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In der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx drängen die Widersprüche des Kapitalismus zur Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Entweder ein Kampf des Proletariats zur Überwindung der Herrschaft der Bourgeoisie oder die absolute Zerstörung dieser sich gegenüberstehen Klassen und der gesamten Gesellschaft.
Ein Verständnis der Entwicklung des Klassenkampfes innerhalb des Kapitalismus – in seinen verschiedenen historischen Etappen, mit seinen Fortschritten und Rückschritten, der wechselnden relativen Stärke der sich gegenüberstehenden Akteure – war deshalb für die Analyse der Avantgarde des Proletariats und für die Anwendung der marxistischen Methode immer von entscheidender Bedeutung.
Der einschneidende Veränderung der globalen Situation, hervorgerufen durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und den Schritt des Kapitalismus in die Phase des gesellschaftlichen Zerfalls, forderte von unserer Organisation, unter Einbezug der wachsenden Schwierigkeiten der Arbeiterklasse in dieser neuen Situation, eine Anpassung der Analyse über die gesellschaftliche Dynamik bezüglich des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Konkret: Die Analyse über den Historischen Kurs vom 3. Internationalen Kongress der IKS im Jahr 1978 (Internationale Revue Nr. 5) war nach 1989 nicht mehr anwendbar, da die imperialistischen Rivalitäten nicht mehr die Form einer Konfrontation zwischen zwei Blöcken annahm und eine kapitalistische Antwort in der Form eines neuen imperialistischen Weltkrieges für die nächste Zukunft nicht mehr bevorstand. Der Text Militarismus und Zerfall von 1991 (Internationale Revue Nr. 13), den die IKS unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verfasste, die Thesen über den Zerfall von 1990 (Internationale Revue Nr. 13), der Text Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, Destabilisation und Chaos" von 1990 (Internationale Revue Nr. 12) betrachteten das weltweite Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bereits auf eine andere Art und Weise, im Vergleich zum Text von 1978.
In den folgenden zwei Jahrzehnten untersuchte die IKS den Wechsel in der Analyse über das Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und die Auswirkungen für die Dynamik der gesamten Gesellschaft in vielen Texten und Artikeln, vor allem in veröffentlichen Berichten und Resolutionen über den Klassenkampf für unsere Internationalen Kongresse. Diese bestätigten die zunehmenden Schwierigkeiten und Bedrohungen für die Arbeiterklasse, hervorgerufen durch die Periode des sozialen Zerfalls des Kapitalismus.
Dazu können zum Beispiel verweisen auf den Bericht über den Klassenkampf vom 13. Kongress der IKS 1999 (Internationale Revue Nr. 25) und den Bericht über den Klassenkampf für den 14. Kongress mit dem Titel: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses (Internationale Revue Nr. 29 und 30).
Andere Artikel über die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in der Periode des Zerfalls behandelten diese Frage ebefalls: Weshalb hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus noch nicht überwunden? (International Review Nr. 103 und 104, engl., franz., span. Ausgabe) und Den Zerfall des Kapitalismus verstehen (Internationale Revue Nr. 34)[1]
Auch wenn die IKS die wichtigsten theoretischen Elemente entwickelte, um zu verstehen, was sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändert hatte, so stellten wir bisher noch keine spezifische Untersuchung über den Text zum Historischen Kurs von 1978 an. Zweifellos ist eine Korrektur dieses Versäumnisses – wenn auch verspätet – erforderlich, wenn wir unserer historischen Methode treu bleiben wollen. Dies nicht nur, um unsere Analyse und Argumentation angesichts der großen Ereignisse zu ergänzen oder zu ändern, sondern um diese Änderung auch unter konkreter Bezugnahme auf die ursprüngliche Analyse zu begründen. Unsere politische Methode bestand nie darin, frühere Positionen oder Analysen aufzugeben, ohne öffentlich auf das, was wir früher entwickelt hatten, zu berücksichtigen, denn eine ahistorische Invarianz oder ein Monolithismus sind widersinnig und stellen ein Hindernis für die Klärung des Klassenbewusstseins dar. Was im Text über den Historischen Kurs von 1978 gültig bleibt, was durch den veränderten historischen Kontext innerhalb des dekadenten Kapitalismus überholt ist und die Grenzen dieses Textes aufgezeigt hat, all das muss genauer verstanden und erklärt werden, damit etwaige verbliebene Anachronismen aufgedeckt und geklärt werden können.
Zusammenfassung der Punkte des Textes über den Historischen Kurs von 1978:
Punkt 1: Revolutionäre müssen fähig sein, Voraussagen zu treffen. Dies ist eine spezielle Fähigkeit und Notwendigkeit des menschlichen Bewusstseins (Marx verglich die aus Instinkt schaffende Biene und den mit Bewusstsein bauenden menschlichen Architekten). Der Marxismus, als eine wissenschaftliche Methode wie die Wissenschaft, kann „nur durch die Umwandlung der auf eine Reihe von Experimenten gegründeten Hypothesen in Vorhersagen und durch die Konfrontation dieser Vorhersagen mit neuen Experimenten als Forscher diese Hypothesen für richtig (oder falsch) erklären und sein Verständnis fortentwickeln“. (Der Historische Kurs, Internationale Revue Nr. 5)
Der Marxismus stellt seine Voraussagen über die kommunistische Revolution auf eine wissenschaftliche, materialistische Analyse über den Zusammenbruch des Kapitalismus und die Klasseninteressen des revolutionären Proletariats. Diese allgemeine und langfristige Perspektive ist für Marxisten relativ einfach. Die Schwierigkeit für RevolutionärInnen besteht darin, mittelfristige Vorhersagen darüber zu treffen, ob der Klassenkampf voranschreitet oder zurückgeht. Vor allem kann sich der Marxismus offensichtlich nicht auf kontrollierte Experimente verlassen, so wie es die Laborwissenschaft tun kann.
Punkt 2: Der proletarische Klassenkampf ist von sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen, von extremen Höhen und Tiefen gekennzeichnet, was darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeiterklasse eine ausgebeutete Klasse ist, die in der alten Gesellschaft keinerlei Machtbasis hat und daher für lange Perioden zur Unterwerfung verurteilt ist. Die relativ kurzen Aufschwünge ihres Kampfes werden durch die Krisenzeiten des Kapitalismus (Wirtschaftskrise und Krieg) bestimmt. Das Proletariat kann nicht von einem Erfolg zum nächsten voranschreiten, so wie es die aufstrebenden Ausbeuterklassen in der Vergangenheit jeweils konnten. Tatsächlich ist der endgültige Erfolg des Proletariats durch eine lange Reihe von schmerzhaften Niederlagen gekennzeichnet. Daher Marx' Aussage in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 über die extrem ungleiche Entwicklung des Klassenkampfes.[2] Die Existenz einer derart ungradlinigen Entwicklung des Klassenkampfes war in der Vergangenheit offensichtlich, aber die Länge und Tiefe der Konterrevolution zwischen 1923 und 1968 hat sie verschleiert.
Punkt 3: Dennoch sind genaue mittelfristige Vorhersagen der Revolutionäre über die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen unerlässlich. Die Folgen von Fehlern in dieser Hinsicht sind ernst: das Abenteurertum von Willich-Schapper nach den Niederlagen der Revolutionen von 1848; die „Theorie der Offensive“ der KAPD, als die revolutionäre Welle in den 1920er Jahren verebbte, Trotzkis Gründung der 4. Internationale von 1938 in der Tiefe der Konterrevolution. Im Gegensatz zu diesen Beispielen haben sich einige Vorhersagen als vollkommen gültig erwiesen: Marx und Engels, die erkannten, dass nach 1849 und 1871 jeweils eine Periode des Rückzugs der Arbeiterklasse unvermeidlich war; Lenins Vorhersage einer weltrevolutionären Welle in den Aprilthesen von 1917; die Klarsicht der Italienischen Kommunistischen Linken bezüglich der 1930er Jahre als eine Periode der entscheidenden Niederlage.
Punkt 4, 5, 11: Die Vorhersage über die Dynamik und Richtung des Klassenkampfes zeigt an, ob Revolutionäre mit oder gegen den Strom schwimmen. Fehler oder Unwissenheit darüber, was diese Richtung ist, können katastrophal sein. Dies gilt insbesondere in der kapitalistischen Dekadenz, wo der Gegensatz – imperialistischer Krieg oder proletarische Revolution – viel höher ist als in der Periode des kapitalistischen Aufstiegs.
Punkt 6: Der Gegensatz und der gegenseitige Ausschluss der beiden Begriffe der historischen Alternative Krieg oder Revolution. Während die Krise des dekadenten Kapitalismus zu einer dieser beiden Alternativen führen kann, entwickeln sich Krieg oder Revolution nicht im Einklang, sondern antagonistisch. Dieser Punkt richtet sich insbesondere an Battaglia Comunista und die Comunist Workers Organisation CWO, die Weltkrieg und Revolution in der Zeit seit 1968 als gleichermaßen möglich angesehen haben – und dies immer noch tun.
Punkte 7, 8: Diese Punkte zeigen, dass die imperialistischen Weltkriege des 20. Jahrhunderts und insbesondere derjenige von 1939-45 erst dann entfacht werden konnten, als das Proletariat besiegt, seine revolutionären Versuche zerschlagen, und es dann hinter den Kriegsideologien seiner jeweiligen imperialistischen Herren mobilisiert worden war. Dies mit Hilfe des Verrats der ehemaligen Arbeiterparteien, die die Klassengrenze unwiderbringlich überschritten hatten.
Punkt 9: Die Situation des Proletariats seit 1968 ist nicht mehr dieselbe wie vor den beiden vorangegangenen Weltkriegen. Es ist ungeschlagen und kämpferisch, widerstandsfähig gegen die mobilisierenden Ideologien der imperialistischen Blöcke und stellt somit ein Hindernis für die Entfesselung eines dritten Weltkrieges dar.
Punkt 10: Alle militärischen und wirtschaftlichen Bedingungen für einen neuen Weltkrieg sind bereits vorhanden, nur die Unterwerfung des Proletariats fehlt. Ein Punkt, der auch an Battaglia Comunista gerichtet war, welche Gruppe andere unplausible Erklärungen dafür hatte, weshalb der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen war.
Kommentar zum Text über den Historischen Kurs von 1978:
Was im Text gültig bleibt:
Die ersten fünf Punkte des Textes über den Historischen Kurs behalten ihre absolute Gültigkeit bezüglich der Bedeutung und Notwendigkeit, dass die Revolutionäre die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes vorhersagen: die Notwendigkeit, solche Vorhersagen aus der Sicht der marxistischen Methode auszuarbeiten; die Stichhaltigkeit der historischen Beispiele, die den kritischen Charakter der Prognosen der Revolutionäre bezüglich des Klassenkampfes und die schwerwiegenden Folgen von Fehlern in dieser Hinsicht zeigen; die Argumente gegen die Gleichgültigkeit oder den Agnostizismus von Battaglia Comunista und der CWO in dieser Frage.
Das zentrale Argument des Textes behält auch für den Zeitraum 1914-1989 seine volle Gültigkeit. Mit dem Beginn der Periode der Dekadenz des Kapitalismus haben sich die Bedingungen der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen gegenüber denen der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus grundlegend geändert. Die Tendenz des Imperialismus in der Periode der Dekadenz führte zu weltweiten Konfrontationen zwischen rivalisierenden Blöcken, welche, als der Erste Weltkrieg mit voller Wucht ausbrach, die massive Mobilisierung der Arbeiterklasse als Kanonenfutter erforderten. Der Ausbruch der Feindseligkeiten hing von einer politischen Niederlage der wichtigsten Teile des Weltproletariats ab. Die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften, die durch einen langen Prozess der opportunistischen und revisionistischen Degeneration verfault waren, scheiterten im kritischen Moment von 1914 kläglich und gaben, von einigen Ausnahmen abgesehen, den Internationalismus auf und schlossen sich den Kriegsanstrengungen ihrer eigenen nationalen herrschenden Klasse an, wobei sie die orientierungslose Arbeiterklasse hinter sich herzogen. Die Erfahrung des beispiellosen Abschlachtens von Arbeitern in Uniform in den Schützengräben und das Elend an der "Heimatfront" führten jedoch nach einigen Jahren zur Wiedererlangung des Gewichts des Proletariats auf der Waage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und eröffneten die weltrevolutionäre Welle von 1917-1923, welche die Bourgeoisie zwang, den Krieg zu beenden, um die Ausbreitung der proletarischen Revolution zu verhindern.
Seit dem Ersten Weltkrieg wurde daher die Vorstellung eines historischen Kurses des Klassenkampfes in Richtung Krieg oder in Richtung Revolution klar bestätigt. Um seine militärische Antwort auf die Krisen der kapitalistischen Dekadenz durchzusetzen, musste der Kapitalismus die revolutionären Bestrebungen des Proletariats besiegen und dieses, als es geschlagen war, hinter den Interessen der Bourgeoisie mobilisieren. Umgekehrt stellte ein wiederauflebendes Proletariat ein großes Hindernis für dieses Unterfangen dar und eröffnete die Möglichkeit der Alternative des Proletariats: die kommunistische Revolution.
Die Niederlage der Revolution in Russland und in Deutschland in den 1920er Jahren eröffnete den Kurs hin zum Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gab es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, da das Proletariat nicht nur politisch, sondern auch physisch durch die beispiellose Brutalität und den Terror des Stalinismus und Faschismus einerseits, und des demokratischen Antifaschismus andererseits, vor, während, und unmittelbar nach dem Massenmord des Krieges besiegt wurde. Aus den Trümmern des Krieges von 1939-45 ging keine revolutionäre Welle hervor, im Gegensatz zur Lage am Ende des Krieges von 1914-18. Die Situation der fortgesetzten proletarischen Niederlage führte jedoch nicht zu einem dritten Weltkrieg nach 1945, wie es Revolutionäre damals glaubten. Die 1950er und 60er Jahre brachten einen langen wirtschaftlichen Wiederaufbau und einen langwierigen Kalten Krieg mit stellvertretenden lokalen Kriegen mit sich. In dieser Zeit gewann das Proletariat allmählich seine Stärke zurück, und das Gewicht der Kriegsideologien der 1930er Jahre verminderte sich. Mit dem Ausbruch einer neuen Weltwirtschaftskrise begann 1968 auch ein neues Wiederaufleben des Klassenkampfes, das eine weitere imperialistische Lösung durch einen dritten Weltkrieg vereitelte. Aber die Arbeiterklasse war nicht in der Lage, von ihren defensiven Kämpfen zu einer revolutionären Offensive überzugehen. Der Zusammenbruch eines der beiden imperialistischen Blöcke, des Ostblocks im Jahr 1989, setzte der Möglichkeit eines Weltkriegs ein Ende, obwohl imperialistischen Kriege selbst unter dem Druck der sich verschärfenden Weltwirtschaftskrise in chaotischer Form weiter zunahmen.
Was im Text nicht mehr gültig ist:
Für das bessere Verständnis des Problems zitieren wir hier aus einem Treffen unseres Zentralorgans im Januar 1990:
"In der Periode der kapitalistischen Dekadenz sind alle Staaten imperialistisch und ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um ihren Appetit zu befriedigen: Kriegswirtschaft, Waffenproduktion usw. Wir müssen klar sagen, dass die sich vertiefenden Erschütterungen der Weltwirtschaft und die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Staaten auch zunehmend auf militärischer Ebene nur noch schärfer werden können. Der Unterschied wird in der kommenden Periode darin bestehen, dass diese Gegensätze, die bisher von den beiden großen imperialistischen Blöcken gesteuert und genutzt wurden, nun in den Vordergrund treten werden. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und das zukünftige Verschwinden des amerikanischen Gendarmen öffnen, was ihre ehemaligen "Partner" betrifft, die Tür zur Entfesselung einer ganzen Reihe weiterer lokaler Rivalitäten. Im Augenblick können diese Rivalitäten und Konfrontationen nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn man annimmt, dass das Proletariat nicht mehr in der Lage wäre, Widerstand zu leisten). Mit dem Verschwinden der von den beiden Blöcken auferlegten Disziplin, drohen diese Konflikte jedoch häufiger und gewaltsamer zu werden, vor allem natürlich in den Gebieten, in denen das Proletariat am schwächsten ist (...) der Trend zu einer neuen Teilung der Welt zwischen zwei Militärblöcken wird durch das immer tiefer und weiter verbreitete Phänomen der Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft, wie wir bereits hervorgehoben haben, eingeschränkt und vielleicht sogar endgültig gefährdet.
In einem solchen Kontext des Kontrollverlusts der Weltbourgeoisie über die Situation ist es unwahrscheinlich, dass die dominanten Sektoren der Weltbourgeoisie heute in der Lage sind, die für die Wiederherstellung der Militärblöcke notwendige Organisation und Disziplin umzusetzen (...) Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung zu betonen, dass, wenn die Lösung des Proletariats – die kommunistische Revolution – die einzige ist, die sich der Zerstörung der Menschheit entgegenstellen kann (welche die einzige „Antwort“ darstellt, welche die Bourgeoisie auf ihre Krise geben kann), diese Zerstörung nicht unbedingt aus einem dritten Weltkrieg resultieren muss. Sie kann auch Folge der Fortsetzung des Zerfalls bis hin zu den extremen Folgen (ökologische Katastrophen, Epidemien, Hungersnöte, entfesselte lokale Kriege usw.) sein.
Nachdem sich die historische Alternative "Sozialismus oder Barbarei", wie sie der Marxismus immer hervorhob, während des größten Teils des 20. Jahrhunderts in der Form von "Sozialismus oder imperialistischer Krieg" ausgedrückt hat, ist in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung von Atomwaffen in der erschreckenden Form von "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit" offensichtlich geworden. Auch heute, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, ist diese Perspektive voll und ganz gültig. Aber es muss betont werden, dass eine solche Zerstörung durch einen allgemeinen imperialistischen Krieg ODER durch den Zerfall der Gesellschaft entstehen kann. (…)
Auch wenn der Weltkrieg zum gegenwärtigen Zeitpunkt und vielleicht endgültig keine Bedrohung für das Leben der Menschheit darstellen kann, so kann diese Bedrohung, wie wir gesehen haben, sehr wohl vom Zerfall der Gesellschaft ausgehen. Und dies um so mehr, da die Entfesselung des Weltkrieges das Festhalten des Proletariats an den Idealen der Bourgeoisie erfordert, ein Phänomen, das im Augenblick bei seinen entscheidenden Teilen keineswegs auf der Tagesordnung steht. Der Zerfall braucht dieses Festhalten an den Idealen der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse nicht, um die Menschheit zu zerstören. In der Tat stellt der Zerfall der Gesellschaft streng genommen keine "Antwort" der Bourgeoisie auf die offene Krise der Weltwirtschaft dar. In Wirklichkeit kann sich diese Zersetzung gerade deshalb entwickeln, weil die herrschende Klasse aufgrund der Nicht-Rekrutierung des Proletariats nicht in der Lage ist, ihre eigene spezifische Antwort auf diese Krise, den Weltkrieg und die Mobilisierung für ihn zu geben. Die Arbeiterklasse kann, indem sie ihre Kämpfe entwickelt (wie sie es seit Ende der 1960er Jahre getan hat) und sich nicht unter bürgerliche Fahnen stellen lässt, die Bourgeoisie daran hindern, den Weltkrieg auszulösen. Andererseits kann nur der Sturz des Kapitalismus den Zerfall der Gesellschaft aufhalten. So wie die Kämpfe des Proletariats in diesem System in keiner Weise dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus entgegenwirken können, so können die Kämpfe des Proletariats in diesem System kein Hindernis gegen dessen Zerfall darstellen."
1989 markiert einen grundlegenden Wandel in der allgemeinen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft in der Phase der Dekadenz.
Vor diesem Datum war das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen der bestimmende Faktor dieser Dynamik. Von diesem Kräfteverhältnis hing der Ausgang der Verschärfung der Widersprüche im Kapitalismus ab: entweder die Entfesselung des Weltkriegs oder die Entwicklung des Klassenkampfes, mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus.
Nach 1989 war diese allgemeine Dynamik der kapitalistischen Dekadenz nicht mehr direkt durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bestimmt. Wie auch immer dieses Kräfteverhältnis aussehen mag, der Weltkrieg steht nicht mehr auf der Tagesordnung, aber der Kapitalismus wird weiterhin im Zerfall versinken, da der gesellschaftliche Zerfall dazu neigt, der Kontrolle der sich gegenüberstehenden Klassen zu entgleiten.
Im Paradigma, das den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschte, definierte der Begriff des "Historischen Kurses" die beiden möglichen Ergebnisse einer historischen Entwicklung: entweder Weltkrieg oder Klassenkonflikte. Nachdem das Proletariat eine entscheidende Niederlage erlitten hatte (wie am Vorabend von 1914 oder als Folge der Zerschlagung der revolutionären Welle von 1917-23), wurde der Weltkrieg unausweichlich. Im Paradigma, das die gegenwärtige Situation definiert (bis zur Rekonstituierung zweier neuer imperialistischer Blöcke, was vielleicht nie geschehen wird), ist es durchaus möglich, dass das Proletariat eine tiefe Niederlage erleidet, ohne dass dies eine entscheidende Auswirkung auf die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft hat. Man kann sich natürlich fragen, ob eine solche Niederlage die Konsequenz hätte, das Proletariat dauerhaft daran zu hindern, seinen Kopf wieder zu erheben. Wir müssten dann von einer endgültigen Niederlage sprechen, die zum Ende der Menschheit führen würde. Eine solche Möglichkeit ist nicht auszuschließen, insbesondere angesichts des zunehmenden Gewichts des Zerfalls. Diese Bedrohung wird im Manifest des 9. Kongresses deutlich aufgezeigt: "Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit". Aber wir können keine Prognose in dieser Richtung abgeben, weder in Bezug auf die gegenwärtige Situation der Schwäche der Arbeiterklasse noch für den Fall, dass sich diese Situation weiter verschlechtert. Deshalb ist der Begriff des "Historischen Kurses" nicht mehr in der Lage, die Dynamik der gegenwärtigen Weltlage und das Kräfteverhältnis zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat in der Periode des Zerfalls zu definieren. Nachdem er zu einem für diese neue Periode unzureichenden Konzept geworden ist, muss er aufgegeben werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Text über den Historischen Kurs von 1978, obwohl er in Bezug auf die Methode und die Analyse der Periode 1914-1989 richtig war, heute begrenzt ist. Dies weil er erstens von großen und beispiellosen historischen Ereignissen überholt wurde, und zweitens durch seine Tendenz, den Begriff des Historischen Kurses und denjenigen der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen als identisch zu setzen, obwohl sie nicht identisch sind. Insbesondere spricht der Text von 1978 vom Historischen Kurs, um die verschiedenen Momente des Klassenkampfes im 19. Jahrhundert zu beschreiben, auch wenn in Wirklichkeit:
- eine Zunahme der Arbeiterkämpfe weder die Aussicht auf eine revolutionäre Periode zu einer Zeit bedeutete, in der die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand, noch den Ausbruch eines großen Krieges verhindern konnte (z.B. den Krieg zwischen Frankreich und Preußen 1870, als die Macht des Proletariats zunahm);
- eine große Niederlage des Proletariats (wie die Zerschlagung der Pariser Kommune) nicht zu einem neuen Krieg führte.
In gewisser Weise ähnelt diese Tendenz, den Historischen Kurs fälschlicherweise mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen im Allgemeinen zu identifizieren, der unpräzisen Art und Weise, wie der Begriff des Opportunismus verwendet wurde. Eine Zeit lang gab es innerhalb der IKS, und im weiteren Sinne im politischen proletarischen Milieu, eine Identifizierung zwischen Opportunismus und Reformismus. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beruhte eine solche Identifizierung, auch wenn sie bereits ein Fehler war, auf einer Realität: In der Tat war zu dieser Zeit eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Opportunismus der Reformismus. Aber mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Periode der Dekadenz hat der Reformismus nicht mehr seinen Platz in der Arbeiterbewegung: Organisationen oder Strömungen, die die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus durch progressive Reformen des gegenwärtigen Systems befürworten, gehören notwendigerweise auf die Seite der Bourgeoisie, während der Opportunismus weiterhin eine Krankheit darstellt, die die proletarischen Organisationen vergiften und zerstören kann.
Wir haben dazu tendiert, auf der Grundlage der Erfahrungen der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert den Begriff der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat mit dem Begriff eines "Historischen Kurses" zu identifizieren, während dieser auf eine grundlegende und exklusive Alternative in den Konsequenzen hinweist, den Weltkrieg oder die Revolution, also eine Auswirkung jenes Kräfteverhältnisses. In gewisser Weise ähnelt die gegenwärtige historische Situation der des 19. Jahrhunderts: Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen kann sich in die eine oder andere Richtung entwickeln, ohne das Leben der Gesellschaft entscheidend zu beeinflussen. Ebenso wenig kann dieses Kräfteverhältnis oder seine Entwicklung als "Kurs" bezeichnet werden. In diesem Sinne kann der Begriff "Niederlage des Proletariats", wenn er in der gegenwärtigen Periode seinen ganzen Wert behält, nicht mehr dieselbe Bedeutung haben wie in der Zeit vor 1989. Wichtig hingegen ist es, die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat zu berücksichtigen, und ständig zu studieren: Können wir davon ausgehen, dass diese Entwicklung zugunsten des Proletariats verläuft (was noch nicht bedeutet, dass es kein Zurück mehr gibt) oder dass wir uns in einer Dynamik der Schwächung der Klasse befinden (in dem Wissen, dass diese Dynamik auch umgekehrt werden kann).
In einem allgemeineren und langfristigen Sinne bringt der Verzicht auf das Konzept des "Historischen Kurses" die Notwendigkeit mit sich, dass revolutionäre Marxisten eine vertiefte historische Untersuchung der gesamten Entwicklung des proletarischen Klassenkampfes an die Hand nehmen, um die Kriterien für die Bewertung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat in der Periode des kapitalistischen Zerfalls besser zu verstehen.
[1]Dieser Artikel erwähnt die Gleichgültigkeit anderer Gruppen der Kommunistischen Linken gegenüber dieser Frage und ihre entschiedene Ablehnung der Analyse der IKS als „nicht-marxistisch“, was darauf hindeutet, dass sie noch keinen theoretischen Beitrag zu dieser lebenswichtigen Frage der Entwicklung des Gleichgewichts der Klassenkräfte leisten können – zumal sie die berühmte erste Zeile des Kommunistischen Manifests, und damit ein wesentliches Gebot des historischen Materialismus, vergessen haben. Bezüglich des Parasitismus denunziert der Artikel den Angriff der polizeiähnlichen "Internen Fraktion der IKS" (heute die IGCL) auf den IKS-Bericht über den Klassenkampf vom 14. Kongress und seine Analyse der Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls auf den Klassenkampf als eine "opportunistische" und "revisionistische" "Liquidierung des Klassenkampfes", obwohl das Personal dieser Gruppe mit dieser Analyse noch einverstanden war, als diese Leute kurz zuvor noch Mitglieder der IKS waren. Organisatorischer Verrat geht im parasitären Milieu Hand in Hand mit politischem.
[2] „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“