Gespeichert von IKS am
Nachdem mitten in der Sommerzeit, und stets an einem Montag, einige Tausend Menschen mehrere Male vor allem in Magdeburg gegen die nach dem VW-Manager Hartz benannten „Arbeitsmarktreformen“ der Bundesregierung demonstriert hatten, berief der aus den Ferien zurückkehrende Kanzler Schröder sofort eine Sitzung seiner Ministerriege ein. Dass es sich dabei demonstrativ um ein „Krisensitzung“ des Kabinetts handelte, wurde durch die Tatsache unterstrichen, dass dafür Wirtschaftsminister Clement und Finanzminister Eichel aus ihren Ferien nach Berlin zitiert wurden. Das Ergebnis dieses Treffens war eine „Abschwächung“ des bereits beschlossenen Maßnahmenkatalogs gegen die Erwerbslosen. Und zwar eine, welche den öffentlichen Haushalt nach Schätzungen um fast zwei Milliarden Euro zusätzlich belasten wird.
Auch wenn die offizielle Verlautbarung der Bundesregierung das Wort „Korrektur“ peinlichst vermied, sprachen die Medien von einem „Rückzieher“ Schröders, von einer „Demütigung“ des Wirtschaftsministers und von einer „schweren Belastung“ des Finanzministers. Mehr noch: Obwohl der Kanzler verkündete, dass nach dieser „Klarstellung“ die Arbeitsmarktreformen nunmehr „ohne Abstriche“ umgesetzt werden sollten, lösten die Beschlüsse von Berlin scheinbar erdrutschartig Forderungen nach weiteren „Nachbesserungen“ aus. Von allen Seiten, von den Gewerkschaften wie den ostdeutschen Ministerpräsidenten, aus den Reihen der Regierungskoalition und der christlich-demokratischen Opposition, von links und von rechts wurden jetzt „Korrekturen“ der „gröbsten Ungerechtigkeiten“ und „handwerklichen Fehler“ der Hartz-Angriffe verlangt.
Diese fast schon demonstrative „Nachgiebigkeit“ verschaffte den ostdeutschen „Montagsdemos“ gegen „Hartz IV“ erst recht eine unerhörte öffentliche Aufmerksamkeit. Ab Mitte August überboten sich die Fernsehanstalten in der Ausstrahlung von Reportagen und Sondersendungen über die Proteste der Arbeitslosen v.a. in Ostdeutschland. Solcher Art ermutigt, erreichten die Demonstrationen eigentlich erst jetzt eine ansehnliche Größe und – zumindest im Osten – eine größere Verbreitung. Am 16. August demonstrierten mehr als zehntausend Menschen nicht nur in Magdeburg, sondern erstmals auch in Leipzig und in der Hauptstadt Berlin. Und selbst in westdeutschen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Köln, wo nur einige hundert Demonstranten zur „Montagsdemo“ erschienen, war der Medienrummel groß. Dort gab es teilweise mehr Attac-Aktivisten als Erwerbslose und beinahe mehr Reporter und Kameraleute als Demonstranten.
Demokratische Protestkultur statt Arbeiterkampf?
Wie ist nun diese spektakulär inszenierte „Nachgiebigkeit“ der Bundesregierung zu verstehen? Reichte es tatsächlich, dass 6.000 Menschen in Magdeburg, dass einige Hundert in Sachsen Anfang August auf der Strasse gingen, um das Kapital zum Teilrückzug zu zwingen? Wie kann man dann aber erklären dass - erst wenige Wochen zuvor - die Streiks und Proteste von bis zu 160.000 Beschäftigten bei Daimler-Chrysler gegen die Forderungen der Arbeitgeber überhaupt nichts ausrichten konnten? Zu Erinnerung: Dort wurde die Forderung der Unternehmensleitung nach „Einsparungen“ von einer halben Milliarde Euro demonstrativ ohne Abstriche durchgesetzt. Als „Gegenleistung“ erhielten die Mercedesarbeiter lediglich ein Arbeitsplatzgarantie bis 2012, welche das Papier nicht Wert ist, auf dem es geschrieben steht (dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung von 24 Juli: „Wer weiß schon, wie sich die Konjunktur in den kommenden sieben Jahren entwickeln wird. Wasserdicht ist solch eine Garantie wohl nicht, denn außergewöhnliche Ereignisse erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“).
Wenn aber den Arbeitsniederlegungen und Umzügen der Arbeiter beim größten europäische Industrieunternehmen, im Herzen der vielleicht wichtigste Zusammenballung des Industrieproletariats in Deutschland – dem Norden Baden-Württembergs mit rund einer Million Metallarbeitern – kein Erfolg beschieden war, wie lässt es sich erklären, dass die „Montagsdemos“ den kapitalistischen Staat scheinbar dazu bringen konnten, Abstriche von weit über einer Milliarde Euro gegenüber dem ursprünglichen Angriffsplan vorzunehmen?
Darauf haben die bürgerlichen Medien eine einfache und scheinbar einleuchtende Antwort. Während beispielsweise bei Daimler-Chrysler ausschließlich die „klassischen“ Mittel des Arbeiterkampfes wie Streiks, Demonstrationen und aktive Solidarität zum Einsatz kamen, soll die „Wirksamkeit“ der „Montagsdemos“ darauf zurückzuführen sein, dass sie Bestandteil einer angeblich neuen „demokratischen Protestkultur“ sind. Es versteht sich von selbst, dass die bezahlten Medien die „alten“ Mittel des Arbeiterkampfes als überholt gelten lassen wollen. Die Montagsdemos hingegen sollen die Herrschenden das Fürchten gelehrt haben, indem sie sich nicht scheuen, sich als Teil einer „Bürgerbewegung“ zu sehen, die sich der Protestmittel bedient, welche die Demokratie zur Verfügung stellt. Insbesondere sollen diese Proteste den Boden dafür bereitet haben, dass die Regierungsparteien bei den kommenden Landtags- und Kommunalwahlen einen saftigen Denkzettel verpasst bekommen.
So finden die Medien rasch ihre Erklärungen für die „Nervosität“ der rot-grünen Bundesregierung. Mal soll es um die Angst der SPD vor dem Machtverlust bei den kommenden Landtagswahlen in Brandenburg gehen; mal um das eigene Abschneiden bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Da Oskar Lafontaine angesichts der „Hartz-Reformen“ mit der baldigen Gründung einer neuen Partei links von der SPD gedroht haben soll, wird sogar das Szenario eines bevorstehenden Sturzes der jetzigen Regierung an die Wand gemalt. Sollte es Lafontaine gelingen – so das Argument - mindestens drei Bundestagsabgeordnete der SPD für eine eventuelle Parteineugründung abzuwerben, würde die derzeitige Regierungskoalition ihre „Kanzlermehrheit“ verlieren und damit regierungsunfähig werden. Die Drohungen Lafontaines aber – so heißt es allenthalben – seien ein Ergebnis der Montagsdemos. In der Titelgeschichte des Spiegels von 16. August „Angst vor der Armut“ heißt es beispielsweise dazu: „Im Kanzleramt und in der Berliner SPD-Zentrale hat man den Aufstand der Arbeitslosen nicht für möglich gehalten ... Doch spätestens seit der Kampfansage des früheren SPD-Chefs Oskar Lafontaine ist die SPD-Führung alarmiert. Nun fürchten sie, Lafontaine könne auf dem Nährboden des Volkszorns über Hartz IV sein Comeback starten. (...) Kaum hatte Lafontaine vergangene Woche im Spiegel über seinen möglichen Wechsel zur linken „Wahlalternative“ gesprochen, brach Panik aus in der SPD-Führung.“
Darüber hinaus soll die Bewegung gegen „Hartz“ beide großen „Volksparteien“ – also nicht nur die SPD sondern auch die Union - erschrocken haben durch die Perspektive der Abwanderung von Protestwählern zum linken und zum rechten Rand. Jüngsten Umfragen zufolge könnte bei den Landtagswahlen in Brandenburg die PDS stärkste Partei werden, könnte der Wähleranteil der rechtsradikalen DVU zweistellig werden.
So soll die gegenwärtige Lage in Deutschland den erneuten Beweis dafür liefern, dass in der Demokratie radikale Reformen sich „nicht durchsetzen lassen“, da die Betroffenen – also auch die Arbeiter – sich der demokratischen Spielregeln ebenfalls bedienen können, um sich erfolgreich zu wehren. Die Botschaft ist klar: Angesichts nie da gewesener Angriffe gegen ihre Lebenslage sollen die Lohnabhängigen dem „traditionellen“ Arbeiterkampf den Rücken kehren und sich stattdessen an den Wahlen – und sei es als Protestwähler - beteiligen. In diesem Sinne werben nicht nur die Wahlplakate der rechtsextremen NPD in Sachsen mit dem Slogan „Quittung für Hartz IV“. Auch die bürgerlichen Linksradikalen wollen die Beschäftigten und Erwerbslosen für die Wahlurne mobilisieren. Mit der Parole „Hartz IV – Verarmung per Gesetz“ will uns die PDS weismachen, dass man die kapitalistische Verarmung „per Gesetz“ wieder rückgängig machen könne. Und bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen will uns eine Wahlliste „Gemeinsam gegen Sozialabbau“ glauben lassen, dass man mit dem Wahlzettel „Widerstand gegen Sozialabbau“ leisten kann.
Stimmt das? Und stimmt es, dass die Bundesregierung derzeit wegen einer „demokratischen Protestkultur“ mit dem Rücken zur Wand steht, vielleicht schon ins Wanken gerät?
Wie die Herrschenden die Verzweifelung vieler Arbeitslosen ausschlachten
Keine Frage: Es ist die nackte Existenzangst, welche die Arbeitslosen und andere Lohnabhängige derzeit auf die Straße treibt. Hie und da kommt auch schon Wut und Widerstandswillen der Erwerbslosen zum Ausdruck. Sofern dies zutrifft, handelt es sich um die ersten öffentlich wahrnehmbaren Kampfaktionen der Arbeitslosen in Deutschland seit Mitte der 80er Jahre. Solche Konkretisierungen des Kampfeswillens reihen sich somit ein in die international bereits wahrnehmbare, ganz allmählich wieder anziehende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse.
Das unter dem Namen Hartz firmierende Gesetzeswerk ist nicht nur ein seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesener Angriff gegen die Erwerbslosen. Es handelt sich darüber hinaus um eine „Arbeitsmarktreform“, d.h. um ein Instrument der Erpressung und Disziplinierung der noch Beschäftigten, und um einen mächtigen Hebel zur Senkung ihre Löhne. Als solche bildet es ein zentraler Bestandteil eines Generalangriffs, der aufs Engste verknüpft ist mit der Demontage sämtlicher Sozialleistungen (beispielsweise im Gesundheitswesen), mit der Verlängerung der Arbeitszeit, mit der Intensivierung der Ausbeutung usw. Diese Angriffe wiederum sind nicht Auswüchse „egoistisch“ gewordener oder durch „Neoliberalismus“ oder andere Ideologien „verblendeter“ Kapitalisten oder Politiker, sondern Ausdruck der immer auswegloser werdenden Krise des Kapitalismus.
Es ist auch kein Zufall, dass sich derzeit vor allem im Osten vornehmlich die Erwerbslosen, die Rentner und die besonders prekär Beschäftigten den Protesten anschließen. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR herrschen teilweise Arbeitslosenraten, welche fast so hoch sind wie zur Zeit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre. Darüber hinaus gibt es hier überdurchschnittlich viele Langzeitarbeitslose: die Kategorie der Arbeiterklasse, welche mit „Hartz“ besonders brutal in die absolute Verarmung gestoßen wird.
Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass wir zur Zeit von der Entstehung und Entwicklung einer kämpferischen – geschweige denn einer eigenständigen - Bewegung der Erwerbslosen noch meilenweit entfernt sind. Die Situation auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik – im Kernbereich des „wiedervereinigten“ deutschen Kapitalismus – spricht Bände. Dort beteiligen sich nur eine Handvoll Leute an den sog. Montagsdemos. Und auch im Osten – wir haben es bereits angedeutet – erhielten die Proteste erst dann größeren Zulauf, nachdem sie so stark ins Rampenlicht der bürgerlichen Medien gerieten, v.a. aber nachdem die Regierung Schröder jenen gegenüber Teilgeständnisse zu machen schien.
Natürlich fürchten die Herrschenden, dass die Lohnabhängigen sich in anbetracht ihrer beschleunigten Verelendung vermehrt zur Wehr setzen werden. Noch mehr befürchten sie, dass Teile der Arbeiterklasse beginnen könnten, den Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen. Bei Daimler-Chrysler hat es vor einigen Wochen nicht nur eine erste Kostprobe dieser langsam zunehmenden Kampfkraft gegeben. Darüber hinaus hat dieser Kampf ansatzweise die angeblich der Vergangenheit angehörende Frage der Arbeitersolidarität wieder aufgeworfen. Mehr noch: Dieser Kampf hat das Potential eines allmählich wieder erwachenden Klassenbewusstseins durchschimmern lassen. Die Ansätze eines tieferen politischen Nachdenkens wurden im Anschluss an diesen Kampf auch sichtbar, als die IKS ein Flugblatt verteilte, um die Lehren aus der Bewegung bei Daimler-Chrysler zu ziehen. Noch nie hat ein Flugblatt der IKS, seit es unsere Organisation in Deutschland gibt, d.h. seit rund einem Vierteljahrhundert, eine solch offene, z.T. enthusiastische Aufnahme von Seiten der Arbeiter erfahren wie dieses, und zwar nicht nur bei Daimler-Chrysler oder anderen Großbetrieben, sondern auch vor den Arbeitsämtern.
Doch die herrschende Klasse schaut dieser Entwicklung nicht tatenlos zu. Zugleich ist sie sehr wohl in der Lage, den Gang der Dinge realistisch einzuschätzen. Einerseits weiß sie, dass längerfristig größere Kämpfe der Erwerbslosen unvermeidbar sind. Auch weiß sie, dass gerade die Massenarbeitslosigkeit vielleicht mehr als irgendeine andere Frage auf Dauer dazu geeignet ist, die Notwendigkeit der Klassensolidarität und der Infragestellung des Kapitalismus zu verdeutlichen. Denn heute trifft die Massenarbeitslosigkeit im Gegensatz zu den 30er Jahren nicht eine bereits geschlagene und demoralisierte Arbeiterklasse.
Andererseits weiß die herrschende Klasse aber auch, dass die Zeit für größere, eigenständige Kämpfe der Arbeitslosen noch nicht reif ist. Das hängt damit zusammen, dass die Arbeiterklasse zwar nicht wie 1929 geschlagen ist, dafür aber stark beeinflusst wird von der herrschenden gesellschaftlichen Atmosphäre der Entsolidarisierung, des „Jeder-für-sich“, welche der heute perspektivlose, zerfallende Kapitalismus verbreitet.
Der beschwerliche Weg zur Wiederentstehung eines eigenständigen Kampfes der Erwerbslosen
Aufgrund dieses geschichtlichen Rahmens wäre eine viel höhere Ebene der Empörung und des Bewusstseins des Proletariats insgesamt erforderlich als in der Vergangenheit, um einen solchen eigenständigen Beitrag der Erwerbslosen zum Arbeiterkampf zu ermöglichen. In der Zwischenzeit ist gerade unter den Arbeitslosen das Gefühl der Isolierung, der Perspektivlosigkeit und der Verzweifelung besonders stark. Das kommt nicht nur daher, dass dieser Teil der Klasse besonders verarmt ist, sondern ist auch eine Folge davon, dass es beim Ausbleiben größerer Klassenkämpfe vom kollektiven Leben des Proletariats in der Produktion ausgeschlossen bleibt. Dabei wiegt die jetzige Perspektivlosigkeit im Osten womöglich noch schwerer, weil dieser Teil noch mehr von der Ideologie der Gleichsetzung von Kommunismus mit Stalinismus beeinflusst wird, welche nach 1989 eine führende Rolle bei der Untergrabung der Klassenidentität des Proletariats gespielt hat.
So verwundert es nicht, dass in diesem Teil der Klasse beispielsweise das Verhalten des Protestwählens derzeit besonders ausgeprägt ist. Und auch die klassischen Protestparteien, ob von links oder rechts, ob PDS oder DVU, üben hier vermehrt ihren Einfluss aus.
Aus diesem Kontext heraus kann man schon verstehen, dass die herrschende Klasse, trotz langsam zunehmender Kampfkraft und Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse, gegenwärtig keine Angst haben muss, die Arbeitslosen auf der Strasse demonstrieren zu lassen. Wir glauben vielmehr, dass die Bourgeoisie zur Zeit diese „Bewegung“ schürt. Der Versuch des Wirtschaftsministers Wolfgang Clement, unter dem Vorwand der Verlegung des Auszahlungstermins der Erwerbslosen-Stütze von Monatsende auf Monatsanfang im Jahr 2005 das Geld statt 12- nur 11-mal auszuzahlen, hätte wahrscheinlich nicht mal vom Gesichtspunkt der bürgerlichen Legalität Bestand gehabt. Es war eine gezielte Provokation. Es war eine dieser vordergründigen Maßnahmen, welche von vornherein eingeplant werden, um sie anschließend wieder zurück zu nehmen. Und zwar diesmal mit den Ziel, die Proteste zu ermuntern, sowie um andere, viel dauerhafter wirkende Teile des Angriffs mehr oder weniger unbemerkt durchboxen zu können. Man wollte die Arbeitslosen darüber im Unklaren lassen, dass die Maßnahmen der Regierung – nicht weniger als die „Sparziele“ bei Daimler-Chrysler – ohne Abstriche durchgesetzt werden. Die Arbeiter bei Mercedes waren sich darüber im Klaren, dass sie eine Niederlage erlitten. Das schafft aber günstige Bedingungen, um illusionslos die Lehren daraus zu ziehen. So war es bezeichnend, dass die Arbeiter, welche während ihres Kampfes niemals die Rolle der Gewerkschaften in Frage gestellt hatten, am Ende stinksauer auf die Gewerkschaften waren. Im Falle der „Montagsdemos“ war die Bourgeoisie jetzt um so entschlossener, die Niederlage der Arbeiter als einen Sieg erscheinen zu lassen – und damit das Bewusstsein der Klasse zu vernebeln.
Auch die penibel in die Breite getretene „öffentliche Debatte“ darüber, ob die Arbeitslosenproteste an die „heilige Tradition“ der „Montagsdemos“ anknüpfen dürfen, welche angeblich 1989 die DDR zum Einsturz brachten, diente der öffentlichen Bekanntmachung der jetzigen Proteste. Darüber hinaus dient diese Leier der bürgerlich-demokratischen Pervertierung des Anliegens der Arbeitslosen, indem man die Sache so dreht: „Natürlich“ sei der „Montag“ von 2004 kein Kampf gegen eine Diktatur wie damals unter Honecker (als ob der Kampf gegen das Kapital nicht immer ein Kampf gegen ein diktatorische Macht wäre, Demokratie hin oder her!). Vielmehr gehöre der Protest des „kleinen Mannes“ zur Demokratie und soll den Weg zu Reformen und zur Wahlurne bitte schön ebnen.
Die Notwendigkeit einer eigenständigen Klassenperspektive
Mit den derzeitigen Protesten will die herrschende Klasse nicht nur vorzeitig Dampf ablassen: bevor eine allgemeine Kampfstimmung unter den Arbeitslosen aufkommt, bevor ein verbreitetes Bedürfnis des Anschlusses an den Kampf der gesamten Arbeiterklasse empfunden wird. Vor allem soll der zarte Keim des eigenständigen politischen Nachdenkens innerhalb der Arbeiterklasse erstickt werden. Dazu soll das Proletariat an der Wiederaneignung der eigenen Kampftraditionen gehindert werden, indem stattdessen eine scheinbar aussichtsreichere, klassenübergreifende Protestform angeboten wird, welche die Arbeiterklasse in der bürgerlichen Gesellschaft auflöst, an Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems bindet, und als Stimmvieh dem demokratischen Klassenstaat unterordnet. Damit soll die unklar aufdämmernde Vorahnung zurückgedrängt werden, dass jede kapitalistische Regierung, egal welcher Couleur, die Angriffe gegen die Arbeiterklasse fortsetzen wird, und dass alle Parteien des demokratischen Wahlzirkus, von der DVU bis zur PDS, sich zumindest darin einig sind, dass die Folgen der Krise des Kapitalismus auf die Ausgebeuteten abgewälzt werden müssen.
Auch wenn die Wahlerfolge der Protestparteien von links und rechts eine Folge des Zerfalls der kapitalistische Gesellschaft sind und langfristig die politische Stabilität selbst eines mächtigen Staates wie Deutschland beeinträchtigen können – das Kapital ist ausgezeichnet in der Lage, die Verfaulung des eigenen Systems gegen die arbeitende Bevölkerung zu wenden. Durch die Profilierung dieser Parteien „gegen Hartz“ kann es die Arbeiterproteste auf den bürgerlich-demokratischen Boden der Wahlen lenken, um anschließend für die „Verteidigung der Demokratie gegen die Extremisten“ zu werben.
In Tat und Wahrheit zeigt die Geschichte, dass die bürgerliche Demokratie den wirkungsvollsten Rahmen bietet, um die Durchsetzung der Angriffe des Kapitals beim geringst möglichen Widerstand des Proletariats zu ermöglichen.
Natürlich macht das Kapital stets allgemeine Propaganda in diesem Sinne. Aber heute, angesichts der Schärfe der Wirtschaftskrise und des allmählichen Wiedererwachens des Proletariats reicht das nicht mehr. Das Gedankengut der bürgerlichen Demokratie muss heute unmittelbar verknüpft werden mit Bildern von Arbeitern, die für die eigenen Anliegen demonstrieren; nur so kann die Bourgeoisie ihr Ziel erreichen, die Klassenidentität des kämpfenden Proletariats im Keim zu ersticken.
Nicht durch demokratische Proteste, nicht durch die Unterstützung einiger bürgerlicher Parteien gegen andere, nicht im Kampf Ost gegen West, Beschäftigte gegen Erwerbslose, Deutsche gegen Ausländer, sondern nur durch das „traditionelle“ Mittel des Arbeiterkampfes können wir eine Antwort auf die kapitalistische Krise finden. Durch Streiks, durch Massendemonstrationen, durch direkte und eigenständige Aktionen der Arbeitslosen gegen Kürzungen, Repression und behördliche Einschüchterung, durch die Vereinigung der Arbeiterkämpfe, durch bewusste Klassensolidarität, vor allem durch die Entwicklung einer revolutionäre Perspektive zur Überwindung des Systems können wir unsere eigenständige Klassenantwort auf die Krise des Systems finden.
20.08.2004.