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Die Gewerkschaften in der Schweiz haben im Sommer 2004 einen heißen Herbst angekündigt. Dass sie damit ihre eigenen Veranstaltungen meinten und kein Interesse daran haben, dass sich die Arbeiter gemeinsam und wirklich gegen die zugespitzte Ausbeutung wehren, stellten wir bereits in der letzten Ausgabe der Weltrevolution dar (Nr. 127, Wo ist der heiße Herbst geblieben?).
Trotzdem kam es im Spätherbst in der Schweiz zu einer Reihe von zwar nicht spektakulären, aber trotzdem bedeutsamen Arbeiterkämpfen, die eine Antwort auf die Verschärfung der wirtschaftlichen Krise darstellten. Bezeichnenderweise fanden diese Streiks in den offiziellen Medien kaum ein Echo. Auch die Gewerkschaften unternahmen nichts, um ihnen über den lokalen Raum hinaus eine Öffentlichkeit zu geben; dafür hängten alle Tageszeitungen und Fernsehstationen eine Blockadeaktion der Gewerkschaft Kommunikation bei der Paketpost an die große Glocke - eine vierstündige Aktion von gut 200 Gewerkschaftern im gleichen Zeitraum (November 2004). Je selbständiger sich die Arbeiter wehren und je weniger die Gewerkschaften von A-Z das Heft in der Hand haben, desto geringer ist die Bereitschaft der bürgerlichen Medien, darüber zu berichten. Um so wichtiger ist es, diese Kämpfe hier zur Sprache zu bringen und dabei auch zu versuchen, eine Bilanz ziehen - sowie Lehren für die künftigen Kämpfe.
Piatti, Swissmetal, Filtrona und weitere
Einer der ersten Streiks, der diese Serie im Spätherbst 2004 ankündigte, war derjenige beim Küchenbauer Bruno Piatti AG in Dietlikon/ZH. Am 18. Oktober traten die Angestellten der Abteilung Spedition wegen bevorstehender Lohnkürzungen in einen Streik. Arbeiter aus anderen Abteilungen des Unternehmens solidarisierten sich mit ihren Kollegen und schlossen sich dem Kampf an. Am Abend des gleichen Tages nahm die Piatti AG die geplante Lohnkürzung zurück.
Der größte Streik mit rund 400 Arbeitern fand vom 16. bis am 25. November 2004 beim Buntmetall-Hersteller Swissmetal statt. Der Chefmanager der Swissmetal-Gruppe in Olten feuerte den Bereichsleiter Industrie in Reconvillier/BE. Gleichzeitig sollten die Löhne und die Arbeitszeiten weiter flexibilisiert werden, nachdem die Bedingungen schon seit mindestens einem Jahr laufend verschlechtert worden waren: Abschaffung medizinischer Beratung, Kürzung diverser Lohnbestandteile usw. Der Kampf begann mit einer Demonstration im Betrieb, worauf die ganze Belegschaft in den Streik trat, als die sofortige Freistellung des Bereichsleiters bekannt wurde. Die Gewerkschaft Unia schaltete sich ein und führte ab dem 19. November Verhandlungen mit der Geschäftsleitung der Swissmetal. Am 24. November kam es im Dorf, das etwa 2500 Einwohner hat, zu einer Demonstration von 4000 Leuten zur Unterstützung der Streikenden. Nachdem ein erster Vereinbarungsvorschlag der Gewerkschaft und der Unternehmensleitung von der Belegschaft abgelehnt worden war, trat die kantonale Volkswirtschaftsdirektorin Elisabeth Zölch als "Vermittlerin" auf. Am 25. November einigten sich die Gewerkschaft und der Verwaltungsrat der Swissmetal auf eine Vereinbarung, die vorsah, dass der Standort Reconvillier erhalten bleiben soll, dass das dortige Werk von einem eigenen Werksdirektor geleitet wird und dass über den Lohn mit der Gewerkschaft weiter verhandelt wird.
Einen Streik unter schwierigsten Bedingungen haben die 150 Arbeiter der Filtrona in Crissier/VD am 29. November begonnen. Es geht hier um die Schließung des Betriebes, der Zigarettenfilter herstellt. Bereits während des Streiks wurden die Maschinen abtransportiert. Heute, bei der Fertigstellung dieses Artikels, ist der Kampf immer noch im Gang. Andere kleine Streiks erwähnen wir aus Platzgründen nicht.
Auch das Personal des öffentlichen Dienstes protestiert in den verschiedenen Kantonen immer wieder im Rahmen von Kundgebungen, zu denen die gewerkschaftlichen Personalverbände aufrufen, aber natürlich nie gemeinsam, sondern immer schön örtlich und zeitlich verzettelt.
Die Bedeutung der Kämpfe der letzten Monate
Es ist unverkennbar, dass die Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse zunimmt. Bereits vor einem Jahr sahen wir in der Schweiz eine Zunahme von Kämpfen - eine Tendenz, die sich seither bestätigt hat. Dass sich diese gegenwärtig nicht in spektakulären Formen ausdrückt, kann uns nach der langen Zeit des Rückflusses im Arbeiterkampf nicht verwundern.
Die Anzahl und die Größe der Streiks sind immer noch bescheiden, gemessen an den massiven Angriffen, denen wir unaufhörlich ausgesetzt sind. Auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steht die Schweiz sicher nicht an der Spitze der Kampfbereitschaft. Doch dies ist nicht der entscheidende Punkt. Wesentlich ist die Dynamik, die seit rund einem Jahr erkennbar ist: Es gibt ein langsames Erwachen, das zwar noch auf Hindernisse stößt; es wird auch Rückschläge geben; aber die Arbeiterklasse ist daran, sich wieder als solche zu Wort zu melden und ihre Identität zurück zu gewinnen.
Nicht nur von der Anzahl und der Größe der Streiks her sollten wir realistisch bleiben, sondern auch was ihren Grad der Selbstorganisierung betrifft. Die oben beschriebenen Kämpfe sind zwar in ihrer Mehrheit aufgrund der eigenen Initiative der betroffenen Arbeiter und Arbeiterinnen begonnen worden. Doch im Normalfall waren die Gewerkschaften sofort zur Stelle und übernahmen das Zepter im Namen der Streikenden. Viele der kämpferischen Arbeiterinnen und Arbeiter, haben immer noch Hoffnungen in die Gewerkschaften und rufen sie zu Hilfe. Die Gewerkschaften werden noch nicht verbreitet in Frage gestellt und als unverzichtbarer Teil des Ausbeutungssystems erkannt. In den oben angeführten Streiks spielten die Gewerkschaften meist von Beginn weg eine mehr oder weniger aktive Rolle. Diesbezüglich hat sich also auf den ersten Blick noch nicht viel verändert.
Doch bei genauerem Hinsehen stellt man doch eine Veränderung in der Strategie der Gewerkschaften fest - eine Veränderung, die Rückschlüsse auf die Kampfbereitschaft in der Klasse selbst zulässt. Im Herbst 2002 veranstalteten die Gewerkschaften mit viel Tamtam den Bauarbeiterstreik, über den wir auch in der Weltrevolution berichteten (Nr. 115: Die Salami-Taktik der Gewerkschaften). Damals bestand das Ziel der Gewerkschaft Bau und Industrie (heute: unia) offensichtlich darin, "die Arbeiter daran zu hindern, selbständig den Kampf zu beginnen. Sie sollen nach dem Willen der Bourgeoisie (und die Gewerkschaften gehören dazu) möglichst getrennt voneinander, in kleinen Tranchen und zeitlich gestaffelt etwas Luft ablassen" (aus dem Artikel in Weltrevolution Nr. 115). Die Gewerkschaften besetzten also vor zwei Jahren vorzeitig das Terrain, um zu verhindern, dass die Arbeiter selber die Initiative ergriffen. Bei den Kämpfen der letzten Monate ist aber unverkennbar, dass sich in diesem Punkt etwas verschoben hat: Der Impuls geht jetzt vermehrt von den Arbeitern aus (die Ausnahme ist die Blockadeaktion bei der Post); die Gewerkschaften sind zwar gleich zur Stelle, aber im Gegensatz zum Bauarbeiterstreik vor zwei Jahren zurückhaltend mit der Werbetrommel. Es geht ihnen also nicht mehr um vorbeugende Kampagnen, sondern darum, die reifere Kampfbereitschaft möglichst umgehend zu kontrollieren.
Die Gewerkschaften werden auch vermehrt gezwungen sein, in den Kämpfen als Saboteure aufzutreten, doch geschieht dies im Moment noch verdeckt. In den hier aufgeführten Fällen kam es vor, dass die Belegschaften Verhandlungsergebnisse ablehnten. Die Gewerkschaften mussten teilweise auf Druck der Arbeiter "bessere" Ergebnisse herausholen. Beim Swissmetal-Streik überließ man aber schließlich die Verhandlung über die gestellten Lohnansprüche weiteren Treffen zwischen der Geschäftsleitung und der Personalvertretung, sprich: der Gewerkschaft. Damit verloren die Arbeiter und Arbeiterinnen definitiv die Kontrolle über ihre Forderungen. Mitte Dezember 2004 konnte man in den Zeitungen lesen, dass die Löhne bei Swissmetal 2005 um durchschnittlich 1,8 Prozent erhöht werden, was weniger ist als die Teuerung über zwei Jahre.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen verlassen sich zwar noch auf die Gewerkschaften, aber sie haben auch eine Erwartungshaltung, die es für die Gewerkschaften schwieriger macht, ihrem angeblichen Anspruch auf Interessensvertretung gerecht zu werden. Die Erfahrungen aus diesen und den künftigen Kämpfen werden dazu führen, dass die Gewerkschaften vermehrt in Frage gestellt werden.
Wichtig ist auch der Kampf bei Filtrona. Die Arbeiter wurden vor eine vollendete Tatsache gestellt: Der Betrieb wird geschlossen. Hier geht es plötzlich um weit mehr als die Erhaltung des bisherigen Standards. Die Auslagerung der Produktion und die Schließung von Fabriken zeigt den Bankrott des kapitalistischen Systems und die Notwendigkeit seiner Überwindung auf. Solange nach der Logik der Profits gearbeitet und produziert wird, gibt es auf der einen Seite je länger je mehr Arbeitslose, auf der anderen Seite immer größeren Stress für die noch Beschäftigten.
Die Perspektiven
Viele Arbeiter und Arbeiterinnen kämpfen heute zwar mit dem Rücken zur Wand. Zuerst bleibt scheinbar und im besten Fall noch die Verteidigung des bisherigen Zustands.
Entscheidend ist aber, dass in diesen Kämpfen die Klassenidentität zurück gewonnen wird und die Solidarität mit anderen Arbeitern zum Tragen kommt. Dass dabei die gewerkschaftliche Kontrolle abgeschüttelt werden muss, ist eine der Erfahrungen aus den Kämpfen in den 1970er und 80er Jahren.
"Das Mittel, welches wir angesichts des jetzigen Standes der Angriffe des Kapitals benötigen, ist der Massenstreik aller Betroffenen. Eine solche Abwehraktion der gesamten Arbeiterklasse wäre imstande, den Lohnabhängigen das Selbstvertrauen zu geben, um der Arroganz der Herrschenden zu trotzen. Darüber hinaus können massive Mobilisierungen dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima zu verändern, indem die Notwendigkeit erkannt wird, die Bedürfnisse zur Leitlinie gesellschaftlichen Handelns zu machen. Diese Infragestellung des Kapitalismus wiederum würde die Entschlossenheit der Beschäftigten und Erwerbslosen steigern, ihre Interessen jetzt schon zu verteidigen.
Natürlich sind solche massiven, gemeinsamen, solidarischen Aktionen heute noch nicht durchführbar. Das bedeutet aber keineswegs, dass man jetzt nichts unternehmen und nichts erreichen kann. Doch ist es notwendig zu erkennen, dass der Streik nicht die einzige Waffe des Klassenkampfes ist. Alles, was heute schon das Erkennen der Gemeinsamkeit der Interessen aller Lohnabhängige fördert, und alles, was die Tradition der Arbeitersolidarität wieder belebt, erschreckt die herrschende Klasse, macht sie in ihren Angriffen weniger forsch und selbstsicher, steigert die Bereitschaft des Gegners, hier und da tatsächliche Zugeständnisse, zumindest vorübergehend, zu gewähren." (abgedruckt in Weltrevolution Nr. 127)
HA/MI, 17.01.05
Fussnote:
1) vgl. die IKS-Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse