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Der Kommunismus ist die einzige Zukunft
Mit diesem Artikel beginnen wir den dritten Band unserer Kommunismus-Reihe, die vor fast 15 Jahren begonnen wurde. Der zweite Band dieser Reihe (in Internationale Revue Nr. 111, engl., franz. und span. Ausgabe) schloss mit dem Ende einer Periode - der Erschöpfung der internationalen revolutionären Welle, die den Kapitalismus bis in seine Grundfeste erschüttert hatte - und, noch spezifischer, mit einer kühnen Beschreibung der kommunistischen Kultur der Zukunft, die 1924 von Trotzki in seinem Werk Literatur und Revolution umrissen worden war.
Für die proletarische Bewegung war die Klärung ihrer allgemeinen Ziele ein konstantes Element ihres Kampfes gewesen. Diese Artikelreihe hat versucht, ihren eigenen Teil zu diesem Kampf beizutragen, nicht nur indem sie die Geschichte dieser Bewegung nochmals schilderte – auch wenn dies wichtig genug ist angesichts der fürchterlichen Verzerrungen der tatsächlichen Geschichte des Proletariats durch die herrschende Ideologie -, sondern auch indem sie danach strebte, neue oder lange vernachlässigte Gebiete zu erforschen und ein tieferes Verständnis des gesamten kommunistischen Projekts zu entwickeln. In den nächsten Artikeln werden wir daher an den chronologischen Faden der bisherigen Reihe anknüpfen, insbesondere indem wir die Beiträge zu den Problemen der Übergangsperiode untersuchen, die von den linkskommunistischen Fraktionen in der Epoche der Konterrevolution geleistet wurden, welche der historischen Niederlage der Arbeiterklasse gefolgt war. Doch statt die neuen theoretischen Entwicklungen in der Arbeiterbewegung in Fragen des Kommunismus und der Übergangsperiode im Licht der ersten Machtergreifung durch das revolutionäre Proletariat nur zu porträtieren, denken wir, dass es sowohl nützlich als auch notwendig ist, die Ziele und die Methodik dieser Reihe zu klären, indem wir noch einmal zu den Anfängen zurückkehren: Einerseits werden wir zum Beginn dieser Artikelreihen und zum Anfang des Marxismus selbst zurückkehren. Andererseits werden wir die Hauptargumente rekapitulieren, die in den ersten beiden Bänden dieser Reihe entwickelt worden waren, um einen Bericht über die Untersuchungen und Klärungen des Inhalts der kommunistischen Gesellschaft zu erstellen, der die Entwicklung der historischen Erfahrungen des Proletariats begleitet hat. Dies wird schließlich einen stabileren Ausgangspunkt ermöglichen, um die Fragen zu betrachten, welche von den Revolutionären der 1930er und 1940er Jahre gestellt worden waren, und um auch weiterhin das Problem der proletarischen Revolution in unseren Zeiten zu berücksichtigen.
In dieser Ausgabe der Internationalen Revue wollen wir daher detailliert einen zukunftsweisenden Text des jungen Karl Marx untersuchen: den Brief an Arnold Ruge[1] aus dem September 1843, ein Text, der sehr häufig zitiert worden war, aber kaum umfassend analysiert wurde. Es gibt mehr als einen Grund, um auf den Brief an Ruge zurückzukommen. Für Marx und den Marxismus ist es nicht schlicht eine Frage des Kampfes für eine neue Wirtschaftsform anstelle des Kapitalismus, sobald dieser seine historischen Grenzen erreicht hat. Es ist nicht einfach eine Frage des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Wie Engels später sagte, geht es darum, es der menschlichen Spezies zu ermöglichen, vom „Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit“ überzugehen, von ihrer „Vorgeschichte“ zu ihrer wahren Geschichte. Es geht darum, all das Potenzial zu befreien, das die Menschheit in sich trägt und das in Hunderttausenden von Jahren des Mangels und besonders in den Jahrtausenden der Klassenherrschaft unterdrückt worden war. Der Brief an Ruge weist uns einen Weg aus dieser Problematik, indem er darauf pocht, dass wir kurz vor einer allgemeinen Wiedererweckung der Menschheit stehen. Und wir können sogar noch weiter gehen: Wie Marx in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten argumentierte, findet das Wiedererwachen des Menschen zur gleichen Zeit statt wie das Wiedererwachen der Natur. Wie der Mensch durch das Proletariat sich seiner selbst bewusst wird, so wird sich die Natur durch den Menschen ihrer selbst bewusst. Zweifellos handelt es sich hier um Fragen, die uns tief in die Erforschung des Menschen führen. Dabei sind die Umrisse ihrer Lösung nicht eine Erfindung eines brillanten Individuums Marx, sondern die theoretische Synthese der realen Möglichkeiten, die sich in der Geschichte eröffnet haben.
Der Brief an Ruge ist eine sehr gute Illustration des Prozesses, durch den sich Marx vom Milieu der Philosophie zur kommunistischen Bewegung entwickelte. Wir haben uns mit dieser Frage bereits im zweiten Artikel der Reihe befasst („Wie das Proletariat Marx für den Kommunismus gewonnen hat“, in unserem Buch Kommunismus: Kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit) wo wir zeigen, dass Marx‘ politischer Werdegang in sich selbst eine Veranschaulichung der Tatsache war, die auch im Kommunistischen Manifest geäußert wurde: dass die Ansichten der Kommunisten nicht die Erfindungen individueller Ideologen sind, sondern der theoretische Ausdruck einer lebenden Bewegung, der Bewegung des Proletariats. Wir zeigten insbesondere, wie Marx‘ Einführung in die Arbeiterassoziationen von Paris 1844 einen entscheidenden Anteil daran hatte, ihn für eine kommunistische Bewegung zu gewinnen, die Marx vorausging und unabhängig von ihm entstand. Das Studium von Ruges Brief und anderer Arbeiten durch Marx vor seiner Ankunft in Paris macht deutlich, dass dies keine plötzliche „Konvertierung“ war, sondern der Höhepunkt eines Prozesses, der bereits zuvor im Gange gewesen war. Doch dies ändert nichts an der grundlegenden These. Marx war kein reservierter Philosoph, der aus der sicheren Entfernung seines Elfenbeinturms die Rezeptbücher für die Zukunft ausbrütete. Er bewegte sich zum Kommunismus unter der magnetischen Anziehungskraft einer revolutionären Klasse, die schließlich in der Lage war, sich all seine unbestreitbaren Talente anzueignen und in den Kampf für eine neue Welt einzubeziehen. Und der Brief an Ruge beginnt bereits, wie wir sehen werden, diese biographische Realität in einer kohärenten, theoretischen Herangehensweise gegenüber der Frage des Bewusstseins zu artikulieren.
Von der Kritik der Entfremdung zum historischen Materialismus
Im September 1843 verbrachte Marx mehrere Wochen „Urlaub“ in Kreuznach, zum Teil dank der Aktionen der allgegenwärtigen preußischen Zensur, die Marx der Verantwortung für die Herausgabe der Rheinischen Zeitung enthoben hatte. Die Zeitung wurde nach der Veröffentlichung einer Reihe von „subversiven“ Stücken, einschließlich der Artikel von Marx über die Leiden der Weinbauern der Mosel, geschlossen. Marx nutzte die Freiheit, die ihm so gewährt wurde, um nachzudenken und zu schreiben. Er machte eine eminent wichtige Entwicklungsphase durch, eine Phase des Übergangs von einem radikal-demokratischen Standpunkt zu einer ausdrücklich kommunistischen Position, die er im darauf folgenden Jahr in Paris vertreten sollte.
Es wurde viel geschrieben über „den jungen Marx“, insbesondere über die Arbeiten in den Jahren 1843-44. Einige der wichtigsten Werke dieser Periode blieben noch lange nach dem Tode von Marx unbekannt; insbesondere die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte, die er 1844 in Paris verfasst hatte, wurden erst 1932 veröffentlicht.
Infolgedessen war in einer sehr bedeutsamen Entwicklungsphase der Arbeiterbewegung - nämlich in der gesamten Periode der Zweiten Internationale und während der Bildung der Dritten - den Marxisten viel von den Frühwerken und Ideen von Marx unbekannt geblieben. Einige von den kühnsten Entdeckungen, die in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten enthalten sind – Schlüsselelemente, die sowohl das Konzept der Entfremdung als auch den Inhalt der menschlichen Erfahrungen in einer Gesellschaft betreffen, in der die Entfremdung überwunden ist -, konnten nicht direkt in die Entwicklung des marxistischen Denkens in dieser gesamten Periode integriert werden.
Dies hatte eine Reihe von ideologischen Interpretationen und Abstufungen zur Folge, die sich im Allgemeinen zwischen zwei Polen ansiedelten. Der eine Pol wurde vom Sprecher der senilsten Form des stalinistischen Intellektualismus personifiziert – Louis Althusser, für den die frühen Werke von Marx in die Kategorie des sentimentalen Humanismus und des jugendlichen Übermuts gehören, die später wohlweislich vom Wissenschaftler Marx abgelegt worden seien, der die zentrale Bedeutung der objektiven Gesetze der Ökonomie betont habe. Objektive Gesetze, die - wenn man vom erhabenen Kauderwelsch der Althusser’schen Theorie zur verständlicheren Anwendung in der Welt der Politik gelangt - glücklicherweise nicht auf ein Ende der Entfremdung weist, sondern auf ein viel erstrebenswerteres staatskapitalistisches Programm der stalinistischen Bürokratie. Der andere Pol ist das Spiegelbild des Hardcore-Stalinisten: Es ist die Ideologie einer Kongregation von Katholiken, Existenzialisten und anderen Philosophen, die zwar ebenfalls eine Kontinuität zwischen den Spätwerken von Marx und den Fünfjahresplänen in der UdSSR ausfindig machen wollen, die uns aber zuflüstern, dass es einen anderen Marx gibt, einen jungen, romantischen und idealistischen Marx, der uns eine Alternative zur geistigen Verarmung anbietet, die den materialistischen Westen plagt. Zwischen diesen beiden Polen gibt es allerlei Arten von Theoretiker – einige von ihnen der Frankfurter Schule[2] oder dem Werk von Lucio Colletti[3] zugetan, andere von Teilaspekten des Linkskommunismus beeinflusst (wie die Publikation Aufheben in Großbritannien) -, die die Tatsache, dass die Zweite Internationale in Angelegenheiten der Philosophie mehr Engels als dem frühen Marx vertraut hatte, dazu benutzt haben, um einen Keil nicht so sehr zwischen den beiden Marx‘, sondern zwischen Marx und Engels bzw. zwischen Marx und der Zweiten und Dritten Internationale zu treiben. In jedem Fall werden die Schurken in diesem Stück als Verfechter einer mechanischen, positivistischen Verzerrung des Denkens von Marx gesehen.
Diese Vorgehensweisen enthalten sicherlich Bruchstücke der Wahrheit in ihren Rezepten. Es ist richtig, dass insbesondere die Periode der Zweiten Internationale eine Arbeiterbewegung erblickte, die immer verwundbarer gegenüber der Penetration der herrschenden Ideologie wurde, was nicht weniger der Fall war auf der Ebene der allgemeinen Theorie (z.B. die Philosophie, die Frage des historischen Fortschritts, die Ursprünge des Klassenbewusstseins) oder auf der Ebene der politischen Praxis (z.B. die Frage des Parlaments, des Minimal- und Maximalprogramms, etc.). Es ist ebenfalls zutreffend, dass das Unwissen über das Frühwerk von Marx die Verwundbarkeit noch verstärkte, manchmal im Zusammenhang mit den weitreichendsten Problemen. Engels seinerseits leugnete nie, dass Marx der größere Denker war, und es gibt Momente in Engels‘ theoretischem Werk, in denen eine volle Assimilierung einiger der Fragen, die in Marx‘ Frühwerk am hartnäckigsten gestellt wurden, in der Tat seine Beiträge auf eine höhere Ebene gehoben hätte. Doch was all den auseinanderstrebenden Vorgehensweisen mangelt, das ist der Sinn für die Kontinuität im Denken von Marx und für die Kontinuität der revolutionären Strömung, die trotz aller Schwächen und Defizite die marxistische Methode angenommen hat, um in der Sache des Kommunismus voranzukommen. In früheren Artikeln dieser Reihe haben wir gegen die Idee argumentiert, dass es eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Zweiten Internationale und dem authentischen Marxismus gibt, sowohl vorher als auch nachher (siehe Internationale Revue Nr. 84, engl., franz. und span. Ausgabe). Wir haben ebenfalls auf die Versuche geantwortet, Marx auf der philosophischen Ebene gegen Engels auszuspielen (siehe den Artikel „Die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse“ in Internationale Revue Nr. 85, engl., franz. und span. Ausgabe, der die von Schmidt und Colletti vertretene Idee ablehnt, dass es bei Marx kein Konzept der Dialektik der Natur gegeben habe). Und wir haben wie Bordiga auf die faktische Kontinuität zwischen dem Marx von 1844 und der Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte sowie dem reifen Marx des Kapital bestanden, der seinen früheren Visionen keinesfalls den Rücken kehrte, sondern danach strebte, ihnen ein solideres Fundament und eine wissenschaftlichere Basis zu verschaffen, vor allem durch die Entwicklung der Theorie des historischen Materialismus und durch eine umfassendere Untersuchung der kapitalistischen Nationalökonomie (siehe Internationale Revue Nr. 75, engl., franz. und span. Ausgabe, „Das Kapital und die Prinzipien des Kommunismus“).
Ein Blick auf die unmittelbar „vor-kommunistische“ Phase von Marx, auf den Marx von 1843, unterstützt voll und ganz diese Vorgehensweise gegenüber dem Problem. In der vorhergehenden Periode wurde Marx in wachsendem Maße mit kommunistischen Ideen konfrontiert. Beispielsweise hatte er, als er als Mitherausgeber an der Rheinischen Zeitung beteiligt war, die Treffen eines Diskussionszirkels in den Kölner Büros der Zeitung besucht, der von Moses Hess[4] angeregt wurde, der seine Unterstützung für den Kommunismus bereits erklärt hatte. Sicherlich verpflichtete sich Marx nicht leichtfertig einer Sache. So wie er lange darüber nachdachte, ob er Anhänger Hegels werden sollte, so verweigerte er jegliche oberflächliche Übernahme kommunistischer Theorien, da er wusste, dass viele der existierenden Formen des Kommunismus krude und unterentwickelt waren – dogmatische Abstraktionen, wie er sie in seinem Brief vom September 1843 an Ruge beschrieb. In einem früheren Brief an Ruge (November 1842) schrieb er: „Ich erklärte, dass ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken ect. für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlicher Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden sollte, verlange.“ (MEW, Bd. 27, S. 412).
Die Überwindung der Trennung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft
Schon eine flüchtige Untersuchung der Texte, die Marx in dieser Phase geschrieben hatte, zeigt, dass sein Übergang zum Kommunismus bereits voll im Gange war. Der Haupttext, an dem er während seines Aufenthaltes in Kreuznach arbeitete, war die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Dies ist ein langer und unvollständiger Text, der schwierig zu lesen ist, der aber Marx‘ Ringen mit Feuerbachs Kritik an Hegel aufzeigt. Marx war besonders beeinflusst von Feuerbachs richtiger Umkehrung der idealistischen Spekulationen Hegels, die betont, dass das Denken vom Sein kommt und nicht umgekehrt. Diese Methode durchdringt die Kritik des Staates, der von Hegel als Inkarnation des Denkens statt als die Widerspiegelung der eher erdverbundenen Realitäten des menschlichen Lebens angesehen wurde. Somit waren die Grundlagen gelegt für eine fundamentale Kritik des Staates als solchen. Aus dem Blickwinkel der 1843 verfassten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wurde der Staat – auch der moderne repräsentative Staat – schon als ein Ausdruck der Entfremdung der gesellschaftlichen Kräfte des Menschen aufgefasst. Und obwohl Marx noch immer auf das Kommen des allgemeinen Wahlrechts und einer demokratischen Republik setzte, schaute er von Anfang an über das Ideal eines liberalen politischen Regimes hinaus. Denn in den zugegebenermaßen hybriden Formulierungen in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie argumentiert Marx, dass das allgemeine Wahlrecht und – mehr noch - eine radikale Demokratie Vorboten der Überwindung sowohl des Staates als auch der Zivilgesellschaft, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft seien: „Im politisch abstrakten Staat ist die Reform des Wahlrechts eine Auflösung des Staates, und gleichfalls die Auflösung der sozialen Gesellschaft.“.
Hier zeigt sich in Embryonalform bereits ein Ziel, das die marxistische Bewegung in ihrer ganzen Geschichte animiert hat: das Absterben des Staates.
In seinem Essay Über die jüdische Frage, gegen Ende 1843 geschrieben, schaut Marx erneut über den Kampf für die Abschaffung feudaler Barrieren hinaus – in diesem Fall die Beschränkungen der Bürgerrechte für Juden, deren Außerkraftsetzung er als einen Schritt vorwärts befürwortete, im Gegensatz zu den Sophismen von Bruno Bauer. Marx zeigt die inhärenten Grenzen des eigentlichen Begriffs der Bürgerrechte, die lediglich das Recht der atomisierten Bürger in einer Gesellschaft konkurrierender Egos bedeuten. Für Marx sollte die politische Emanzipation – mit anderen Worten, die Ziele der bürgerlichen Revolution, die es im rückständigen Deutschland noch zu erreichen galt – nicht mit einer echten gesellschaftlichen Emanzipation verwechselt werden, bei der die Menschheit nicht nur von der Herrschaft fremder politischer Mächte befreit wird, sondern auch von der Tyrannei des Kaufens und Verkaufens. Dies schloss die Überwindung der Trennung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft mit ein. Das Wort Kommunismus wird nicht benutzt, aber die Implikationen sind bereits vorhanden (siehe „Marx und die Judenfrage“ in Internationale Revue Nr. 32, deutsche Ausgabe).
Schließlich sind in der kürzeren, aber weitaus fokussierteren Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Ende 1843 oder Anfang 1844 verfasst) die Errungenschaften von Marx enorm, und es bedarf eines eigenen Artikels, um sie zu zusammenzufassen. So kurz wie möglich zusammengefasst, umfassen sie zweierlei: Erstens stellt Marx seine berühmte Kritik der Religion vor, die bereits die rationalistische Kritik der bürgerlichen Aufklärung übertraf, indem er erkannte, dass die Macht der Religion aus der Existenz einer Gesellschaftsordnung herrührt, die menschliche Bedürfnisse leugnen muss; zweitens identifiziert er das Proletariat als den Urheber der sozialen Revolution: „In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, (…) einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“ (MEW, Bd. 1, S. 390).
Die Emanzipation des Proletariats ist nicht zu trennen von der allgemeinen menschlichen Emanzipation: Die Arbeiterklasse kann nicht bloß sich selbst von der Ausbeutung befreien, kann nicht als herrschende Klasse ewig fortbestehen, sondern muss als Fahnenträger aller Unterdrückten agieren; es kann sich selbst und die Menschheit auch nicht vom Kapitalismus allein befreien, sondern muss das albtraumartige Gewicht aller bisher existierenden Formen der Ausbeutung und Unterdrückung abschütteln.
Das Proletariat: Urheber des revolutionären Wechsels
Wir sollten auch hinzufügen, dass die beiden letzten Texte, zusammen mit einer Sammlung von Briefen von Marx an Ruge, in einer einzigen Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher im Februar 1844 veröffentlicht wurden. Diese Zeitschrift war die Frucht der Zusammenarbeit von Marx mit Ruge, Engels und anderen[5]. Marx hatte grosse Erwartungen in dieses Unternehmen, von dem er hoffte, dass es Ruges verbotene Deutsche Jahrbücher ersetzen und einen großen Schritt nach vorn machen könnte, indem es feste Verbindungen zwischen französischen und deutschen revolutionären Ideen knüpft, obgleich letztendlich keiner seiner in Aussicht gestellten französischen Mitstreiter diese Ansprüche teilte. Alle Beiträge kamen von deutscher Seite. Es ist äußerst interessant, dass im August-September 1843 Marx einen kurzen Programmentwurf für die Publikation schrieb: „Die Artikel unserer Schrift sollen von Deutschen und Franzosen gemeinsam geschrieben werden und folgendes behandeln:
1. Menschen und Systeme, welche einen nützlichen oder gefährlichen Einfluss errungen haben, und politisch aktuelle Fragen, ob sie nun die Verfassungen, die politische Ökonomie oder die öffentlichen Institutionen und die Moral betreffen.
2. Wir sollten Besprechungen der Presse vorsehen, die eine strenge Kritik der oft in Publikationen vorhandenen Unterwürfigkeit und Niederträchtigkeit darstellen, und helfen, die Aufmerksamkeit auf andere zu lenken, welche im Namen der Menschlichkeit und Freiheit stehen.
3. Wir sollten einen Überblick über die Literatur und die Publikationen des alten Regimes in Deutschland geben, welches niedergeht und sich selber zerstört. Und schlussendlich einen Überblick über die Bücher der zwei Nationen, welche den Beginn und die Fortführung der neuen Ära darstellen, in die wir eintreten.“ (eigene Übersetzung).
Aus diesem Dokument können wir zwei Dinge entnehmen. Erstens, dass selbst auf dieser Stufe Marx‘ Streben ein militantes war: Einen Programmentwurf für eine Publikation zu entwerfen ist, auch wenn nur kurz und allgemein, ein Zeichen dafür, dass die Publikation Ausdruck einer organisierten Tat war. Diese Dimension im Leben von Marx – der Gedanke, sein Leben einer Sache und der Notwendigkeit zu widmen, eine Organisation von Revolutionären aufzubauen – bleibt ein fundamentales Merkmal des proletarischen Einflusses auf Marx, den „Mensch und Kämpfer“, um den Titel der Biographie von Nikolaevski aus dem Jahr 1936 zu benutzen.
Zweitens: wenn Marx über die „neue Ära“ spricht, so müssen wir uns vergegenwärtigen, dass, während in Deutschland und im größten Teil Europas die neue Ära den Sturz des Feudalismus und den Triumph der demokratischen Bourgeoisie bedeutete, es auch eine mächtige Tendenz in Marx‘ und Engels‘ anfänglichem Bekenntnis zum Kommunismus gab, die bürgerliche mit der proletarischen Revolution zu verschmelzen und zu meinen, dass ziemlich schnell eine nach der anderen folgen werde. Dies wird deutlich aus Marx‘ Identifizierung des Proletariats als Urheber des revolutionären Wechsels selbst im rückständigen Deutschland, und es wird noch deutlicher im Anspruch, der vom Kommunistischen Manifest und in seiner Theorie der permanenten Revolution, die er im Anschluss an die Aufstände von 1848 erarbeitet hatte, erhoben wurde. Bezogen auf das Denken von Marx 1843 und 1844, müssen wir folgern, dass bei der Vorwegnahme einer „neuen Ära“ der Blick von Marx weniger auf die Übergangskämpfe für eine bürgerliche Republik gerichtet war, sondern weitaus mehr auf die nachfolgende Auseinandersetzung für eine wahrhaft menschliche Gesellschaft, die frei von kapitalistischem Egoismus und Ausbeutung ist. Was Marx sein ganzes Leben hindurch antrieb, war vor allem dieses Gespür für die Möglichkeit solch einer Gesellschaft. Später erkannte er immer deutlicher, dass der direkte Kampf für solch eine Welt noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand, dass die Menschheit noch die Kavallerie des Kapitalismus vorbeiziehen lassen musste, damit die materiellen Grundlagen für die neue Gesellschaft gelegt werden; doch diese ursprüngliche Inspiration hat ihn niemals verlassen.
Der Marxismus ist kein geschlossenes System
Es ist daher unsinnig, eine strikte Unterscheidung zwischen dem jungen und dem alten Marx zu machen. Die Texte von 1843-44 waren allesamt wichtige Schritte in Richtung einer voll entwickelten kommunistischen Weltanschauung, noch bevor er bewusst oder ausdrücklich sich selbst als Kommunist definierte. Darüber hinaus ist das Tempo der Entwicklung von Marx äußerst bemerkenswert. Nach dem Verfassen der oben erwähnten Texte zog er nach Paris. Im Sommer 1844 stellte Marx, offensichtlich beeinflusst von seiner direkten Einbeziehung in die kommunistischen Arbeiterassoziationen dieser Stadt, die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte fertig, in denen er sich für den Kommunismus ausspricht. Ende August traf er Engels, der in der Lage war, zu einem weitaus direkteren Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus beizutragen. Ihre Zusammenarbeit wirkte sich auf das Werk von Marx noch dynamisierender aus, und ab 1845 war er durch seine Thesen zu Feuerbach und die Deutsche Ideologie in der Lage, die Grundlagen der materialistischen Theorie der Geschichte zu präsentieren. Und da der Marxismus, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, kein geschlossenes System ist, sollte sich dieser Prozess der Evolution und Selbstentwicklung bis zum Ende des Lebens von Marx fortsetzen (siehe zum Beispiel den Artikel aus dieser Reihe über den „späten Marx“ in Internationale Revue, Nr. 81, engl., franz. und span. Ausgabe, der erzählt, wie Marx sich selbst Russisch beigebracht hat, um sich mit der russischen Frage zu befassen, und Antworten produziert hat, die einige seiner engen Anhänger durcheinandergebracht haben).
Der September-Brief an Ruge, den wir unten in Gänze abdrucken, muss im Zusammenhang mit dem oben Genannten verstanden werden. Es ist kein Zufall, dass die gesamte Sammlung der Briefe in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde; diese Briefe wurden selbst damals selbstverständlich als Beiträge zur Erarbeitung eines neuen Programms oder zumindest einer neuen politischen Methode betrachtet. Und der letzte Brief ist der „programmatischste“ von allen. Durch die Chronologie der Briefe können wir Marx‘ Entscheidung nachvollziehen, Deutschland zu verlassen, wo seine Aussichten noch prekärer geworden waren aufgrund einer Kombination von familiären Unstimmigkeiten und Schikanierungen durch die Behörden. Im September-Brief räumt Marx ein, dass er es immer schwieriger fand, in Deutschland zu atmen, und dass er sich entschlossen habe, nach Frankreich zu gehen – das Land der Revolutionen, wo sich sozialistisches und kommunistisches Gedankengut überschäumend und in mannigfaltigen Richtungen entwickelte. Ruge, der ehemalige Herausgeber der unterdrückten Deutschen Jahrbücher, war ein williger Helfer bei der Umsetzung des Plans, die Deutsch-Französischen Jahrbücher zu etablieren. Doch ihre Wege sollten sich trennen, als Marx einen ausdrücklich kommunistischen Standpunkt einnahm, und Ruge gegenüber Marx seine Entmutigung infolge der Erfahrungen mit der deutschen Zensur und mit der philisterhaften Atmosphäre in Deutschland eingestand. So war Marx‘ vorletzter Brief an Ruge (im Mai 1843 in Köln verfasst) zu einem gewissen Teil dem Zweck gewidmet, Ruges Stimmung aufzuhellen, und gibt uns einen guten Einblick in die optimistische Geistesverfassung von Marx in jener Zeit: „Von unserer Seite muss die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, um so vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welches die Gegenwart in ihrem Schosse trägt.“ (MEW, Bd. 1, S. 343).
Der Kampf gegen den Dogmatismus
Zu der Zeit, als Marx den September-Brief schrieb, hatte sich Ruges Depression gebessert. Marx wollte unbedingt das politische Vorgehen skizzieren, das in ihrem angestrebten Unternehmen herrschen sollte. So war er sorgsam darauf bedacht, jegliches dogmatische und sektiererische Vorgehen zu vermeiden. Es muss daran erinnert werden, dass dies der Gipfelpunkt des utopischen Sozialismus aller Arten war, von denen fast alle auf abstrakten Spekulationen darüber beruhten, wie eine neue und gerechtere Gesellschaft funktionieren kann, und wenig oder keine Verbindung zu den realen, bodenständigen Kämpfen hatten, die sich rings um sie herum ereigneten. In vielen Fällen offenbarten die Utopisten eine überhebliche Verachtung sowohl gegenüber den Forderungen der demokratischen Opposition gegen den Feudalismus als auch gegenüber den unmittelbaren ökonomischen Forderungen der frisch aus der Taufe gehobenen Arbeiterklasse. Und selten warteten sie mit einem besseren Plan für die Institutionalisierung der neuen gesellschaftlichen Ordnung auf, als die Bettelschale an reiche bürgerliche Philantropen zu übergeben. Daher tat Marx viele Abarten des zeitgenössischen Sozialismus als Formen des Dogmatismus ab, die die Welt mit fertigen Schemata konfrontierten und den praktischen politischen Kampf als ihrer Aufmerksamkeit nicht wert betrachteten. Gleichzeitig macht Marx klar, dass er sich der verschiedenen Richtungen innerhalb der kommunistischen Bewegung wohl bewusst war und dass einige von ihnen – er erwähnt Proudhon und Fourier[6] – lohnenswerter für Untersuchungen sind als andere. Doch der Schlüssel ist seine Überzeugung, dass eine neue Welt nicht vom Himmel fällt, sondern dass Resultat von Kämpfen in der realen Welt sein muss. Daher die berühmten Zeilen: „Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahmen in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfs zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.“ (MEW, Bd. 1, S. 345).
Im Kern ist dies, wie Lukacs in seinem 1920er Essay Klassenbewusstsein unterstreicht, bereits eine materialistische Analyse: Es geht nicht darum, einem unbewussten Ding Bewusstsein beizubringen – die Essenz des Idealismus -, sondern darum, einen Prozess bewusst zu machen, der sich bereits in eine bestimmte Richtung bewegt; einen Prozess, der von materiellen Notwendigkeiten angetrieben wird, was auch die Notwendigkeit umfasst, sich seiner selbst bewusst zu werden.
Es trifft sicherlich zu, dass Marx noch immer größtenteils über den Kampf für die politische Emanzipation spricht – zur Vervollständigung der bürgerlichen Revolution vor allem in Deutschland. Die Betonung der Kritik an der Religion, der Intervention in zeitgenössischen politischen Fragen (wie die Unterschiede zwischen dem Ständestaat und der repräsentativen Regierung), aber auch der Möglichkeit, dass diese Aktivitäten „das Interesse einer großen Partei gewinnen“ werden – d.h. Einfluss auf die liberale Bourgeoisie - bestätigt dies. Doch wir sollten nicht vergessen, dass Marx kurz davor stand, das Proletariat als Urheber des gesellschaftlichen Wandels anzukündigen, eine Schlussfolgerung, die bald darauf sowohl auf das feudale Deutschland als auch auf die höher entwickelten kapitalistischen Länder angewandt werden sollte. Daher kann die Methode gleichermaßen – ja, sogar noch spezifischer – auf den proletarischen Kampf für Sofortforderungen angewendet werden, ob wirtschaftlich oder politisch. Dies ist in der Tat eine profunde Antizipation des Kampfes gegen die sektiererische Vorgehensweise, die später für Bakunin typisch war. Doch es ist auch mit den Formulierungen in Die Deutsche Ideologie verknüpft, die den Kommunismus als „die reelle Bewegung, welche die bestehenden Verhältnisse überwindet“, die das revolutionäre Bewusstsein in der Existenz einer revolutionären Klasse lokalisiert und das kommunistische Bewusstsein ausdrücklich als eine historische Auswirkung der ausgebeuteten Klasse definiert. Die Kontinuität mit den Thesen über Feuerbach – das Verständnis, dass die Erzieher auch erzogen werden müssen – ist gleichermaßen evident. Zusammen sind diese Arbeiten eine Warnung gegen all die modernen Erlöser des Proletariats, gegen all jene, die das sozialistische Bewusstsein als etwas betrachten, das den niederen Arbeitern von irgendeiner höheren Instanz beigebracht werden muss.
<<>>Der Kommunismus in Kontinuität mit der Geschichte der Menschheit>
Die abschließenden Paragraphen des Briefes fassen das Vorgehen von Marx bei der politischen Intervention zusammen, aber sie nehmen uns auch mit in tieferes Wasser: „Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch die Analysierung des mythischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen grossen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.
Wir können also die Tendenz unseres Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.“ (MEW, Bd. 1, S. 346)
In George Elliots großartigem Roman über das Gesellschaftsleben in England Mitte des 19. Jahrhunderts, Middlemarch, gibt es eine Figur, die sich Casaubon nennt, ein staubtrockener Gelehrter und ein Mann der Kirche mit unabhängigen Mitteln, der sein Leben dem Verfassen eines monumentalen und möglichst definitiven Werkes widmet, das den Titel Der Schlüssel zu allen Mythologien tragen soll. Dieses Werk wird niemals vollendet, und dies ist ein symbolischer Ausdruck für die Trennung dieser Figur vom realen menschlichen Leben und seinen Leidenschaften. Doch wir können dies auch als eine Gleichnis über das bürgerliche Gelehrtentum im Allgemeinen nehmen. In ihrer Aufstiegsperiode entwickelte die Bourgeoisie ein Gespür für universelle Fragen und für die Suche nach universellen Antworten. Doch diese Suche wurde in ihrer dekadenten Phase immer mehr aufgegeben, denn das Stellen solcher Fragen führt zur unbequemen Konsequenz ihres Dahinscheidens als Klasse. Casaubons Scheitern nimmt somit die intellektuelle Sackgasse des bürgerlichen Denkens vorweg. Marx dagegen bietet uns in einigen kurzen Bemerkungen den Ansatz einer Vorgehensweise an, die uns einen Zugang zu sämtlichen Mythologien anbietet. So wie Marx im September-Brief sagt, dass die Religion das „Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit ist.“, so ist die Mythologie das Register der Psyche der Menschheit seit ihren Anfängen, sowohl in ihren Grenzen als auch in ihrem Streben. Das Studium der Mythologie verschafft uns einen Einblick in die Bedürfnisse, die diesem Streben Vorschub leisten.
David McLellan, vielleicht einer der besten Marx-Biographen seit Mehring, kommentiert, dass „der Begriff der Erlösung durch eine ‚Reform des Bewusstseins‘ natürlich sehr idealistisch war. Doch dies war nur zu typisch für die deutsche Philosophie jener Zeit“ (Karl Marx, His Life and Thought, 1973, S. 77; eigene Übersetzung). Dies ist sicherlich ein zu statischer Blick auf die Formulierungen von Marx. Wenn wir die Tatsache berücksichtigen, dass Marx diese „Reform des Bewusstseins“ bereits als das Produkt der realen Kämpfe betrachtete, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Marx bereits im Begriff war, das Proletariat als Träger dieses „reformierten“ Bewusstseins zu betrachten, dann ist es offensichtlich, dass Marx bereits die Dogmen der zeitgenössischen deutschen Philosophie hinter sich gelassen hat. Wie Lukacs später in den Essays, die in Geschichte und Klassenbewusstsein enthalten sind, klarstellte, hat das Proletariat als erste Klasse, die sowohl ausgebeutet als auch revolutionär ist, kein Bedürfnis nach ideologischen Mystifikationen. Sein Klassenbewusstsein ist daher erstmals ein klares Bewusstsein, das einen fundamentalen Bruch mit allen Formen der Ideologie markiert[7]. Der Begriff eines Bewusstseins, das so klar über sich ist, ist eng mit Marx‘ Annäherung gegenüber dem Proletariat verknüpft. Und es war dieselbe Bewegung, die Marx und Engels in die Lage versetzte, eine materialistische Geschichtstheorie zu erarbeiten, die anerkennt, dass der Kommunismus nicht mehr nur eine „schöne Idee“ ist, weil der Kapitalismus die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft des Überflusses gelegt hat. Die Fundamente dieses Verständnisses sollten nur zwei Jahre später in Die deutsche Ideologie vorgestellt werden.
<<>>Das Proletariat sieht sich selbst als Verteidiger all dessen, was menschlich ist>
Es könnte auch der Vorwurf erhoben werden, dass die Formulierungen von Marx im September-Brief noch im Rahmen des Humanismus, einer alle Klassen umfassenden Sichtweise der Menschheit gefangen waren. Doch wie wir gezeigt haben, ist es augenscheinlich, dass keines der humanitären Überbleibsel ihn daran hinderte, einen Klassenstandpunkt einzunehmen, da Marx bereits zur proletarischen Bewegung tendierte. Abgesehen davon, ist es nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, von der Menschheit, von der Spezies als eine Realität und nicht als eine Abstraktion zu sprechen, wenn wir die wahren Dimensionen des kommunistischen Projektes begreifen wollen. Denn auch wenn das Proletariat die kommunistische Klasse par excellence ist, so beginnt das Proletariat dennoch keine „neue Arbeit“. Die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte sollten, wie wir gesehen haben, klar machen, dass der Kommunismus auf der Wiederentdeckung des gesamten Reichtums der menschlichen Vergangenheit beruhen muss. Aus dem gleichen Grund lesen wir darin: „Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt – der Geburtsakt seines empirischen Daseins – so auch für sein denkendes Bewusstsein die begriffne und gewusste Bewegung seines Werdens, (…)“ (MEW, Bd. 40, S. 536). Der Kommunismus ist daher das Werk der Geschichte, und der Kommunismus des Proletariats ist die Klärung und Synthese aller früheren Kämpfe gegen Elend und Ausbeutung. Daher nannte Marx unter anderen auch Spartakus als eine der historischen Figuren, die er am meisten bewunderte. Indem er noch weiter zurückschaut, wird der künftige Kommunismus auf einer höheren Stufe die Einheit der Stammesgemeinschaften wieder entdecken, in der die Menschheit den größten Teil ihrer Existenz verbrachte, vor dem Aufkommen der Klassenteilungen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Das Proletariat sieht sich selbst als Verteidiger all dessen, was menschlich ist. Auch wenn es heftig die Unmenschlichkeit der Ausbeutung anprangert, predigt es nicht eine Haltung des Hasses, nicht einmal gegenüber dem einzelnen Ausbeuter. Auch betrachtet es andere unterdrückte Klassen und gesellschaftliche Schichten, vergangene oder gegenwärtige, nicht mit Geringschätzung oder Überheblichkeit. Die falsche Ansicht, dass der Kommunismus die Vernichtung aller Kultur bedeute, da diese bis jetzt den Ausbeutern gehörte, wurde in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten als „kruder Kommunismus“ zusammengestaucht. Es ist eine negative Tradition, die die Arbeiterbewegung seit jeher plagte, zum Beispiel in gewissen Formen des Anarchismus, welche sich an der Plünderung und Zerstörung der kulturellen Symbole der Vergangenheit ergötzten. Und als die Dekadenz des Kapitalismus sich mit der stalinistischen Konterrevolution verband, hat sie besonders abscheuliche Charaktere ausgebrütet, wie die maoistischen Kampagnen gegen „die vier Alten“[8] während der so genannten Kulturrevolution. Doch simplifizierende und destruktive Verhaltensweisen gegenüber der vergangenen Kultur manifestierten sich auch während der heroischen Tage der Russischen Revolution, als besonders Repressionsorgane wie die Tscheka oftmals ein schroffes und rachsüchtiges Verhalten gegenüber „Nicht-Proletariern“ an den Tag legten, was gelegentlich betrachtet wurde, als sei es eine nahezu natürliche Eigenschaft des „reinen“ Proletariers. Die marxistische Anerkennung der historischen Rolle der Arbeiterklasse hat nichts gemein mit dieser Art von „Arbeitertümelei“, mit der permanenten Huldigung des Proletariats und auch nichts mit dem Philistertum, das die gesamte Kultur der alten Welt ablehnt (siehe insbesondere den Artikel in dieser Reihe über Trotzki und die proletarische Kultur in Internationale Revue, Nr. 30, deutsche Ausgabe). Der Kommunismus der Zukunft wird das Beste aus den kulturellen und moralischen Bestrebungen der menschlichen Spezies in sich einverleiben.
Amos
[1] Arnold Ruge (1802-1880) war ein junger Linkshegelianer, der mit Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern zusammenarbeitete, ehe er die Beziehungen zu ihm abbrach. 1866 wurde er Anhänger Bismarcks.
[2] Die Frankfurter Schule wurde 1923 gegründet. Ihr anfänglicher Zweck war das Studium gesellschaftlicher Phänomene. Nach dem Krieg war sie weniger ein Institut für gesellschaftliche Untersuchungen sondern mehr eine intellektuelle Strömung (Marcuse, Adorno, Horkheimer, Pollock, Grossman, etc.), die behauptete, von Marx beeinflusst zu sein.
[3] Lucio Colletti (1924-2001) war ein italienischer Philosoph, der Marx eher für einen Nachfolger Kants denn Hegels hielt. Autor zahlreicher Werke einschließlich Marxismus und Hegel und die Einleitung zu Marx‘ frühen Schriften. Nachdem er eine gewisse Zeitlang Mitglied der italienischen KP gewesen war, bewegte er sich auf die Sozialdemokratie zu und beendete seine politische Karriere schließlich als Mitglied in Berlusconis Regierung.
[4] Moses Hess (1812-1875) war Junghegelianer, Mitbegründer und Mitarbeiter von Marx in der Rheinischen Zeitung. Ein Gründer des „wirklichen Sozialismus“ in den 1840er Jahren.
[5] So wie auch die Texte von Marx die bereits erwähnt wurden, enthalten die Deutsch-Französischen Jahrbücher den Brief von Marx an den Herausgeber der Allgemeinen Zeitung (Augsburg), zwei Artikel von Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie und eine Revue von Thomas Carlyle Vergangenheit und Gegenwart. Marx hat im Oktober 1843 auch an Feuerbach geschrieben, in der Hoffnung, dass Feuerbach mitarbeiten würde, doch anscheinend war Feuerbach noch nicht bereit, vom Gebiet der Theorie auf das Feld der politischen Tat überzuwechseln.
[6] Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865): französischer Drucker, Journalist und Mitglied der Nationalversammlung im Jahr 1848. Marx kritisierte seine ökonomischen Theorien in Das Elend der Philosophie. Charles Fourier (1772-1837): französischer utopischer Sozialist, der einen beträchtlichen Einfluss auf die spätere Entwicklung des sozialistischen Denkens ausgeübt hat.
[7] Es ist möglicherweise kein Zufall, dass mit diesen Essays Lukacs auch einer der ersten war – obgleich er damals nichts von den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten wusste -, der zum Problem der Entfremdung zurückkehrte, dem er sich via dem Konzept der Konkretisierung näherte.
[8] Die „vier Alten“ standen für die „alten Ideen, Kulturen, Sitten und Gebräuche“ und waren Zielscheibe der angeblichen „Kulturrevolution“.