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Die Prüfung der Stunde: Burgfrieden oder Internationalismus?
Hand in Hand mit der Sozialdemokratie, welche am 4. August 1914 offen für die Kriegskredite stimmte, hatten auch die Führungen der großen sozialdemokratischen Gewerkschaften ihr Haupt vor den Kriegsplänen der herrschenden Klasse gebeugt. An der Vorständekonferenz der sozialdemokratischen Gewerkschaften vom 2. August 1914, auf der beschlossen wurde, alle Lohnkämpfe und Streiks zugunsten des Burgfriedens und für eine ungestörte Kriegsmobilisierung einzustellen, hatte Rudolf Wissell die chauvinistische Haltung, die in den sozialdemokratischen Gewerkschaften überhand nahm, auf den Punkt gebracht: „Wird Deutschland in dem gegenwärtigen Kampfe besiegt, was wir alle nicht hoffen, so sind auch nach Beendigung des Krieges alle gewerkschaftlichen Kämpfe aussichtslos und zwecklos. Siegt Deutschland, so kommt auch eine aufsteigende Konjunktur, und es brauchen dann die Mittel der Organisation nicht so sehr in die Waagschale geworfen zu werden.“[1] Die schreckliche Logik der Gewerkschaften bestand darin, das Schicksal der Arbeiterklasse direkt an den Ausgang des Krieges zu knüpfen: Wenn es der „eigenen Nation“ und ihren Herrschenden durch Kriegsgewinn gut gehe, dann auch den Arbeitern, weil innenpolitische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft zu erwarten seien. Deshalb müsse man alle Mittel zur Herbeiführung eines militärischen Sieges Deutschlands unterstützen.
Die Unfähigkeit der sozialdemokratischen Gewerkschaften und der SPD, angesichts des Krieges eine internationalistische Haltung zu vertreten, erstaunt nicht. Wenn man die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse an den nationalen Rahmen fesselt, den bürgerlichen Parlamentarismus als Allerweltsmittel vergöttert, statt den internationalen Antagonismus zwischen Arbeiterklasse und Kapitalismus als Orientierung zu nehmen, führt dies unweigerlich ins Lager des Kapitals.
Tatsächlich war der Krieg für die herrschende Klasse in Deutschland erst mit dem offenen Einschwenken der SPD und ihren Gewerkschaften durchführbar geworden! Die sozialdemokratischen Gewerkschaften nahmen mitnichten nur eine Rolle als Mitläufer ein. Nein, sie entwickelten eine wahre Kriegspolitik mit chauvinistischer Propaganda und waren ein entscheidender Faktor bei der Errichtung einer intensiven Kriegsproduktion. Der „sozialistische Reformismus“ hatte sich in einen „sozialistischen Imperialismus“ verwandelt, wie es Trotzki 1914 formulierte.
Unter den Arbeitern, die in den Wochen und Monaten des Kriegsausbruchs in Deutschland versuchten, gegen den Strom zu schwimmen, befanden sich auch viele, die vom Syndikalismus beeinflusst waren. Beispielhaft für den Zusammenprall kämpferischer Teile der Arbeiterklasse mit den vom Burgfrieden besessenen Führungen der sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften war im Mai–Juni 1914, kurz vor Kriegsbeginn, der Streik auf dem deutschen Passagierdampfer „Vaterland“. Das damals weltweit größte Passagierschiff war ein protziges Aushängeschild des deutschen Imperialismus. Teile der Mannschaft waren während der Jungfernfahrt von Hamburg nach New York unter der starken Präsenz von Arbeitern des syndikalistischen Industrieverbandes in den Streik getreten. Der sozialdemokratische Deutsche Transportarbeiter Verband wandte sich aggressiv gegen diesen Streik: „Deshalb haben alle diejenigen, die an diesen Versammlungen der Syndikalisten sich beteiligt haben, ein Verbrechen an den Seeleuten begangen. (…) Wilde Streiks verwerfen wir grundsätzlich“. (…) „Und in der gegenwärtigen ernsten Zeit, wo es darauf ankommt, alle Kräfte der Arbeiter zusammenzufassen, da treiben die Syndikalisten ihre Zersplitterungsversuche in die Reihen der Arbeiter und berufen sich noch obendrein auf die Worte von Karl Marx, dass die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann.“[2] Die Appelle der sozialdemokratischen Gewerkschaften für eine Einheit der Arbeiterbewegung waren nur noch Phrasen zur Kontrolle über die Regungen in der Arbeiterklasse, die im August 1914 von der SPD zugunsten der „Einheit für den Krieg“ verraten wurde.
Man kann der syndikalistischen Strömung in Deutschland in den Wochen vor dem Kriegsausbruch beileibe nicht den Vorwurf machen, den Klassenkampf beiseite gelegt zu haben. Im Gegenteil bildeten sie für kurze Zeit noch ein Sammelbecken kämpferischer Proletarier: „Da kamen Arbeiter, die das Wort Syndikalismus das erste Mal vernahmen und hier von heute auf morgen für ihre revolutionären Wünsche Befriedigung erhofften.“[3] Doch es stand vor allen Organisationen der Arbeiterklasse, auch der syndikalistischen Strömung, eine weitere Aufgabe. Nebst der Aufrechterhaltung des Klassenkampfes war es unabdingbar, den imperialistischen Charakter des sich abzeichnenden Krieges zu entlarven!
Was war die Haltung der syndikalistischen FVDG gegenüber dem Krieg? Am 1. August 1914 wandte sie sich in ihrem Hauptorgan Die Einigkeit klar gegen den aufkommenden Krieg, nicht als naive Pazifisten, sondern als Arbeiter, welche die Solidarität mit Arbeitern in anderen Ländern suchten: „Wer will den Krieg? Nicht das arbeitende Volk, sondern eine nichtsnutzige Militärkamarilla, die in allen europäischen Staaten nach kriegerischem Ruhm geizt. Wir Arbeiter wollen keinen Krieg! Wir verabscheuen ihn, er mordet die Kultur, schändet die Menschheit und vermehrt die Zahl der durch den bestehenden wirtschaftlichen Krieg Verkrüppelten ins Ungeheuerliche. Wir Arbeiter wollen den Frieden, den ganzen Frieden! Wir kennen keine Österreicher, Serben, Russen, Italiener, Franzosen usw. Arbeitsbruder ist unser Name! Den Arbeitern aller Länder reichen wir die Hände, um eine Untat zu verhindern, die einen Strom von Tränen aus den Augen der Mütter und Kinder erzeugen müsste. Barbaren und jeder Zivilisation feindliche Menschen mögen im Kriege eine hehre und heilige Äußerung erblicken. – Menschen mit einem fühlenden Herzen, Sozialisten, getragen von er Weltanschauung der Gerechtigkeit, Humanität und Menschenliebe, verachten den Krieg! Deshalb, Arbeiter und Genossen! Erhebt überall eure Stimme zum Protest gegen ein im Anzug befindliches Verbrechen an der Menschheit. Es kostet den Armen Gut und Blut, den Reichen aber bringt es Gewinn und den Vertretern des Militarismus Ruhm und Ehre. Nieder mit dem Krieg!“
Am 6. August erfolgte der Angriff deutscher Truppen auf Belgien. Franz Jung, ein revolutionärer syndikalistischer Sympathisant der FVDG und späteres Mitglied der KAPD, schildert seine ergreifenden Erlebnisse im kriegstaumelnden Berlin dieser Tage: „Zum mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hineingeraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: „Nieder mit dem Krieg!“ begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.“[4]
Lassen wir eine andere revolutionäre Stimme der damaligen Zeit, die internationalistische Anarchistin Emma Goldman sprechen: „In Deutschland blieben Gustav Landauer, Erich Mühsam, Fritz Oerter, Fritz Kater, und viele andere Genossen bei Verstand. Selbstverständlich waren wir bloß eine Handvoll verglichen mit den kriegsberauschten Millionen, doch es gelang uns ein Manifest unseres Internationalen Büros in der ganzen Welt zu verbreiten und wir enthüllten nun zu Hause die wahre Natur des Militarismus mit gesteigerter Energie.“[5] Oerter und Kater waren erfahrene Hauptexponenten der FVDG. Die FVDG blieb während des ganzen Krieges standfest in ihrer Haltung gegen den Krieg. Diese ist unumstritten wohl die herausragendste Stärke der FVDG – aber kurioserweise das am wenigsten dokumentierte Kapitel ihrer Geschichte.
Die FVGD wurde bei Kriegsbeginn sofort verboten. Viele ihrer Mitglieder – sie zählte 1914 noch rund 6000 – wurden in Schutzhaft genommen oder zwangsrekrutiert und an die Front geschickt. In der Zeitschrift Der Pionier, einem zweiten Organ der FVDG, schrieb sie am 5. August 1914 im Leitartikel „Das internationale Proletariat und der drohende Weltkrieg“: „Jeder weiß es, der Krieg zwischen Serbien und Österreich ist nur der sichtbare Ausdruck für das chronische Kriegsfieber…“. Die FVDG beschrieb, wie es den Regierungen in Serbien, Österreich und Deutschland gelungen war, die Arbeiterklasse für „die Kriegsfurie“ zu gewinnen, und denunzierte dabei die SPD und die Lüge des angeblichen Verteidigungskrieges: „Deutschland wird nie der „angreifende“ Teil sein, diese Auffassung werden die Herren in der Regierung uns schon beibringen, und aus diesem Grunde werden die deutschen Sozialdemokraten, wie das ihre Presse und Redner schon in sichere Aussicht gestellt haben, wie ein Mann in den deutschen Heeren zu finden sein.“. Die Einigkeit Nr. 32 vom 8. August war die letzte Ausgabe, welche die Mitglieder noch erreichte.
Ein internationalistischer Antimilitarismus
Wir haben im einführenden Teil dieser Artikelserie über die syndikalistische Bewegung eine Unterscheidung zwischen Antimilitarismus und Internationalismus gemacht: „Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und die zunehmend frenetische Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. (…) Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus.“[6] In welches Lager fügte sich die FVDG ein?
In der Presse der FVDG dieser Zeit stößt man wenig auf tiefschürfende oder ausgedehnte politische Analysen über die Hintergründe des Krieges oder über das Verhältnis zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten. Dieses Manko ergab sich aus dem gewerkschaftlichen Verständnis der FVDG. Sie verstand sich zu diesem Zeitpunkt vor allem als eine auf ökonomischem Gebiet kämpfende Organisation, obwohl sie in der Realität vielmehr ein Zusammenschluss von Gruppen war, die syndikalistische Ideen verteidigte, und keine Gewerkschaft. Die harten Auseinandersetzungen mit der SPD, die 1908 mit ihrem Ausschluss geendet hatten, erzeugten in ihren Reihen eine übertrieben pauschale Abneigung gegenüber der „Politik“ und damit den Verlust eines Erbes, das ihre Organisation in der Vergangenheit immer gegen die Trennung von Politik und Ökonomie verteidigte, welche von den großen sozialdemokratischen Gewerkschaften portiert wurde. Das Verständnis über die Dynamik der imperialistischen Spannungen war in den Reihen der FVDG nicht wirklich auf der Höhe der Zeit, sie wurde aber durch den Krieg unweigerlich gezwungen, zu einer höchst politischen Frage Stellung zu beziehen.
Die Geschichte des Syndikalismus in Deutschland zeigt am Beispiel der FVDG auf, dass zu einer wirklich internationalistischen Haltung nicht alleine theoretische Analysen über den Imperialismus genügen. Auch ein gesunder proletarischer Instinkt, ein tiefes Solidaritätsgefühl mit der internationalen Arbeiterklasse, ist dazu unabdingbar – und genau dies bildete das Rückgrat der FVDG im Jahre 1914.
Die FVDG bezeichnete sich in ihren Schriften meist als „antimilitaristisch“, das Wort Internationalismus ist kaum zu finden. Doch um den Syndikalisten der FVDG gerecht zu werden, ist es absolut notwendig das wahre Wesen ihrer Oppositionsarbeit gegen den Krieg zu betrachten. Die Sichtweise der FVDG gegenüber dem Krieg war keine, die an den Landesgrenzen Halt machte oder wie der damals verbreitete Pazifismus Illusionen in die Möglichkeit eines friedlichen Kapitalismus hegte. Anders als die große Mehrheit der Pazifisten, welche sich mehrheitlich nach Kriegsausbruch flugs in den Reihen der Verteidigung der Nation gegen den angeblich noch grausameren ausländischen Militarismus befanden, warnte die FVDG am 8. August 1914 die Arbeiterklasse klar vor jeglicher Kooperation mit der nationalen Bourgeoisie: “Die Arbeiter dürfen daher auch jetzt nicht vertrauensselig auf die augenblickliche Humanität der Kapitalisten und Unternehmer bauen. Der augenblickliche Kriegsfuror darf das Bewusstsein der bestehenden Klassengegensätze zwischen Kapital und Arbeit nicht verwischen.“[7]
Für die Genossen der FVDG ging es nicht darum, nur einen Aspekt des Kapitalismus, den Militarismus, zu bekämpfen, sondern sie stellten den Kampf gegen den Krieg in den allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse zur weltweiten Überwindung des Kapitalismus, so wie es Karl Liebknecht schon 1906 in der Schrift Militarismus und Antimilitarismus formuliert hatte. Liebknecht hatte 1915 im Artikel Antimilitarismus! berechtigterweise heroisch und radikal scheinende Formen des Antimilitarismus wie die Desertion kritisiert, da sie durch die Ausscheidung gerade der tüchtigsten Antimilitaristen aus den Armeen dieselben noch mehr in die Hände der Militaristen liefere und daher „alle bloß individuell geübten und individuell wirkenden Methoden grundsätzlich zu verwerfen sind“. In der internationalen syndikalistischen Bewegung gab es verschiedenste Auffassungen über den antimilitaristischen Kampf. Domela Nieuwenhuis, ein historischer Repräsentant der Generalstreiks–Idee, hatte 1901 in seiner Broschüre Der Militarismus Mittel vorgeschlagen, die eine eigenartige Mischung von Reformen und individueller Verweigerung waren. Anders die FVDG, sie teilte die Sorge Liebknechts, dass der gemeinsame Klassenkampf aller Arbeiter, und nicht die individuelle Aktion das alleinige Mittel gegen den Krieg ist.
Die Presse der FVDG wurde vor allem von der Geschäftskommission in Berlin, bestehend aus fünf Genossen um Fritz Kater, getragen und drückte, aufgrund des losen organisatorischen Zusammenhaltes der FVDG, stark deren eigene politische Positionen aus. Die internationalistische Haltung beschränkte sich innerhalb der FVDG aber nicht wie in der syndikalistischen CGT in Frankreich auf eine Minderheit der Organisation. Es kam angesichts der Kriegsfrage nicht zu Spaltungen. Es war vielmehr die Zerschlagung der Organisation und der Zwangseinzug an die Front, welche dazu führten, dass nur eine Minderheit noch permanente Aktivitäten aufrechterhalten konnte. Hauptsächlich in Berlin und in ca. 18 anderen Ortsgruppen waren syndikalistische Gruppen noch aktiv. Sie standen nach dem Verbot der Einigkeit im August 1914 durch das Mitteilungsblatt in Verbindung und ab dessen Unterdrückung im Juni 1915 durch das Organ Rundschreiben, welches im Mai 1917 ebenfalls verboten wurde. Durch die starke Repression gegen die internationalistischen Syndikalisten in Deutschland trugen ihre Publikationen ab Kriegsbeginn vielmehr den Charakter interner Bulletins, und nicht öffentlicher Zeitschriften: „Die Vorstände, resp. Vertrauensleute haben die benötigte Anzahl der Exemplare für ihre vorhandenen Mitglieder umgehend auszugeben, und das Blatt nur diesen zuzustellen.[8]
Die Genossen der FVDG hatten auch den Mut, sich dem Einschwenken der Mehrheit der syndikalistischen CGT in Frankreich zur Beteiligung am Krieg entgegenzustellen: „All diese Kriegstreiberei internationaler Sozialisten, Syndikalisten und Antimilitaristen kann nicht im entferntesten dazu beitragen, unsere Prinzipien zu erschüttern.“[9], schrieben sie zur Kapitulation der CGT–Mehrheit. Die Kriegsfrage war innerhalb der internationalen syndikalistischen Bewegung ein Prüfstein geworden. Sich der großen syndikalistischen Schwester, der CGT, entgegenzustellen, erforderte eine entschlossene Treue zur Arbeiterklasse, waren die CGT und ihre Theorien doch über Jahre wichtiger Orientierungspunkt bei der Hinwendung der FVDG zum Syndikalismus gewesen. Die Genossen der FVDG unterstützen während des Krieges die internationalistische Minderheit um Pierre Monatte, welche aus der CGT hervorging.
Weshalb blieb die FVDG internationalistisch?
Alle Gewerkschaften in Deutschland erlagen 1914 dem nationalistischen Kriegsfieber. Weshalb war die FVDG eine Ausnahme? Diese Frage lässt sich nicht alleine mit dem „Glück“, eine standhafte und internationalistische Geschäftskommission besessen zu haben, beantworten – obwohl dem so war. Genauso wenig lässt sich die Kapitulation der sozialdemokratischen Gewerkschaften gegenüber der Kriegsfrage mit dem „Pech“ einer verräterischen Gewerkschaftsführung erklären.
Die FVDG hatte sich auch kaum deshalb ein internationalistisches Rückgrat erworben, weil sie sich ab 1908 klar zum Syndikalismus hinbewegte. Das Beispiel der französischen CGT zeigt, dass der Syndikalismus in der damaligen Zeit an und für sich keine Garantie für den Internationalismus darstellte. Man kann generell sagen: Weder ein Bekenntnis zum Marxismus noch eines zum Anarchismus oder zum Syndikalismus stellten an sich eine Garantie dar, internationalistisch zu sein.
Die FVDG verwarf die patriotische Lüge der herrschenden Klasse, eingeschlossen der Sozialdemokratie, eines reinen „Verteidigungskrieges“ (eine Falle in die Kropotkin tragischer Weise gestolpert war). Sie denunzierte in ihrer Presse die Logik, dass sich jede Nation als die Angegriffene darstellt, Deutschland gegen den dunklen russischen Zarismus, Frankreich gegen den preußischen Militarismus, usw.[10] Diese Klarheit konnte nur auf der Einsicht gedeihen, dass der Kapitalismus nicht mehr in fortschrittlichere oder rückständigere Nationen aufgeteilt werden konnte, sondern als Gesamtes zerstörerisch geworden war für die Menschheit. Eine internationalistische Haltung zeichnete sich zur Zeit des Ersten Weltkrieges vor allem durch die politische Denunziation des „Verteidigungskrieges“ aus. Nicht zufällig widmete Trotzki dieser Frage im Herbst 1914 eine ganze Broschüre.[11]
Die FVDG argumentierte oft auch mit menschlichen Prinzipien: „Der Sozialismus stellt menschliche über nationale Prinzipien“ (…) „Es ist (…) schwer jetzt auf der Seite der trauernden Menschheit zu stehen, doch wenn wir Sozialisten sein wollen, dann ist dies unser Platz.“[12] Die Frage der Solidarität und der menschlichen Verbindung mit anderen Arbeitern auf der ganzen Welt war damals eine Basis für eine internationalistisch Haltung. Der proletarisch formulierte Internationalismus der FVDG im Jahre 1914 aber, war damals ein Zeichen der Stärke der syndikalistischen Bewegung in Deutschland gegenüber der Gretchenfrage des Krieges.
Die fundamentalen Wurzeln des Internationalismus der FVDG liegen aber vor allem in ihrer Geschichte als langjährige Opposition gegen den schleichenden Reformismus innerhalb der SPD und der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Ihre Abneigung gegen das Allerweltsmittel des Parlamentarismus der SPD spielte eine wesentliche Rolle. Sie verhinderte, gerade im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften, eine ideologische Einbindung in den kapitalistischen Staat.
Die Zerrissenheit der FVDG in der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Krieges zwischen einem gewerkschaftlichen Verständnis, einer Abneigung gegen „die Politik“ (der SPD) und einer Realität als Propagandagruppen (welche wie schon oben beschrieben klare Analysen über den Imperialismus bremste) hatte offenbar nicht nur Schwächen zur Folge. Angesichts der unverblümten chauvinistischen Kriegspolitik der SPD und der anderen Gewerkschaften wurde in den Reihen der FVDG deutlich der alte Reflex ihres Widerstandes gegen die Entpolitisierung der Arbeiterkämpfe, den sie bis in die Massenstreikdebatte von 1904 hinein prägte, geweckt.
Auch wenn, wie im vorangegangenen Artikel beschrieben, der Widerstand der FVDG gegen den Reformismus eigenartige Schwächen in sich trug wie eine Abneigung gegen „die Politik“ – was 1914 zählte, war die Haltung gegenüber dem Krieg. Viel gewichtiger als ihre Schwächen war für die Arbeiterklasse in diesem Moment der internationalistische Beitrag der FVDG.
Entscheidend für eine internationalistische Standhaftigkeit war zudem die gesunde Reaktion, sich trotz schwierigster Bedingungen nicht in Deutschland zu verschanzen. Die FVDG suchte den Kontakt nicht nur mit Monattes internationalistischer CGT–Minderheit, sondern auch mit anderen Syndikalisten in Dänemark, Schweden, Spanien, Holland (Nationaal Arbeids Secretariaat) und Italien (Unione Sindacale Italiana), welche versuchten, sich dem Krieg entgegenzusetzen.
Ungenügende Zusammenarbeit mit anderen Internationalisten in Deutschland
Wie laut war die internationalistische Stimme der FVDG während des Kriegens innerhalb der Arbeiterklasse zu hören? Sie verwarf offen die perfiden Institutionen zur Integration in den Burgfrieden. Wie in ihrem internen Organ Rundschreiben formuliert, wandte sie sich konsequent gegen die Beteiligung an den Kriegsausschüssen[13]: „Gewiss nicht! Solche Funktionen sind nichts für die unserer Mitglieder oder Funktionäre (…) niemand kann das von ihnen verlangen“[14]. Doch dies richtete sich in den Jahren 1914–1917 fast ausschließlich an die eigenen Reihen. Mit einer realistischen Einschätzung über die augenblickliche Machtlosigkeit und die Unmöglichkeit, dem Krieg wirklich noch im Wege stehen zu können, aber vor allem mit einer berechtigten Angst vor der Zerschlagung der Organisation, wandte sich Fritz Kater im Namen der Geschäftskommission im Mitteilungsblatt vom 15. August 1914 an die Genossen der FVDG: „Unsere Ansichten über Militarismus und Krieg, wie wir sie seit Jahrzehnten vertreten und propagiert haben, für die wir bis ans Lebensende einstehen, passen nicht in eine Zeit überschwänglicher Kriegsbegeisterung, man verurteilt uns zum Schweigen. Das war vorauszusehen und daher war das Verbot für uns durchaus keine Überraschung. Wir haben uns damit in Ruhe abzufinden, ebenso auch alle übrigen Gewerkschaftsgenossen.“
Kater drückte einerseits die Hoffnung aus, die Aktivitäten wie vor dem Krieg aufrecht erhalten zu können (was aber durch die Repression unmöglich war), andererseits das minimale Ziel, die Organisation zu retten: „Die Geschäftskommission ist aber der Ansicht, pflichtvergessen zu handeln, wenn sie mit dem Verbot der Zeitungen nun auch die anderweitigen Aktivitäten einstellte. Das wird sie nicht tun. (…) Sie wird die Verbindung mit den einzelnen Organisationen aufrecht erhalten, und alles tun was nötig ist, um deren Zerfall zu verhindern.“
Die FVDG hat den Krieg tatsächlich überlebt. Dies aber nicht aufgrund einer besonders geschickten Überlebensstrategie oder eindringlichen Appellen, die Organisation nicht zu verlassen. Es war eindeutig ihre internationalistische Haltung, welche durch die Kriegszeit hindurch Anziehungspol für ihre Mitglieder blieb.
Als im September 1915 mit dem Zimmerwalder Manifest ein internationaler Aufruf mit großem Echo gegen den Krieg ertönte, wurde dies von der FVDG solidarisch begrüßt. Dies vor allem auch wegen ihrer Nähe zur internationalistischen Minderheit der CGT, welche in Zimmerwald präsent war. Doch die FVDG hegte gegen einen Großteil der Gruppierungen der Zimmerwalder Konferenz ein Misstrauen, weil diese noch allzu sehr mit der Tradition des Parlamentarismus verknüpft waren. Dieses Misstrauen war keinesfalls unberechtigt, denn sechs Anwesende in Zimmerwald, darunter Lenin, hatten dazu erklärt: „Das von der Konferenz angenommene Manifest stellt uns nicht ganz zufrieden. (…) Das Manifest enthält keine klare Charakteristik der Mittel für den Kampf gegen den Krieg.“[15]. Die FVDG verfügte auch nicht über die von Lenin angesprochene Klarheit über die Mittel für den Kampf gegen den Krieg. Ihr Misstrauen drückte vielmehr eine mangelnde Offenheit gegenüber anderen Internationalisten aus. Ihr Verhältnis gegenüber den anderen Internationalisten in Deutschland zeigt dies deutlich.
Weshalb gab es in Deutschland selbst keine Zusammenarbeit zwischen der internationalistischen Opposition des Spartakusbundes und den Syndikalisten der FVDG? Während einer langen Zeit hatten tiefe Gräben bestanden, die nicht überwunden werden konnten. Karl Liebknecht hatte 10 Jahre zuvor in der Massenstreikdebatte von 1904 die FVDG hart über den Leist der individualistischen Schwächen eines ihrer damaligen temporären Wortführers, Rafael Friedebergs, geschlagen. Soweit wir wissen, haben auch die Revolutionäre um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den Kontakt zur FVDG während der ersten Kriegsjahre nicht gesucht, sicher aus einer Unterschätzung der internationalistischen Fähigkeiten der Syndikalisten.
Die FVDG selbst hatte gegenüber Karl Liebknecht, der Symbolfigur der Bewegung gegen den Krieg in Deutschland war, eine sehr schwankende Haltung, welche ein Zusammenrücken verhinderte. Die FVDG konnte Liebknecht einerseits seine Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914, die dieser nicht aus Überzeugung, sondern lediglich aus falscher Fraktionsdisziplin (wie er danach selber kritisierte) erteilte, nie verzeihen. Andererseits verteidigte ihn die FVDG aber immer wieder in ihrer Presse, wenn Liebknecht Opfer der Repression wurde. Eigenartigerweise traute die FVDG es der revolutionären Opposition in der SPD nicht zu, sich vom Parlamentarismus zu lösen, einen Schritt, den sie selber auch erst durch die Trennung von der SPD 1908 vollständig gemacht hatte. Es existierte ein tiefes Misstrauen. Erst als dann Ende 1918 die revolutionäre Bewegung Deutschland voll erfasste, rief die FVDG ihre Mitglieder zeitweilig dazu auf, in Doppelmitgliedschaft auch dem Spartakusbund beizutreten.
Rückblickend suchten weder die FVDG noch der Spartakusbund in genügendem Maße den Kontakt auf der Basis ihrer gemeinsamen internationalistischen Haltung während des Krieges. Es war vielmehr die Bourgeoisie, welche die internationalistische Gemeinsamkeit der FVDG und der Spartakisten besser erkannte als diese beiden Organisationen selber: Die von der SPD–Führung kontrollierte Presse versuchte die Spartakisten oft als der „Kater–Tendenz“ nahe stehend zu verunglimpfen[16].
Wenn wir anhand der Geschichte der FVDG während des Ersten Weltkrieges für heute und für die Zukunft eine Lehre ziehen können, dann folgende: die Notwendigkeit, den Kontakt mit anderen Internationalisten zu suchen, auch wenn zu anderen Fragen Differenzen bestehen. Dies hat absolut nichts mit einer aus der Geschichte der geschlagenen Arbeiterbewegung der 20er und 30er Jahre bekannten „Einheitsfront“ zu tun (bei der aus einer Schwäche heraus sogar die Zusammenarbeit mit Organisationen des bürgerlichen Lagers gesucht wird) sondern damit, die wichtigste proletarische Gemeinsamkeit zu erkennen.
Mario 5.8.2011
[1] H.J. Bieber: Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 88
[2] Siehe: Folkert Mohrhof, Der syndikalistische Streik auf der „Vaterland“ 1914
[3] Die Einigkeit, Hauptorgan der FVDG, 27.6.1914, Karl Roche: „Ein Gewerkschaftsführer als Gehilfe der Staatsanwaltschaft“
[4] Franz Jung, Der Weg nach unten, Nautilus, S.89
[5] Emma Goldman, Gelebtes Leben. Emma Goldman hatte sich in Februar 1915 mit anderen internationalistischen Anarchisten wie Berkman und Malatesta offen gegen die Befürwortung des Krieges durch die anarchistische Autoritätsfigur Kropotkin und anderer gewandt. Die FVDG begrüßte im Mitteilungsblatt vom 20. Februar 1915 diese Verteidigung des Internationalismus gegenüber Kropotkin durch revolutionäre Anarchisten.
[6] „Was ist revolutionärer Syndikalismus?“, Internationale Revue Nr. 46
[7] Die Einigkeit Nr. 32, 8. August 1914
[8] Mitteilungsblatt, 15. August 1914
[9] Mitteilungsblatt, 10. Oktober 1914, zitiert nach Wayne Thorpe, Keeping the faith: The German Syndicalists in the First World War. Diese Arbeit ist neben den Originaldokumenten der FVDG die einzige (und sehr wertvolle) Untersuchung über den deutschen Syndikalismus im Ersten Weltkrieg.
[10] Siehe u.a. Mitteilungsblatt November 1914 und Rundschreiben August 1916.
[11] Der Krieg und die Internationale
[12] Mitteilungsblatt, 21. November 1914
[13] Kriegsausschüsse wurden ab Februar 1915 zuerst in der metallverarbeitenden Industrie im Raum Berlin gegründet. Sie umfassten Vertreter von Unternehmerverbänden im Metallbereich und Vertreter der großen Gewerkschaften. Ihr Ziel war es, den zunehmenden Arbeitsplatzwechsel der Arbeiter in Fabriken, die höheren Gehälter boten, zu stoppen. Diese „unkontrollierte“ Fluktuation war in den Augen der Regierung und der Gewerkschaften schädlich für eine effiziente Kriegsproduktion. Aufgrund der langsam beginnenden Ausblutung der Gesellschaft durch die Massaker des Krieges war ein Arbeitskräftemangel entstanden. Diese Kriegsauschüsse basierten auf einem früheren Vorstoß zur Bildung von Kriegsarbeitsgemeinschaften, der schon im August 1914 vom sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Theodor Leipart ins Leben gerufen worden war, unter der heuchlerisch arbeiterfreundlich scheinenden Begründung, „die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen“ – es ging aber in Wirklichkeit darum, die Gesellschaft besser auf die Kriegsproduktion auszurichten.
[14] Zitiert nach Thorpe: Keeping the faith, a.a.O.
[15] Erklärung von Lenin, Sinowjew, Radek, Nerman, Höglund, Winter auf der Konferenz von Zimmerwald.
[16] z.B. Vorwärts, 9. Januar 1917