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Andere Ökonomen jedoch, die nicht völlig losgelöst von der Arbeiterbewegung waren, versuchten ihre reformistischen Strategien auf eine „marxistische“ Vorgehensweise zu gründen. Ein solcher Fall war der Russe Tugan–Baranowski, der 1901 ein Buch mit dem Titel Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England veröffentlichte. Der Arbeit von Struve und Bulgakow ein paar Jahre zuvor folgend, war Tugan–Baranowskis Studie Teil der „legalen marxistischen“ Antwort auf die russischen Volkstümler, die zu argumentieren versuchten, dass der Kapitalismus bei seiner Etablierung in Russland mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert werde; eine dieser Schwierigkeiten sei das Problem, ausreichende Märkte für seine Produkte zu finden. Wie Bulgakow versuchte Tugan, Marx‘ Schemata der erweiterten Reproduktion in Band 2 vom Kapital als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es kein grundsätzliches Problem bei der Realisierung von Mehrwert im kapitalistischen System gebe, dass es für ihn möglich sei, auf harmonische Weise wie in einem „geschlossenen System“ unendlich zu akkumulieren. Wie Rosa Luxemburg zusammenfasste:
„Die ‚legalen‘ russischen Marxisten haben über ihre Widersacher, die ‚Volkstümler‘, zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei – Struve, Bulgakow, Tugan–Baranowski – haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben.“ [1]
Tugans These wurde umgehend von jenen beantwortet, die noch der marxistischen Krisentheorie anhingen, insbesondere vom Sprecher der „marxistischen Orthodoxie“, Karl Kautsky, der insbesondere darauf bestand, dass der Kapitalismus, da weder die Kapitalisten noch die ArbeiterInnen die Gesamtheit des vom System produzierten Mehrwerts konsumieren können, konstant dazu getrieben werde, neue Märkte außerhalb seiner selbst zu erobern:
„Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im neunzehnten Jahrhundert der Fall war, enthält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholte. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgte, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr notwendiges Ende.
Dies ist in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den ‚orthodoxen‘ Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie.“ [2]
Mehr oder weniger gleichzeitig schaltete sich ein Mitglied des linken Flügels der amerikanischen Sozialistischen Partei, Louis Boudin, mit einer ähnlichen, wenn auch etwas ausgereifteren Analyse in The Theoretical System of Karl Marx in die Debatte ein. [3]
Während Kautsky, wie Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals – Antikritik (1915) hervorhob, das Problem der Krise mit dem Begriff der „Unterkonsumtion“ in Verbindung brachte und in den etwas ungenauen Rahmen der relativen Geschwindigkeit von Akkumulation und Expansion des Marktes stellte[4], lokalisierte sie Boudin exakter im einmaligen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise und in den Widersprüchen, die zum Phänomen der Überproduktion führten:
„Unter den alten Sklaven– und Feudalsystemen gab es nie ein solches Problem wie die Überproduktion, und zwar weil bei der Produktion für den heimischen Verbrauch die einzige Frage, die sich stellte, folgende war: Wie viele der produzierten Produkte sollen dem Sklaven bzw. dem Leibeigenen gegeben werden, und wieviel soll zum Sklavenhalter bzw. Feudalherrn übergehen? Wenn jedoch die entsprechenden Anteile der beiden Klassen danach ermittelt werden, fährt jeder fort, seinen Anteil zu konsumieren, ohne irgendwelche Probleme dabei zu erzeugen. Mit anderen Worten, die Frage war stets, wie die Produkte verteilt werden sollen, und es stellte sich aus dem Grund nie die Frage der Überproduktion, weil das Produkt nicht auf dem Markt verkauft werden sollte, sondern von den Personen verbraucht wurde, die unmittelbar in seine Produktion mit einbezogen waren, sei es als Sklave oder als Herr (…) Nicht so jedoch mit unserer modernen kapitalistischen Industrie. Es trifft zu, dass alle Produkte mit Ausnahme jener Portion, die zum Arbeitenden geht, wie einst an den Sklavenhalter nun an den Kapitalisten gehen. Das jedoch regelt die Angelegenheit keineswegs; der Grund hierfür ist, dass der Kapitalist nicht für sich selbst, sondern für den Markt produziert. Er hat kein Interesse an den Dingen, die der Arbeitende produziert, sondern will sie verkaufen; sie haben absolut keinen Wert für ihn, es sei denn, er ist in der Lage, sie zu verkaufen. Verkäufliche Güter in den Händen des Kapitalisten sind sein Vermögen, sein Kapital, doch wenn diese Güter unverkäuflich sind, sind sie wertlos, und sein ganzes Vermögen, das in seinen Lagerhäusern enthalten ist, schmilzt in dem Augenblick dahin, wenn die Güter aufhören, marktfähig zu sein.
Wer kauft dann die Güter von unserem Kapitalisten, der neue Maschinen für ihre Herstellung eingesetzt und somit ihren Ausstoß weitgehend noch vergrößert hat? Natürlich gibt es andere Kapitalisten, die diese Dinge möglicherweise haben wollen, doch wenn die Produktion der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wird, was macht dann die kapitalistische Klasse mit dem gestiegenen Ausstoß, der nicht vom Arbeitenden aufgenommen werden kann? Die Kapitalisten selbst können ihn nicht nutzen, weder dadurch, dass jeder seine eigene Manufaktur hält, noch dadurch, dass sie sich ihn gegenseitig abkaufen. Und aus einem ganz einfachen Grund kann die kapitalistische Klasse nicht alle Mehrprodukte nutzen, die die Arbeitenden produzieren und die sie als ihre Profite aus der Produktion an sich reißen. Dies wird bereits durch die eigentliche Prämisse der kapitalistischen Produktion im Großmaßstab und der Akkumulation des Kapitals ausgeschlossen. Kapitalistische Produktion im Großmaßstab setzt die Existenz großer Beträge kristallisierter Arbeit in Form großer Eisenbahnen, von Dampfschiffen, Fabriken, Maschinen und anderer solcher angefertigter Produkte voraus, die nicht von den Kapitalisten konsumiert worden waren und die an sie als ihr Anteil oder Profit aus der Produktion früherer Jahre gefallen sind. Wie bereits festgestellt wurde, bestehen all die großen Vermögen unserer modernen kapitalistischen Könige, Prinzen, Barone und anderer Würdenträger der Industrie, mit oder ohne Titel, aus Werkzeugen und Maschinen in der einen oder anderen Form, das heißt, in einer nicht konsumierbaren Form. Es ist der Anteil der kapitalistischen Profite, den die Kapitalisten ‚angespart‘ und daher nicht konsumiert haben. Wenn die Kapitalisten all ihre Profite konsumieren würden, gäbe es keine Kapitalisten im modernen Sinn des Wortes, gäbe es keine Akkumulation des Kapitals. Damit das Kapital akkumulieren kann, darf der Kapitalist unter keinen Umständen seinen gesamten Profit konsumieren. Der Kapitalist, der dies tut, hört auf, ein Kapitalist zu sein und unterliegt in der Konkurrenz mit den anderen Kapitalisten. Mit anderen Worten, der moderne Kapitalismus setzt ein sparsames Verhalten der Kapitalisten voraus, das heißt, dass ein Teil der Profite des einzelnen Kapitalisten nicht konsumiert werden darf, sondern angespart werden muss, um das bereits existierende Kapital zu vergrößern (…) Er kann daher nicht seinen gesamten Anteil an den gefertigten Produkten konsumieren. Es liegt daher auf der Hand, dass weder der Arbeitende noch der Kapitalist die Gesamtheit des angewachsenen Fertigungsproduktes konsumieren kann. Doch wer dann kann es aufkaufen?“ [5]
Boudin unternimmt dann – in einer Passage, die Luxemburg ausführlich in einer Fußnote zu Die Akkumulation des Kapitals zitiert und die sie als eine „glänzende Kritik“ des Buches von Tugan–Baranowski darstellt [6] – den Versuch, darauf zu antworten, wie der Kapitalismus mit diesem Problem fertig wird:
„Das in den kapitalistischen Ländern produzierte Mehrprodukt hat – mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen – nicht darum die Räder der Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären verteilt worden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen geworden ist, sondern deshalb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun in Baumwoll– oder in Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von den Baumwoll– zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine ganz andere, als Tugan–Baranowski ihr beilegt. Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für den Kaptalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitaistischen Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom Kapitalismus standen und deshalb als Abladestelle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen. Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren, genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll– und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie nicht nur aufhören, eine Abnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer werden unterbringen können.“[7]
Boudin geht anschließend weiter als Kautsky, indem er darauf beharrt, dass die näher rückende Vervollständigung der Eroberung der Erde durch den Kapitalismus auch den „Anfang vom Ende des Kapitalismus“ bedeutet.
Luxemburgs Untersuchung des Akkumulationsproblems
Zur gleichen Zeit, als diese Antworten verfasst wurden, lehrte Luxemburg an der Parteischule in Berlin. Die Skizzierung der historischen Evolution des Kapitalismus als Weltsystem veranlasste sie, sich noch eingehender mit den Schriften von Marx zu befassen, und dies sowohl wegen ihrer Integrität als Lehrerin und als Militante (sie hatte einen Horror davor, alte Wahrheiten einfach nur in neuen Verpackungen zu präsentieren, und betrachtete es als die Aufgabe eines jeden Marxisten, die marxistische Theorie weiterzuentwickeln und zu bereichern) als auch wegen der immer dringenderen Notwendigkeit, die Perspektiven zu erkennen, die dem Weltkapitalismus bevorstehen. Bei ihren neuen Nachforschungen fand sie vieles bei Marx, das ihre Ansicht unterstützte, wonach das Problem der Überproduktion im Verhältnis zum Markt der Schlüssel zum Verständnis des Übergangscharakters der kapitalistischen Produktionsweise war (siehe „Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ in Internationale Revue Nr. 46). Dennoch schien es ihr, dass Marxens Schema der erweiterten Reproduktion in Band 2, mag auch Marx die Absicht gehabt haben, es als ein rein abstraktes, theoretisches Modell zu benutzen, um sich dem Problem anzunähern, beinhalteten, dass der Kapitalismus, den Marx aus argumentativen Gründen auf eine Gesellschaft reduzierte, die allein aus Kapitalisten und Arbeitern zusammengesetzt war, auf eine im Kern harmonische Angelegenheit, auf ein geschlossenes System hinauslaufen könnte, in dem ausreichend vom Mehrwert zur Verfügung gestellt wird, der durch die gegenseitige Interaktion der beiden Hauptabteilungen der Produktion (den Produktionsgüter– und Konsumgütersektor) produziert wird. Ihr schien dies im Widerspruch zu anderen Passagen bei Marx (zum Beispiel in Band 3) zu stehen, die auf die Notwendigkeit einer beständigen Ausweitung des Markts beharrten und die gleichzeitig eine immanente Grenze dieser Ausweitung postulierten. Wenn der Kapitalismus als ein sich selbst regulierendes System operieren könnte, mag es temporäre Ungleichgewichte zwischen den Produktionszweigen geben, aber keine unerbittliche Tendenz, unverdauliche Massen von Waren zu produzieren, also keine unlösbare Überproduktionskrise. Wenn der Kapitalist schlicht danach strebt, für sich selbst zu akkumulieren, und eine ständig wachsende Nachfrage generiert, um den gesamten Mehrwert zu realisieren, wie können dann Marxisten gegen die Revisionisten argumentieren, dass der Kapitalismus tatsächlich dazu verdammt ist, in eine Phase katastrophaler Krisen einzutreten, die die objektiven Fundamente einer sozialistischen Revolution schaffen?
Luxemburgs Antwort war, dass es notwendig sei, von abstrakten Schemata abzurücken und den Aufstieg des Kapitalismus in seinen historischen Kontext zu setzen. Die gesamte Geschichte der kapitalistischen Akkumulation könne nur als ein konstanter Prozess der Interaktion mit den nichtkapitalistischen Ökonomien, von denen er umgeben sei, begriffen werden. Die primitivsten Gemeinschaften, die vom Jagen und Sammeln lebten und noch keinen marktfähigen gesellschaftlichen Mehrwert generiert hatten, waren für den Kapitalismus nutzlos und mussten durch eine Politik der direkten Zerstörung und des Genozids (auch die menschlichen Ressourcen in diesen Gemeinschaften waren eher ungeeignet für die Sklavenarbeit) beiseite gefegt werden. Doch die Ökonomien, die einen marktfähigen Mehrwert entwickelt hatten und wo insbesondere die Warenproduktion bereits im Innern entwickelt war (große Zivilisationen wie Indien und China), boten nicht nur Rohstoffe, sondern auch enorme Märkte für die Produktion der kapitalistischen Metropolen, was den Kapitalismus in den zentralen Ländern in die Lage versetzte, das Überangebot an Waren abzusetzen. Dieser Prozess ist bereits eloquent im Kommunistischen Manifest beschrieben worden. Doch gleichzeitig bestand das Manifest darauf, dass, auch wenn die etablierten kapitalistischen Mächte versuchten, die kapitalistische Entwicklung ihrer Kolonien einzuschränken, diese Weltregionen unvermeidlich Teil der bürgerlichen Welt wurden, deren vor–kapitalistischen Ökonomien ruiniert und nach den Erfordernissen der Lohnarbeit umgebaut wurden – womit das Problem der zusätzlichen Nachfrage, die für die Akkumulation erforderlich ist, auf eine andere Ebene verlagert wurde. Umso mehr der Kapitalismus, wie Marx es selbst formuliert hatte, also dazu neigte, zu einem universellen System zu werden, desto mehr war er dazu verdammt, zusammenzubrechen: „Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.“[8]
Diese Vorgehensweise versetzte Luxemburg in die Lage, das Problem des Imperialismus zu begreifen. Das Kapital hatte erst begonnen, sich in die Frage des Imperialismus und seiner ökonomischen Fundamente zu vertiefen, der zu dem Zeitpunkt, als das Buch geschrieben worden war, noch nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Marxisten gerückt war. Nun waren sie mit dem Imperialismus als eine Antriebskraft nicht nur für die Eroberung der nicht–kapitalistischen Welt, sondern auch bei der Verschärfung interimperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten um die Vorherrschaft über den Weltmarkt konfrontiert. War der Imperialismus eine Option, war er für das Weltkapital von Nutzen, wie viele seiner liberalen und reformistischen Kritiker verfochten, oder war er eine immanente Notwendigkeit der kapitalistischen Akkumulation auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung? Auch hier waren die Implikationen weitreichend, denn wenn der Imperialismus nicht mehr als eine zusätzliche Option für das Kapital war, dann war es plausibel, zugunsten einer mäßigenden und pazifistischen Politik zu argumentieren. Luxemburg jedoch zog die Schlussfolgerung, dass der Imperialismus eine Notwendigkeit für das Kapital war – ein Mittel zur Verlängerung seiner Herrschaft, das ihn gleichermaßen unwiderruflich in den Ruin treibt.
„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, das um die Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten: gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ende zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Existenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.“
Die entscheidende Schlussfolgerung in Die Akkumulation des Kapitals war daher, dass der Kapitalismus in eine „Periode der Katastrophen“ eintreten werde. Es ist wichtig festzuhalten, dass Luxemburg nicht, wie oftmals fälschlicherweise behauptet wurde, behauptete, dass der Kapitalismus im Begriff sei, in einer Sackgasse zu landen. Sie machte sehr deutlich, dass das nichtkapitalistische Milieu „geographisch… die weitesten Gebiete der Erde“ umfasst und dass die nichtkapitalistischen Ökonomien nicht nur in den Kolonien immer noch existierten, sondern auch in großen Teilen Europas.[9] Sicherlich war der Umfang dieser wirtschaftlichen Zonen in Wertbegriffen verschwindend, verglichen mit der wachsenden Kapazität des Kapitals, neue Werte zu generieren. Doch die Welt war noch weit entfernt davon, ein System des reinen Kapitalismus zu werden, wie es Marxens Reproduktionsschemata vorsahen:
„Das Marxsche Schema der Akkumulation ist – richtig verstanden – gerade in seiner Unlösbarkeit die exakt gestellte Prognose des ökonomisch unvermeidlichen Untergangs des Kapitalismus im Ergebnis des imperialistischen Expansionsprozesses, dessen spezielle Aufgabe ist, die Marxsche Voraussetzung: die allgemeine ungeteilte Herrschaft des Kapitals, zu verwirklichen.
Kann dieser Moment je wirklich eintreffen? Allerdings ist das nur eine theoretische Fiktion, gerade weil die Akkumulation des Kapitals nicht bloß ökonomischer, sondern politischer Prozess ist.“[10]
Für Luxemburg war eine Welt aus lauter Kapitalisten und Arbeitern eine theoretische Fiktion, doch je mehr dieser Punkt erreicht wurde, desto schwieriger und desaströser wurde der Akkumulationsprozess, was Katastrophen auslöste, die nicht nur „rein“ ökonomisch waren, sondern auch militärisch und politisch. Der Weltkrieg, der ausbrach, kurz nachdem Die Akkumulation des Kapitals veröffentlicht worden war, war eine überwältigende Bestätigung dieser Prognose. Für Luxemburg gab es keinen rein wirtschaftlichen Kollaps des Kapitalismus und noch weniger eine automatische, garantierte Verbindung zwischen dem kapitalistischen Zusammenbruch und der sozialistischen Revolution. Was sie in ihrem theoretischen Werk ankündigte, war exakt das, was sich in der katastrophalen Geschichte des darauf folgenden Jahrhunderts bestätigen sollte: die wachsende Manifestation des Niedergangs des Kapitalismus als eine Produktionsweise, die die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellt und insbesondere die Arbeiterklasse dazu aufruft, die Organisation und das Bewusstsein zu entwickeln, die für die Überwindung des Systems und seine Ersetzung durch eine höhere Gesellschaftsordnung nötig sind.
Ein Sturm der Kritik
Luxemburg nahm an, dass ihre Thesen nicht besonders kontrovers sind, eben weil sie sie auf die Schriften von Marx und seiner späteren Nachfolger seiner Methode stützte. Und dennoch wurden sie mit einem Sturm der Kritik begrüßt – nicht nur von den Revisionisten und Reformisten, sondern auch von Revolutionären wie Pannekoek und Lenin, die sich in dieser Debatte auf der Seite nicht nur der legalen Marxisten in Russland, sondern auch der Austro–Marxisten wiederfanden, die Teil des semi–reformistischen Lagers innerhalb der Sozialdemokratie waren.
„Ich habe Rosas neues Buch Die Akkumulation des Kapitals gelesen. Sie ist da in ein erschreckendes Durcheinander geraten. Sie hat Marx entstellt. Ich bin sehr froh darüber, dass Pannekoek und Eckstein und O. Bauer alle übereinstimmend sie verurteilen und gegen sie äußerten, was ich 1899 gegen die Narodnikis sagte.“[11]
Es bestand Einigkeit darin, dass Luxemburg schlicht und einfach Marx falsch gelesen habe und ein Problem erfunden habe, wo keines existiere: Das Schema der erweiterten Reproduktion zeige, dass der Kapitalismus in der Tat ohne immanente Grenzen in einer Welt, die nur aus ArbeiterInnen und Kapitalisten besteht, akkumulieren könne. Die Gleichungen, die Marx am Schluss aufgestellt hatte, müssen also richtig sein. Bauer war ein bisschen nuancierter: Er erkannte an, dass die Akkumulation nur fortgesetzt werden kann, wenn sie von einer wachsenden effektiven Nachfrage gespeist wird, doch wartete er mit einer simplen Antwort auf: Die Bevölkerung wachse, und daher gibt es mehr ArbeiterInnen, eine Lösung, die das Problem auf den Nullpunkt zurücksetzt, da diese neuen ArbeiterInnen immer noch nur das variable Kapital konsumieren können, das ihnen von den Kapitalisten transferiert wird. Die entscheidende Ansicht – nahezu von allen damaligen Kritikern an Luxemburg vertreten – war, dass die Reproduktionsschemata in der Tat zeigten, dass es kein unlösbares Realisierungsproblem für den Kapitalismus gibt.
Luxemburg war sich sehr wohl bewusst, dass die Argumente, die von Kautsky (oder Boudin, obgleich er eine weitaus weniger bekannte Gestalt in der Bewegung war) zur Verteidigung derselben Thesen vorgestellt wurden, nicht eine solche Empörung ausgelöst hatten:
„Soweit steht fest: Kautsky widerlegte 1902 bei Tugan–Baranowski genau dieselben Behauptungen, die jetzt von den ‚Sachverständigen‘ meiner Akkumulationserklärung entgegengehalten werden, und die ‚Sachverständigen‘ der marxistischen Orthodoxie bekämpfen bei mir als horrende Abirrung vom wahren Glauben genau dieselbe, nur exakt durchgeführte und auf das Problem der Akkumulation angewandte Auffassung, die Kautsky vor nun 14 Jahren dem Revisionisten Tugan–Baranowski als die ‚allgemein angenommene‘ Krisentheorie der orthodoxen Marxisten entgegenhielt.“ [12]
Warum diese Aufregung? Sie ist leicht zu verstehen, sofern sie von den Reformisten und Revisionisten kam, weil sie vor allem darum besorgt waren, jegliche Möglichkeit eines Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems zu verneinen. Die Aufregung unter den Revolutionären ist schwerer zu begreifen. Wir können natürlich auf die Tatsache hinweisen – und dies ist sehr bedeutsam hinsichtlich der hysterischen Antwort –, dass Kautsky nicht danach strebte, sein Argument in Beziehung zum Reproduktionsschema zu setzen[13] und somit nicht als „Kritiker“ gegen Marx in Erscheinung trat. Möglicherweise liegt dieser konservative Geist vielen Kritikern Luxemburgs zugrunde: eine Sichtweise, wonach das Kapital eine Art Bibel ist, die alle Antworten für unser Verständnis des Aufstiegs und Falls der kapitalistischen Produktionsweise hat – in der Tat ein geschlossenes System! Im Gegensatz dazu argumentierte Luxemburg entschieden dafür, dass Marxisten das Kapital als das anerkennen, was es war – das Werk eines Genies, aber immer noch ein unvollendetes Werk, besonders in seinem zweiten und dritten Band; und ein Werk, das keinesfalls alle folgenden Entwicklungen in der Evolution des kapitalistischen Systems umfassen konnte.
Jedoch gab es unter all den empörten Antworten zumindest eine sehr klare Verteidigung der Theorie Luxemburgs in jener Zeit des Krieges und Umbruchs: „Rosa Luxemburg als Marxist“ vom Ungarn Georg Lukács, der damals Repräsentant des linken Flügels der kommunistischen Bewegung war.
Lukács‘ Essay, das in der Sammlung Geschichte und Klassenbewusstsein (1922) veröffentlicht wurde, beginnt mit der Skizzierung der grundsätzlichen methodischen Überlegung in der Debatte über Luxemburgs Theorie. Er argumentiert, dass der fundamentale Unterschied zwischen dem proletarischen und bürgerlichen Ausblick auf die Welt darin besteht, dass, während die Bourgeoisie durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu verdammt ist, die Gesellschaft vom Standpunkt einer atomisierten, konkurrierenden Einheit zu betrachten, das Proletariat allein eine Vision der Realität in ihrer Gesamtheit entwickeln kann:
„Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat. Die kapitalistische Trennung des Produzenten vom Gesamtprozess der Produktion, die Zerstückelung des Arbeitsprozesses in Teile, die die menschliche Eigenart des Arbeiters unberücksichtigt lassen, die Atomisierung der Gesellschaft in planlos und zusammenhanglos drauflosproduzierende Individuen usw. musste auch das Denken, die Wissenschaft und Philosophie des Kapitalismus tiefgehend beeinflussen. Und das gründlich Revolutionäre der proletarischen Wissenschaft besteht nicht bloß darin, dass sie der bürgerlichen Gesellschaft revolutionäre Inhalte gegenüberstellt, sondern in allererster Reihe in dem revolutionären Wesen der Methode selbst. Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips der Wissenschaft.“
Er geht dann dazu über, aufzuzeigen, dass ihr Mangel an solch einer proletarischen Methode Luxemburgs Kritiker daran hinderte, das Problem zu begreifen, das sie in Die Akkumulation des Kapitals formuliert hatte:
„Denn die Debatte, von Bauer, Eckstein usw. geführt, drehte sich nicht um die Frage, ob die Lösung des Problems der Akkumulation des Kapitals, die Rosa Luxemburg vorschlug richtig oder falsch war. Man stritt im Gegenteil darum, ob hier überhaupt ein Problem vorlag und bestritt mit der äußersten Heftigkeit das Vorhandensein eines wirklichen Problems. Vom methodischen Standpunkt der Vulgärökonomie ist dies durchaus verständlich, ja notwendig. Denn, wenn die Frage der Akkumulation einerseits als ein Einzelproblem der Nationalökonomie behandelt, andererseits vom Standpunkt des Einzelkapitalisten betrachtet wird, so liegt hier in der Tat überhaupt kein Problem vor.
Diese Ablehnung des ganzen Problems hängt eng damit zusammen, dass die Kritiker Rosa Luxemburgs an dem entscheidenden Abschnitt des Buchs („Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation“ achtlos vorbeigegangen sind und die Frage konsequent in der Form gestellt haben: ob die Formeln von Marx, die auf Grundlage der methodologisch isolierenden Annahme einer nur aus Kapitalisten und Proletariern bestehende Gesellschaft beruhen, richtig sind und wie man sie am besten auslegen kann. Dass diese Annahme bei Marx selbst nur eine methodologische war, um das Problem klarer zu fassen, von der aber zur umfassenden Fragestellung, zur Einstellung der Frage in die Totalität der Gesellschaft fortgeschritten werden muss, haben die Kritiker ganz übersehen. Sie haben übersehen, dass Marx in bezug auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation im ersten Band des Kapital gerade in bezug auf diese Frage ein Fragment ist, das gerade dort abbricht, wo dieses Problem aufgerollt werden muss; dass dementsprechend Rosa Luxemburg nichts anderes getan hat, als das Fragment von Marx in seinem Sinne zu Ende zu denken und seinem Geiste gemäß zu ergänzen.
Sie haben dennoch folgerichtig gehandelt. Denn vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, vom Standpunkt der Vulgärökonomie muss dieses Problem tatsächlich nicht gestellt werden. Vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten erscheint die wirtschaftliche Wirklichkeit als eine von ewigen Naturgesetzen beherrschte Welt, deren Gesetzen er sein Tun und lassen anzupassen hat. Die Realisierung des Mehrwertes, die Akkumulation vollzieht sich für ihn (allerdings selbst hier nur sehr oft, durchaus nicht immer) in der Form eines Tausches mit anderen Einzelkapitalisten. Und das ganze Problem der Akkumulation ist auch nur das einer Form der mannigfachen Wandlungen, die die Formeln G–W–G und W–G–W im Laufe der Produktion, Zirkulation usw. aufnehmen. So wird die Frage der Akkumulation für die Vulgärökonomie eine einzelwissenschaftliche Detailfrage, die mit dem Schicksal des Gesamtkapitalismus so gut wie überhaupt nicht verbunden ist, deren Lösung die Richtigkeit der Marxschen „Formeln“ hinreichend garantiert, die höchstens – wie bei Otto Bauer – „zeitgemäß“ verbessert werden müssen. Dass mit diesen Formeln die ökonomische Wirklichkeit prinzipiell niemals erfasst werden kann, da die Voraussetzung der Formeln eine Abstraktion von dieser Gesamtwirklichkeit ist (Betrachtung der Gesellschaft, als ob sie nur auf Kapitalisten und Proletariern bestünde), dass also die Formeln nur zur Klarlegung des Problems, als Sprungbrett zur Einstellung des richtigen Problems dienen können, haben Bauer und seine Genossen ebenso wenig begriffen, wie seinerzeit die Ricardo–Schüler die marxistischen Fragestellungen.“
Eine Passage in den Grundrissen, zu denen Lukács seinerzeit noch keinen Zugang hatte, bestätigt diese Vorgehensweise: Der Gedanke, dass die Arbeiterklasse ein ausreichender Markt für die Kapitalisten ist, ist eine Illusion, die typisch ist für die limitierte Vorstellungskraft der Bourgeoisie:
„Eigentlich geht uns hier das Verhältnis des einen Kapitalisten zu den Arbeitern des andren Kapitalisten noch gar nichts an. Es zeigt sich nur die Illusion jedes Kapitalisten, ändert aber nichts am Verhältnis von Kapital überhaupt zu Arbeit. Jeder Kapitalist weiß von seinem Arbeiter, dass er ihm gegenüber nicht als Produzent dem Konsumenten [gegenüber] steht und wünscht seinen Konsum, i.e. seine Tauschfähigkeit, sein Salär möglichst zu beschränken. Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der andren Kapitalisten als möglichst große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche Verhältnis. Die Illusion aber – wahr für den einzelnen Kapitalisten im Unterschied von allen andren –, dass außer seinen Arbeitern die ganze übrige Arbeiterklasse ihm gegenübersteht als Konsument und Austauscher, nicht als Arbeiter – Geldspender, entsteht eben dadurch. Es wird vergessen, dass, wie Mathus sagt, ‚the very existence of a profit upon any commodity pre–supposes a demand exterior to that of the labourer who has produced it’, und daher die demand of the labourer himself can never be an adequate demand. Da eine Produktion die andre in Bewegung setzt und sich daher Konsumenten in den Arbeitern des fremden Kapitals schafft, so erscheint für jedes einzelne Kapital die Nachfrage der Arbeiterklasse die durch die Produktion selbst gesetzt ist, als ‚adequate demand’. Diese durch die Produktion selbst gesetzte Nachfrage treibt sie voran über die Proportion, worin sie in bezug auf die Arbeiter produzieren müsste, einerseits; muss sie darüber hinaustreiben; andrerseits verschwindet oder schrumpft zusammen die Nachfrage exterior to the demand of the labourer himself, so tritt der collapse ein.“ [14]
Indem sie Marx‘ Buchstaben hinterfragte, erwies Luxemburg mehr als jeder andere ihr Vertrauen zu dem Geist seiner Worte; und es gibt noch mehr Worte von Marx, die zitiert werden könnten, um die zentrale Bedeutung des von ihr gestellten Problems zu stützen.
In den nächsten Artikel dieser Serie werden wir schauen, wie die revolutionäre Bewegung versuchte, den Prozess des Niedergangs des Kapitalismus, der sich vor ihren Augen in den turbulenten Jahrzehnten zwischen 1914 und 1945 abspielte, zu verstehen.
Gerrard
[1] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 24
[2] Neue Zeit, 1902, Nr. 5 (31), S. 140.
[3] Zuerst in Buchform veröffentlicht von Charles Kerr (Chicago) 1915, basierte diese Studie auf einer Reihe von Artikeln in der Internationalist Socialist Review zwischen Mai 1905 und Oktober 1906.
[4] „Wir sehen hier davon ab, daß Kautsky dieser Theorie den schiefen und zweideutigen Namen einer Erklärung der Krisen ‚aus Unterkonsumtion‘ anhängt, welche Erklärung Marx gerade im zweiten Bande des ‚Kapitals‘, S. 289, verspottet. Wir sehen ferner davon ab, daß Kautsky in der ganzen Sache nichts als das Krisenproblem erblickt, ohne, wie es scheint, zu bemerken, daß die kapitalistische Akkumulation auch abgesehen von Konjunkturschwankungen ein Problem darstellt.“ (Antikritik, Teil I). Interessant, dass so viele Kritiker Luxemburgs – nicht zuletzt die „marxistischen“ – sie beschuldigen, ein Unterkonsumtionist zu sein, wo sie so doch ausdrücklich diese Idee ablehnt! Es ist natürlich vollkommen richtig, dass Marx bei etlichen Gelegenheiten argumentierte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen“ (Kapital, Bd. III, Kap. 30, S. 501, MEW), doch Marx war vorsichtig genug, um zu erklären, dass er sich nicht auf die „absolute Konsumtionskraft“ bezieht, sondern auf „die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter.“ (ebenda, Kap. 15, S. 254, MEW). Mit anderen Worten: Krisen sind nicht das Resultat eines Widerstrebens der Gesellschaft, so viel wie physisch möglich zu konsumieren, noch sind sie – mehr der Punkt, angesichts der zahllosen Mystifikationen darüber, jener, die aus dem linken Flügel des Kapitals entstammen – durch „zu niedrige“ Löhne verursacht worden. Wenn dies der Fall wäre, dann könnten Krisen einfach durch die Anhebung der Löhne eliminiert werden, und dies ist genau das, was Marx im Kapital, Band II verspottet. Das Problem liegt vielmehr in der Existenz „antagonistischer Distributionsverhältnisse“, das heißt in den Lohnarbeitsverhältnissen selbst, die immer zu einem Mehr an Wert über das hinaus, was der Kapitalist seinen ArbeiterInnen zahlt, führen müssen.
[5] Boudin, S. 167–169, Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen
[6] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 23, Fußnote. Luxemburgs Hauptkritik an Boudin war seine anscheinend vorausgreifende Idee, dass Rüstungsausgaben eine Form der Verschwendung oder „waghalsige Ausgaben“ sind, was allem Anschein gegen ihre Bemerkung vom „Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation“ gerichtet ist, die in dem Kapitel mit demselben Titel in Die Akkumulation des Kapitals Erwähnung findet. Doch der Militarismus als ein Gebiet für die Akkumulation konnte nur in einer Epoche stattfinden, in der es eine reale Möglichkeit gab, durch den Krieg – oder: die kolonialen Eroberungen, um genau zu sein – substanzielle neue Märkte für die kapitalistische Expansion zu eröffnen. Mit dem Schrumpfen solcher Ventile konnte der Militarismus in der Tat zu einer reinen Verschwendung für den globalen Kapitalismus werden, auch wenn die Kriegswirtschaft eine „Lösung“ der Überproduktionskrise zu bieten scheint, mit der man die Wirtschaftsmaschinerie wieder in Bewegung setzen kann (am sichtbarsten in Hitlers Deutschland und während des Zweiten Weltkriegs). In der Realität drückt der Militarismus eine immense Zerstörung von Werten aus.[7] Die Neue Zeit, 25. Jahrgang, 1. Band, Mathematische Formeln gegen Karl Marx, hier zitiert nach Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Fußnote im 23. Kapitel
[8] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 313 f. der Ausgabe im Dietz Verlag
[9] „In Wirklichkeit gibt es in allen kapitalistischen Ländern, auch in denen der höchstentwickelten Großindustrie, neben kapitalistischen Unternehmungen im Gewerbe und in der Landwirtschaft noch zahlreiche handwerksmäßige und bäuerliche Betriebe, die einfache Warenproduktion betreiben. In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerkmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Rußland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerksmäßigen aufweisen.“ (Antikritik, Kap. 1). Siehe den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 46: ‚Chronische Überproduktion: eine unvermeidliche Fessel der kapitalistischen Produktion‘ als einen Beitrag zum Verständnis der Rolle, die von den außerkapitalistischen Märkten in der Periode der kapitalistischen Dekadenz gespielt werden (IKS–online).
[10] Antikritik, Kap. 5.
[11] Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen, von Roman Rosdolskys The Making of Marx’s Capital (Pluto Press, 1977). Darin unternimmt Roman Rosdolsky eine exzellente Kritik an Lenins Irrtum, der sich auf die Seite der russischen Legalisten und der Austro–Marxisten gegen Luxemburg stellte (s. S. 472f.). Obwohl er auch seine Kritik an Luxemburg hat, erkannte er den wahren Wert ihres Werkes und bestand darauf, dass der Marxismus notwendigerweise eine „Zusammenbruchs“–Theorie ist, und wies insbesondere auf die Tendenz zur Überproduktion, wie sie von Marx identifiziert worden war, als Schlüssel zum Verständnis hin. In der Tat sind einige seiner Kritiken an Luxemburg nur schwer zu entschlüsseln. Er besteht darauf, dass der Hauptirrtum darin lag, nicht zu verstehen, dass das Reproduktionsschema lediglich ein „heuristischer Ratschlag“ sei, wo doch schon Luxemburgs ganzes Argument gegen ihre Kritiker darin bestand, dass das Schema nur als heuristischen Ratschlag verstanden werden kann und nicht als ein wahres Abbild der historischen Evolution des Kapitals, nicht als mathematischen Beweis für die Möglichkeit einer unbegrenzten Akkumulation (siehe S. 490 in Rosdolskys Buch).
[12] Antikritik, Teil I.
[13] In der Tat stellte sich Kautsky später auf die Seite der Austro–Marxisten: „In seinem Hauptwerk kritisiert er heftig Rosa Luxemburgs ‚Hypothese‘, dass der Kapitalismus aus wirtschaftlichen Gründen zusammenbrechen muss; er behauptet, dass Luxemburg in Widerspruch zu Marx stehe, der das Gegenteil im zweiten Band des Kapital bewiesen habe, d.h. in den Schemata der Reproduktion“ (Rosdolsky, ob.zit., mit Zitat von: Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, S. 546–47)
[14] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 322 f. der Ausgabe im Dietz Verlag. Marx erklärt auch an anderer Stelle, dass die Idee, die Kapitalisten könnten selbst den Markt für die erweiterte Reproduktion bilden, auf dem mangelnden Verständnis des Charakters des Kapitalismus beruht: „Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein. Daher das sonderbare Phänomen, daß dieselben Ökonomen, die die Überproduktion von Waren leugnen, die von Kapital zugeben. Wird gesagt, daß nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiednen Produktionszweige stattfinde, so heißt dies weiter nichts, als daß innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozeß aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nichts als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozeß ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat. Es wird weiter damit verlangt, daß Länder, wo die kapitalistische Produktionsweise nicht entwickelt, in einem Grad konsumieren und produzieren sollen, wie er den Ländern der kapitalistischen Produktionsweise paßt. Wird gesagt, saß die Überproduktion nur relativ, so ist dies ganz richtig; aber die ganze kapitalistische Produktionsweise ist eben nur eine relative Produktionsweise, deren Schranken nicht absolut, aber für sie, auf ihrer Basis, absolut sind. Wie könnte es sonst an Nachfragen für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, wo wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr. Kurz, alle die Einwände gegen die handgreiflichen Erscheinungen der Überproduktion (Erscheinungen, die sich nicht um diese Einwände kümmern) laufen darauf hinaus, daß die Schranken der kapitalistischen Produktionsweise keine Schranken der Produktion überhaupt sind, und daher auch keine Schranken dieser spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise. Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann.“ (Das Kapital, Bd. III, Kapitel 15, Teil III, Hervorhebung von uns)