Einige Gedanken zur Demokratie nach der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative

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In verschiedenen Artikeln berichteten wir in letzter Zeit über Rassismus und Ausbeutung als eine sich seit langem verschärfende Tendenz, auch und vor allem in den Vorzeigestaaten Europas. In Griechenland, Italien und Spanien werden Flüchtlinge aus dem Maghreb oder Anatolien, die es mit Schleppbooten ans Festland schaffen, in menschenunwürdigen Lagern eingesperrt. In Frankreich lässt Sarkozy Romas als kriminalisierte Ethnie nach Rumänien deportieren. In Deutschland lanciert Sarrazin rassistische Thesen gegen muslimische Migranten und mobilisiert als SPD-Politiker nun auch so genannt linke Stimmen. Die Liste der Kampagnen und Gesetzesänderungen könnte man beliebig erweitern, vor allem auch mit Beispielen aus der Schweiz.

In der Weltrevolution 162 haben wir im Artikel „Welche Kraft kann Rassismus und Ausbeutung überwinden“ auch über die Empörung berichtet, die zeigt, dass viele Leute die Ausgrenzung und den versteckten und offenen Rassismus nicht mehr akzeptieren. Wie im beschriebenen Beispiel von Stockholm wurde auch in der Schweiz nach der Bekanntgabe des Abstimmungsresultats für eine Annahme der Ausschaffungsinitiative zu öffentlichen Demonstrationen aufgerufen und dies in mehreren Städten gleichzeitig, was sonst nur am 1. Mai üblich ist. Tausende gingen an diesem Abend auf die Strasse, um der Empörung Ausdruck zu geben. Die Mobilisierungen, aber auch laute Aktionen im Vorfeld der Abstimmung haben gezeigt, dass die Frage polarisiert hat – es war und ist noch heute eine deutliche Empörung zu spüren. Die Empörung richtet sich hauptsächlich gegen die Schweizerische Volkspartei (SVP), welche die Initiative lanciert hat. Sie steht heute als verantwortliche Kraft – auch für die gesamte Entwicklung der „Gesellschaft“ in Richtung rechtem Gedankengut.

Die Empörung richtete sich vor allem dagegen, dass einfach aufgrund der Staatszugehörigkeit entschieden wird, ob ein Mensch noch länger in der Schweiz bleiben kann oder nicht - unabhängig davon, ob er hier aufgewachsen ist, ob er hier Kinder oder andere Angehörige hat, ob er etwas Schlimmes verbrochen oder nur einen Ladendiebstahl begangen hat.

Wo es Lohnarbeit gibt, gibt es Migration. Viele von uns sind Kinder von „Ausländern“. Wir selber arbeiten vielleicht heute in einem Land, wo nicht dieselbe Sprache gesprochen wird wie an unserem Geburtsort. Die Arbeiterklasse ist eine Klasse von Aus- und Einwanderern. Der Rassismus war mit dem internationalen Charakter der Arbeiterklasse noch nie vereinbar, wird aber heute für viele ganz handgreiflich absurd. Hinzu kommt, dass die Fremdenfeindlichkeit eine Sündenbockhaltung ausdrückt: Die „Fremden“ sollen schuld sein an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemen.

Die Empörung gerade bei vielen Jungen ist also nicht nur verständlich, sondern muss Ausgangspunkt sein für eine Veränderung in der Gesellschaft, im Umgang von Menschen mit anderen Menschen. Aber wie?

Nach einer langen Kampagne, die die Befürworter wie in der Schweiz üblich mit einer riesigen bildhaften Medienkampagne mit dem schwarzen Schaf und dem kriminellen Osteuropäer führten, wurde die Initiative bei überdurchschnittlicher Stimmbeteiligung (52.6%) mit 52.9% Ja-Stimmen angenommen. Man könnte sich nun über vieles unterhalten und sich darüber äussern, weil es z.B. eine unendliche Polemik der Bilder war, man könnte sich in die unzähligen rein juristischen, aber auch moralischen Diskurse einschalten oder die schlussendliche Relevanz der Gesetzesänderung genau betrachten. Interessant ist aus unserer Sicht, und darauf möchten wir hier genauer eingehen, wie es die herrschende Klasse in der Schweiz schafft, ihr System der so genannt direkten Demokratie zu gebrauchen, dass die Arbeiterklasse immer wieder gegen sich selber stimmt und sich mit dem Staat und der Herrschaftsform der Demokratie identifiziert.

Heuchlerische Methode der Demokratie und ihre integrativen Fähigkeiten

Wie bereits erwähnt, ist eine Wut und Empörung auch noch zwei Monate nach der Abstimmung zu spüren. Dass es diese Wut gibt und diese auch offen geäußert wird, ist gut. Die Wut zeigt eine richtige Haltung in Situationen, wo die Bourgeoisie versucht, die Klasse zu spalten.

Bedauernswert ist dabei, dass die Wut auch politisierte Leute dazu bringt, die Stimme gegen die Initiative auch auf dem demokratischen Weg der Wahl zu äussern. Anscheinend haben Einige an der Urne ihre Nein-Stimme abgegeben, und das obwohl die Demokratie als Herrschaftsform der Bourgeoisie von denselben abgelehnt wird. Warum also geht man stimmen, wenn damit das Instrument der demokratischen Abstimmung im bürgerlichen Staat akzeptiert wird? Wahrscheinlich ist es die Ohnmacht gegenüber dem politischen Apparat, wobei man trotz Bedenken mit der Möglichkeit rechnet, der SVP-Kampagne etwas entgegen zu setzen. Der Frage nach der Demokratie im Kapitalismus, die sich als politisches System bis heute am besten bewährt hat, möchten wir an diesem Beispiel nachgehen.

Hätte das Abstimmungsresultat bei der Ausschaffungsinitiative anders ausgesehen, wenn alle AusländerInnen in der Schweiz auch hätten abstimmen können statt nur die volljährigen Schweizer BürgerInnen? – Vielleicht. Sollten wir also dafür kämpfen, dass das Abstimmungs- und Wahlrecht ausgedehnt wird auf AusländerInnen?

Sobald man solche Fragen stellt, begibt man sich in die nationalstaatliche Logik. Wer definiert, wer wo AusländerIn ist? – Die Geburt. Der Ort deiner Geburt und die Staatsangehörigkeit deiner Eltern bestimmen, ob du in diesem oder jenem Land AusländerIn bist. Ob du bei einer Abstimmung in der Schweiz an die Urne gehen darfst oder nicht.

Dieses System der demokratischen Abstimmungen und Wahlen, wie es angeblich in der Schweiz in vorbildlicher Weise funktioniert, ist unauflöslich mit dem Nationalstaat verknüpft. Mit dem bürgerlichen Staat, der bestimmte Grenzen hat. Kann ein solches demokratisches System von uns dazu benutzt werden, den Rassismus einzudämmen? – Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein: Der Nationalstaat definiert, wer einheimischer Staatsbürger und wer Ausländer ist. Nur auf dieser Grundlage kann auch Ausländerfeindlichkeit entstehen, denn wo keine Ausländer sind, kann man sie auch nicht als solche zu Sündenböcken machen. Man muss also zuerst den Nationalstaat mit seinen Grenzen anerkennen, dieses System, das die Menschen in In- und Ausländer unterteilt, akzeptieren, bevor man innerhalb dieser Logik zwischen mehr oder weniger rassistischen Lösungen wählen darf.

Wenn wir uns also an den Abstimmungen beteiligen, haben wir schon eine erste Konzession gemacht. Wir bejahen dieses System der parlamentarischen oder direkten Demokratie im schweizerischen Nationalstaat. Es geht aber noch weiter: Indem wir konkret sowohl gegen die Ausschaffungsinitiative als auch gegen den Gegenvorschlag der Regierung votieren, bejahen wir – ob wir wollen oder nicht – die geltende Gesetzesordnung, das heisst das Ausländergesetz, das seit dem 1. Januar 2008 gilt und bereits eine Verschärfung des früheren Gesetzes bedeutet hat. Dieses neue Gesetz teilt die Menschen in drei Kategorien ein: Schweizer, EU-Bürger, übrige Ausländer - wehe dem, der zur dritten Kategorie gehört…. Wenn wir also gegen die beiden „schlimmeren“ Varianten zur Urne gehen, sind wir dem System schon doppelt auf den Leim gekrochen: indem wir es generell bejahen und indem wir Ja zum scheinbar geringeren Übel sagen.

Offensichtlich passt das bestehende demokratische System gut zur herrschenden Ordnung. Es ist flexibel und kann ständig an die sich ändernden Bedürfnisse angepasst werden. Diejenigen, die in diesem System zu den Verlierern (zu den Unterdrückten) gehören (die grosse Mehrheit), sind aufgeteilt in In- und Ausländer und meinen, dass sie ja mitbestimmen können – die Inländer, indem sie wählen und abstimmen, die Ausländer, indem sie die „Wahl“ haben, hier zu bleiben oder „nach Hause“ zu gehen und sich dort am demokratischen Spiel zu beteiligen. Gerade diese „Freiheiten“ führen dazu, dass das demokratische System immer wieder selbst von den Verlierern akzeptiert oder mindestens nicht aktiv in Frage gestellt wird. Und dort, wo es keine Demokratie gibt – in den Diktaturen – soll man angeblich für sie kämpfen.

Die Beteiligung an den Abstimmungen im demokratischen Staat bejaht aber nicht nur immer von Neuem das bestehende System, sondern zersetzt umgekehrt auch das Gefühl der Klassenzugehörigkeit im Proletariat. An die Urne geht man einzeln als Individuum, und nicht als kämpfende Klasse. Und man geht hin als StaatsbürgerIn, und nicht als ArbeiterIn. Was im Altertum das Joch für die Versklavten war, ist heute die Wahlurne für die ProletarierInnen.

Wollen wir denn in einer klassenlosen Gesellschaft, wo es keine Privilegien der Geburt und keine Ausbeutung mehr gibt, keine Mitbestimmung wie in der Demokratie? – Sicher schon, aber irgendwie doch anders. Was die bürgerliche Demokratie ausmacht, ist die Repräsentation: Es gibt eine in Klassen und Individuen gespaltene Gesellschaft, die zusammen gehalten werden muss. Die Parlamentarier, die Regierung werden gewählt und repräsentieren das „Gemeinwohl“. Das vermeintliche Gesamtinteresse in dieser Klassengesellschaft wird im Staat verkörpert. Dieser ist aber der Garant der herrschenden Ordnung, also ein Instrument der Herrschenden. Die Repräsentanten dieser Ordnung sind bevollmächtigt, während einer gewissen Zeit, z.B. vier Jahren, die Macht innerhalb des Nationalstaats auszuüben und ihn nach aussen zu vertreten.

In einer Gesellschaft umgekehrt, die nicht aus egoistischen Individuen besteht und keine Ausbeutung kennt, besteht das allgemeine Interesse darin, dass sich möglichst alle ständig mit ihren Ideen und ihrer Kreativität beteiligen. Es soll nicht bloss alle vier Jahre Wahlen geben, sondern ständig Diskussionen darüber, welchen Weg die Gesellschaft weiter verfolgen soll. Dabei wird es vermutlich auch zu Abstimmungen kommen, wenn es keine Einigkeit gibt. Aber die Betroffenen sollen sich aktiv beteiligen, die Entscheide sollen auch wieder in Frage gestellt, die Gewählten jederzeit abgewählt werden können. Das ist nicht mehr ein System der Repräsentation, sondern die Selbsttätigkeit der revolutionären Massen wie sie in den Arbeiterräten in der Russischen Revolution 1917 oder während kurzer Zeit in Deutschland und Ungarn 1918/19 existiert hat.

Eine Abstimmung wie vor einem Jahr gegen die Minarette oder jetzt für die „Ausschaffung krimineller Ausländer“ ist von einem emanzipatorischen Standpunkt aus (oder was für uns dasselbe ist: von einem proletarischen Standpunkt aus) von Anfang an eine Farce – eine falsche Frage im falschen Rahmen gestellt. Nationalstaat, bürgerliche Demokratie, Repräsentation sind die Mittel der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung ihrer kapitalistischen Ordnung – Weltgemeinschaft aller Unterdrückten, offene Debatte, Selbsttätigkeit und -organisation der Massen sind die entsprechenden Werkzeuge unserer Befreiung.

Dies setzt voraus, dass wir uns für unsere wirklichen Interessen wehren und uns in diesem Kampf zusammentun, über die Grenzen der Nationalstaaten, der Berufsbranchen, des Geschlechts, der Herkunft, der Beschäftigung – unabhängig davon, ob arbeitslos oder angestellt, ob fest oder prekär angestellt oder noch in Ausbildung. Unsere KlassengenossInnen in Frankreich, England, Italien haben es uns in den letzten Monaten vorgemacht. Schliessen wir uns ihnen an.

22.01.11, K und H

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