Soziale Bewegungen in der Türkei und in Brasilien

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Die Empörung als Triebkraft einer proletarischen Dynamik

Auf der ganzen Welt setzt sich das Gefühl durch, dass es so nicht weitergehen kann. Nach den Revolten des „Arabischen Frühlings“, der Bewegung der „Indignados“ in Spanien, der Occupy-Bewegung in den USA im 2011, strömten im Sommer 2013 in der Türkei und Brasilien große Massen auf die Straßen. Hunderttausende, ja Millionen von Menschen protestierten gegen alle möglichen Missstände. In der Türkei waren die Auslöser die Zerstörung der Umwelt für eine sinnlose „Verbesserung“ der Stadt, die Zunahme des Einflusses der Religion auf das Privatleben, die Korruption der Polizei. In Brasilien waren es die Verteuerung der öffentlichen Verkehrsmittel und die Ausgaben für die Prestigebauten der Fußballweltmeisterschaft, während Gesundheits-, Transport- und Bildungswesen und die Lage auf dem Wohnungsmarkt je länger je schlimmer werden - und auch hier wieder die korrupten Politiker. In beiden Ländern gab es eine brutale Polizeirepression, die nur dazu führte, dass sich die Proteste ausbreiteten. Es war nicht die sogenannte „Mittelklasse“, der „Mittelstand“, der sich auf die Straße begab, wie es von den Medien gern wiedergegeben wird. Die Speerspitze beider Bewegungen war die neue Generation der Arbeiter_innen, die trotz ihrer auch guten Ausbildung schlechte Aussichten darauf hat, hat einen festen Arbeitsplatz zu finden. Für diese neue Generation bedeutet das Leben in einem sogenannten „Schwellenland“ vor allem, einer wachsenden sozialen Ungerechtigkeit zusehen und einen abstoßenden Reichtum einer kleinen Minderheit ertragen zu müssen.

Deswegen ist heute „das Gespenst, das in der Welt umgeht“, das der Empörung. Zwei Jahre nach dem Arabischen Frühling, der überraschend verschiedene Länder Nordafrikas traf und immer noch zu spüren ist, nach der Bewegung der Indignados und der Occupy-Bewegung kamen die Bewegungen in der Türkei und in Brasilien, welche Millionen von Menschen auf die Straßen Hunderter Städte brachte.

Dies geschah in ganz verschiedenen Ländern, die geographisch weit auseinander liegen. Trotzdem haben sie gewisse Gemeinsamkeiten: die Spontaneität, die brutale Repression des Staates und eine starke Teilnahme der Jugend, die sich über die sozialen Netzwerke organisiert. Der gemeinsame Nenner ist jedoch die große Empörung angesichts der Verschlimmerung der Lebensbedingungen auf der ganzen Welt, in einer Krise, welche die Fundamente der kapitalistischen Gesellschaft angreift und 2007 eine Beschleunigung erfuhr.

Die Beschleunigung zeigt sich in immer prekäreren Verhältnissen von immer größeren Teilen der Arbeiterklasse und einer großen Unsicherheit der Zukunft für die proletarische Jugend. Es ist kein Zufall, dass sich die Bewegung in Spanien den Namen „Indignados“ gegeben hat; in der ganzen massiven Welle sozialer Bewegungen ist diese Bewegung in Spanien am weitesten gegangen, indem sie das kapitalistische System in Frage gestellt und die Organisationsform der Vollversammlungen angewandt hat.[1]

Die Revolten in Brasilien und der Türkei von 2013 beweisen, dass die Dynamik der vorhergehenden Bewegungen nicht gebrochen ist. Auch wenn die bürgerlichen Medien verschwiegen, dass diesmal die Bewegungen in Ländern auftraten, die sich im Wachstum befinden, konnten sie nicht unterschlagen, dass es die gleiche Empörung war, die sich gegen die Funktionsweise dieses Systems und alle Missstände, die daraus folgen, entlud. Es sind die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, die Gier und die Korruption der herrschenden Klasse, die Brutalität der staatlichen Repression, der Zerfall der Infrastruktur, die Zerstörung der Umwelt und vor allem die Unfähigkeit des Systems, der Jugend eine Perspektive zu bieten.

Vor 100 Jahren erinnerte Rosa Luxemburg das Proletariat angesichts des 1. Weltkrieges daran, dass es im niedergehenden Kapitalismus nur zwei Möglichkeiten gibt: Sozialismus oder Barbarei. Die Unfähigkeit der Arbeiterklasse, ihre eigene Perspektive durchzusetzen, hatte ein Jahrhundert der kapitalistischen Barbarei zur Folge. Heute ist die Gefahr noch grösser, denn heute hat der Kapitalismus die Mittel, die ganze Menschheit in den Abgrund zu reißen. Die Revolten der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der massive Kampf um die menschliche Würde und eine Zukunft, das ist das Versprechen der sozialen Revolten in der Türkei und in Brasilien.

Ein besonderer Aspekt der Revolte in der Türkei ist die Nähe zum blutigen Krieg in Syrien. Der Krieg in Syrien begann auch mit massenhaften Revolten gegen das herrschende Regime. Aber die Schwäche des Proletariats in diesem Land und die tiefen Spaltungen in religiöse und ethnische Gruppen ermöglichte es dem Regime, mit einer außergewöhnlichen Brutalität zu antworten. Die Spaltungen haben sich vergrößert, und wie in Libyen begann in Syrien ein „Bürgerkrieg“, der sich in einen Stellvertreterkrieg der verschiedenen imperialistischen Fraktionen verwandelte. Syrien ist heute zum Musterbeispiel der Barbarei geworden, die der Kapitalismus der Menschheit bereithält. In Ländern wie Tunesien und insbesondere Ägypten, wo die sozialen Bewegungen zwar eine Prägung durch das Gewicht der Arbeiterklasse hatten, konnten sie trotzdem nicht der herrschenden Ideologie standhalten, und nun werden die Arbeiter_innen zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen wie den religiösen Fundamentalisten und Anhängern der alten Regierung und anderer Fraktionen der Bourgeoisie aufgerieben. Auf der anderen Seite sehen wir die Türkei, Brasilien wie auch andere soziale Revolten, welche den eröffneten Weg aufzeigen, den Weg zu einer Ablehnung des Kapitalismus, zur proletarischen Revolution und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, die auf den menschlichen Bedürfnissen und der Solidarität fußt.

Das proletarische Wesen der Bewegungen

Türkei

Die Bewegung der Monate Mai und Juni begann damit, dass man dagegen war, dass Bäume im Gezi-Park beim Taksimplatz in Istanbul gefällt werden sollten. Dieser Widerstand in der Türkei sah eine noch nie dagewesene Größe und Ausbreitung. Viele Teile der Gesellschaft, die unzufrieden mit der Politik der Regierung waren, nahmen teil. Was aber die Massen der Menschen auf die Straße trieb, war die Repression des Staates. Genau diese Repression rief eine große Wut in der Arbeiterklasse hervor. Die Bewegung in der Türkei war nicht nur Teil der Dynamik des „Arabischen Frühlings“, sondern war in direkter Verbindung zu der Bewegung der „Indignados“ und der Occupy-Bewegung zu sehen. In diesen Ländern ist das Proletariat nicht nur zahlenmäßig die Mehrheit, sondern war auch der tragende Teil der Bewegung. Dies galt auch für die Bewegung in Brasilien, dort setzte sich die Bewegung zum größten Teil aus der Arbeiterklasse zusammen, besonders aus der jungen Arbeiterklasse.

Der am stärksten vertretene Teil der Bevölkerung war die sogenannte „Generation 1990“. Die apolitische Haltung war bisher das Etikett dieser Generation, von der viele sich nicht an die Zeit vor der AKP-Regierung erinnern.[2] Die Mitglieder dieser Generation, von der man sagte, sie interessiere sich nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern nur für ihr eigenes Wohl, verstanden, dass es keine Chance gibt, wenn sie nur die eigene Rettung suchen. Sie hatten genug von der Regierung, die ihnen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Die Student_innen und ganz besonders die Gymnasiast_innen nahmen massenhaft an den Protesten teil. Die jungen Arbeiter_innen und die arbeitslose Jugend waren auch breit vertreten. Auch die Arbeiter_innen und Arbeitslosen mit höherer Schulbildung waren vor Ort.

Auch ein Teil der Arbeiterklasse nahm an der Bewegung teil, er bildete die Hauptmasse der proletarischen Tendenz darin. Die Streikenden der türkischen Fluggesellschaft versuchten sich dem Kampf um Gezi anzuschließen. Besonders im Textilsektor wurden Stimmen laut, die das auch wollten. Einer dieser Proteste ging von Bagcilar-Günesli in Istanbul aus, wo die Textilarbeiter_innen harter Ausbeutung ausgesetzt sind. Sie brachten ihre Klassenforderungen vor und drückten gleichzeitig ihre Solidarität mit dem Kampf um den Gezi-Park aus. Auf ihren Spruchbändern stand: „Grüsse aus Bagcilar an Gezi!“ und „Samstag sollte ein arbeitsfreier Tag sein!“ In Istanbul sah man Arbeiter_innen mit Transparenten mit der Aufschrift: „Generalstreik, allgemeiner Widerstand“, die andere dazu aufmunterten, sich einem Protestmarsches in Alibeykov anzuschließen,  der schon Tausende umfasste; oder: „Geht nicht zur Arbeit, kämpft!“, riefen die Lohnabhängigen der Einkaufszentren und Büroangestellte, die sich am Taksim-Platz versammelten. Zusätzlich entwickelte die Bewegung den Willen, innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft zu kämpfen. KESK, DISK und andere Gewerkschaften, die zum Streik aufriefen, mussten dies zweifellos nicht allein wegen den sozialen Netzwerken tun, sondern auch weil sie unter Druck der eigenen Mitglieder standen. Schließlich rief die Plattform der verschiedenen Branchen von Türk-Is[3] in Istanbul, einem Zusammenschluss aller lokalen Gewerkschaften, die anderen Gewerkschaften dazu auf, einen Generalstreik gegen den Staatsterror zu organisieren. Dies eine Woche nach dem Angriff auf den Gezi-Park. Die Aufrufe kamen zustande, weil die Mitglieder über das Geschehene empört waren.

Brasilien

Die sozialen Bewegungen vom letzten Juni haben eine besondere Bedeutung für das Proletariat in Brasilien, Lateinamerika und dem Rest der Welt, und sie überwinden auch den traditionellen Regionalismus dieses Landes. Diese Massenbewegungen unterscheiden sich auch radikal von Bewegungen, die vom Staat kontrolliert werden oder vom PT (Arbeiterpartei) und anderen politischen Parteien wie derjenigen der Landlosen Arbeiter (MST). Sie waren auch anders als die Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, wie die in Argentinien zu Beginn des Jahrhunderts, die „indigene“ Bewegung in Bolivien und Ecuador, die Zapatistas in Mexiko oder der Chavismus von Venezuela, die eine Konsequenz der Konfrontation zwischen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Fraktionen waren, welche sich um die Verteidigung der nationalen Interessen stritten. In diesem Sinne ist für Brasilien und Lateinamerika diese spontane Massenmobilisierung im Juni die breiteste in den letzten 30 Jahren. Das ist der wesentliche Grund, warum man von einem Klassenstandpunkt aus die Lehren aus diesen Ereignissen ziehen muss.

Es ist unbestreitbar, dass diese Bewegung die Bourgeoisie in Brasilien und weltweit überraschte. Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Verkehr (die alljährlich zwischen den Transportchefs und dem Staat ausgehandelt werden) war lediglich ein Auslöser für die Bewegung. Er kristallisierte die ganze Empörung, die sich seit einiger Zeit in der brasilianischen Gesellschaft zusammengebraut hatte, die sich 2012 in verschiedenen Kämpfen – am stärksten in São Paolo, der öffentlichen Verwaltung und an den Universitäten – ausdrückte. In den letzten Jahren gab es auch eine Anzahl von Streiks gegen Lohnkürzungen, unsichere Arbeitsbedingungen und gegen die Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich.

Im Unterschied zu anderen sozialen Massenbewegungen in verschiedenen Ländern seit 2011 waren die in Brasilien ausgelöst und vereint durch konkrete Forderungen, was es ermöglichte, dass sich weite Teile des Proletariats spontan gegen die Fahrpreiserhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel mobilisierten. Die Bewegung erreichte am 13. Juni einen Massencharakter auf nationaler Ebene, als die Demonstrationen in São Paolo gegen die Fahrpreiserhöhung, zu denen die MPL (Movimento Passe Livre – Bewegung für die kostenlose Benutzung der Verkehrsmittel)[4] und auch andere soziale Bewegungen aufgerufen hatten, gewalttätig von der Polizei unterdrückt wurden.[5] Während fünf Wochen wurde zusätzlich zu den breiten Protesten in São Paolo in verschiedenen Städten für die gleichen Forderungen protestiert, und zwar so stark, dass z.B. in Porto Alegre, Goiânia und anderen Städten der Druck so groß wurde, dass Politiker, gleich welcher Richtung, gezwungen wurden, die höheren Fahrpreise nach heftigen Kämpfen, die von der harten staatlichen Repression gezeichnet waren, wieder zurückzunehmen.

Die Bewegung stellte sich sofort auf einen proletarischen Boden. Zuerst sollten wir unterstreichen, dass die Mehrheit der Teilnehmer_innen aus der Arbeiterklasse sind, meistens junge Arbeiter_innen und Student_innen, vielfach aus proletarischen Familien oder solchen, die einem Proletarisierungsprozess unterworfen sind. Die bürgerliche Presse stellte die Bewegung als eine „Mittelklasse“-Erscheinung dar mit dem klaren Ziel, die Bewegung zu spalten. Tatsächlich sind es aber Arbeiter_innen, die weniger verdienen als die Facharbeiter aus den industrialisierten Zonen des Landes. Dies erklärt den Erfolg und die breite  Sympathie, welche die Bewegung gegen die Preiserhöhungen im Transportbereich genoss, weil sie sich gegen einen direkten Angriff auf die Einkommen der Familien der Arbeiterklasse richtete. Dies erklärt auch, wieso sich die Anfangsforderung schnell in eine Infragestellung des Staates verwandelte, weil es eine Verwahrlosung beispielsweise des Gesundheitssektors, des Bildungs- und Sozialwesens gibt. Vermehrte Proteste gibt es auch gegen die immensen Summen öffentlicher Gelder, die in die Fußballweltmeisterschaft und die Olympiade von 2016 gesteckt werden.[6] Für diese Veranstaltungen hat die brasilianische Bourgeoisie nicht gezögert, die Leute umzusiedeln, die nahe an den Stadien wohnten: zu Beginn des Jahres beim Stadion Aldeia Maracanã in Rio; in den auserwählten Zonen der Baufirmen in São Paulo, wo die Favelas, die ihren Planungen im Weg standen, niedergebrannt wurden.

Es ist sehr bedeutsam, dass die Demonstrationen rund um die Stadien, wo die Spiele um den Konföderations-Pokal stattfanden, organisiert wurden; damit zogen sie eine große mediale Aufmerksamkeit auf sich, und es brachte zum Ausdruck, dass das von der brasilianischen Bourgeoisie inszenierte Spektakel verworfen wurde. Gleichzeitig antwortete die Bewegung damit auch auf die brutale Repression rund um die Stadien gegen die Demonstrationen, die mehrere Todesopfer forderte. In einem Land, wo der Fußball Nationalsport ist, der von der herrschenden Klasse als Sicherheitsventil gebraucht wird, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, sind die Demonstrationen des brasilianischen Proletariats ein Beispiel für die ganze Weltarbeiterklasse. Die brasilianische Bevölkerung ist für ihre Liebe zum Fußball bekannt, das hat sie aber nicht daran gehindert, gegen die Sparprogramme anzutreten, welche die Regierung wegen den gewaltigen Ausgaben für diese sportlichen Anlässe umsetzen wollte. Die herrschende Klasse in Brasilien benutzt diese Spiele, um zu zeigen, dass sie in der obersten Liga der Weltökonomie mitspielen kann. Die Demonstrant_innen verlangten öffentliche Dienstleistungen mit „FIFA-Qualitätssiegel“.[7]

Eine außerordentlich bedeutsame Tatsache war, dass es eine breite Ablehnung gegenüber den politischen Parteien gab (insbesondere der Arbeiterpartei, dem PT, die den Präsidenten Lula hervorgebracht hatte), und gegenüber den Gewerkschaften. In São Paulo wurden einige Demonstrant_innen ausgeschlossen, weil sie Spruchbänder von Studentenorganisationen trugen, welche die Regierung unterstützten.

Auch wenn nur durch Minderheiten hat sich der Klassencharakter der Bewegung bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt. Es gab eine Anzahl von Versammlungen, die in der heißen Phase der Bewegung abgehalten wurden, auch wenn diese nicht die Ausdehnung oder den Organisationsgrad der Indignados in Spanien erreichten. Z.B. die von Rio de Janeiro und Belo Horizonte, die zu Volks- und egalitären Versammlungen aufgerufen hatten, die vorschlugen, Raum für „neue, spontane, offene und egalitäre Debatten“ zu schaffen. Bei diesen Versammlungen nahmen mehr als 1000 Leute teil.

Diese Versammlungen, obwohl sie die Vitalität und das Bedürfnis nach Selbstorganisierung der Massen zum Ausdruck brachten, damit sie ihre Forderungen durchsetzen können, zeigten einige Schwächen auf:

- Auch wenn verschiedene Gruppen und Kollektive an der Organisierung teilnahmen, waren diese Versammlungen von der kapitalistischen Linken animiert, die überwiegend an der Peripherie der Stadt ihre Aktivitäten ausübte.

- Die vorherrschende Meinung war, dass die Versammlungen Organe sind, die mit partikulären Forderungen zur Verbesserung der Situation in diesen oder jenen Gemeinden und Städten Druck auf den Staat ausüben sollen. Sie tendierten auch dazu, sich als dauerhafte Organe zu sehen.

- Sie beanspruchten, unabhängig vom Staat und den Parteien zu sein, doch sie waren infiltriert von Regierungsanhängern und linken oder linksextremen Organisationen, die jeglichen spontanen Ausdruck sabotierten.

- Es wurden lokalistische oder nationalistische Sichtweisen vorgebracht, man kämpfte gegen die Auswirkungen der Probleme anstatt zu verstehen, was diese verursacht, auch wurde der Kapitalismus nicht infrage gestellt.

In der Bewegung gab es ausdrückliche Bezugnahmen zu anderen Bewegungen in anderen Ländern, insbesondere zur Türkei, welche Bewegung sich umgekehrt auf Brasilien bezog. Trotz dem minoritären Charakter dieser Bekundungen drückte sich darin doch aus, was beiden Bewegungen gemeinsam war. An verschiedenen Demonstrationen konnte man Spruchbänder mit der Aufschrift sehen: „Wir sind Griechen, Türken, Mexikaner, wir sind obdachlos, wir sind Revolutionäre“, oder Schilder, auf denen stand: „Dies ist nicht die Türkei, nicht Griechenland, es ist Brasilien, das seine Massenträgheit ablegt.“

In Goiânia unterstrich der Frente de Luta Contra o Aumento (Front für den Kampf gegen die Preiserhöhung), der sich aus verschiedenen Basisorganisationen zusammensetzte, das Bedürfnis nach Solidarität und Debatte zwischen den verschiedenen Teilen der Bewegung: „WIR MÜSSEN ZUSAMMENBLEIBEN UND UNS VEREINIGEN! Trotz Meinungsverschiedenheiten müssen wir unsere Solidarität, unseren Widerstand, unseren Kampfgeist pflegen und unsere Organisation und unsere Diskussionen vertiefen. Auf gleiche Weise wie in der Türkei stehen friedliche und militante Teile nebeneinander und kämpfen zusammen, diesem Beispiel müssen wir folgen.“

Die große Empörung, die das brasilianische Proletariat beseelte, wurde in den folgenden Überlegungen von Rede Extremo Sul, einem Netzwerk von sozialen Bewegungen am Stadtrand von São Paulo konkretisiert: „Damit diese Möglichkeiten Wirklichkeit werden, können wir es nicht zulassen, dass die Empörung auf der Straße auf nationalistische, konservative und moralisierende Ziele abgelenkt wird; wir können es nicht zulassen, dass diese Kämpfe vom Staat und von Eliten erfasst und ihres politischen Inhalts entleert werden. Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhung und den schlechten Zustand der Dienstleistungen ist direkt mit den Kämpfen gegen den Staat und die großen Wirtschaftsunternehmen verbunden, gegen die Ausbeutung und Erniedrigung der Arbeiter_innen und gegen diese Lebensweise, wo Geld alles und Menschen nichts sind.“

Die von der herrschenden Klasse gelegte Fallen

Türkei

Verschiedene bürgerliche politische Tendenzen sind aktiv gewesen, um die Bewegung innerhalb der Grenzen der bestehenden Ordnung zu halten, um die Radikalisierung zu vermeiden und die proletarischen Massen, die gegen den Staatsterror auf die Straße gingen, daran zu hindern, ihre Klassenforderungen bei den Lebensbedingungen zu entwickeln. Wir behaupten zwar nicht, dass die demokratischen Forderungen einstimmig von der Bewegung aufgenommen worden wären, aber sie herrschten im Allgemeinen vor. Die Forderungen nach „mehr Demokratie“, die sich um die Anti-AKP- oder vielmehr um Anti-Erdogan-Position bildeten, drückte nichts anderes aus als eine Neuorganisierung des türkischen Staatsapparates auf einer demokratischen Grundlage. Der Einfluss der demokratischen Forderungen in der Bewegung war ihre größte ideologische Schwäche. Denn Erdogan selber baute alle seine ideologischen Angriffe gegen die Bewegung um die Achse von Demokratie und Wahlen auf; die staatlichen Behörden verbanden Lügen und Manipulationen, um bis zum Erbrechen das Argument zu wiederholen, dass die Polizei auch in Ländern, die als demokratischer gelten als die Türkei, mit Gewalt gegen illegale Demonstrationen vorgeht – was natürlich zutrifft. Darüber hinaus fesselte die Orientierung, die auf den Erhalt der demokratischen Rechte abgezielte, die Hände der Massen, die mit Polizeiangriffen und Staatsterror konfrontiert waren, und befriedete ihren Widerstand.

Die aktivsten Elemente dieser demokratischen Tendenzen, die die Taksim-Solidaritätsplattform kontrollierten, waren in die linken Gewerkschaftsbünde wie KESK und DISK eingebunden. Die Taksim-Solidaritätsplattform und damit die demokratische Tendenz, die aus Vertretern aller Arten von Verbänden und Organisationen bestand, zog ihre Stärke nicht aus einer organischen Verbindung mit den Demonstrierenden, sondern aus ihrer bürgerlichen Legitimation und den entsprechenden finanziellen Ressourcen, auf die sie zurückgreifen konnte. Die Basis der linken Parteien, die ebenfalls als bürgerliche Linke angesehen werden kann, war zum großen Teil von der Masse getrennt. In der Regel war sie das hintere Ende der demokratischen Tendenz. Die stalinistischen und trotzkistischen Zirkel und die bürgerlich-radikalen Linken waren ebenfalls weitgehend von den Massen getrennt. Sie hatten nur in den Vierteln einen wirklichen Einfluss, in denen sie traditionell eine gewisse Stärke haben. Sie setzten sich der demokratischen Tendenz dann entgegen, wenn diese die Bewegung zu zerstreuen suchte, unterstützte sie aber in der Regel. Ihr bei den Massen am weitesten verbreitete Slogan war „Schulter an Schulter gegen den Faschismus.“

Brasilien

Die nationale Bourgeoisie hat jahrzehntelang daran gearbeitet, Brasilien zu einer kontinentalen oder sogar Weltmacht zu machen. Um dies zu erreichen, ist es nicht genug, über ein riesiges Gebiet, das fast die Hälfte des südamerikanischen Kontinents bedeckt, zu verfügen oder auf die großen Naturressourcen zurückzugreifen. Es ist auch notwendig, die soziale Ordnung, vor allem die Kontrolle über die Arbeiter_innen zu erhalten. So wechselten sich in den 1980er Jahren Rechts- und Mitte-Links-Regierungen ab, die jeweils auf „freien und demokratischen“ Wahlen basierten. All dies war unverzichtbar für die Stärkung des brasilianischen Kapitals auf der Weltbühne.

Die brasilianische Bourgeoisie war so besser in der Lage, ihren Produktionsapparat zu stärken und auch in den schlimmsten Zeiten der Wirtschaftskrise in den 90er Jahren zu regieren, während es ihr auf der politischen Ebene gelang, eine politische Kraft zu schaffen, die die verarmten Massen kontrollieren, insbesondere den sozialen Frieden wahren konnte. Diese Situation wurde durch die Machtübernahme durch den PT 2002 gefestigt, wobei das Charisma und das „Arbeiterklassebild“ von Lula eingesetzt wurden.

Auf diese Weise stieg im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die brasilianische Wirtschaft auf den siebten Platz der Weltrangliste (nach Angaben der Weltbank). Die Weltbourgeoisie hat das „brasilianische Wunder“ unter der Präsidentschaft von Lula gefeiert, der angeblich Millionen von Brasilianer_innen aus der Armut herausgezogen und ihnen ermöglichte, in die berühmte Mittelschicht aufzusteigen. In der Tat ist „dieser Erfolg“ durch die Verteilung eines Teils des Mehrwerts als Krümel an die Ärmsten erreicht worden, während zur gleichen Zeit die Lage der meisten Arbeiter_innen noch unsicherer geworden ist.

Die Krise bleibt aber das Grundproblem in Brasilien. Beim Versuch, ihre Auswirkungen zu dämpfen, hat die brasilianische Bourgeoisie eine Politik der großen Bauvorhaben ins Leben gerufen, die zu einem Bauboom im öffentlichen und privaten Sektor führte; gleichzeitig hat sie Kreditaufnahmen und die Verschuldung der Familien erleichtert, um den Binnenkonsum anzuregen. Die Grenzen dieser Politik sind in den Konjunkturindikatoren bereits spürbar (Verlangsamung des Wachstums), vor allem aber in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse: steigende Inflationsraten (eine Jahresprognose von 6,7% im Jahr 2013), erhöhte Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen (einschließlich Verkehr), eine deutliche Zunahme der Arbeitslosigkeit, Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben. Also kommen die Proteste der Bewegung in Brasilien nicht aus heiterem Himmel.

Das einzige konkrete Ergebnis, das unter dem Druck der Massen herausschaute, war die Aussetzung der Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Verkehr, das der Staat aber auf andere Weise wieder rückgängig machen wird. Zu Beginn der Protestwelle erklärte die Präsidentin Dilma Rousseff über ihre Sprachrohre zur Beschwichtigung der hochgehenden Empörung, dass die Proteste der Bevölkerung „legitim und mit der Demokratie vereinbar“ seien, während ihre Regierung gleichzeitig an einer Strategie arbeitete, um die Bewegung zu kontrollieren. Lula kritisierte seinerseits die „Exzesse“ der Polizei. Aber die Repression des Staates hörte nicht auf – und die Straßendemonstrationen auch nicht.

Eine der aufwendigsten Fallen gegen die Bewegung war die Verbreitung des Mythos eines Staatsstreichs durch die Rechte. Dieses Gerücht verbreiteten nicht nur der PT und die stalinistische Partei, sondern auch die Trotzkisten des PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) und des PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificados): Das war ein Versuch, die Bewegung abzulenken und in eine Kraft zur Unterstützung der Rousseff-Regierung zu verwandeln, die ihrerseits stark geschwächt und diskreditiert war. Tatsache war, dass die grausame Repression gegen die Proteste im Juni von der Links-Regierung des PT durchgeführt wurde, und sie war ebenso brutal wie diejenige der Militärregime, wenn nicht noch brutaler. Die Linke und die extreme Linke des brasilianischen Kapitals versuchten diese Realität zu verschleiern, indem sie die Repression mit dem Faschismus oder rechten Regimen identifizierten. Es gibt weiter den Vernebelungsversuch durch die von Rousseff umgesetzten „politischen Reformen“ mit dem Ziel der Bekämpfung der Korruption in den politischen Parteien und der Fesselung der Bevölkerung ans demokratische Terrain mit der Aufforderung, über die vorgeschlagenen Reformen abzustimmen. In der Tat zeigte die brasilianische Bourgeoisie mehr Intelligenz und Know-how als die türkische, die sich meist auf die Wiederholung des Spiels mit Provokation und Repression gegenüber den sozialen Bewegungen beschränkte.

Um einen Einfluss innerhalb der Bewegung auf der Straße wiederzugewinnen, haben politischen Parteien der Linken des Kapitals und die Gewerkschaften mehrere Wochen im Voraus einen „Nationalen Tag des Kampfes“ für den 11. Juli angekündigt, der als Möglichkeit des Protests gegen das Scheitern der Tarifverträge dargestellt wurde. Im gleichen Stil rief Lula, der seine bedeutende Erfahrung mit Manövern gegen die Arbeiterklasse unter Beweis stellte, für den 25. Juni zu einem Treffen der Führer der Bewegungen auf, die vom PT und der stalinistischen Partei kontrolliert werden (einschließlich der mit der Regierung verbündeten Jugend- und Studentenorganisationen), mit dem ausdrücklichen Ziel der Neutralisierung der Straßenproteste.

Die Stärken und Schwächen der beiden Bewegungen

In der Türkei

Wie schon die Bewegung der Empörten und von Occupy versuchte die Bewegung in der Türkei mit der Isolierung, die in gewissen wirtschaftlichen Sektoren herrscht, zu brechen. Es handelt sich dabei um Sektoren, in denen sich vor allem junge Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen befinden (Auslieferer von Kebab-Buden, Barangestellte, Call-Centers und Büros, …) und in denen es den Betroffenen traditionell schwer fällt, sich zu wehren. Ein Motor der Mobilisierung und der Entschlossenheit lag in der Empörung und im Solidaritätsgefühl gegenüber den polizeilichen Gewaltakten und dem Terror des Staates.

Doch gleichzeitig nahmen wenige Arbeiter_innen – und wenn überhaupt, dann individuell – aus den großen Arbeiterkonzentrationen an den Demonstrationen teil, was eine der bedeutendsten Schwächen dieser Bewegung war. Die Lebensbedingungen des Proletariats, das unter dem ideologischen Druck der herrschenden Klasse steht, haben es der Arbeiterklasse nur spärlich erlaubt, sich als Klasse wahrzunehmen und haben das Empfinden bei den Demonstrant_innen hervorgerufen, eine Masse von individuellen Bürger_innen zu sein, legitime Mitglieder der „nationalen Gemeinschaft“. Die Bewegung hat keine eigenen Klasseninteressen formuliert, die Möglichkeiten, diese zu entwickeln, waren blockiert, die proletarische Tendenz war sehr im Hintergrund. Diese Situation hatte stark zur Ausrichtung auf die Frage der Demokratie beigetragen, die eine zentrale Achse der Bewegung gegenüber der Politik der Regierung war. Eine Schwäche der Demonstrationen in der gesamten Türkei hat sich in der Schwierigkeit ausgedrückt, Massenversammlungen mit Diskussionen abzuhalten und die Kontrolle über die Bewegung mittels einer Selbstorganisierung zu erlangen. Diese Schwäche wurde durch eine nur beschränkt existierende Erfahrung mit Massendiskussionen, Versammlungen, Vollversammlungen, usw. gefördert. Gleichzeitig hatte die Bewegung aber ein Bedürfnis nach Diskussionen, und es tauchten Ansätze zu solchen auf, wie vereinzelte Beispiele zeigten: Die Errichtung einer offenen Tribüne im Gezi-Park fand keinen großen Anklang und dauerte auch nicht lange, sie hatte dennoch eine gewisse Wirkung; während des Streiks vom 5. Juni schlugen die Beschäftigten der Universität, welche Mitglieder der Eğitim-Sen-Gewerkschaft[8] waren, vor, eine offene Tribüne zu errichten. Doch die Führung der KESK verwarf diesen Vorschlag nicht nur, sondern isolierte auch denjenigen Teil von Eğitim-Sen, zu dem die Universitätsangestellten gehörten. Die eindrücklichste Erfahrung wurde durch die Demonstranten in Eskişehir gemacht, welche in einer Generalversammlung Komitees gründeten, um die Demonstrationen zu organisieren und zu koordinieren. Aber auch während dem 17. Juni hielten in den Parks verschiedener Quartiere Istanbuls die Massen, inspiriert durch die Foren im Gezi-Park, Massenversammlungen ab, die sich den Namen „Forum“ gaben. In den folgenden Tagen fanden auch in Ankara und anderen Städten solche Foren statt. Die am meisten debattierten Fragen drehten sich um das Problem der Konfrontation mit der Polizei. Dennoch gab es unter den Demonstranten die Tendenz, die Wichtigkeit des Einbezugs desjenigen Teils der Arbeiterklasse in die Bewegung zu sehen, der noch Arbeit hat.

Auch wenn es die Bewegung in der Türkei nicht geschafft hat, eine standhafte Verbindung mit der Gesamtheit der Arbeiterklasse herzustellen, so haben die Streikaufrufe über die sozialen Medien ein Echo gezeigt, und es kam zu Arbeitsniederlegungen. Darüber hinaus zeigten sich aber auch klare proletarische Tendenzen innerhalb der Bewegung durch Leute, die überzeugt waren von der Kraft der Arbeiterklasse und die sich gegen den Nationalismus wandten. Allgemein gesehen verteidigte ein großer Teil der Demonstranten die Idee, dass die Bewegung eine Selbstorganisation anstreben müsse, um weiterzukommen. Sogar die Zahl der Leute, die der Auffassung waren, die Gewerkschaften wie die KESK und die DISK, die sich „kämpferisch“ präsentierten, würden sich nicht wirklich von derjenigen der Regierung unterscheiden, wuchs deutlich an.

Schlussendlich gilt es einen anderen Wesenszug der Bewegung nicht zu vergessen: Die Demonstranten in der Türkei haben die Grußnachrichten vom anderen Ende der Welt mit Parolen in Türkisch wie „Wir gehören zusammen, Brasilien und die Türkei!“ und „Brasilien wehrt sich!“ willkommen geheißen.

In Brasilien

Die große Stärke der Bewegung resultierte daraus, dass sie sich von Beginn weg als eine Bewegung gegen den Staat bezeichnete. Dies nicht nur durch die zentrale Forderung gegen die Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr, sondern auch durch die Mobilisierung gegen den Abbau der öffentlichen Dienste und gegen das Verschieben eines großen Teils der dazu vorgesehenen Ausgaben auf Sportanlässe. Gleichzeitig jagten die Ausbreitung und die Entschlossenheit der Bewegung der Bourgeoisie Angst ein und zwangen sie dazu, die Preisehöhungen in einigen großen Städten zurück zu nehmen.

Die Kristallisierung der Bewegung rund um eine konkrete Forderung bedeutete, auch wenn diese eine Stärke der Bewegung darstellte, gleichzeitig eine Begrenzung, über die nicht hinausgegangen werden konnte. Dies spürte man, als die Tariferhöhungen des öffentlichen Verkehrs zurückgenommen wurden. Darüber hinaus verstand sie sich nicht als eine Bewegung, welche die kapitalistische Weltordnung in Frage stellte – ein Aspekt, der bei der Bewegung der Empörten in Spanien stark präsent war.

Das Misstrauen gegenüber den Mitteln der Bourgeoisie zur sozialen Kontrolle drückte sich im Zurückweisen der politischen Parteien und der Gewerkschaften aus. Dies stellte auf der ideologischen Ebenen einen Rückschlag für die Bourgeoisie dar, die gekennzeichnet ist von der Ermattung ihrer politischen Strategien, welche sie seit dem Ende der Militärdiktatur 1965-85 entwickelte, und Zeichen der schleichenden Diskreditierung des Staates ist, der von einer zunehmenden Korruption erfasst wird. Doch hinter dieser Zurückweisung der Parteien und Gewerkschaften lauert auch die Gefahr der Ablehnung der gesamten Politik, eine apolitischen Haltung, die eine der deutlichsten Schwächen der Bewegung war. Denn ohne politische Debatte gibt es keine Möglichkeit im Kampf weiterzukommen, denn der Nährboden ist die Diskussion, um die Wurzeln der Probleme zu verstehen, gegen die man ankämpft. Und dies kann nur über eine Kritik an den Grundlagen des Kapitalismus geschehen. Es war also kein Zufall, dass eine der Hauptschwächen der Bewegung das Fehlen von offenen Versammlungen auf der Straße war, in denen alle Anwesenden über die sozialen Probleme der Gesellschaft, die Kampfmittel, die Organisierung der Bewegung und über das von ihr Erreichte und ihre Perspektive diskutieren können. Die sozialen Medien spielten eine wichtige Rolle in der Mobilisierung, damit die Isolierung durchbrochen werden konnte. Doch sie können niemals die lebendige und offene Debatte der Vollversammlungen ersetzen.

Das Gift des Nationalismus verschonte die Bewegung nicht, wie man an den zahlreichen brasilianischen Nationalflaggen und den nationalistischen Parolen feststellen konnte – während den Demonstrationen wurde nicht selten die Nationalhymne gesungen. Dies war bei der Bewegung der Empörten in Spanien nicht der Fall. In diesem Sinne beinhaltete die Bewegung in Brasilien dieselben Schwächen wie die Mobilisierungen in Griechenland oder in der arabischen Staaten, in denen die herrschende Klasse sehr erfolgreich war bei der Umwandlung der Vitalität der Bewegungen in ein nationales Projekt für Reformen oder zur Rettung des Staates. In diesem Kontext waren die Proteste gegen die Korruption auch Wasser auf die Mühlen der Bourgeoisie und ihrer politischen Parteien, vor allem derjenigen der Opposition, welche im Hinblick auf die nächsten Wahlen versucht, über diese Schiene einen politischen Kredit zu ergattern. Der Nationalismus ist eine Sackgasse für die Kämpfe der Arbeiterklasse, da er die internationale Solidarität der Klassenbewegungen angreift.

Auch wenn die Mehrzahl der Beteiligten in der Bewegung Arbeiter_innen waren, so hatten sie sich dennoch in isolierter Weise daran beteiligt. Die Bewegung ist nicht dazu gekommen, die Arbeiter_innen der Industriezentren zu mobilisieren, welche vor allem in der Region von São Paulo ein großes Gewicht haben, es wurden auch keine Vorschläge in diese Richtung gemacht. Die Arbeiterklasse, welche der Bewegung zweifelsohne Sympathie entgegen brachte und sich mit ihr identifizierte, da sie für eine Forderung kämpfte, die auch ihren Interessen entsprach, mobilisierte sich aber nicht als solche. Diese Haltung ist sehr charakteristisch für eine Zeit, in der die Arbeiterklasse Mühe hat, eine Klassenidentität zu erlangen, was gerade in Brasilien erschwert ist durch die jahrzehntelange Blockierung aufgrund des Einflusses der politischen Parteien und der Gewerkschaften, vor allem des PT und der CUT.

Ihre Bedeutung für die Zukunft

Der Ausbruch von neuen sozialen Bewegungen mit einer Breite und einer historischen Bedeutung (ohnegleichen seit 1908 in der Türkei und seit 30 Jahren in Brasilien) war auch ein Signal an die weltweite Arbeiterklasse und stellte eine Antwort einer neue Generation von Arbeiter_innen gegenüber der sich verschärfenden weltweiten Krise des Kapitalismus dar. Trotz ihrer jeweiligen Eigenheiten sind sie ein Glied in der Kette der internationalen sozialen Bewegungen als Antwort auf die historische Krise des Kapitalismus, wobei die Mobilisierung der Empörten in Spanien ein Bezugspunkt darstellte. Trotz ihrer Schwächen waren sie einen Quelle der Inspiration und der Erfahrung für das internationale Proletariat. Ihre Schwächen müssen von der Arbeiterklasse selbst und schonungslos kritisch betrachtet werden, um heute Lehren zu ziehen, die morgen in andere Bewegungen einfließen und schon im Voraus ideologische Vereinnahmungen und Fallen der Bourgeoisie erkennen lassen.

Diese Bewegungen waren nichts anderes als Ausdruck dessen, was Marx den „alten Maulwurf“ nannte, der das Fundament des Kapitalismus untergräbt.

Wim, 11.8.2013 

[1] Siehe unsere Artikelserie über die Indignados-Bewegung in Spanien, insbesondere in der Internationalen Revue Nr. 48

[2] Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Diese „gemäßigt“ islamistische Partei ist in der Türkei seit 2002 an der Regierung.

[3] Konföderation türkischer Gewerkschaften

[4] Angesichts der steigenden Fahrkosten schürte  die MPL Illusionen in den Staat, indem sie so tat, als ob dieser aufgrund von entsprechendem Druck von der Straße im Gegensatz zu den privaten Verkehrsmittel-Betreibern eine kostenlose Benützung des öffentlichen Verkehrs garantieren könne.

[5] Siehe unseren Artikel: Die Repression durch die Polizei fachte die Wut der Jugend an, vom 4. Juli 2013, auf unserer Website und in der gedruckten Presse.

[6] Gemäß den Prognosen werden diese beiden Veranstaltungen die brasilianische Regierung 31,3 Milliarden Dollar oder 1,6% des Bruttosozialprodukts kosten. Hingegen macht die Familienunterstützung, die von der Lula-Regierung als die wichtigste soziale Maßnahme gepriesen wurde, weniger als 0,5% des BSP aus.

[7] FIFA: Internationale Föderation des Verbandsfußballs (frz. Fédération Internationale de Football Association)

[8] Angestelltengewerkschaft und Teil der KESK

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Editorial