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Das Wort „Progrom“ wurde oftmals benutzt, um die antijüdischen Ausschreitungen des Mobs zurzeit des Mittelalters zu schildern, die häufig von den staatlichen Autoritäten als ein Mittel gefördert wurden, um den Zorn des Volkes von sich selbst gegen einen leicht identifizierbaren Sündenbock zu lenken. Die andauernden antisemitischen Progrome im zaristischen Russland Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wurden als Beispiel für den äußerst rückständigen Charakter dieses Regimes dargestellt.
Doch die Progrommentalität ist heute wahrscheinlich weiter verbreitet, als sie es jemals war. Erst vor einigen Monaten verübten in Kenia nach einer umstrittenen Auszählung der landesweiten Wahlen Anhänger der Regierung und der Opposition grauenhafte Massaker an „rivalisierenden“ ethnischen Gruppen, in denen Hunderte von Menschen ihr Leben verloren und noch mehr Menschen heimatlos wurden.
Im Mai wurde das meist entwickelte Land in Afrika, Südafrika, von einer ganzen Reihe von Ausschreitungen gegen Immigranten aus den Shanty Towns von Johannesburg, Durban, Kapstadt und anderen Städten erschüttert. Zimbabwer, Mosambikaner, Kongolesen und andere Immigranten wurden an Halsringen gekettet und zu Tode gehackt, ihre Häuser in Brand gesetzt. Mehr als 40 Menschen starben bei diesen Gewaltexzessen; mindestens 15.000 verloren ihr Heim und waren oftmals gezwungen, in Kirchen und Polizeirevieren Schutz zu suchen.
„Gestern hörten wir, dass diese Sache von Warwick und vom Stadtzentrum (von Durban) ausgegangen war. Wir hörten, dass Händlern ihre Waren gestohlen wurden und dass Leute auf ihre Gesichtsfarbe hin überprüft wurden; ein Mann aus Ntusuma wurde angehalten, weil er ‚zu schwarz‘ war. Im Stadtzentrum war die Lage sehr angespannt. Letzte Nacht waren Leute in den Straßen von Umbilo auf der Suche nach ‚amakwerkwere‘ unterwegs. Menschen riefen aus ihren Wohnungen zu ihnen herunter: ‚Kommt rauf, es gibt Kongolesen hier!‘“ Stellungnahme von Abahlali baseMojondolo, einer Organisation, die ihre Basis in den Shanty Towns von Durban hat, über die fremdenfeindlichen Übergriffe (zabalaza.net).
Die Rechtfertigungen für diese Angriffe waren die üblichen: Es gibt zu viele Immigranten, sie kommen hierher und nehmen uns unsere Jobs. Sie sind alle Kriminelle, Drogenhändler, Straßenräuber und Diebe.
Es liegt auf der Hand, dass diese schrecklichen Ereignisse in einer extremen Armut wurzeln, der sich die Mehrheit der Bevölkerung in Südafrika gegenübersieht und für die die „Befreiung“ von der Apartheid keine große Verbesserung in den Jobaussichten, Lohnniveaus, Wohnbedingungen und in der sozialen Sicherung gebracht hat. Wenn immer mehr Menschen, sowohl „Einheimische“ als auch jene, die vor Krieg und Terror im Kongo oder in Simbabwe geflohen waren, in unerträglich enge und gesundheitsschädigende Shanty Towns gesteckt werden, wenn die Preise von Grunderfordernissen in die Höhe schießen, ist es nicht schwer, Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen anzufachen.
Doch die Progrome beschränken sich nicht auf Afrika, wo sich die Armut vermutlich von ihrer extremsten Seite zeigt. In Neapel griffen im April nach Berichten, dass ein junges Roma-Mädchen des Versuchs beschuldigt worden sei, ein Baby zu kidnappen, Ortsansässige der Vorstadt von Ponticelli zwei Wohncamps von Romas mit Molotowcocktails an und und zwangen die Bewohner dazu, Schutz bei der örtlichen Polizei zu suchen. Dies ist nur die Spitze des Eisberges: Rassistische Parteien haben an Boden gewonnen in Italien, wo die Beschuldigung, Immigranten aus Rumänien, Albanien und anderswo seien für den Anstieg in den Verbrechensstatistiken verantwortlich, zu einem probaten Mittel für Wahlerfolge geworden ist. Die gegen jegliche Immigration eingestellte Lega Nord und die „postfaschistische“ Alleanza Nazionale erzielten bei den jüngsten nationalen Wahlen beträchtliche Gewinne, nachdem sie versprochen hatten, die illegale Einwanderung anzugehen, während in Rom Gianni Alemanno, ebenfalls von der Alleanza Nazionale, zum Bürgermeister gewählt wurde, nachdem er versprochen hatte, 20.000 Menschen auszuweisen.
In Großbritannien sind gewaltsame rassistische Übergriffe noch hauptsächlich das Werk von kleinen Gruppen oder isolierten Indviduen. Doch seit nunmehr einigen Jahren hat sich allmählich eine Progromatmosphäre aufgebaut; die rechte Presse geht dabei mit ihren Artikeln voran, die Immigranten beschuldigen, „unsere Jobs wegzunehmen“ und „den Wohlfahrtsstaat auszuquetschen“, während die offiziellen Parteien untereinander wetteifern, wer am resolutesten die Einwanderung reduziert und wer am verwegensten gegen den islamischen Terrorismus ist, wobei Letzterer eng mit der Immigrationsfrage verknüpft wird. Ein besonders weit verbreitetes Element in dieser Kampagne ist das Wehklagen über die Lage der so genannten „weißen Arbeiterklasse“, die, wie uns erzählt wird, sich nicht des Gefühls erwehren könne, „Fremde im eigenen Land“ zu sein. Dies ist Musik in den Ohren solcher Gruppen wie die BNP (British Nationalist Party), die behauptet, dass die Labour Party den Kontakt zu ihren Wurzeln in der „weißen Arbeiterklasse“ verloren habe.
Die Gefahr für die Arbeiterklasse
Für die Arbeiterklasse gibt es nichts Schändlicheres als ein Progrom. Er ist die absolute Negation von allem, wofür die Arbeiterbewegung seit Beginn an gestanden hat: die Einheit aller ArbeiterInnen gegen die Ausbeutung, ungeachtet der Hautfarbe, des Landes oder der Religion. Dass einstige Opfer der Apartheid in Südafrika Menschen aussortieren sollten, die „zu schwarz“ sind, dass Proletarier in Italien, deren Vorfahren unter dem Faschismus gelitten hatten, in Angriffe gegen ein Hassobjekt hineingezogen werden sollen, das mindestens so alt ist wie die Juden – die „Zigeuner“: all dies sind schlimme Zeugnisse für die Macht der Ausbeuterideologie in den Köpfen der Ausgebeuteten. Sie weisen auf eine ganz reale Gefahr hin, der sich die Arbeiterklasse und all die unterdrückten Massen überall auf der Welt gegenübersehen: dass angesichts des unübersehbaren Kollapses des kapitalistischen Gesellschaftssystems das Proletariat, statt seine Kräfte gegen die herrschende Ordnung zu vereinen, sich in eine unendliche Anzahl von ethnischen und nationalen Gruppen, in Stämme oder lokale Banden spalten lässt und in eine brudermörderische Gewalt getrieben wird, die die wahren Quellen der Armut und des Elends unberührt lässt. Falls dies geschieht, gibt es nichts, was den Kapitalismus noch daran hindern könnte, in die ultimative Barbarei und Selbstzerstörung zu stürzen.
Was ist also die Alternative?
In Südafrika haben die Sprecher der Kirche und des Staates, Erzbischof Tutu, Präsident Mbeki und Winnie Madikizela-Mandela, die Progrome verurteilt und geäußert, dass dies ein fürchterlicher Schandfleck für Südafrikas Ruf in der Welt sei. Ja sie sagten, dass jene, die solche Verbrechen begehen, keine „wahren Südafrikaner“ seien. Doch die Antwort auf die offen rassistische Version des Nationalismus ist nicht etwa eine freundlichere, menschlichere Version des Nationalismus, da beide Abarten dazu dienen, die einzige Perspektive zu verschleiern, die wirklich eine Antwort auf die Spaltungen unter den Armen und Unterdrückten bietet: die Entwicklung einer Klassensolidarität im Kampf um die Durchsetzung von Klassenforderungen. Und wenn in einem Augenblick höchster Not Immigranten, die vor der Verfolgung fliehen, keine andere Wahl haben, als sich der Gnade der örtlichen Polizei auszuliefern, dann dürfen sie dabei nicht der Illusion aufsitzen, dass die Polizeikräfte ihnen einen wirklichen Schutz bieten können, denn schon am nächsten Tag ist es dieselbe Polizei, die die Immigranten und die Bewohner der Shanty Towns schikaniert und Gesetz und Ordnung der Bosse stärkt. Die einzig wahre Verteidigung liegt für die ArbeiterInnen in der Vereinigung mit anderen ArbeiterInnen, ob am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft, ob schwarz oder weiß, ob im Kampf gegen die Angriffe auf ihre Jobs und Löhne oder im Kampf gegen die Repression durch Polizei und rassistische Banden.
Der alte Schlachtruf der Arbeiterbewegung – „Arbeiter aller Länder, vereint Euch“ – wird heute oftmals der Lächerlichkeit preisgegeben; es wird jede Gelegenheit ergriffen, um zu behaupten, dass die Arbeitersolidarität eine aussischtslose und überholte Hoffnung sei. In den 1960er Jahren wurde die Arbeiterklasse abgeschrieben, da sie angeblich von der „Konsumgesellschaft“ gekauft worden sei. Die Ereignisse in Frankreich 1968 – der größte Massenstreik in der Geschichte – lieferte die beredtste Antwort auf jenes Argument. Und heute, wo Arbeiterkämpfe von Frankreich bis Ägypten und von Vietnam bis zu den USA erneut langsam, aber sicher einen Massencharakter annehmen, wo so viele dieser Kämpfe immer wieder die Notwendigkeit der Solidarität geltend machen und in die Praxis umsetzten (1), ist die Hoffnung einer proletarischen Alternative mit ihren Perspektiven, für eine Gesellschaft ohne Nationen oder Grenzen zu kämpfen, keineswegs aussichtslos. In der Tat ist sie die einzige Hoffnung in eine Zukunft der Menschheit, während die Versprechungen der bürgerlichen Politiker, ob offen rassistisch oder pseudo-humanistisch, nur dazu dienen, den äußersten Bankrott des Systems, das sie vertreten, zu kaschieren.
Fußnote:
(1) Bezüglich einer genaueren Schilderung einiger dieser Kämpfe siehe unsere Website: „Workers Struggles multiply all over the world“ (World Revolution, Nr. 314), „Eine Klasse, ein Kampf“ (IKSonline), „Against the world wide attacks of crisis-ridden capitalism: one working class, one class struggle“ (International Review, Nr. 132)