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In dem Artikel "Die Arbeiteraristokratie: eine soziologische Theorie, um die Arbeiterklasse zu spalten" (siehe INTERNATIONALE REVUE Nr. 7, erhältlich bei der Kontaktadresse) zeigten wir auf, daß die Theorie der Arbeiteraristokratie "auf einer soziologischen Untersuchung, die das historische Klassenwesen des Proletariats außer Acht läßt, beruht" (S. 26) und "daß die praktische Schlußfolgerung dieser Auffassung automatisch zu einer Spaltung der Arbeiter in ihren Kämpfen, zur Isolierung der "meist ausgebeuteten" Arbeiter vom Rest der Klasse führt" (S.26)
In diesem Artikel wollen wir die Fehler der ökonomischen Prämissen dieser Theorie verdeutlichen. Alle Versionen dieser Theorie stützen sich ausdrücklich oder unausgesprochen auf eine Variante des Lassallschen "eisernen Lohngesetzes", d.h. auf der falschen Auffassung, daß der Wert der Arbeitskraft einfach dem physiologischen Minimum für das Überleben eines Arbeiters gleichgesetzt werden kann. Für die Verteidiger der Theorie der Arbeiteraristokratie kann irgendein dauerhafter Anstieg der Löhne über dieses physiologische Minimum nur durch die Tatsache erklärt werden, daß die Arbeiter etwas von den Extraprofiten der Kapitalisten mit abbekommen, die aus den arbeitenden Massen in den Kolonien und Halbkolonien herausgepreßt werden. Diese Auffassung, derzufolge die Arbeiter, deren Löhne ein gewisses natürliches Minimum übersteigen, nicht aus den Töpfen des variablen Kapitals sondern aus dem Mehrwert bezahlt werden, derzufolge auch die Arbeitermassen in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft und die Arbeiter der modernen Industriezweige in den rückständigen Ländern die Bundesgenossen der Kapitalisten bei der Plünderung der kolonialen Massen sind, ist eine zutiefst reaktionäre und arbeiterfeindliche Theorie. Der Marxismus lieferte schon vor langer Zeit eine niederschmetternde Widerlegung des gesamten Netzes der kleinbürgerlichen Theorien und Vorurteile, die die Verteidiger der Theorie von der Arbeiteraristokratie als wissenschaftliche Theorie darzustellen versuchen. Bei all ihrem Enthusiasmus für das Aufstöbern von Zitaten - egal in welchem Zusammenhang sie geschrieben wurden -, wo Engels oder Lenin von einer Arbeiteraristokratie sprechen, lassen die gegenwärtigen Vertreter dieser Theorie absichtlich die ökonomischen Schriften von Marx (Grundrisse, Kapital, Theorien über den Mehrwert) außer Acht, wo nämlich die Funktionsweise des Wertgesetzes, das die einzige Grundlage für das Begreifen der Lohnbewegungen im Kapitalismus ist, erklärt wurde. Unsere eigenen Ausführungen werden die Form eines auf der Marxschen Analyse aufbauenden aber notwendigerweise kurzen Umrisses der Elemente annehmen, die wirklich den Wert der Ware Arbeitskraft bestimmen, sowie der verschiedenen Faktoren, die eine Wertminderung oder -steigerung derselben beeinflussen.. Weiterhin werden wir die eigentliche Lohnbewegung in den verschiedenen Phasen der kapitalistischen Gesellschaft untersuchen.
Im ersten Band des Kapitals zeigte Marx auf, daß "der Wert der Arbeitskraft der Wert für die Subsistenzmittel ist, die für die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft des Lohnarbeiters erforderlich ist". Jedoch können diese notwendigen Subsistenzmittel, von denen Marx spricht, nicht auf irgendein physiologisches Mindestmaß reduziert werden, das notwendig wäre, um das Leben eines Arbeiters als ein biologischer Organismus sicherzustellen. Sie müssen ausreichen, um ihn in seinem normalen Zustand als Arbeiter am Leben zu halten, d.h. in einem Zustand, wo er fähig ist für das Kapital Mehrwert zu produzieren. Diese Tatsache weist auf den historisch variablen Charakter des Wertes der Arbeitskraft hin, da:"der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt (ist und sie) hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW 23, S. 185). Das einzigartige Wesen der Arbeitskraft als Ware liegt daher nicht nur in ihrer Fähigkeit, mehr Wert zu produzieren als sie besitzt, also einfach einen Mehrwert zu produzieren, sondern ebenso in der Tatsache, daß ihr eigener Wert "selber keine fixe, sondern eine variable Größe ist, selbst die Werte aller andern Waren als gleichbleibend unterstellt"(K. Marx, "Lohn, Preis und Profit", MEW Bd. 16, S. 148).
Bei der Bestimmung dessen, was eigentlich die für die Arbeiter zu einem gegebenen Zeitpunkt und an einem Ort erforderlichen Subsistenzmittel sind, ist dieses "historische und moralische Element", das Marx betont, von größerer Bedeutung als das physiologisch notwendige Element. Einer der Hauptfaktoren, der den Verlauf der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auszeichnet, ist das, was Marx als den Rückzug oder Senkung der natürlichen Grenzen im Arbeitsprozeß bezeichnete. Damit meinte Marx das abnehmende Gewicht der natürlichen Bedingungen im Produktionsprozeß und die immer größere Sozialisierung der Produktionsaktivitäten - diese Entwicklung wurde bislang vom Kapitalismus auf die höchste Stufe getrieben. Jedoch kann dieses Absinken der natürlichen Grenzen ebenso in der Produktion und der Reproduktion der Arbeitsfähigkeit der Arbeiterklasse gesehen werden. Die Befriedigung grundsätzlich physiologischer Bedürfnisse - die das Kennzeichen der arbeitenden Massen in der vorkapitalistischen Gesellschaft war, z.B. Sklaven, Leibeigene usw. - verliert proportional als Faktor bei der Aufrechterhaltung der Arbeiterklasse an Gewicht, und ein noch größerer Teil der Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft befaßt sich mit der Befriedigung der Bedürfnisse, die aus der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion hervorgehen. Diese Bedürfnisse schließen ein: das allgemeine Bildungsniveau, das heute selbst ein einfacher Arbeiter erreichen muß, um Mehrwert unter den Bedingungen der hohen Produktivität des Arbeitsprozesses abzuwerfen; das Radio, Fernsehen, Kinos, Urlaub usw. Sie sind alle zu einem notwendigen Bestandteil der Aufrechterhaltung der Arbeitskraft unter den gegenwärtigen Bedingungen der intensiven Arbeit geworden. Weiter zählen dazu die Diäten und die medizinische Versorgung, die unabdingbar sind, wenn der Arbeiter 40 Jahre in der Fabrik schuften muß - und das ist das Normale in der modernen Industrie; sowie eine ganze Reihe anderer sozialer Bedürfnisse, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Mit anderen Worten: der Wert der Arbeitskraft eines Arbeiters kann auf keinen Fall einfach mit der Größe gleichgesetzt werden, die für die Befriedigung seiner rein natürlichen Bedürfnisse erforderlich ist. "Der wirkliche Wert seiner Arbeitskraft weicht von diesem physischen Minimum ab; er ist verschieden je nach dem Klima und dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung; er hängt ab nicht nur von den physischen, sondern auch von den historisch entwickelten gesellschaftlichen Bedürfnissen, die zur zweiten Natur werden" (K. Marx, "Das Kapital", Dritter Band, MEW Bd. 25, S. 866).
Dieses physiologische Minimum stellt in Wirklichkeit nur die untere Grenze des Werts der Arbeitskraft eines Arbeiters dar, die obere Grenze dagegen wird durch den "traditionellen Lebensstandard" gebildet."Er betrifft nicht das rein physische Leben, sondern die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, entspringend aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, in die die Menschen gestellt sind und unter denen sie aufwachsen" (K. Marx, "Lohn, Preis und Profit", MEW Bd. 16,S. 148). Die Größe dieser historisch variablen Obergrenze, der eigentliche Wert der Ware Arbeitskraft zu einem gegebenen Zeitpunkt und an einem gegebenen Ort, hängt selbst stark von 3 Faktoren ab: der Akkumulationsrate des Kapitals, der Größe der industriellen Reservearmee, der Stärke des Klassenkampfes. Das komplexe Zusammenwirken dieser 3 Faktoren bestimmt das eigentliche Lohnniveau,und wir sollten in Erinnerung behalten, daß dauerhafte Änderungen des Lohnniveaus, d.h. des Preises der Arbeitskraft, eine Änderung ihres Wertes darstellen.
Marx schrieb:"Die Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt" ("Das Kapital", Erster Band, MEW 23, S. 648).
Wenn der Umfang der Kapitalakkumulation schnell anwächst, m.a.W. wenn die Mehrwertrate ansteigt, werden neue Märkte für die Realisierung des Mehrwertes geöffnet und somit neue Sphären für die Kapitalisierung des Mehrwertes zur Verfügung stehen, der objektiven ökonomischen Grundlage für einen Anstieg der Reallöhne.
Bevor wir die eigentliche Beziehung zwischen Akkumulation und Löhnen untersuchen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß wir es bei der Berücksichtigung des Mehrwertes und der Reallöhne nicht mit einer festgesAtzten Größe zu tun haben, sondern eher mit elastischen Größen. Sowohl der Mehrwert als auch die Reallöhne können gleichzeitig ansteigen und auch im gleichen Verhältnis zueinander sich erhöhen. Somit bedeutet ein Anstieg der Reallöhne nicht unbedingt eine Senkung der Masse der Mehrwertrate - historisch gesehen war das auch fast nie der Fall. Deshalb schließt Marxens absolut richtige Schlußfolgerung, wo er sagte,"die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW Bd 23, s. 649), einen dauerhaften Anstieg der Reallöhne nicht aus, vorausgesetzt die Akkumulation nimmt sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrem Rythmus zu.
Im Kapital untersuchte Marx auch die Änderungen der Höhe der Preise der Arbeitskraft und des Mehrwerts. Er bewies, daß eine Änderung der Löhne aber auch des Mehrwertes durch die Veränderung der Länge des Arbeitstages, der Intensität und Produktivität der Arbeit hervorgebracht werden könnten. Bei all diesen Fällen zeigte Marx die Möglichkeit eines gleichzeitigen Anstiegs der Reallöhne und der Rate und Masse des Mehrwerts auf. Die Ausdehnung des Arbeitstages kann offensichtlich zu einer Erhöhung des aus den Arbeitern gepreßten Mehrwertes führen, aber auch zu einer Erhöhung der Reallöhne.
"Da das Wertprodukt, worin sich der Arbeitstag darstellt, mit seiner eignen Verlängerung wächst, können Preis der Arbeitskraft und Mehrwert gleichzeitig wachsen, sei es um gleiches oder ungleiches Inkrement (Zunahme)" (K.Marx,"-Das Kapital", Erster Band, MEW
Bd. 23,S. 549).
Ein ähnliches Ergebnis kann erzielt werden, wenn aie Arbeitsintensität erhöht Wird."Wachsende Intensität der Arbeit unterstellt vermehrte Ausgabe von Arbeit in demselben Zeitraum. Der intensivere Arbeitstag verkörpert sich daher in mehr Produkten als der mnnder intensive von gleicher Stundenzahl...Bei gleichbleibender Stundenzahl verkörpert sich also der intensivere Arbeitstag in höherem Wertprodukt. . .Es ist klar: Variiert das Wertprodukt des Arbeitstages, ... so können beide Teile dieses Wertprodukts, Preis der Arbeitskraft und Mehrwert, gleichzeitig wachsen, sei es in gleichem oder ungleichem Grad"(K. Marx, "Das Kapital",
Erster Band, MEW Bd 23, s. 547). Während in beiden der oben erwähnten Fälle ein dauerhafter Anstieg der Reallöhne zu einer Erhöhung des Wertes der Arbeitskraft führen kann, ist es ebenso möglich, daß der Wert der Arbeitskraft fällt, selbst wenn ihr Preis steigt. Dies kann entweder im Falle einer Ausdehnung des Arbeitstages geschehen oder durch eine Intensivierung der Arbeit, Weil "die Preiserhöhung der Arbeitskraft ihren beschleunigten Verschleiß nicht kompensiert" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW Bd 23, S. 547).
Obgleich ein Anstieg der Arbeitsproduktivität immer ein Sinken des Wertes der Arbeitskraft mit sich bringt, ist es ebenso vereinbar mit einem Anstieg des Lebensstandard der Arbeiter. "Wechsel in der Produktivkraft der Arbeit, ihre Zunahme oder Abnahme,wirkt'in umgekehrter Richtung auf den Wert der Arbeitskraft und in direkter auf den Mehrwert" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW Bd. 23, S. 543). Wenn somit die Produktivität der Arbeit ansteigt, steigt ebenso der Mehrwert an, während der Wert der Arbeitskraft sinkt. Dies bedeutet jedoch nicht ein Sinken der Reallöhne, ein Verschlechtern des Lebensstandards, der gar ansteigen kann. "Der Wert der Arbeitskraft ist bestimmt durch den Wert eines bestimmten Quantums von Lebensmitteln. Was mit der Produktivkraft der Arbeit wechselt, ist der Wert dieser Lebensmittel, nicht ihre Masse. Die Masse selbst kann, bei steigender Produktivität der Arbeit, für Arbeiter und Kapitalist gleichzeitig und in demselben Verhältnis wachsen ohne irgendeinen Größenwechsel zwischen Preis der Arbeitskraft und Mehrwert" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW Bd. 23, S. 545).
Aber egal wie groß der Umfang der Akkumulation auch ist, das Kapital gesteht nie aus eigener Initiative reale Lohnerhöhungen zu. In Wirklichkeit bringt die Steigerung der Akkumulation des Kapitals, die die objektive Basis für eine Erhöhung der Reallöhne schafft, ebenso eine entgegengesetzte Tendenz zum Vorschein, die jede Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter beschränkt und eingrenzt. "Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee ... Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Überbevölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. DIES IST DAS ABSOLUTE, ALLGEMEINE GESETZ DER KAPITALISTISCHEN AKKUMULATION. Es wird gleich allen anderen Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert ..."(K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW 23, s. 673). Insbesondere die Veränderungen bei der Funktionsweise dieses spezifischen Gesetzes, das Maße, in dem die Reservearmee unter bestimmten Bedingungen zunimmt oder sinkt, bestimmen das Ansteigen oder Sinken der Reallöhne (und des Wertes der Arbeitskraft). "Im grossen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohnes ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW 23, S. 666).
Während die Ausdehnung der Reservearmee das Steigen der Reallöhne hemmt - obgleich ihr Schrumpfen solch eine Erhöhung begünstigt - (was immer von der Akkumulationsrate abhängt),ist der ausschlaggebende Faktor für das wirkliche Ansteigen oder Sinken der Löhne das Niveau des Klassenkampfes. Nur durch den Rückhalt eines kämpferischen Klassenkampfes kann das Proletariat dem Kapital eine größere Masse an Subsistenzmitteln abzwingen, die es durch seine eigene Arbeit geschaffen hat. Jedoch wird das Niveau des Klassenkampfes selber durch die globalen Bedingungen des Akkumulationsprozesses und die Größe der Reservearmee beeinflußt.
Wir können nun dazu übergehen, auf die tatsächliche Entwicklung der Löhne sowohl während der aufsteigenden als auch während der dekadenten Phase des Kapitalismus einen Blick zu werfen, um die.Gründe für die Reallohnsteigerungen aufzudecken, die zeitweilig stattgefunden haben. Es gibt vor allem 3 Zeiträume, mit denen wir uns gesondert befassen müssen, weil die Löhne damals wirklich lange anstiegen.
Zunächst in Europa von 1850 bis 1913, dem Höhepunkt der aufsteigenden Phase des Kapitalismus. Zweitens in den Siedlerkolonien wie die USA, Kanada, Australien, wo während der gesamten Phase des aufsteigenden Kapitalismus selbst während des I. Weltkrieges und gar bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise von 1929 die Löhne real anstiegen. Drittens der Zeitraum des Wiederaufbaus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, der sich dem 2. Weltkrieg anschloß und bis 1967 dauerte. In den ersten beiden Fällen kam es zu einem enormen Anstieg des Wertes der Arbeitskraft, und im 3. Fall ist der Anstieg des Wertes der Arbeitskraft etwas fragwürdiger - obgleich der Preis der Arbeitskraft zweifellos anstieg (ganz zu schweigen von der zeitlich engen Begrenzung dieses Phänomens).
Wir werden als Beispiel England nehmen, um die Lohnentwicklung während des Höhepunktes des aufsteigenden Kapitalismus zu verfolgen, weil England das klassische Beispiel. einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft während der damaligen Zeit war, und weil die Theoretiker der Arbeiteraristokratie es als einen Beweis für ihre Ideen betrachten. Die Löhne entwickelten sich zwischen 1789 und 1900 folgendermaßen:
Reallöhne (1900 = 100)
1789-98 58 1859-68 63
1809-18 43 1869-79 74
1820-26 47 1880-86 80
1849-58 57 1887-95 91
1895-1903 99
(Jürgen Kuczynski, "A Short History of Labour Conditions Under Industrial Capitalism in Great Britain and the Empire", 1944, S. 68)
Während der Phase der primitiven Akkumulation (ca. 1789 -1826) führten die Auswirkungen der Landflucht zu der Schaffung einer massiven Reservearmee, welche den Klassenkampf stark einengte und eine Senkung der Reallöhne mit sich brachte.
,Erst ab 1858 erreichten die Reallöhne erneut den Stand von 1789. Von 1858 bis 1900 stiegen die Reallöhne enorm an, was zu einer bedeutsamen Erhöhung des Wertes der Arbeitskraft führte. Eine Reihe von Faktoren spielten dabei eine entscheidende Rolle. Die Akkumulationsrate
stieg sehr schnell an, verbunden mit einem noch nie dagewesenen Anstieg der Arbeitsproduktivität und der Arbeitsintensität, wodurch so das bis dahin am häufigsten verwendete Mittel der Verlängerung des Arbeitstages durch den Anstieg der Arbeitsproduktivität ersetzt wurde. Dies schuf im Zusammenhang mit der schnellen Ausdehnung der Kolonialmärkte aufgrund der weltweiten Ausdehnung des britischen Imperialismus die Basis für die Beschäftigung eines immer größer werdenden Teiles der Reservearmee in der Metropole. Dies fiel mit dem Ende der Phase der primitiven Akkumulation und der Verarmung der Landbevölkerung zusammen, was bedeutete, daß die überflüssige Bevölkerung nicht mehr so schnell anwuchs wie vorher. Weiterhin schufen die endlosen Möglichkeiten der Auswanderung in die Siedlerkolonien zusätzliche "Abzugswege", dies beschränkte zugleich die Größe der Reservearmee. All dies schuf optimale Bedingungen für das Proletariat, um einen wirkungsvollen Kampf um höhere Löhne und Reformen zu führen. Dieses Zusammenspiel zwischen einer besonders schnellen Akkumulationsrate, dem zeitweiligen Rückgang der Reservearmee und der großen Kampfbereitschaft der Arbeiter erklärt den Anstieg des Wertes der Arbeitskräfte während jenes Zeitraums.
In den Siedlerkolonien (USA, Kanada, Australien usw.) beruhte der Anstieg des Wertes der Arbeitskraft, der natürlich letzten Endes durch den Klassenkampf,-des Proletariats selber herbeigeführt wurde, auf der unabdingbaren Vorbedingung der gewaltigen Akkumulation und zuvorderst auf dem fast vollständigen Fehlen einer Reservearmee (praktisch bis fast nach dem 1. Weltkrieg). Dieser letztgenannte Faktor wurde von Marx als der Schlüssel für das Begreifen der Gründe für die hohen Reallöhne in diesen Ländern hervorgehoben:
"Was die Grenzen des Werts der Arbeit angeht,so hängt seine faktische Festsetzung immer von Angebot und Nachfrage ab ...In Kolonialländern begünstigt das Gesetz von Angebot und Nachfrage den Arbeiter. Daher der relativ hohe Lohnstandard in den Vereinigten Staaten. Das Kapital kann dort sein Äußertes versuchen. Es kann nicht verhindern, daß der Arbeitsmarkt ständig entvölkert wird durch die ständige Verwandlung von Lohnarbeitern in unabhängige, selbstwirtschaftende Bauern. Die Tätigkeit eines Lohnarbeiters ist für einen sehr großen Teil des Amerikanischen Volks nur eine Probezeit, die sie sicher sind, über kurz oder lang durchlaufen zu haben" (K. Marx, "Lohn, Preis und Profit", MEW Bd. 16, S. 149).
Die Abwesenheit einer größen überflüssigen Bevölkerung bedeutete aufgrund der Verfügbarkeit von billigem Land, daß das Kapital in diesen Ländern insbesondere davon abhängig war, die Arbeitsproduktivität als ein Mittel der Auspressung des Mehrwerts zu erhöhen. Dies schuf gar noch günstigere Bedingungen für die Akkumulation, weil die objektive ökonomische Basis für den Anstieg des Wertes der Arbeitskraft erweitert wurde.
Der Anstieg der Reallöhne während der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg fölgte einem starken Rückgang des Lebensstandards des Proletariats, der mit dem Ausbruch deroffenen Krise im Jahre 1929 begonnen hatte. Die durcf den Krieg verursachte massive Zerstörung von überschüssigem Kapital schuf die ökonomische Basis für einen Zeitraum des Wiederaufbaus während dessen die Akkumulation bedeutend zunahm.Dieser wachsenden Akkumulation müssen die Auswirkungen einer bis dahin unerreichten Zerstörung der "überschüssigen Bevölkerung" durch das imperialistische Abschlachten hinzugefü¢ werden, die zu einer Abnahme der Reservearmee während einer langen Zeit führte. Dieses Zusammenwirken von einer zeitweilig schnellen Akkumulationsrate und dem Rückgang der Reservearmee schuf die objektive Grundlage für die während dieser Zeit aufgetretenen Reallohnerhöhungen. Jedoch waren die Verlängerung des Arbeitstages durch obligatorische Überstunden und die mörderischen Beschleunigungen des Arbeitstempos, die die Arbeit bis zum Zerreißen intensivierten, so bedeutend, daß es als fragwürdig erscheint, ob diese Reallohnsteigerung dazu ausreichte, um den Verschleiß der Arbeitskraft unter diesen Bedingungen auszugleichen. Kurzum, es gibt beträchtliche Beweise dafür, daß trotz des zeitweiligen Ansteigens der Reallöhne die Arbeitskräfte unter ihrem Wert, dh. unter den Kosten ihrer Unterhaltung bezahlt wurden.
Nun müssen wir die nationalen Unterschiede bei den Löhnen untersuchen, denn diese Unterschiede dienen den Theoretikern der Arbeiteraristokratie zum großen Teil als Argument für die Behauptung, daß die höheren Löhne in den fortgeschrittenen Ländern die Krümel von den Extraprofiten sind, die aus der Arbeit der schlechtbezahlten Massen der Kolonien und Halbkolonien gepreßt werden. Während es vollkommen stimmt, daß die Profitrate in den rückständigen Ländern mit ihrer niedrigen organischen Zusammensetzung des Kapitals höher ist, wird dies durch die viel größere Profitmasse, die durch die produktiven Arbeiter in den fortgeschrittenen Ländern produziert wird, in den Schatten gedrängt, gerade aufgrund der höheren organischen Zusammensetzung (dabei müssen wir die Auswirkungen des Ausgleiches der Profitraten hinzufügen, welche sich zum Nachteil dieser ,Länder auswirken). Was für uns nun am wichtigsten zu berücksichtigen ist, ist die Tatsache, daß die Mehrwertrate, d.h. die Ausbeutungsrate in den fortgeschrittenen Ländern viel größer ist als in den rückständigen. Nur weil die Arbeiter in den am meisten fortgeschrittenenen Ländern am meisten ausgebeutet werden, mehr als sogar ihre Klassenbrüder in den rückständigen Ländern, könnnen ihre Reallöhne höher sein. "Je produktiver ein Land gegen das andere auf dem Weltmarkt, um so höher sind die Arbeitslöhne in ihm, verglichen mit den andren Ländern. Nicht nur der nominelle, sondern der reelle Arbeitslohn in England ist höher als auf dem Kontinent. Der Arbeiter ißt mehr Fleisch, befriedigt mehr Bedürfnisse .... Aber er ist nicht höher im Verhältnis zur Produktivität der englischen Arbeiter" (K. Marx, "Theorien über den Mehrwert", Zweiter Teil, MEW Bd. 26.2, S. 8).
Zu dem höheren Ausbeutungsgrad und der größeren Produktivität der Arbeiter in den Metropolen muß eine besonders wichtige Änderung des Wertgesetzes hinzugefügt werden, die von der folgenden Tatsache herrührt: "Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt" (K. Marx, "Das Kapital", Erster Band, MEW Bd 23, S. 584).
Daher ist die Arbeit der Arbeiter in den Metropolen nicht nur produktiver als die der Arbeiter in den früheren Kolonien, sondern sie schafft ebenso mehr Wert, da sie intensiver ist. Daher bestimmen diese Faktoren zusammen mit der ungeheuren Größe der "überflüssigen" Bevölkerung in den rückständigen Ländern (aufgrund des Einflusses derselben auf das Kräfteverhältnis zwischen dem Proletariat und dem Kapital) und die unterschiedlichen historischen Ergebnisse des Klassenkampfes die sehr niedrigeren Arbeitslöhne (Reallöhne) in den früheren Kolonien und dementsprechend die,-viel höheren Reallöhne in den fortgeschrittenen Ländern. Die Befürworter der Theorie von der Arbeiteraristokratie richten sich ausschließlich auf die Frage der Reallöhne (die sie zudem vollkommen falsch verstehen), und sie lassen die sehr wichtige Frage der relativen Löhne außer acht. Marx wies auf die Bedeutung der relativen Löhne zum Verständnis der Lage der Lohnarbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft hin:
"Aber weder der nominelle Arbeitslohn, d.h. die Geldsumme, wofür der Arbeiter sich an den Kapitalisten verkauft, noch der relle Arbeitslohn, d.h. die Summe Waren, die er für dies Geld kaufen kann, erschöpfen die im Arbeitslohn enthaltnen Beziehungen. Der Arbeitslohn ist vor allem noch bestimmt durch sein Verhältnis zum Gewinn, zum Profit des Kapitalisten- verhältnismäßiger, relativer Arbeitslohn. Der relle Arbeitslohn drückt den Preis der Arbeit im Verhältnis zum Preis der übrigen Waren aus, der relative Arbeitslohn dagegen den Anteil der unmittelbaren Arbeit an dein von ihr neu erzeugten Wert im Verhältnis des Anteils davon, der der aufgehäuften Arbeit, dem Kapital, zufällt" (K. Marx, "Lohnarbeit und Kapital", Peking 1969).
Marx zeigte weiterhin auf, daß die relativen Löhne sinken können, während die Reallöhne ansteigen, und daß in diesem Falle folgendes wichtig ist: "Die Macht der Kapitalistenklasse über die Arbeiterklasse ist gewachsen, die-gesellschaftliche Stellung des Arbeiters hat sich verschlechtert, ist um eine Stufe tiefer unter die des Kapitalisten herabgedrückt" (K. Marx, "Lohnarbeit und Kapital", Peking, 1969, S. 38): Genau dies traf im Fall der englischen Arbeiterklasse während des Höhepunktes der aufsteigenden Phase des Kapitalismus zu:
Relative Löhne, 1859-1903 (1900 = 100) |
|||
Relativer Anteil der Produktion, |
Löhne, Kapitalisten pro |
||
Industriekapital Produktion |
|||
Löhne |
Kapitalisten |
||
1869-79 |
66 |
1iT |
$9 |
1880-86 |
83 |
96 |
104 |
1887-95 |
96 |
95 |
105 |
1895-1903 |
105 |
94 |
106 |
(Kuczynski, ebenda, S. 82)
So erhielt die Arbeiterklasse gar einen kleineren Anteil von dem großen Reichtum, den sie durch ihre eigene Arbeitskraft während dieses Zeitraums geschaffen hatte - wohingegen die Verteidiger der Theorie der Arbeiteraristokratie behaupten, es handele sich um ein korrurnpiertes Werkzeug der Reaktion. Die absolute Unfähigkeit dieser Theoretiker, die Bedeutung der relativen Löhne zu begreifen, hängt mir ihrem Unvermögen zusammen, das eigentliche Wesen des Mehrwerts selber zu begreifen.
Die simplistische Argumentationsweise der Verteidiger der Theorie der Arbeiteraristokratie und ihr Außerachtlassen des Wertgesetzes in der kapitalistischen Gesellschaft tritt somit offen hervor. Die Theorie von der Arbeiteraristokratie mit ihren politischen Schlußfolgerungen ist eine Mystifizierung, die die revolutionären Marxisten entschlossen bekämpfen müssen.
MacIntosh, Aug. 1981
Erstveröffentlichung in Weltrevolution Nr. 7, 1982