Im Angesicht des Corona-Virus mobilisiert die deutsche Bourgeoisie ihren Machtinstinkt

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Deutschland – wieder einmal Ausnahme, wieder einmal Wemister?

Die ganze Welt wird von einer neuartigen Pandemie bedroht: Der neue Riese China versucht es erst mit Totschweigen und dann mit der ganzen Macht seiner diktatorischen, staatskapitalistischen Maschine; dann erwischt es Länder im Herzen des historischen Kapitalismus: Italien, Spanien, Frankreich und Großbritannien. Die Pandemie kennt keine Grenzen und überrascht völlig unvorbereitete Länder, nahezu 200.000 Menschen sterben (zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels), der Gesundheitsapparat kollabiert in mehreren Regionen. Aktuell wird die bröckelnde Weltmacht der untergegangenen Epoche des Kalten Krieges USA erschüttert[1]. Und Deutschland? Nachdem in der ersten Phase die Behörden ähnlich unvorbereitet waren und zögerlich reagierten, ging man anschließend entschlossener vor und hinterließ international den Eindruck, dass man bei der Bekämpfung und Verwaltung der Pandemie erfolgreicher agierte und neben Südkorea nahezu als erfolgreiche Ausnahme erscheint.[2] Als Gradmesser werden insbesondere die Verfügbarkeit und Auslastung der Intensivbetten und die Anzahl der Todesfälle angeführt (die zum Zeitpunkt des Schreibens des Artikels die 5.000 Marke übersprungen hat).

Warum ist Deutschland gerade noch knapp an ähnlich katastrophalen Zuständen wie in anderen Ländern vorbei geschrammt?

Die schleichende Durchkapitalisierung des Gesundheits- und Pflegesektors

Ähnlich wie in Italien, Spanien, Frankreich oder Großbritannien wurde der Gesundheits- und Pflegebereich in den letzten Jahren zielstrebig umstrukturiert, teilweise privatisiert, und auf Teufel komm raus wurden Kosten eingespart.[3] So wurden zum Beispiel Krankenhäuser zu reinen „Investitionsanlagen“ für Hedgefonds, von denen die höchstmögliche Rendite erwartet wurde. Deutschland war in diesem Umbau sogar eher Vorreiter als Nachtraber. Der gleichzeitig angestoßene Umbau und damit die Kürzungen im Sozialbereich (Agenda 2010, Hartz IV) aber auch die Umstrukturierung ehemaliger Staatsbetriebe (Deutsche Post, Telekom, Deutsche Bahn usw.) legten mit die Grundlagen dafür, dass Deutschland, gestützt auf seine industrielle Potenz und Exportfähigkeit, entgegen der Tendenz der sich zuspitzenden  Krise im internationalen Vergleich geradezu zum Profiteur der letzten 15 Jahre werden konnte.

Wenn wir uns nun genauer dem Gesundheits- und Pflegesektor zuwenden, so stellen wir fest, dass heute bereits 37% der Krankenhäuser privatisiert sind. Doch entscheidender ist, dass die Betreibung der Krankenhäuser für alle Träger (also auch die öffentlichen und kirchlichen) sehr stark durchkapitalisiert wurde. Dies betrifft z.B. die Rationalisierung der Arbeitsprozesse, die Abrechnung mit den Krankenkassen (Fallpauschalen) und die Schließung von Krankenhäusern. Während es 1998 in Deutschland noch 2263 Krankenhäuser gab, sind diese von 2007 auf 2087 und im Jahr 2017 auf 1942 Krankenhäuser reduziert worden. Heute sind es noch rund 1400. Entsprechend wurde die Zahl der Krankenhausbetten innerhalb von zehn Jahren um rund 10.000 reduziert, von 506.954 (2007) auf 497.200 (2017). Trotz erhöhter Arbeitsintensität ist das Pflegepersonal seit 1993 abgebaut worden.[4]

Eine ähnliche Tendenz ist in den Pflegeheimen zu erkennen, bei gleichzeitiger Alterung der Bevölkerung. Die Ausbeutung der Pflege- und Gesundheitskräfte ist massiv gestiegen. Schon 2016 wurde vorhergesagt, dass 2025 zwischen 100.000 und 200.000 ausgebildete Pflegekräfte fehlen würden, gleichzeitig sank die Attraktivität des Pflegeberufs aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen[5], so beträgt die Verweildauer im Beruf der Altenpflege gerade einmal 8 Jahre, die diversen internationalen Anwerbeversuche können auch mit dem Land, wo Milch und Honig fließt, nicht locken.[6] Das heißt, die Leute hauen ab, wechseln den Beruf, sobald es möglich ist, da u.a. den Schichtdienst, die kurzfristig geänderten Dienstpläne und insbesondere die Konfrontation mit den unmenschlichen Arbeitsbedingungen niemand lange aushält.

Die kapitalistische Realität in den Gesundheitsfabriken war bereits vor der Pandemie auch in Deutschland strukturell menschenverachtend. Die Krankenhäuser sollen die kranken Arbeitskräfte für die weitere Verwertung zusammenflicken und möglichst schnell wieder ausspucken. Das schlecht bezahlte und von einem strengen Arbeitsregime getaktete Personal musste aus den Billiglohngebieten angeworben werden.

Wie in der Wirtschaft insgesamt, wo ein immer höherer Anteil an Maschinen zum Einsatz kommt (eine immer höhere organische Zusammensetzung des Kapitals), ist auch im Bereich der Medizin der Anteil der „Apparatemedizin“ ständig gestiegen.

Die Medizintechnologie produziert eine immer teurere und technisch komplizierte Medizinapparatur, die in den Gesundheitsfabriken eingesetzt wird und Gewinn generieren muss, jedoch nur von hoch ausgebildeten Fachkräften bedient werden kann. Diese neuen Apparate und Techniken können einen gewaltigen Fortschritt im Bereich der Diagnose und der Behandlungsmöglichkeiten bieten, aber aufgrund der in ihnen steckenden gewaltigen Kosten der Anschaffung, Unterhaltung und Bedienung verschärfen sie den Zwang, dass immer mehr Patienten „durchgeschleust“ werden müssen, um die Geräte zu amortisieren, das Personal zu bezahlen und schließlich Gewinn abzuwerfen.

Gleichzeitig hat die Medizin im 21. Jahrhundert die alte Geißel der Erkrankung (und den Tod) im Krankenhaus durch mangelnde Hygiene, an der im 19. Jahrhundert vor Einführung moderner Hygienetechniken die meisten Krankenhauspatienten starben, nicht abschütteln können. Dem Robert-Koch-Institut zufolge sterben jährlich schätzungsweise bis zu 20.000 Menschen durch Krankenhauskeime, verursacht von jährlich geschätzten ca. 600.000 Krankenhausinfektionen.[7]

Letztendlich bedeutet das, dass die Patienten zum einen nur als „Kunden“ im Gesundheitsbetrieb in Erscheinung treten, denen man möglichst viel „Leistung“ zu verkaufen versucht, und die Beschäftigten wie Zitronen ausgepresst werden, um die Akkumulation in der Gesundheitsbranche auf das höchstmögliche Niveau zu pushen. Der Patient tritt dem Pfleger als Ware gegenüber, die soziale Beziehung wird zur Dienstleistung, der Arbeitsprozess unterliegt einem enormen Zeitdruck und Zwang. Diese Pervertierung beschreibt sehr gut, was Marx als Versachlichung, Entmenschlichung und Ausbeutung analysierte hat. Der eigentliche Zweck der Tätigkeit (der Gebrauchswert), die Heilung und/oder die Pflege der Menschen, treten in den Hintergrund. Die Fixierung von unterversorgten Menschen in Pflegeheimen, die allgemeine Verwahrlosung unter anderem durch zu geringen Personalbestand, eklatante Missstände, die lange Zeit unerkannt bleiben[8], die Infragestellung oder Verweigerung von bestimmten Operationen für ältere Menschen sind Ausdruck dieser strukturellen Unmenschlichkeit, die nur durch die proletarische Solidarität und Aufopferung von einzelnen PflegearbeiterInnen angesichts dieser täglichen und strukturellen Entmenschlichung und Versachlichung aufgebrochen wird. Schon vor dem Ausbruch der Pandemie stießen gesellschaftlichen Widersprüche eines verrottenden Systems in den Gesundheitsfabriken besonders krass aufeinander.

Die politische Ignoranz gegenüber der eigenen Vorbereitung auf Pandemien

Medizinhistoriker und Epidemiologen warnen schon lange, dass die Gefahr von weltweiten Pandemien zunimmt. Dazu kommt, dass die Lebensbedingungen im Kapitalismus die negativen und zerstörerischen Kräfte solcher Pandemien verstärken: die Zerstörung natürlicher Lebensräume für Wildtiere, deren Verkauf und Verzehr ohne entsprechende veterinärmedizinische Kontrollen, die Industrialisierung der Agrarindustrie und im speziellen der Tierhaltung[9], die Urbanisierung, die sich hauptsächlich als „Slumisierung“ durchsetzt usw. verstärken die Tendenz der Viren, die Artengrenzen zu überspringen[10].

Weltweit wurden in Erwartung solcher Pandemien Untersuchungen, Planspiele und Notstandsübungen durchgeführt, so auch in Deutschland 2012. Es wurde ein "außergewöhnliches Seuchengeschehen" durchgespielt: “Anti-epidemische Maßnahmen, phasenorientierte Handlungsempfehlungen, Krisenkommunikation, behördliche Maßnahmen, Abschätzung der Auswirkungen auf die genannten Schutzgüter, Verfolgung der Entwicklung der Ausbreitung und der Zahl der Neuerkrankungen etc. etc. [11] Wenn wir die ersten Wochen der Reaktion auf die Krise beobachten, und wenn wir all die Hinweise auf viel zu wenig vorhandene Schutzausrüstung, Notfallkapazitäten, Personal usw. zusammen nehmen, dann können wir dies nur als ein unverantwortliches Handeln der politischen Klasse begreifen. Krankenbetten, Personal, Infrastruktur, Ausrüstung wurde in vielen Bereichen gekürzt anstatt präventiv aufgebaut. Ein Krankenpfleger aus Berlin berichtet von selbst gebastelter Schutzkleidung[12], mehrere Berliner Krankenhäuser schreiben einen gemeinsamen Appell, die Berliner Krankenhausgesellschaft forderte Freiwillige auf, Masken zu nähen, PflegearbeiterInnen, die sich beschweren, werden mit Repression konfrontiert ... [13]Auch in Deutschland entblößt sich die destruktive “Natur” des Kapitalismus, die schon im Normalfall tötet und nun angesichts einer weltweiten Pandemie das wissenschaftlich mögliche verweigert. Dies löst Empörung bei den ArbeiterInnen an vorderster Front auf, viele weisen das verlogene Lob der Politiker und den symbolischen Applaus zurück. In Mittelbaden sollen schon die ersten Pfleger aufgrund der fehlenden Schutzausrüstung gekündigt haben[14], in Brandenburg wurde Anfang April in einem offenen Brief Schutzkleidung eingefordert und klar analysiert: „Unsere Krankenhäuser wurden zu Fabriken und Gesundheit zur Ware“[15].

Da mag es verblüffen, dass die Sterblichkeitsrate in Deutschland noch viel geringer ist als in Italien, Spanien und Frankreich[16].

Die Mobilisierung der deutschen Bourgeoisie

Es gibt viele Faktoren, die beim besonderen Verlauf der Pandemie in Deutschland berücksichtigt werden müssen. Man kann zum Beispiel gewissermaßen gar von einigen glücklichen Umständen sprechen, denn die ersten Fälle konnten noch unmittelbar lokalisiert und damit schnell isoliert werden. Zweitens betraf anfangs eine große Welle hauptsächlich junge und sportliche Skiurlauber, drittens ist die Familienstruktur in Deutschland eine andere als in Italien und Spanien, wo viele Großeltern nah mit ihren Kindern und Enkelkindern zusammen leben und viertens ist das Gesundheitssystem trotz all der Einsparungen und Umstrukturierungen immer noch deutlich besser ausgestattet als in den anderen Ländern Europas[17] und gar weltweit.

Der entscheidende Faktor ist jedoch die Fähigkeit der deutschen Bourgeoisie, sich nach den ersten Wochen der Desorientierung viel stärker und geschlossener zu mobilisieren als in anderen Ländern. Deutschland als Gewinner und Motor der EU verfügt immer noch über eine stabile Wirtschaft und über eine politische Klasse, die zwar nicht frei ist von den auflösenden Tendenzen und von dem Drang zu unverantwortlichem Verhalten, der im Zerfall immer weiter um sich greift[18], dennoch hat beispielsweise der Populismus hier im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern (und den USA) noch nicht den politischen Apparat ausgehöhlt. Und als weiterer zentraler Faktor der Mobilisierungsfähigkeit der herrschenden Klasse muss die besonders starke Rolle der Gewerkschaften in Deutschland hervorgehoben werden. Zwar war die deutsche Automobilindustrie durch Schwierigkeiten in den globalen Lieferketten (insbesondere durch die Verknüpfung mit China und dann Italien) bereits frühzeitig für die Auswirkungen durch den Corona-Virus sensibilisiert worden, doch es bedurfte des Weckrufs des Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh, um bei VW Hals über Kopf die Werke bereits am 17. März (vor dem offiziellen politischen Shutdown durch die Bundesregierung!) zu schließen[19]. VW mit seiner historisch engen Verquickung von Staat-Land und Kapital (der Volkswagen des nationalsozialistischen Systems) ist geradezu ein Leitunternehmen, quasi ein Vertreter der Avantgarde des deutschen Staatskapitalismus. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde diese Rolle durch die enge Einbindung der IGM gestärkt und weiter ausgebaut. Während am 17. März bei BMW und Porsche noch die Bänder rollten und Daimler nur eine Unterbrechung für ein paar Tage geplant hatte (um die Betreuung der Kinder zu ermöglichen), hat die IGM über VW den Kurs vorgegeben. Anders als in anderen europäischen Ländern (oder auch den USA), wo das nationale Kapital gegen besseres Wissen, die Arbeiter unter lebensgefährlichen Bedingungen an das Band schickte und damit Streiks provozierte (siehe unsere Artikel dazu), hat die deutsche Bourgeoisie mit Hilfe der Gewerkschaften und in Absprache mit ihrem Staatsapparat ihren Machtinstinkt unter Beweis gestellt. Das ausgeklügelte „Sozialpartnersystem“ zwischen Gewerkschaften und Kapital zur Kontrolle der Arbeiterklasse, zur Stärkung des nationalen Kapitals und des Standorts Deutschland erscheint als ein Spiel von Geben und Nehmen. Der Tarifkonflikt, der mit der Kündigung des Tarifvertrag in der Metall- und Elektroindustrie zum 31. März eigentlich angestanden hätte (einschließlich möglicher (Warn-)streiks) wurde in Angesicht der Krise im Tarifbezirk Nordrhein-Westfalen durch einen Notvertrag ohne jegliche Lohnerhöhung (nach Jahren des Booms) abgeblasen[20]. Dieser Notvertrag wurde umgehend von anderen Bezirken übernommen.

Die Bourgeoisie hat diese zum Teil geschrumpfte, aber immer noch vorhandene Fähigkeit an ökonomischer Stärke und politischen Machtinstinkt nach einer kurzen Phase der politischen Fahrlässigkeit und Planlosigkeit[21] wieder unter Beweis gestellt. Dies erlaubte politische Entscheidungen, die keineswegs von der Sorge um die Gesundheit der Beschäftigten an sich geprägt war, sondern von einer langfristigen Strategie des Machterhalts und der Kontinuität des kapitalistischen Produktionsprozesses. Denn für die Kapitalisten ist es eine Frage des Kalküls: Eine durch die Pandemie verseuchte und damit lange Zeit kranke Belegschaft, mit viel höheren Gesundheitskosten oder eine kontrolliert heruntergefahrene Produktion und Einstellung der wirtschaftlichen Aktivitäten als “ökonomisch” günstigere Variante.

Zuerst sammelte die nüchterne Naturwissenschaftlerin Angela Merkel ein wissenschaftliches Team des Robert-Koch-Instituts um sich und ließ sich eine Handlungsstrategie[22] erarbeiten, die sie am 18. März[23] in einer Fernsehansprache verkündete: Lockdown und Social Distancing. Der Exportweltmeister Deutschland schloss annähernd sämtliche Geschäfte mit Publikumsverkehr (ausschließlich Lebensmittelläden, Apotheken, Drogeriemärkte …). In enger Abstimmung mit den Gewerkschaften wurde die gesamte Automobilindustrie runtergefahren[24], was den Kurs für andere Branchen vorgab. Die Schulen, Universitäten und Kindergärten wurden geschlossen. Flankiert wurde diese Schockmaßnahme mit einer Mobilisierung der staatskapitalistischen Geld-Bazooka, in deren Zentrum das altbewährte Mittel der Kurzarbeit steht[25], begleitet von unzähligen kommunalen und föderalen Variationen von Helikoptergeld. Am 20. März wird ein Nachtragshaushalt über 150 Mrd. Euro beschlossen, hinzu kommen etliche Mrd. aus den Ländertöpfen und EU-Mitteln. Insgesamt geht man von 750 Mrd. Euro Helikoptergeld aus, und täglich werden neue Subventionen für weitere notleidende Branchen angekündigt.[26] Was jetzt als unmittelbare “Rettung” vor der Entlassung usw. empfunden wird, wird über kurz oder lang zu heftigsten Angriffen in verschiedenster Form führen, für die vor allem die Arbeiterklasse wird blechen müssen. Es bleibt einem späteren Artikel überlassen, die katastrophalen Folgen dieses wachsenden Schuldenberges zu analysieren.

Das Militär wird involviert, so sollte innerhalb eines Monats mit Unterstützung der Bundeswehr in Berlin ein Krankenhaus für 1000 Menschen gebaut werden, die Verteidigungsministerin AKK berichtet über eine steigende Anzahl von Amtshilfeersuchen und bringt die Mobilisierung der Reservisten ins Spiel. Diese Mobilisierung des Militärs lässt sich quantitativ in keinster Weise mit der in Frankreich vergleichen, ebenfalls fehlt hier vollkommen jegliche Kriegsrhetorik, dennoch ist die schleichende Stärkung des Militärs und die mediale Verwertung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte [27]bemerkenswert. Insgesamt sollten die Maßnahmen das Signal aussenden: „Wir tun alles für euch“, und gleichzeitig hat man in Deutschland auf so drakonische Ausgangssperren und Kontaktsperren wie z.B. In Spanien, Italien, Frankreich verzichtet und somit die Bevölkerung hinter ihre Regierung geschart[28].

Hier zeigt sich, dass die deutsche Bourgeoisie im Vergleich mit anderen führenden Staaten im Weltkapitalismus weiterhin in der Lage ist, politisch geschickt zu handeln und ihre politische ‚Intelligenz‘ nicht verloren hat. Nur so ist zu erklären, dass in einer Studie das deutsche Krisenmanagement als weltweit führend eingestuft wird[29]. Diese politische ‚Intelligenz‘ der deutschen Bourgeoisie fußt auf deren historischen Fähigkeit, den revolutionären Ansturm in Deutschland von 1918/19 in viel Blut abgewehrt zu haben. Die damals aktiven konterrevolutionären Elemente aus Gewerkschaften, Sozialdemokratie (Mehrheit- und Unabhängige-), Freikorps und Kapital sind nach weiteren 100 Jahren in einem festen staatskapitalistischen Block ‚zusammengewachsen‘. Dies ist der historische Grund für den ausgeprägten Machtinstinkt.

Dieser drückt sich heute in einer scheinbar größeren Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten aus, die jedoch nicht auf einer größeren „Menschlichkeit“, sondern zum einen auf der Sorge um den bestmöglichen, kostengünstigsten Erhalt der Arbeitskraft aber auch auf dem Wissen um die gefährlichen Folgen einer Mobilisierung der Arbeiterklasse in Deutschland basiert. Wir haben bereits an anderer Stelle angeführt, dass die zentrifugalen Kräfte des kapitalistischen Zerfalls und insbesondere der Populismus auch vor Deutschland nicht Halt gemacht haben und dennoch ist der politische Apparat in Deutschland noch weitaus stabiler als in Frankreich, Italien, GB oder erst recht den USA. Es zeigt sich schon jetzt, dass Elemente des Populismus durch die Mobilisierung des Staatsapparates durch die Bourgeoisie teilweise in ihren Maßnahmen aufgenommen und angewandt wurden (es wird sich zeigen, ob dies der Beginn einer Zersetzung des Apparates bedeutet oder ob somit der Populismus besser zu kontrollieren sein wird) und damit die populistische Partei AfD einstweilen geschwächt wird. In dem Krisenmanagement zeigt sich, dass die deutsche Bourgeoisie einen starken Staat, Grenzen zu, Ignoranz gegenüber dem Flüchtlingselend und nationalen Egoismus in ihrem Handlungsreservoir zur Verfügung hat und die AfD nur als lästiger Störenfried übrigbleibt.

In Anbetracht des weltweiten Charakters der Pandemie und der international völlig unzureichenden Vorbereitung hat sich auch die herrschende Klasse in Deutschland dem Sog des jeder für sich nicht entziehen können. Bei der verzweifelten Suche nach Masken wurde auch in Deutschland die Regelung der Bundesregierung, dass medizinische Ausrüstung nur noch exportiert werden darf, wenn der lebenswichtige Bedarf Deutschlands gedeckt ist, zur Anwendung gebracht. Das gilt selbst dann, wenn ein Mangel an Schutzausrüstung in anderen Ländern Menschenleben gefährdet. National geht halt über alles. Und bei dem Versuch, die EU nicht auseinanderfliegen zu lassen, sondern möglichst national abgestimmt in diesem immer stärker werdenden Chaos vorzugehen, hat das deutsche Kapital den Kredithahn zwar nahezu unbegrenzt für die heimische Wirtschaft aufgedreht, aber gegenüber den strauchelnden “Partnern” in Italien, Spanien und der geforderten Einführung von Coronabonds blieb die deutsche Bourgeoisie noch weitgehend  unnachgiebig. Welche Konsequenzen dies für die EU haben wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen.

Ebenso lässt sich heute noch nichts über die Aussichten darauf sagen, das immer aggressivere Auftreten des chinesischen Imperialismus in Europa und anderswo abwehren zu können. Der Berg an Folgekosten für die ökonomischen Rettungsmaßnahmen[30], die von den Herrschenden weltweit beschlossen wurden, wird zu einem Anwachsen der Schulden[31] führen, wo die Tendenz des jeder für sich immer verheerender um sich greifen wird. Inmitten dieses Chaos mag die deutsche Bourgeoisie zwar bis dato erfolgreicher als ihre Rivalen gewesen sein, aber als einer der am meisten auf Export und internationale Stabilität angewiesenen Länder kann sie sich trotz gewisser Vorteile nicht auf Dauer den Erschütterungen der Krise und dem damit verbundenen Chaos entziehen. Welche Herausforderungen damit auf die Arbeiterklasse zukommen, werden wir in einem nächsten Artikel behandeln.

Gerald, 23. April 2020


[1] Ob die derzeit noch exponentiell ansteigende Ansteckungsrate bei dem ehemaligen Blockgegner Russland ein ähnlich verheerendes Niveau erreichen wird, ist derzeit noch nicht vorherzusehen https://russland.ahk.de/corona-krise/liveticker

[3] Dies illustriert bereits sehr gut den Begriff der “Durchkapitalisierung”, mit dem die ökonomische Logik der Verwertung und der Kapitalanhäufung mit dem Zwang zum Wachstum (Kapitalakkumultation) unter dem obersten Ziel des Profits gemeint ist.

[4] “auf der Tagung »Krankenhaus statt Fabrik«, Stuttgart, 20. Oktober 2018) ergibt sich von 1993 bis 2016 trotz gestiegener Fallzahlen, verkürzter Liegezeit und damit erhöhter Arbeitsintensität ein Minus im Ist-Bereich von 289.000 auf 277.000, also 12.000 Pflegekräften. Im errechneten Soll-Bereich nach Pflegepersonalregelung (PPR) bei Annahme eines um 20 Prozent erhöhten Personalbedarfs durch Leistungszuwachs ergibt sich sogar eine Differenz von 143.000 Pflegekräften.” https://gesundheit-soziales.verdi.de/mein-arbeitsplatz/krankenhaus/++co+...

[8] Anfang der 2000er tötete ein Pfleger in Norddeutschland mehr als 100 Patienten ohne das dies auffiel. https://www.stern.de/panorama/stern-crime/krankenpfleger-niels-hoegel-ve...

[10] Siehe auch das Buch von Mike Davis dazu: https://www.assoziation-a.de/buch/Vogelgrippe

[12] “Die haben sich tatsächlich Laminierfolie im Baumarkt besorgt und daraus eine Art Schild hergestellt, der über Augen und Mund reicht. Jetzt müssen wir Krankenpfleger uns also schon selbst einkleiden, weil der Staat keinen brauchbaren Notfallplan für eine Pandemie hatte!” https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/berliner-intensivpfleger-ueber-...

[15] So forderten noch am 7. April Ärzte, Kranken- und OP-Schwestern sowie weitere Beschäftigte aus mehr als 20 Krankenhäusern in Brandenburg in einem offenen Brief an die Landesregierung: „Das Land Brandenburg muss einen Weg finden, Masken, Schutzkittel, Schutzbrillen, Handschuhe und Desinfektionsmittel zu produzieren – sofort!!“ und „Unsere Krankenhäuser wurden zu Fabriken und Gesundheit zur Ware“

[16] “Mit seinen derzeit 1400 Todesfällen kommt Deutschland auf eine Sterblichkeitsrate von 1,5 Prozent. Das ist sehr niedrig verglichen mit 12 Prozent in Italien, rund 10 Prozent in Spanien, Frankreich und Großbritannien, 4 Prozent in China und 2,5 Prozent in den USA. Selbst Südkorea, das immer wieder als Vorbild genannt wird, weist mit 1,7 Prozent eine höhere Todesrate auf.” https://www.welt.de/politik/deutschland/article207060585/Corona-Niedrige-Todesrate-New-York-Times-ueber-die-deutsche-Ausnahme.html. Mittlerweile sind die Todesfälle auf über 5.000 angestiegen (Stand 22.4.2020)

[17] “Im Januar gab es rund 28.000 solcher Intensivbetten oder 34 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich: In Italien sind es zwölf und in den Niederlanden sieben.” https://www.welt.de/politik/deutschland/article207060585/Corona-Niedrige...

[18] “...Ausdruck des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über das Funktionieren der Gesellschaft, der sich im Wesentlichen daraus ergibt, was im Kern ihres Zerfalls liegt, der Unfähigkeit der beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft, eine Antwort auf die unlösbare Krise zu geben, in die die kapitalistische Wirtschaft versinkt. Mit anderen Worten, der Zerfall ist im Wesentlichen das Ergebnis der Ohnmacht der herrschenden Klasse, einer Ohnmacht, die in ihrer Unfähigkeit verwurzelt ist, diese Krise in der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, und die zunehmend dazu neigt, ihren politischen Apparat zu beeinflussen.” https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationalen-lage-2019-imperialistische-spannungen-leben-der

[19] “Und so sei der Entscheidung am frühen Dienstagmorgen ein hitziges Wortgefecht zwischen Vorstand und den in Wolfsburg traditionell sehr einflussreichen Arbeitnehmervertretern rund um den Betriebsratschef Bernd Osterloh vorangegangen. Wie kurzfristig der Entschluss gefallen ist, zeigt sich auch daran, dass noch nicht geklärt ist, wie VW den Stopp arbeitsrechtlich umsetzen will.” https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/coronavirus-volkswagen-daimler-1....

[20] “In der Metall- und Elektroindustrie haben die Tarifpartner einen Pilotabschluss in Nordrhein-Westfalen erzielt. Unter dem Eindruck der Coronakrise einigten sich IG Metall und Arbeitgeber darauf, die Löhne in diesem Jahr nicht zu erhöhen.” https://www.spiegel.de/wirtschaft/arbeitgeber-und-ig-metall-einigen-sich...

[21] Der DAX stürzt von fast 14.000 (Mitte Februar) auf unter 9.000 Punkten ab. Das Land Bayern ruft bereits am 16. März den Katastrophenfall aus,

[22] Diese Tendenz zur “alternativlosen” Diktatur der Experten müssen wir an anderer Stelle noch einmal aufnehmen, doch sie tauchte auch schon in der Klimabewegung auf und die gleiche Alternativlosigkeit der (ökonomischen) Experten diktierte auch die politische Handlung während der Griechenland-Krise der EU. Trotz der politischen Cleverness des Großteils der herrschenden Klasse lässt sich damit eine gewisse politische “Feigheit” derselben nicht verbergen, denn es handelt sich dabei auch um eine Vorgehensweise, den Klassencharakter der Angriffe hinter einer scheinbar “ideologie-freien/neutralen” Wissenschaft zu verstecken.

[24] die Automobilindustrie macht mit über 800.000 Beschäftigten einen Großteil der deutschen Industrie aus

[25] Am 22. April wird gar beschlossen, dass Kurzarbeitergeld von 60 bzw 67% auf 80 bzw 87% zu erhöhen.

[27] Dass man in diesen Tagen neue Kampfflugzeuge als Ersatz für die ‘veralteten’ Tornadojets bestellen und dabei vor hohen Ausgaben nicht zurückschreckt, ist nicht widersprüchlich, sondern gehört zusammen.

[28] In Umfragen erzielt Merkel die höchste Zustimmung in dieser Legislaturperiode und insbesondere die CDU verzeichnete starke Gewinne, so dass schon Gerüchte über eine fünfte Amtszeit gestreut werden: https://www.merkur.de/politik/coronavirus-deutschland-angela-merkel-kanz...

[29] "Deutschland hat im Vergleich zu den anderen Ländern derzeit das beste Sicherheits- und Stabilitätsranking in Europa und gehört auch weltweit zu den führenden Nationen in Sachen Krisenmanagement", zitiert der "Spiegel" Dimitry Kaminsky, Gründer von DKG. Zudem habe Deutschland "äußerst effizient" agiert.“ https://www.dkv.global/safety-ranking

[30] Dies wird die IKS in weiteren Analysen untersuchen. Wir fordern unsere LeserInnen auf, unsere internationale Presse zu verfolgen und sich an der Debatte über die Einschätzung der Lage, der Perspektiven und unseren Aufgaben zu beteiligen.

[31] Wir fordern alle LeserInnen dazu auf, sich intensiver mit der Resolution zur internationalen Lage vom 23. Internationalen Kongress der IKS auseinanderzusetzen: „Nicht nur die Ursachen der Krise 2007-2011 sind nicht gelöst oder überwunden, sondern auch die Schwere und die Widersprüche der Krise sind auf ein höheres Niveau gerückt: Es sind nun die Staaten selbst, die mit der erdrückenden Last ihrer Schulden konfrontiert sind (den „Staatsschulden“), die ihre Interventionsfähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften weiter beeinträchtigen. „Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.“(Resolution zur internationalen Lage, 20. Kongress der IKS, 2013)“, Resolution zur internationalen Lage (2019): imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationa...

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