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Sind die so genannten sozialistischen Länder Übergangsgesellschaften zum Kommunismus?
Im Mai 2007 gab der Revolutionäre Aufbau Schweiz (RAS) eine neue Plattform heraus - ein Anlass, sich in diesen Spalten mit seinen programmatischen Positionen auseinanderzusetzen. Die "politische Plattform" stellt ja so etwas wie das Programm der Gruppe dar: "Die Zielsetzung des Revolutionären Aufbaus Schweiz ist der Kampf für die proletarische Revolution, die der kommunistischen Gesellschaft zum Durchbruch verhilft. Die Grundlagen dieses Kampfes haben wir in dieser Plattform festgehalten." An diesem Anspruch wollen wir den RAS messen.
Wir werden uns auf die aus proletarischer Sicht wesentlichen Fragen konzentrieren. Die wichtigste Frage unter diesem Aspekt ist, ob die politische Plattform des Aufbaus seinem erklärten Ziel, dem Kampf für eine kommunistische Gesellschaft, dient oder nicht. Im vorliegenden Artikel werden wir uns auf die Frage konzentrieren, ob die Länder, die üblicherweise sozialistisch genannt werden, tatsächlich Übergangsgesellschaften zum Kommunismus darstellen (bzw. dargestellt haben), wie dies der Aufbau behauptet. Wir werden in einem späteren Artikel auf weitere Aspekte der Plattform eingehen, so namentlich auf die Unterstützung des einen imperialistischen Lagers im Weltkrieg gegen das andere, auf den Nationalismus der antikolonialen "Befreiungsbewegungen" und auf den Antifaschismus. Auf andere Aspekte werden wir gar nicht eingehen, beispielsweise auf Fragen der Organisationsform, da Voraussetzung für eine solche Debatte wäre, dass es eine gemeinsame programmatische Grundlage gäbe, also eine Einigkeit darüber, welches Ziel auf welchem Weg erreicht werden soll.
Die "sozialistischen Länder" - positiver Bezugspunkt für den Aufbau
Der Aufbau bezieht sich an verschiedenen Stellen in seiner Plattform auf die "sozialistischen Länder" und meint damit die ehemalige Sowjetunion, ihre einstigen Verbündeten im Ostblock, weiter auch China unter Mao und implizit wohl auch die heutigen Regime in Kuba und Nordkorea . Dabei fällt schon einmal auf, dass der Aufbau den Begriff "sozialistische Länder" gleich benützt wie die Herrschenden in Ost und West vor dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion. Für den Aufbau liegt also nicht ein Etikettenschwindel vor; sondern wenn Stalin sagte, dass die Sowjetunion, die DDR, Ungarn, Polen, die damalige Tschechoslowakei usw. sozialistisch gewesen seien, so übernimmt der Aufbau diese Bezeichnung und hält sie auch für richtig.
In der Plattform wird zwar "von den negativen Erfahrungen in der Sowjetunion" gesprochen, aber im gleichen Satz begeistert auf die "Kulturrevolution" der "chinesischen KommmunistInnen unter Mao Tse Tung" Bezug genommen , ohne dass ausführt würde, was im einen Fall negativ und im anderen positiv gewesen sein soll. Hat der Aufbau etwa Mühe mit den Stalinschen Schauprozessen und dem Gulag, wo Millionen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Parteimitgliedern ermordet wurden? Weit gefehlt! Im Kapitel "Gegen Revisionismus und Reformismus" erfahren wir, dass für den Aufbau die Probleme in der Sowjetunion erst mit den "modernen RevisionistInnen" Chruschtschow und seinen Nachfolgern, also nach Stalins Tod, beginnen.
Es lohnt sich, auf die Frage des Sozialismus und die so genannten sozialistischen Länder näher einzugehen. Müssig wäre aber ein Begriffsstreit darüber, was man unter Sozialismus zu verstehen hat. Denn dieser Begriff ist schon so verschieden definiert und gebraucht worden, dass eine Einigung darüber ohnehin unmöglich wäre. Halten wir uns doch lieber an den klarer definierten Begriff des Kommunismus, der mindestens von all denjenigen, die sich in bejahendem Sinn auf ihn beziehen, etwa gleich verstanden wird: Kommunismus ist die klassenlose Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Herrschaft von Menschen über Menschen; eine Gesellschaft, in der nicht mehr Waren getauscht, sondern die erzeugten Güter nach den Bedürfnissen der Einzelnen verteilt und konsumiert werden; eine Gesellschaft auch, die in Einklang mit der Natur steht.
In der Plattform des Aufbaus sucht man zwar vergeblich nach einer genaueren Umschreibung dessen, was er sich unter Kommunismus vorstellt. Aber immerhin scheint es darüber nicht wesentlich verschiedene Vorstellungen zu geben, wenn er beispielsweise schreibt, der Kommunismus sei eine Gesellschaft, in der "jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen am gesellschaftlichen Produkt Anteil nimmt" , und wenn er schließlich aus dem Kommunistischen Manifest zitiert: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist."
Wenn also das erklärte Ziel des Aufbaus der Kommunismus ist und ein gemeinsamer Begriff über diese Gesellschaft existiert, können wir auch überprüfen, ob die positiven Bezugspunkte des Aufbaus - Russland unter Stalin, China unter Mao, DDR unter Ulbricht, Ungarn unter Rákosi usw. - notwendige oder wenigstens zweckdienliche Schritte auf diesem Weg darstellten. Denn ein weiteres ist klar: Für den Aufbau ist der Sozialismus die "erste Phase des Kommunismus", eine notwendige Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus . Aus seiner Sicht müssen also die von ihm als sozialistisch bezeichneten Regime einen Schritt in Richtung Kommunismus dargestellt haben. Man müsste eigentlich erwarten, dass der Aufbau in seiner Plattform diese Behauptung nicht bloß verschämt, sondern laut und deutlich aufstellt. Und man dürfte erwarten, dass er diese Behauptung auch begründet, nachdem alles andere als offensichtlich ist, dass Zwangsarbeit, Folter, Niederschlagung von Arbeiteraufständen (alles gängige Praktiken der stalinistischen Regime) notwendige Schritte zu einer Gesellschaft darstellen, "worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist".
Man sucht aber vergeblich nach einer solchen Begründung, wie denn überhaupt die Plattform des Aufbaus weniger durch ausgesprochene Positionen als durch das glänzt, was sie nicht sagt. Sie sagt nicht einmal ausdrücklich: Wir sind Verfechter des Stalinismus.
In der Aufbau-Plattform steht: "Jeder erhält von der Gesellschaft den Anteil an Konsumtionsmitteln zurück, welcher seiner/ihrer Leistung - unter der Berücksichtigung seiner/ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten - entspricht. Das ist das Grundprinzip im Sozialismus. Erst mit der langsamen Überwindung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, dem damit verbundenen Konkurrenz- und Profitdenken, und dem damit einhergehenden Verschwinden der Klassen und dem Absterben des Staates, wird ein Übergang zum Kommunismus möglich, wo jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen am gesellschaftlichen Produkt Anteil nimmt. Während die sozialistische Übergangsgesellschaft in einzelnen Ländern möglich ist, ist die kommunistische Produktionsweise nur weltweit realisierbar."
Die Formel, dass jeder von der Gesellschaft den Anteil an Konsumtionsmitteln zurück erhält, welcher seiner Leistung unter Berücksichtigung seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten entspricht, ist überaus schwammig, sagt eigentlich nichts. Denn grundsätzlich gilt genau dies im Kapitalismus: Wer sich zu wenig anstrengt, kriegt eben nichts. Aber immerhin scheint der Aufbau der Meinung zu sein, dass im Sozialismus die "bürgerlichen Produktionsverhältnisse" mindestens "langsam" überwunden werden müssen. Dabei drängt sich die Frage auf: Wurden die bürgerlichen Produktionsverhältnisse in den vom Aufbau als sozialistisch betrachteten Ländern mindestens ansatzweise überwunden?
Überwindung des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion?
Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse zeichnen sich durch verallgemeinerte Warenproduktion, Lohnarbeit und Kapitalakkumulation aus. Produktion von Waren, d.h. von Gütern zum Tausch oder Verkauf, gab es zwar schon in früheren Gesellschaftsformationen (etwa in den Sklavenhaltergesellschaften in Griechenland und Rom); ebenso die Lohnarbeit. Aber erst im Kapitalismus verallgemeinerten sich die Warenproduktion und die Lohnarbeit, sie sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Was aber den Kapitalismus insbesondere von allen anderen Produktionsweisen unterscheidet, ist die Kapitalakkumulation: Mittels Lohnarbeit wird nicht allein Mehrwert (Profit) produziert, den sich die herrschende Klasse aneignet, sondern ein Teil dieses Mehrwerts wird dazu verwendet, neue Investitionen zu tätigen, um im nächsten Produktionszyklus mehr Waren als im vorangegangenen zu erzeugen. Im Kapitalismus findet nicht allein Reproduktion statt, sondern Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, eben Kapitalakkumulation.
Hat sich daran in den so genannten sozialistischen Ländern etwas geändert? Wurden die Warenproduktion, das Geld, die Lohnarbeit, die Kapitalakkumulation abgeschafft? - Keineswegs! Im Gegenteil: Die Sowjetunion unter Stalin rühmte sich, dass sie besonders effizient Kapital akkumulierte, und zwar nach guter kapitalistischer Manier, indem vor allem die Herstellung von Produktionsmitteln forciert wurde. Die Arbeit im Realsozialismus blieb Lohnarbeit, entfremdete Arbeit, oder war oft schlicht und einfach Zwangsarbeit. Von einer auch nur "langsamen Überwindung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse" konnte keine Rede sein. So starb der Staat entgegen dem Versprechen der Aufbau-Plattform in den "sozialistischen Ländern" auch keineswegs ab, sondern wurde zu einem totalitären Apparat.
Die weit verbreitete Meinung, dass die "sozialistischen Länder" nicht mehr kapitalistisch gewesen seien, hat viel mit der alten, etwas schematischen Formel zu tun: Kapitalismus = Privateigentum an Produktionsmitteln. Diese Formel hat zweifellos Vorzüge: Sie ist kurz, anschaulich, leicht verständlich und traf bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Regel zu. Nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere mit der großen Wirtschaftskrise von 1929 wurde aber in allen Ländern, nicht bloß in der Sowjetunion, sehr viel Privateigentum an Produktionsmitteln verstaatlicht, ohne dass der Kapitalismus abgeschafft worden wäre. Es ist das Verdienst der Kommunistischen Linken, insbesondere der Gauche communiste de France (GCF), die Klassennatur der Verstaatlichungen und der Sowjetunion mit Blick auf das Wesentliche analysiert zu haben: "…indem man den Privatbesitz an Produktionsmitteln als das Wesen des Kapitalismus erklärt, behauptet man gleichzeitig, dass außerhalb dieses Privatbesitzes der Kapitalismus nicht bestehen kann. Gleichzeitig behauptet man, dass jede Änderung in Richtung auf eine Begrenzung dieses Privatbesitzes eine Einschränkung des Kapitalismus bedeuten würde, und damit eine Änderung gegen die Interessen des Kapitalismus wäre, sozusagen ihm entgegengesetzt, anti-kapitalistisch. (…) Die weitestreichenden Enteignungen können allerhöchstens für das Verschwinden der Kapitalisten als Individuen sorgen, die von Mehrwert leben, aber damit ist noch nicht das Verschwinden der Produktion von Mehrwert, d.h. des Kapitalismus, sichergestellt. (…) Damit der Sozialismus entsteht, oder auch nur eine Tendenz zum Sozialismus, reichen Enteignungen nicht aus, sondern es ist auch notwendig, dass die Produktionsmittel aufhören, als Kapital zu funktionieren. Mit andern Worten: das kapitalistische Prinzip der Produktion selber muss umgewälzt werden."
Es kann also bei der Überwindung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse nicht allein um die Abschaffung des juristischen Scheins, des Privateigentums gehen; vielmehr muss die Produktion selber aufhören, Warenproduktion zur Kapitalakkumulation zu sein. Denn in der Sowjetunion ist das Privateigentum nicht abgeschafft worden, sondern lediglich in den Händen des Staates konzentriert worden. Für das Proletariat sind die Produktionsmittel weiterhin Privateigentum einer es ausbeutenden Kapitalistenklasse geblieben.
Genau dies ist aber nicht "in einzelnen Ländern möglich", wie der Aufbau in alter stalinistischer Tradition behauptet, sondern nur weltweit. Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise, die von Anfang an die Tendenz hatte, sich auf den ganzen Globus auszuweiten, lange bevor die Globalisierungsgegner dies entdeckt haben. Der Kapitalismus duldet keine anderen Produktionsweisen neben sich, höchstens solche, die er unterworfen und sich dienstbar gemacht hat (beispielsweise Sklavenarbeit existiert weiterhin).
Bevor das Proletariat die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überwinden kann, muss die herrschende Klasse weltweit geschlagen sein. Die politische Machtergreifung des Proletariats geht der ökonomischen Umwälzung notwendigerweise voraus. Erst dann kann mit dem begonnen werden, was Marx die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft nannte, wo grundsätzlich zwar noch das alte Recht gilt ("jedem nach seiner Leistung"), aber wo immerhin mit der Abschaffung der dieser Logik zugrunde liegenden Warenproduktion begonnen werden kann.
Wenn der Aufbau zwar etwas verschämt, aber nichtsdestotrotz die so genannten sozialistischen Länder als Übergangsgesellschaften darstellt, verteidigt er ein bestimmtes kapitalistisches Modell und bleibt somit weiterhin der Logik des Kapitalismus unterworfen. Weltrevolution, 10.11.07
1)Politische Plattform des Revolutionären Aufbaus Schweiz, Mai 2007, Punkt 1.2
2) Punkte 1.4, 2.2.3, 4.3 und 4.4; 3) Punkt 4.3.3
Punkt 4.3.2 4) Punkt 4.3.1 5) Punkt 4.3.2
6) Internationalisme, 1946, "Privateigentum und Gemeineigentum", wieder veröffentlicht in Internationale Revue Nr. 12
7) Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19 S. 20 f.