären Aktion...) und, in Anbetracht des 'Epochenwechsels' (eine klassische Argumentationsweise, um all die Revisionen-Verrätereien am historischen Programm zu rechtfertigen), dem Auftreten 'neuer Taktiken', die dieser 'neuen Phase' eigen seien und von der Verteidigung des 'sozialistischen Vaterlandes' durch die Stalinisten über das 'Übergangsprogramm' Trotzkis bis hin zur Ablehnung der gewerkschaftlichen Form des Kampfes zugunsten der 'ultra-linken' Räte (siehe Pannekoek, Die Arbeiterräte) reichten. Alle betrachten die Vergangenheit auf unkritische Weise, insbesondere den sozialdemokratischen Reformismus, der im Handumdrehen gerechtfertigt wird, da er 'in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus' stattgefunden habe...
Was die Kommunisten angeht, so sind sie abermals die 'Iguanodone der Geschichte'(2), jene, für die sich nichts grundsätzlich geändert hat, jene, für die die 'alten Methoden' des direkten Kampfes, Klasse gegen Klasse, der gewaltsamen und weltweiten Revolution, des Internationalismus und der Diktatur des Proletariats gültig bleiben - gestern, heute und morgen."
(LE COMMUNISME, Nr. 23)
Die GCI präzisiert:
"Der Ursprung der Dekadenztheorien (Theorien des 'Epochenwechsels' und der 'Eröffnung einer neuen kapitalistischen Phase', nämlich die ihres 'Niedergangs'...) befindet sich 'eigenartigerweise' in den 1930er Jahren, als Stalinisten (Varga), Trotzkisten (Trotzki selbst), gewisse Sozialdemokraten (Hilferding, Sternberg...) und Akademiker (Grossmann) Theorien darüber formulierten. Nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 begannen einige Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution, Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen." (ebenda)
Es ist schon eine Kunst, soviel Absurditäten in so wenigen Zeilen auszudrücken. Lassen wir zunächst dieses Potpourri beiseite, auf das die GCI sich so häufig bezieht und das überhaupt nichts zur Debatte beiträgt, sondern nur die Oberflächlichkeit ihrer eigenen Argumentationsweise aufdeckt. Die internationale kommunistische Linke (Pannekoek) und die Stalinisten (Varga) in einen Sack zu stecken, weil sie von der Dekadenz des Kapitalismus sprachen, ist ebenso Unfug, wie die Revolution und die Konterrevolution gleichzustellen, nur weil die beiden Begriffe den Klassenkampf behandeln.


Die Ursprünge der Dekadenztheorie

Fangen wir zunächst mit dem an, was eine platte Lüge ist oder im besten Fall Ausdruck der gröbsten Unkenntnis der Arbeiterbewegung: der GCI zufolge war in den 1930er Jahren "im Nachhinein" und auf "eigenartige" Weise die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus entwickelt worden. Wer ein wenig die Geschichte der Arbeiterbewegung und insbesondere des Kampfes gegen den Reformismus kennt, der von der revolutionären Linken in der Sozialdemokratie und in der Zweiten Internationalen geführt wurde, weiß, daß das nicht stimmt.
In dem Artikel "Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen" haben wir ausführlich aufgezeigt, wie die Idee des Vorhandenseins zweier Phasen - einer "aufsteigenden" Phase, in der die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die wirtschaftliche und globale Entwicklung der Gesellschaft anregen, und einer "dekadenten" Phase, wo diese Verhältnisse zu einer "Fessel" für diese Entwicklung werden und eine "Epoche der Revolution" eröffnet wird - im Mittelpunkt der materialistischen Betrachtungsweise der Geschichte steht, wie sie von Marx und Engels von 1847 an im Kommunistischen Manifest und danach definiert wurde. Wir haben darauf hingewiesen, daß die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus einen Kampf gegen all die utopistischen, anarchistischen Strömungen führten, die bewußt eine solche Unterscheidung der historischen Phasen außer Acht ließen und in der kommunistischen Revolution ein ewig gültiges Ideal sahen, das jederzeit verwirklicht werden könne, und nicht eine Umwälzung, die allein durch die Entwicklung der Produktivkräfte und ihrem Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen historisch notwendig und möglich wird.
Aber Marx und Engels mußten vor allem jene bekämpfen, die nicht sahen, daß der Kapitalismus sich noch in seiner aufsteigenden Phase befand. Gegen Ende des Jahrhunderts mußte sich die die Linke der Sozialdemokratie - insbesondere durch die Stimme Rosa Luxemburgs - mit der gegenläufigen Tendenz der Reformisten auseinandersetzen, die beharrlich leugneten, daß sich der Kapitalismus der Phase seiner Dekadenz näherte. So schrieb Rosa Luxemburg 1898 in "Reform oder Revolution":
"Hat die Entwicklung der Industrie ihren Höhepunkt erreicht und beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der 'absteigende Ast', dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: Erstens verschlimmern sich die objektiven Konturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist; zweitens greift das Kapital selbst, um sich für die Verluste auf dem Weltmarkt zu entschädigen, auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes zurück (...) England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweiten Stadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduziert sich aber notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, und auch diese wird immer schwieriger." ("Sozialreform oder Revolution", R. Luxemburg, 1899, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 391)
Diese Zeilen wurden nicht "im Nachhinein" - wie es die GCI behauptet - geschrieben, und auch nicht nachdem der Erste imperialistische Weltkrieg den unwiderlegbaren Beweis gebracht hatte, daß der Kapitalismus endgültig in die dekadente Epoche eingetreten war. Diese Zeilen wurden fünfzehn Jahre zuvor verfaßt. Und Rosa Luxemburg begann eindeutig die politischen Konsequenzen - hier in Bezug auf die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Arbeit - zu erkennen, die solch ein "Epochenwechsel" für die Arbeiterbewegung zur Folge hat.
Die GCI behauptet, daß "nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 (...) einige Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution (begannen), Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen".
Die GCI ist sich offensichtlich nicht im Klaren darüber, daß inmitten dieser revolutionären Welle die III. Internationale gegründet wurde, deren Grundlage die Analyse des Eintritts des Kapitalismus in seine neue Phase war:
"Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats." (Manifest der Kommunistischen Internationalen) Und innerhalb dieser Kommunistischen Internationalen führte die kommunistische Linke ihrerseits den Kampf gegen die Mehrheitstendenzen, die nicht alle politischen Konsequenzen für die Kampfformen des Proletariats in dieser neuen historischen Epoche verstanden hatten.
Die deutsche kommunistische Linke, die KAPD, nahm beispielsweise auf dem Dritten Kongreß der KI 1921 folgendermaßen dazu Stellung:
„Das Proletariat dazu aufzufordern, sich im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz an den Wahlen zu beteiligen, heißt innerhalb des Proletariats die Illusion verstärken, dass die Krise durch parlamentarische Mittel überwunden werden könnte."
In den 1930er Jahren waren es nicht nur die "Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution", sondern auch die proletarische Avantgarde, die sich bemühte, die Lehren aus der vergangenen revolutionären Welle zu ziehen, und "Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen". So schrieb die Zeitschrift BILAN, hinter der sich Elemente der kommunistischen Linken Italiens, Belgiens und Frankreichs zusammengetan hatten:
"Die kapitalistische Gesellschaft kann infolge des Wesens der ihrer Produktionsform innewohnenden Widersprüche ihre historische Aufgabe nicht mehr erfüllen: die Produktivkräfte entwickeln und die Produktivität der menschlichen Arbeit kontinuierlich und fortschreitend weiterzuentwickeln. Der Zusammenprall zwischen den Produktivkräften und ihrer privaten Aneignung, der zuvor nur sporadisch war, ist permanent geworden; der Kapitalismus ist in seine allgemeine Zerfallskrise eingetreten." (Mitchell, BILAN, Nr. 11, Sept. 1934)(3)
Die GCI ignoriert oder verfälscht die Geschichte der revolutionären Bewegung. In beiden Fällen beweisen ihre Behauptungen über den "Ursprung der Dekadenztheorien" die Bodenlosigkeit ihrer Argumentation und die Unseriosität ihrer Methode.


Die Invarianz des Programms oder: "Der Marxismus der Dinosaurier"

Befassen wir uns mit dem Argument der GCI, demzufolge es "Verrat am historischen Programm" bedeutet, wenn man einer Änderung der Kampfmethoden des Proletariats das Wort redet.
Das Programm einer politischen Bewegung fußt auf der Definition einer Gesamtheit von Mitteln und Zielen, die diese Bewegung vorschlägt. In diesem Sinn beinhaltet das kommunistische Programm Elemente, die tatsächlich seit dem "Kommunistischen Manifest" ständig vorhanden waren, dessen Abfassung den Revolutionen von 1848 entsprach, in denen das Proletariat zum ersten Mal als eigenständige politische Kraft auf der Bühne der Geschichte trat. Das Gleiche trifft auf die Definition des allgemeinen Ziels - die kommunistische Weltrevolution - oder des Hauptmittels zur Erreichung dieses Ziels - der Klassenkampf und die Diktatur des Proletariats - zu.
Aber das kommunistische Programm ist nicht nur dies. Es beinhaltet ebenso die unmittelbaren Ziele und die konkreten Mittel zu ihrer Durchsetzung, die Organisationsformen, die Kampfformen, die notwendig sind, um das Endziel zu erreichen.
Diese konkreten Elemente werden direkt durch die konkrete historische Situation vorbestimmt, innerhalb derer der Klassenkampf stattfindet.
"Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat KEINEN AUGENBLICK geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programm im Stiche gelassen werden könnte." ("Sozialreform oder Revolution", Luxemburg, Bd. 1/1, S. 433)
Aus der Sicht der GCI läßt das kommunistische Programm dies alles außer Acht; es beschränkt sich allein auf den Kampfruf:"Man muß die Weltrevolution immer und überall machen". Darauf beschränkt, könnte das Programm als unabänderlich aufgefaßt werden; aber in diesem Fall wäre es nicht mehr ein Programm, sondern eine Absichtserklärung.
Was die praktische Anwendung angeht, falls dieses "Programm" eine hätte, ließe sie sich darin zusammenfassen, daß die Proletarier in die Endschlachten geschickt werden, unabhängig von den jeweiligen historischen Bedingungen und Kräfteverhältnissen. Mit anderen Worten: es ist der Weg ins Massaker.
Marx hatte diese Art von Tendenzen schon innerhalb des Bundes der Kommunisten bekämpft:
„Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15,20,50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen." (15.09.1850).
Ein Programm, das nicht versucht, die Besonderheiten einer jeden historischen Situation und die entsprechenden proletarischen Verhaltensweisen zu definieren, ist nichts wert.
Außerdem wird das kommunistische Programm ständig durch die Praxis des Klassenkampfes bereichert. Entscheidende Fragen wie die Unmöglichkeit für das Proletariat, den bürgerlichen Staat zu seinem Gunsten zu erobern, oder die Kampf- und Organisationsformen des Proletariats für die Revolution haben infolge von Erfahrungen, wie die Pariser Kommune 1871 oder die Russische Revolution von 1905, Änderungen im kommunistischen Programm zur Folge gehabt.
Die Verweigerung jeglicher Modifikationen am Programm, der ständigen Bereicherung, bezogen auf die Evolution der objektiven Bedingungen, und der praktischen Erfahrungen der Klasse bedeutet nicht, dem Programm "treu zu bleiben", sondern es zu zerstören und in Gesetzestafeln zu verwandeln. Die Kommunisten sind keine Dinosaurier, und ihr Programm ist kein Fossil.
Das kommunistische Programm zu bereichern, es zu modifzieren, wie es die konsequentesten Revolutionäre stets gemacht haben, um sich in die Lage zu versetzen, auf jede allgemeine historische Situation eine Antwort zu haben, um die Ergebnisse der revolutionären Praxis zu integrieren, heißt nicht, das "Programm zu verraten", sondern ist die einzig konsequente Haltung, um aus ihm ein wirkliches Werkzeug für die Klasse zu machen.(4)


Der idealistische Standpunkt des Anarchismus und die marxistische Methode

Für die GCI besteht das schlimmste Verbrechen der "Dekadentisten" darin, "aus einer formellen Kohärenz mit den 'Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts' eine Theorie zu machen." Und die GCI präzisiert: "Es handelt sich hier wohlgemerkt um bürgerliche 'Errungenschaften' der Sozialdemokratie". Die Hauptgefahr der Dekadenztheorie bestehe darin, "die vergangene Geschichte und hauptsächlich den sozialdemokratischen Reformismus unkritisch zu gutzuheißen, der im Handumdrehen gerechtfertigt wird, indem er in der 'aufsteigenden Phase des Kapitalismus' lokalisiert wird".
Die GCI sagt: "Die historische Funktion der Sozialdemokratie ist es nicht, den Kampf für die Zerstörung des Systems zu organisieren (was das invariante Programm der Kommunisten ist), sondern die durch die Konterrevolution atomisierten Arbeitermassen zu organisieren und zu erziehen, damit sie bestmöglich am System der Lohnsklaverei teilnehmen." (LE COMMUNIST, Nr. 23, S. 18)
Wir werden in einem zukünftigen Artikel eingehender auf die Klassennatur der Sozialdemokratie und der II. Internationalen um die Jahrhundertwende zurückkommen. Um aber darüber sprechen zu können, muß man zunächst auf die absurde Simplifizierung der GCI antworten, derzufolge sich für den Arbeiterkampf seit seinen Anfängen "nichts geändert habe".
Die GCI wirft der Soziademokratie tatsächlich vor, nicht "den Kampf für die Zerstörung des Systems (was das invariante Programm der Kommunisten ist)" organisiert zu haben, sondern den gewerkschaftlichen, parlamentarischen Kampf für Reformen, der nie etwas anderes gewesen sei als ein Mittel, um die Arbeiter zur Mitwirkung im System zu bewegen.
Aber die gewerkschaftliche Arbeit oder den Parlamentarismus abzulehnen, weil es sich um Kampfformen handelte, die nicht sofort zur "Zerstörung des Systems" führen, ist eine rein idealistische Vorgehensweise, die sich nur auf ewige Ideale stützt und nicht auf die konkrete Wirklichkeit der objektiven Bedingungen des Klassenkampfes. So faßt man die Arbeiterklasse nur als "revolutionäre" Klasse auf und vergißt dabei, daß sie im Gegensatz zu allen anderen Klassen der Vergangenheit auch eine ausgebeutete Klasse ist.
Der Kampf für unmittelbare Forderungen und der revolutionäre Kampf sind zwei Momente ein und desselben Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Kapital; der Kampf um die Zerstörung des Kapitalismus ist nichts anderes als die konsequente Durchführung des Kampfs für unmittelbare Forderungen gegen die Angriffe des Kapitals bis zu seiner letzten Konsequenz. Diese beiden Aspekte des Kampfes sind jedoch nicht identisch. Und man kann nur zu einer vollkommen hohlen Auffassung des Arbeiterkampfes kommen, wenn man diesen doppelten Charakter außer Acht läßt.
Jene, die, wie die Reformisten, in der Arbeiterklasse lediglich ihren Charakter als ausgebeutete Klasse sehen und ihren Kampf nur als Kampf um unmittelbare Forderungen betrachten, haben eine statische, unhistorische, bornierte Auffassung. Doch jene, die in der Arbeiterklasse nur eine revolutionäre Klasse sehen, dabei ihren Charakter als Ausgebeutete und folglich den unmittelbaren Charakter des gesamten Arbeiterkampfes ignorierend, sprechen von einem Phantom.
Als die marxistischen Revolutionäre die Form des gewerkschaftlichen oder parlamentarischen Kampfes in der Vergangenheit verwarfen, geschah dies niemals im Namen dieses hohlen und klassenlosen Radikalismus, der den Anarchisten zueigen ist und der Bakunin 1869 dazu veranlasste, im "Revolutionären Katechismus" zu schreiben, daß die Organisation "alle ihre Mittel und ihre ganze Kraft darauf lenken (muß), die Not und die Leiden des Volkes zu steigern und zu intensivieren, bis schließlich seine Geduld erschöpft ist und es zu einem allgemeinen Aufstand getrieben wird".
Der Anarchismus stützt sich auf den Standpunkt eines Ideals der abstrakten "Revolte". Für die Tageskämpfe der Arbeiterklasse hat er nur eine "souveräne Verachtung" übrig, wie Marx in "Das Elend der Philosophie" über Proudhon schrieb. Der Marxismus geht vom Standpunkt einer Klasse und ihrer Interessen, sowohl der historischen wie der unmittelbaren, aus. Wenn die revolutionären Marxisten zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Gewerkschaftsarbeit, der Parlamentarismus, der Kampf um Reformen nicht mehr gültig sind, dann geschieht das nicht, weil sie damit den Kampf um Forderungen aufgegeben hätten, sondern weil sie wissen, daß dieser Kampf nicht mehr erfolgreich und wirksam sein kann, wenn er sich der alten Formen bedient.
Dies war die allgemeine Herangehensweise Rosa Luxemburgs, als sie davon ausging, daß mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine "dekadente Phase" der Gewerkschaftskampf "doppelt schwierig" werden würde, als sie feststellte, daß die Gewerkschaftsbewegung im fortgeschrittensten Land in dieser Epoche, Großbritannien, „sich dabei notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, auch diese wird immer schwieriger, reduziert" (Sozialreform oder Revolution, S. 392).
Dies war auch die Vorgehensweise der KAPD, als sie die Teilnahme an den Wahlen ablehnte, nicht weil "Wahlen schmutzig sind", sondern weil die Mittel des Parlamentarismus nicht mehr dazu dienten, den Auswirkungen der Krise des Kapitalismus, d.h. dem Elend der Arbeiterklasse, zu trotzen.
Solange die Entwicklung des Kapitalismus mit einer dauerhaften Verbesserung der Existenzbedingungen der Arbeiterklasse einherging, solange der Staat keine totalitäre Macht über das gesellschaftliche Leben ausübte, konnten und mußten die Tageskämpfe gewerkschaftliche und parlamentarische Formen annehmen. Die objektiven Bedingungen, als der Kapitalismus seinen historischen Höhepunkt erreichte, schufen eine Art wirtschaftliches und politisches Terrain, auf dem die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse mit den Bedürfnissen der Entwicklung eines Kapitals zusammenfielen, das weltweit expandierte und einen reellen Profit erzielte.
Es ist illusorisch zu glauben, daß solch eine Situation endlos andauern würde, was Grundlage für die Entwicklung des "Reformismus" ist - diese bürgerliche Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung, derzufolge die kommunistische Revolution unmöglich und nur eine fortschrittliche Reform des Kapitalismus zugunsten der Arbeiterklasse durchführbar sei.
Vom marxistischen Standpunkt aus hat die Ablehnung des Kampfes für Reformen im Kapitalismus - letztendlich - stets auf der Unmöglichkeit derselben gestützt. Rosa Luxemburg formulierte dies 1898 mit den folgenden Worten:
„Der Arbeiterschutz z.B. liegt ebenso im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten als Klasse wie der Gesellschaft im ganzen. Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten Höhepunkt erreicht, dann fangen an die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die der ökonomischen Evolution auch im kapitalistischen Sinne auseinanderzugehen." ("Reform oder Revolution", ebenda, S. 395).
Was sich mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Phase seiner Dekadenz geändert hat, das ist die Unmöglichkeit, echte, dauerhafte Verbesserungen zu erlangen. Aber dies fand nicht isoliert statt. Die Dekadenz des Kapitalismus ist auch ein Synonym für den Staatskapitalismus, für das Aufblähen des Staatsapparats, der die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse völlig umgewälzt hat.
Wir können hier nicht all die Aspekte der Umwälzung aufgreifen, die der Eintritt des Kapitalismus in eine neue historische Phase für das gesellschaftliche Leben im allgemeinen und für den Klassenkampf im besonderen beinhaltete. Wir verweisen den Leser auf den Artikel "Der Kampf des Proletariats im dekadenten Kapitalismus" (in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 8).
Was uns als wichtig zu betonen erscheint, ist die Tatsache, daß für die Marxisten die Formen des Kampfes der Arbeiterklasse von den objektiven Bedingungen abhängen, unter denen dieser stattfindet, und nicht von abstrakten Prinzipien der ewigen Revolte.
Nur indem man sich auf die objektive Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stützt, das in seiner historischen Dynamik erfaßt werden muß, kann man die Richtigkeit einer Strategie, einer Kampfform überprüfen. Außerhalb dieser materiellen Basis bewegt sich jede Stellungnahme zu den Mitteln des proletarischen Kampfes auf dünnem Eis; es öffnet die Tür zur Orientierungslosigkeit, sobald die oberflächlichen Formen der "ewigen Revolte" - die Gewalt, die Anti-Legalität - in Erscheinung treten.
Die GCI ist dafür eine offenkundige Manifestation. Wenn man nicht versteht, warum bestimmte Kampfformen im aufsteigenden Kapitalismus gültig waren, begreift man auch nicht, warum sie es nicht mehr im dekadenten Kapitalismus sind. Dadurch, daß sich ihre politischen Maßstäbe nur auf ein "Gegen-alles-sein-was-an-die-Sozialdemokratie-erinnert" stützten, dadurch, daß sie glaubt, daß die "Anti-Demokratie" ein ausreichender Maßstab ist, meint die GCI zu der Einschätzung zu kommen, daß eine Organisation wie die stalinistischen nationalistischen Guerillas Perus, der "Leuchtende Pfad", aufgrund ihrer Bewaffnung und ihrer Weigerung, sich an den Wahlen zu beteiligen, "zunehmend als die einzige Struktur erscheint, die den immer mehr zunehmenden direkten Aktionen des Proletariat in den Städten und auf dem Land eine Kohärenz verschafft, während all die anderen Gruppen der Linken sich objektiv gegen all die Interessen der Arbeiter im Namen der Verurteilung des Terrorismus im allgemeinen und der Verteidigung der Demokratie insbesondere vereinigen" (LE COMMUNISME, Nr. 25, S. 48-49).
Die GCI konstatiert, daß "all die Dokumente, die der Leuchtende Pfad veröffentlicht hat, auf striktester stalinistisch-maoistischer Grundlage fußen" und daß dieser meint, der Kampf in Peru finde in dem "gegenwärtigen Zeitraum des Anti-Imperialismus und anti-feudalen Kampfes statt". Aber dies hält die GCI nicht von der Schlußfolgerung ab: "Wir haben keine Anlaß, um den Leuchtenden Pfad (oder die PCP, wie er sich selbst beschreibt) als eine bürgerliche Organisation im Dienste der Konterrevolution zu betrachten." (ebenda)
Was der GCI zur Einschätzung des Klassencharakters einer politischen Organisation oder jeder anderen Wirklichkeit des Klassenkampfes fehlt, sind nicht "Anlässe", sondern die marxistische Methode, die materialistische Geschichtsauffassung -, in der die Vorstellung von historischen Phasen eines Systems (aufsteigende und niedergehende) ein unverzichtbarer Bestandteil ist.

RV

Fußnoten:
(1) Siehe Artikel in INTERNATIONALE REVUE, Nr.10 „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen".
(2)Iguanodon: fossiles Dinosaurierreptil, das in der Kreidezeit lebte.
(3) Die GCI erkennt in einer kurzen Notiz in dem erwähnten Artikel an, dass Luxemburg, Lenin und Bukharin in der Tat „Dekadenztheorien" vertreten haben. Aber sie behauptet, dass es ihnen nicht darum ging, „eine Phase von mehr als 70 Jahren zu definieren". Das ist wiederum eine Verfälschung: aus der Sicht der Linken in der 2. Internationale, die auch die 3. Internationale gründete, war das Stadium, in das der Kapitalismus eingetreten war, nicht mehr ein weiteres unter vielen, dem neue, aufsteigende folgen würden. Für sie alle war die neue Epoche eine „letzte Phase", die „höchste Stufe" des Kapitalismus, aus der es keinen anderen Ausweg für die Gesellschaft mehr geben würde als Barbarei oder Sozialismus.
(4) Gegen all die religiösen Einstellungen gegenüber dem lebendigen Instrument einer lebendigen Klasse berufen wir uns auf die Einstellung von Marx und Engels, die nach der Pariser Kommune erklärten, dass ein Teil des Kommunistischen Manifests überholt sei; auf die von Lenin, der 1917 in den Aprilthesen darauf bestand, dass ein Teil des Programms der Partei neu gefasst werden müsste.


Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir11/1989_poldekadenz

Erbe der kommunistischen Linke: