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Ende April warnten Politiker wie der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Sommer oder die Kandidatin der Sozialdemokratie für das deutsche Staatspräsidentenamt Gesine Schwan vor der Gefahr von großen sozialen Unruhen aufgrund der Schwere der jetzigen Wirtschaftskrise und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Als kurz darauf die Maifeiern in Berlin und Hamburg durch besonders gewaltsame Zusammenstöße mit der Staatsmacht auffielen, warfen Politiker der Christdemokraten Sommer und Schwan Verantwortungslosigkeit vor. Ihre Mahnungen hatten – so der Vorwurf – den Teufel an die Wand gemalt, die Gefahr heraufbeschworen, wovor sie warnen wollten. Sie hätten darüber hinaus den „Krawallen“ von Berlin und Hamburg Legitimität verliehen, indem sie am Vorabend des 1. Mai die Verbindung zwischen Krise, „sozialer Ungerechtigkeit“ und sozialen Protesten hergestellt hatten.
Diese aufgeregt inszenierte Debatte innerhalb der politischen Kaste hat natürlich auch etwas mit Wahlkampf zu tun. Schließlich stehen nicht nur die Wahl des Bundespräsidenten oder die Europawahlen an; im September wird der Bundestag neu gewählt. Und dennoch verrät das Ganze eine gewisse Nervosität innerhalb der herrschenden Klasse. Wie groß ist die Gefahr des Klassenkampfes, und wie soll man damit umgehen?
Was ist mit der Antwort der Arbeiterklasse?
Nicht nur die Vertreter des Kapitals befassen sich mit dieser Frage. Auch diejenigen Minderheiten innerhalb der Arbeiterklasse, welche das kapitalistische System für das eigentliche Problem halten und es entsprechend bekämpfen wollen, werden nervös. Es geht die Sorge um, dass die Antwort der Lohnabhängigen auf die tiefste Krise in der Geschichte des Kapitalismus nicht auf der Höhe der Zeit ist. Deutlich vernehmbar sind inzwischen die Stimmen aus dem Lager der proletarischen Linken, die sich darüber beklagen, dass die Kämpfe bisher zu wünschen übrig lassen. Man beklagt das niedrige Niveau des Widerstandes vor allem im „eigenen“ Land, was verständlich ist. Bezeichnenderweise werden diese Warnungen oft an die Hoffnung gekoppelt, dass die Entwicklung in anderen Ländern – etwa in Griechenland oder Frankreich – weiter sein mag. Man setzt also – zu recht – auf die internationale Dimension des Klassenkampfes (siehe Artikel in dieser Ausgabe). Denn gerade dort, wo der Blick für den internationalen Charakter des Widerstandes fehlt, kann sich rasch ein Gefühl der Verzweifelung breit machen. Einer der Gründe, weshalb ein Teil der proletarischen Jugend sich in die ritualisierte Gewalt der „Maikrawalle“ hinein ziehen lässt, mag gerade in dem Fehlen dieses internationalen Blickwinkels zu suchen sein. Die herrschende Klasse hat davon profitiert, um Klassenkampf mit purer Gewaltentladung gleichzusetzen, welche keine Perspektive entwickelt oder zur Debatte stellt, und keine organisierte, kollektive Kraftentfaltung ermöglicht. Wir werden vor die falsche Alternative gestellt zwischen „Riots“ und braven gewerkschaftlichen Sonntagspredigten (so ein Artikel in Der Spiegel vom 27. April, welcher die soziale Lage in Deutschland unter dem Titel „schwer entflammbar“ umschreibt).
Tatsächlich: Noch ist der proletarische Klassenkampf nicht auf der Höhe der Zeit. Woran liegt das? Der Spiegel hat den üblichen Verdächtigen ausgemacht. „Deutsche mögen es harmonisch. Sie mögen den Chef vielleicht nicht, aber muss man es ihm gleich sagen? Konsens-Menschen.“ Dieses Argument überzeugt nicht. Denn die Schwierigkeiten des Klassenkampfes sind international. Aber der besagte Artikel führt noch einen anderen Grund an, welcher auch für andere Industriestaaten gelten kann: Die Herrschenden versuchen, auf Zeit zu spielen. Durch Konjunkturprogramme, Abwrackprämie, Kurzarbeitergeld, astronomische Neuverschuldung werden die schlimmsten Angriffe ein wenig hinausgeschoben. Freilich haben die Hoffnungen der Regierenden auf einen zwar schmerzhaften, aber kurzen Konjunktureinbruch sich in Luft aufgelöst. Somit ist das Problem der sozialen Konfrontationen nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Aber gerade in Deutschland kommt noch ein anderer Faktor hinzu: Die bevorstehenden Bundestagswahlen. Die bürgerliche Klasse tut das Mögliche, um die schlimmsten Angriffe bis nach den Wahlen hinauszuschieben, damit sie der vollen Wucht der Angriffe eine demokratische Legitimität der dann neu gewählten Regierung verleihen kann. Darüber hinaus hilft der Wahlkampf hier und jetzt, den Klassenkampf wie auch ein kritisches Nachdenken über das System zu bremsen. Die Illusion wird verbreitet, die Bevölkerung könne selbst, an der Wahlurne entscheiden zwischen mehr oder weniger „Sozialstaat“, indem sie zwischen „Neoliberalen“ und „Keynesianern“ wählt. In dieser Hinsicht war eine Truppe wie die Linkspartei von Lafontaine und Gysi für das Kapital nie so wertvoll wie heute.
Aber das Zögern der Arbeiterklasse angesichts der Notwendigkeiten des Klassenkampfes hat auch andere, tiefere Gründe. Das Proletariat ist nicht wie der Hund in den Experimenten des Naturwissenschaftlers Pavlow, welcher auf bestimmte Reize wie vorprogrammiert mit einem bestimmten Reaktionsmuster reagiert – etwa: auf einen gewissen Grad der Angriffe mit einem gewissen Niveau von Kämpfen. Sondern: Die Proletarier sind Menschen, und als solche perspektivisch denkende, in die Zukunft gerichtete Wesen. Als solche reagieren sie nicht nur auf die unmittelbare Situation. Die Proletarierinnen und Proletarier haben Kinder und denken nicht nur an sich sondern an die Aussichten der kommenden Generation. Hier ist es entscheidend wichtig, in Betracht zu ziehen, dass die Klasse in den letzten Jahren – intensiviert in den letzten 18 Monaten der Krisenverschärfung – mit einem radikalen Perspektivenwechsel fertig werden muss. Es geht um die Realisierung, dass es weltweit und in absehbarer Zukunft keine Besserung, sondern nur noch Verschlechterungen im Los der Lohnabhängigen geben wird; dass es im Kampf nur noch um die Abwehr des Schlimmsten gehen wird. Das ist ein Schock, der erst verdaut werden will, welcher zunächst lähmend wirken kann. Angst kommt auf, was erst einmal nicht gerade förderlich für die Entwicklung des Bewusstseins ist – ein Prozess, welcher Zuversicht und das Gefühl der eigenen Stärke braucht. Auch werden solche unangenehmen Wahrheiten zunächst einmal gerne verdrängt. Jedoch werden die Unerbittlichkeit der Krise, das Ausmaß der Angriffe und die Perspektivlosigkeit der Sackgasse, in welche der Kapitalismus die Menschheit geführt hat, auf Dauer weder Verdrängung noch Ausweichen dulden. Da die heutige Generation des Weltproletariats keine entscheidende Niederlage erlitten hat, und heute die Unterstützung einer neuen, unverbrauchten Generation der Arbeiterklasse erhält, wird sich die Klasse der Herausforderung des Kampfes stellen müssen und auch stellen können. Auch gibt es keine andere Perspektive als den Kampf der Lohnabhängigen selbst gegen ihre eigene Ausbeutung.
Die Antwort der Klasse: Internationale Solidarität
Dieser Kampf ist nicht nur Zukunftsmusik. Er hat bereits begonnen. Die Auseinandersetzungen, die sich heute vor unseren Augen abspielen, die zumeist so unspektakulär daher kommen, sie enthalten die Keime der Zukunft. Es stimmt, vielfach verhalten sich die Betroffenen noch wie Bittsteller, voller Illusionen, auf die Hilfe des kapitalistischen Staates und die Gnade neuer Investoren hoffend, wie bei Opel, Schäffler oder auf den Schiffswerften. Aber auch diese Illusionen werden durch die Realität bald gnadenlos zertrampelt. Zugleich vermehren sich die Zeichen, dass bereits die Kämpfe von heute Kennzeichen der neuen Phase, des neuen Blickwinkels aufweisen. So der derzeitige Kampf der Beschäftigten in den Kindertagesstätten. Bemerkenswert an dieser Auseinandersetzung ist nicht allein, dass ein Sektor der Arbeiterklasse zum ersten Mal überhaupt Kampferfahrung sammelt. Bezeichnend ist auch, dass es dabei nicht nur um das Lohnniveau und nicht nur um das Ummittelbare geht, sondern um die langfristige Gesundheit der Beschäftigten, um die Arbeitsbedingungen und um das Wohl der Kinder.
Bezeichnend ist aber auch das Vorgehen der herrschenden Klasse. So haben die europäischen Gewerkschaften Mitte Mai Demonstrationen in verschiedenen europäischen Hauptstädten – so Madrid, Brüssel, Berlin oder Prag – organisiert. Die Gewerkschaften geben sich somit den Anschein von Radikalität und sogar von Internationalismus. Solche Aktionen dienen als Demonstration der Macht und der Unerlässlichkeit der Gewerkschaften, nach dem Motto: ‚Wer außer uns mit unserem Apparat ist imstande, solche internationalen Verbindungen herzustellen?’ Angesichts von bevorstehenden Werksschließungen bei dem international operierenden Reifenhersteller Continental haben die Gewerkschaften 1,500 Betroffene aus Frankreich zu einer gemeinsamen Kundgebung nach Hannover gebracht. Bei dieser scheininternationalistischen Aktion ging es den Gewerkschaften auch darum, eine „firmeneigene“ Form der Solidarität anzubieten, welche die Beschäftigten letztendlich an ihre unmittelbaren Ausbeuter bindet, sie davon abhält, an das Nächstliegende zu denken, nämlich auf eigene Faust zu versuchen, ihren Kampf auf andere von Entlassungen betroffene Betriebe in der Region auszudehnen. Denn ein wirklich internationaler Kampf kann nur von unten, selbstorganisiert entstehen. Dennoch scheint es uns bezeichnend, dass die Herrschenden und ihre Gewerkschaften in der heutigen Zeit sich überhaupt genötigt sehen, diese Frage des Internationalismus überhaupt aufzugreifen. Sie greifen sie auf, um zu versuchen, sie zu entstellen und kaputtzumachen. Aber sie greifen sie auf, weil sie sie aufgreifen müssen. Denn noch nie waren die weltweiten Dimensionen der Krise des Systems und die Wucht der Angriffe gegen die Arbeiterklasse so sehr mit Händen zu greifen wie heute. Als sich bei Continental in Hannover die Demonstrationszüge aus Deutschland und Frankreich trafen, brach spontaner Jubel aus. Gerade auf der „deutschen“ Seite war die Freude groß. Denn in Punkto Klassenkampf blickt man zu Frankreich auf und hofft auf die Unterstützung, ja auf das führende Beispiel der Klassenschwestern- und Brüder von der anderen Rheinseite. Derweil treffen sich an den deutschen Universitäten und noch mehr in den Schulen kleine aber kämpferische Minderheiten, welche sich von dem Widerstand der proletarischen Jugend in Frankreich und Griechenland inspiriert fühlen, Kontakte dorthin knüpfen wollen, und die eigenen Kampfperspektiven erörtern wollen.
Der Klassenkampf ist weltweit. Als neulich in den französischen Überseedepartments Generalstreiks ausbrachen, sah sich die französische Regierung schließlich gezwungen, gegenüber einigen Forderungen der Streikenden nachzugeben (siehe Artikel in dieser Ausgabe). Der vielleicht wichtigste Beweggrund hierfür war wohl die Angst davor, dass diese Bewegung der Solidarität in Frankreich selbst Schule machen könnte.
Diese keimhaften Sehnsüchte und Bestrebungen nach einer internationalen Solidarität sind das eigentliche Zeichen der Zeit. Denn sie tragen in sich das Potential für die Entwicklung einer Perspektive, welche über die Konkurrenzgesellschaft des Kapitalismus hinaus weist, eine Gesellschaft der weltweiten Solidarität, welche die Menschheit umfasst. Das Potential ist da. Nicht zuletzt an den revolutionären Minderheiten liegt es, welche diese Perspektive verteidigen, diesem Potential in den nächsten Jahren zum Durchbruch zu verhelfen. 16.05.09