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Ein Sieg der Bourgeoisie, nicht der Arbeiterklasse
Im Augenblick der Fertigstellung der International Review Nr. 103 (engl./frz./span. Ausgabe), aus welcher dieser Artikel übernommen wird, erfährt die Situation in Ex-Jugoslawien eine neue Wende. Wir sehen uns deshalb zu einer unmittelbaren Stellungnahme veranlasst. Als revolutionäre Organisation der Arbeiterklasse ist dies unsere Aufgabe, auch wenn der Positionsbezug nur kurz sein kann. Unsere Leser können gewiss sein, dass wir unsere Analyse und unsere Intervention zu dieser Frage in unseren verschiedenen territorialen Publikationen sehr schnell vorantreiben werden.
Wenn wir also den Medien der Bourgeoisie und insbesondere den auf allen Fernsehkanälen der vorgeblich großen Demokratien verbreiteten Bildern glauben, so wohnen wir in Belgrad seit zwei Tagen einem großen historischen Augenblick bei: nämlich einer friedlichen demokratischen Revolution, vollendet durch das serbische Volk und den Fall von Milosevic. Dies bedeute das Ende der “letzten national-kommunistischen Diktatur Europas”. Alles entwickelt sich also bestens in der besten aller kapitalistischen Welten! Dieses “historische Ereignis” wird von allen Staatschefs und anderen Anführern der großen “demokratischen” Mächte begrüßt und beweihräuchert, denselben, die erst im letzten Jahr den Krieg entfesselt und mit ihrem Bombardement auf den Kosovo und auf Serbien massive Zerstörungen und Massaker verursacht hatten. All dies geschah, wir erinnern uns wohl, im Namen der notwendigen “humanitären Intervention”, die Milosevic und seine Bluthunde an der Vollendung ihrer schrecklichen Taten im Kosovo hätten hindern sollen.
Damals hatte unsere Organisation sofort auf diese Lügner reagiert und sie als “feuerlegende Feuerwehrmänner” denunziert. Wir hatten ihre Verantwortung für die Entfesselung der Barbarei insbesondere in dieser Weltgegend in Erinnerung gerufen: “Die Politiker und die Medien der NATO-Länder präsentieren uns diesen Krieg als eine Aktion zur ‘Verteidigung der Menschenrechte’ gegen ein besonders widerliches Regime, verantwortlich für verschiedenste Missetaten wie die seit 1991 Ex-Jugsolawien besudelnden ‘ethnischen Säuberungen’. In Wirklichkeit kümmern sich die ‘demokratischen’ Staaten keineswegs um das Schicksal der Bevölkerung im Kosovo, ebenso wenig wie sie das Schicksal der kurdischen und schiitischen Bevölkerung im Irak, die nach dem Golfkrieg von den Truppen Saddam Husseins massakriert wurden, rührte. Die Leiden der durch diesen oder jenen Diktator verfolgten Zivilbevölkerung dienten immer nur als Vorwand, der es den großen ‘Demokratien’ erlaubte, im Namen einer ‘gerechten Sache’ den Krieg zu entfesseln.” (Internationale Revue, Nr. 23)
Nur kurz darauf doppelten wir nach: “Wer, wenn nicht die großen imperialistischen Mächte, hat während der letzten zehn Jahre den schlimmsten Cliquen und nationalistischen kroatischen, serbischen, bosnischen und jetzt kosovarischen Mafias erlaubt, ihre blutige nationalistische Hysterie und die generalisierte ethnische Säuberung in einem teuflischen Prozess zu entfesseln? Wer, wenn nicht Deutschland, hat Slowenien und Kroatien zur Ausrufung der einseitigen Unabhängigkeit getrieben und hat so die nationalistischen Brandungen auf dem Balkan, die Massaker und die Vertreibung der serbischen und bosnischen Bevölkerung autorisiert und vorangetrieben? Wer, wenn nicht Großbritannien und Frankreich, hat die Repression, die Massaker an der kroatischen und bosnischen Bevölkerung und schließlich die ethnische Säuberung von Milosevic und seinen nationalistischen Großserben gutgeheißen? Wer, wenn nicht die Vereinigten Staaten, hat die verschiedenen bewaffneten Banden unterstützt und ausgerüstet, je nachdem wie sich ihre Rivalen gerade positioniert hatten? Die Heuchelei und Hinterhältigkeit der ‘alliierten’ westlichen Demokratien sind grenzenlos, wenn sie ihre Bombardements als ‘humanitäre Intervention’ rechtfertigen.” (International Review (engl. frz. span. Ausgabe) Nr. 98)
Wenn heute all diese großen imperialistischen Gangster keine Worte finden, um den Traum des serbischen Volkes zu begrüßen, das nach ihrer eigenen Ansicht ‘den Mut und den Stolz’ fand, sich des blutigen Diktators zu entledigen, so wollen sie mittels dieses trügerischen Diskurses hauptsächlich glauben machen, dass die gegenwärtigen Ereignisse nichts anderes als die Rechtfertigung der tödlichen Bombardierungen des letzten Jahres seien. Le Monde, dieses wichtige Sprachrohr der herrschenden Klasse in Frankreich, steht ohne Umschweife dazu: “...Mit dem späten Entscheid für einen militärischen Angriff auf Serbien haben Europa und die Vereinigten Staaten den Herrscher in Belgrad geschwächt und ein bisschen von seinem Volk isoliert.” Haben und werden die scheinbar großen Demokratien auch in Zukunft Grund haben, militärisch im Namen der unerlässlichen “humanitären Intervention” einzuschreiten? Unter dem Vorwand der “Verteidigung der Menschenrechte in der Welt” wollen sie auf diese Weise freie Hand haben, um die Massaker und Zerstörungen ungehindert zu vervielfachen. Von diesem Blickwinkel aus sind die aktuellen Ereignisse in Belgrad (ohne ihren ideologischen Nutzen zu vergessen) schon ein Erfolg für die Bourgeoisie.
Die herrschende Klasse betont aber auch einen anderen Aspekt: den angeblich “glorreichen Marsch der Demokratie” gegen alle Formen der Diktatur. Sind die “historischen Stunden”, denen wir heute beiwohnen dürfen, dafür nicht ein schreiender Beweis? Diese ideologische Schlacht ist desto wirksamer, je stärker die bürgerlichen Medien unterstreichen, dass unter den Hauptverantwortlichen für den Fall von Milosevic und den Sieg der Demokratie die Arbeiterklasse zu finden sei. Sie ist dem Ruf zum “zivilen Ungehorsam” gefolgt, den der Wahlsieger Kostunica ausgestoßen hatte. Dieser große nationalistische Bourgeois, in Bosnien lange ein Komplize des blutigen Karadzic, steht heute als Gegner der Diktatur da. Einige Sektoren der Arbeiterklasse wie beispielsweise die Minenarbeiter von Kolubra haben nun ihren Platz in den Zeilen der bürgerlichen Presse bekommen, da sie für die Verteidigung der Demokratie streikten. Wenn die internationale herrschende Klasse einen Wunsch hat, so dass dieses Beispiel überall in der Welt nachgeahmt werde und zwar insbesondere in den großen Arbeiterzentren im Herzen des Kapitalismus.
In diesem Augenblick trägt alle Welt das Wort “Revolution” zur Beschreibung der Situation in Belgrad im Mund. Jedoch handelt es sich um ein Täuschungsmanöver. Der Sieg der “Demokratie”, d.h. der bürgerlichen Kräfte, ist nichts anderes als der Sieg der kapitalistischen Klasse und niemals derjenige des Proletariats.
Elfe, 7.10.2000