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Der Bericht zur Frage des "Historischen Kurses" des 23. Kongresses der IKS, den wir nachstehend veröffentlichen, bestätigt eine wesentliche Änderung der Analyse in einem Grundlagentext von 1978, mit dem Titel Der Historische Kurs (Internationale Revue Nr. 5)
Diese Änderung der Analyse ist eine direkte Folge der Veränderung des globalen Kontextes nach dem Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks im Jahr 1989, der ebenfalls zum Zerfall des Westblocks führte. Was sich in der neuen Situation mit dem Eintritt der Welt in die Periode des Zerfalls des Kapitalismus tatsächlich aufdrängt, ist die Notwendigkeit, die bedeutenden Veränderungen in der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zu analysieren. Insbesondere die Tatsache, dass die alternative „Revolution oder die Zerstörung der Menschheit“ durch einen Weltkrieg sich nicht mehr unter den gleichen Bedingungen stellt, da mit dem Verschwinden der beiden imperialistischen Blöcke der Weltkrieg momentan nicht mehr auf der Tagesordnung steht.
Bei der Erarbeitung der notwendigen Änderung unserer Analyse haben wir die Methode von Marx und der marxistischen Bewegung seit ihrer Gründung aufgegriffen, die darin besteht, Positionen, die Analyse oder sogar das komplette Programm zu ändern, wenn sie nicht mehr dem Lauf der Geschichte entsprechen, um dem eigentlichen Zweck des Marxismus als revolutionäre Theorie treu zu bleiben. Ein berühmtes Beispiel ist das der wichtigen Änderungen, die Marx und Engels im Laufe der Zeit am Kommunistischen Manifest selbst vorgenommen haben und die in den späteren Vorworten, die sie diesem grundlegenden Werk hinzugefügt haben, im Lichte der historischen Veränderungen zusammengefasst wurden. Nachfolgende Generationen von revolutionären Marxisten verwendeten die gleiche kritische Methode:
„Der Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt.“ (Rosa Luxemburg, Antikritik, Ges. Werke, Band 5, Seite 523)
Luxemburgs Beharren auf der Notwendigkeit, frühere Analysen zu überdenken, um dem Wesen und der Methode des Marxismus als revolutionäre Theorie treu zu bleiben, stand damals in direktem Zusammenhang mit der tiefen Bedeutung des Ersten Weltkriegs. Der Krieg von 1914-1918 markierte den Wendepunkt in der Produktionsweise des Kapitalismus, von seiner Periode des Aufstiegs oder Fortschritts hin zu einer Periode der Dekadenz und des Zusammenbruchs, welche die Bedingungen und das Programm der Arbeiterbewegung grundlegend veränderte. Aber lediglich die Linke in der Zweiten Internationale erkannte, dass die vorangegangene Periode endgültig vorbei war und dass das Proletariat in die "Epoche der Kriege und Revolutionen" – wie die Dritte Internationale es später ausdrückte – eintrat. Der opportunistische rechte Flügel der Sozialdemokratie behauptete fälschlicherweise, der imperialistische Erste Weltkrieg sei ein nationaler Verteidigungskrieg – wie die begrenzten und kleineren Kriege des 19. Jahrhunderts – und schloss sich mit der imperialistischen Bourgeoisie zusammen. Der zentristische Flügel behauptete, der Krieg sei nur eine vorübergehende Verirrung und die Dinge würden nach der Einstellung der Feindseligkeiten "wieder zur Normalität zurückkehren". Vertreter dieser beiden Strömungen kämpften schließlich offen gegen die proletarische revolutionäre Welle, die den Ersten Weltkrieg beendete, während die Führer der proletarischen Revolutionsversuche wie Luxemburg, Lenin und Trotzki in den neu gegründeten kommunistischen Parteien die "Ehre des internationalen Sozialismus" bewahrten, indem sie die überholten Formeln der Sozialdemokratie ablegten, die nun zur Rechtfertigung der Konterrevolution benutzt wurden.
Die großen Veränderungen, welche sich mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 ausdrückten, hatten nicht das gleiche Ausmaß wie die von 1914. Aber sie markierten eine bedeutende neue Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Dekadenz, die mit der Entstehung ihrer letzten Phase, der des sozialen Zerfalls, zusammenfällt. Die Wende von 1989 änderte zwar nicht das politische Programm der Arbeiterklasse, das während der gesamten Dekadenz des Kapitalismus gültig blieb, aber sie markierte eine große Veränderung gegenüber den Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den sieben Jahrzehnten zwischen 1914 und 1989 entwickelt hatte. Der Bericht, den wir hier veröffentlichen, trägt zu den kritischen Bemühungen bei, die marxistische Analyse über diesen wichtigen Wendepunkt in der Weltgeschichte zu aktualisieren.
Im Jahr 1989, genau zum Zeitpunkt der genannten Ereignisse, welche die Welt erschütterten, hatte die IKS bereits in verschiedenen Texten die sich abzeichnenden wichtigen Veränderungen analysiert. Im Text Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft von 1990, und im Orientierungstext Militarismus und Zerfall von 1991 (beide in: Internationale Revue Nr. 13) unterstrich die IKS, dass die folgende Periode vom beschleunigten Zerfall und dem Chaos einer Produktionsweise in ihrer Agonie beherrscht würden, die noch immer von den gewaltsamen und zerstörerischen Widersprüchen der kapitalistischen Dekadenz geprägt ist, nun jedoch in einer neuen Form und in einem neuen Kontext. Das Wiederaufleben des proletarischen Klassenkampfes ab 1968, der den Ausbruch eines dritten Weltkrieges verhinderte, stand nun vor neuen Schwierigkeiten und einer sich abzeichnenden langen Periode des Rückzugs und der Desorientierung der Arbeiterklasse. Aber die sich vertiefende Wirtschaftskrise wird das Proletariat dazu drängen, seinen Kampf wieder aufzunehmen.
Darüber hinaus beendete der Zusammenbruch des Ostblocks, vielleicht endgültig, die Teilung der Welt in zwei bewaffnete Lager, welche die prägende Konstellation war, in die der Imperialismus die Welt in seiner dekadenten Phase gesteuert hatte. Der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie die Ereignisse davor und danach zeigten, dass der Kapitalismus sich nicht mehr wie im 19. Jahrhundert durch koloniale Expansion entwickeln konnte und dass es jedem der rivalisierenden imperialistischen Staaten überlassen blieb, durch die Massaker des Krieges eine neue Aufteilung des Weltmarkts zu seinem Vorteil zu betreiben. Dieser Versuch drückte sich in der Tendenz aus, die verschiedenen Länder hinter jedem der beiden mächtigsten Gangster neu zu gruppieren, ein Prozess, der sich nach 1945 voll und ganz bestätigt hat. Nach dem Zeitraum 1914-1989, der von der Teilung der Welt in zwei rivalisierende imperialistische Blöcke beherrscht war, hörte die Tendenz zur Blockbildung in den interimperialistischen Beziehungen auf und jede Macht verfolgt bisher ihren blutigen Weg, der vom "Jeder für sich" geprägt ist.
Der Bericht untersucht und bekräftigt diese seit 1989 modifizierte Analyse. Aber er erweitert ihren Geltungsbereich.
2015 begann der 21. Kongress der IKS mit einem großen, langfristigen Projekt, das 40 Jahre unseres Bestehens Revue passieren ließ, um „ein möglichst klares Licht auf unsere Stärken und Schwächen zu werfen und festzustellen, was in unseren Analysen gültig ist und wo wir uns geirrt haben. Dies mit dem Ziel, uns zu stärken und unsere Schwächen zu überwinden.“ (40 Jahre nach der Gründung der IKS: Welche Bilanz, welche Perspektiven für unsere Arbeit, Internationale Revue Nr. 53) Der hier publizierte Bericht über die Frage des Historischen Kurses vom 23. Kongresses ist eine Folge dieser spezifischen Bemühungen und führt die Analyse, die bereits in den vor dreißig Jahren verfassten Texten enthalten ist, einen Schritt weiter, indem er den ursprünglichen Text über den Historischen Kurs von 1978 Punkt für Punkt untersucht. Dabei kommt er zum Schluss, dass allein der Begriff "Historischer Kurs" nicht mehr als ausreichend angesehen werden kann, um alle Perioden des Klassenkampfes abzudecken. Er gilt für den Zeitraum von Sarajevo 1914 bis zum Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1989, nicht aber für die vorangegangene oder die folgende Periode. Mit dieser Schlussfolgerung unterstreicht der Bericht eine sehr wichtige Unterscheidung, die zwischen zwei verschiedenen Konzepten zu machen ist:
- Einerseits das Konzept des Historischen Kurses, das auf die Zeit von Sarajevo bis zum Fall der Berliner Mauer (einschließlich ihrer verschiedenen Phasen) anwendbar ist und die Dynamik der Gesellschaft in diesem Zeitraum betrifft, die unlösbar mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verbunden, aber nicht identisch ist.
- Andererseits das Konzept des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, das für alle Perioden des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat gilt.
Diese beiden Begriffe – Historischer Kurs und Kräfteverhältnis zwischen den Klassen – sind daher nicht identisch oder synonym, aber der Text von 1978 legt diese Unterscheidung nicht eindeutig fest.
Wir freuen uns, dass der Bericht vor seiner Veröffentlichung bereits eine lebhafte öffentliche Debatte ausgelöst hat (mehrere Dutzend Beiträge in unserem Online-Forum zu diesem Thema seit Juli 2019), da seine wichtigsten Schlussfolgerungen bereits in der Resolution zur internationalen Lage des 23. Kongresses enthalten waren, die unseren Lesern bereits zugänglich sind. Heute ist noch nicht der Zeitpunkt, um eine Bilanz dieser Debatte zu ziehen, die sich noch im Anfangsstadium befindet. Aber sie muss entwickelt werden. Die kritische Debatte ist ein wesentlicher Teil der marxistischen Bemühungen, ein neues Verständnis der Aktualität zu gewinnen, während wir im „geschichtlichen Blitz und Donner“ stehen.