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Bereits zum sechsten Mal lädt die Libertäre Aktion Winterthur - deine Ansprechpartnerin für anarchistische Theorie und Praxis - zu den lang begehrten Anarchietagen. Am Wochenende vom 12. bis 14. Februar erwartet dich ein Wellnessprogramm für Geist und Seele - begleitet von kulinarischen Feuerwerken und abgerundet von einem musikalischen Abendprogramm werden auch dieses Jahr eine handvoll hochwertiger Vorträge für Höhepunkte im politischen Jahreskalender Winterthurs sorgen. Präsentiert werden dir nichts weniger als die interessantesten Entwicklungen im internationalen Klassenkampf.“
Mit diesen einleitenden Worten rief die LAW dieses Jahr zu den Anarchietagen in Winterthur auf. Wir möchten hier ein paar Eindrücke von der Veranstaltung vermitteln, die aber schon allein deshalb sehr subjektiv und unvollständig sind, weil wir nicht am ganzen Programm teilnehmen konnten.
Im Unterschied zu früheren Jahren dauerten die Anarchietage nicht mehr einen ganze Woche, sondern nur noch von Freitagabend bis Sonntag. Diese Konzentration hat offenbar damit zu tun, dass es immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer gibt, die von weit her anreisen. Während früher diese Veranstaltung ein lokales Ereignis war, von dem man zwar auch im benachbarten Zürich je nachdem interessiert Notiz nahm, ist sie mittlerweile weit über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus ein Anziehungspunkt für Leute, die an einer ernsthaften Diskussion über die Möglichkeiten und Wege einer revolutionären Überwindung dieser Gesellschaft interessiert sind. So gab es nun mehrere Vorträge und Diskussionen am gleichen Tag mit dem Resultat, dass im Allgemeinen die Debatten mit wesentlich mehr Publikum stattfanden (80-100 Leute).
Auch die Themen haben sich gewandelt. An den 2. Anarchietagen 2006 waren beispielsweise typische Themen der abendlichen Veranstaltungen „Gewaltfreier Anarchismus, Geschichte und Gegenwart weltweit, Vortrag, Diskussion und Film“ oder „Naturismus, Eine Welt ohne Kleider, Vortrag, Diskussion“. Zu den Veranstaltungen 2010 sagte ein Genosse von LAW am alternativen Lokalradio Lora in Zürich: „Die diesjährigen Anarchietage stehen eigentlich im Zeichen der Wirtschaftskrise und der Krise des Kapitals und der Arbeitskämpfe dazu.“ Es gab jetzt beispielsweise folgende Referate und Diskussionen:
- Zum Konzept der gesellschaftlichen Veränderung im (Anarcho-)Syndikalismus; Holger Marcks, Referat und Diskussion
- Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats; Unabhängige Rätekommunisten, Referat und Diskussion
- Arbeiterwiderstand gegen die Pläne des Kapitals; Rainer Thomann, Referat und Diskussion
Stellvertreterpolitik oder Selbsttätigkeit des Proletariats?
Unter dem Titel „Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats“ stellte ein Genosse der Unabhängigen Rätekommunisten (aus Deutschland) die wichtigsten programmatischen Punkte seiner Gruppe vor: Wir Arbeiter und Arbeiterinnen der ganzen Welt können die Revolution niemand anderem überlassen, wir müssen unsere Aufhebung als Proletarier und Proletarierinnen selbst in die Hand nehmen - ohne den bürgerlichen Staat und seine Apparate, ohne Parlament, Gewerkschaften, linke Parteien und Berufspolitiker, ohne selbsternannte Stellvertreter, stattdessen mit selbstbestimmten Kämpfen, z.B. Streiks, mit selbst geschaffenen Organisationen, z.B. Arbeiterräten. Die Unabhängigen Rätekommunisten halten die Parteiform als solche für bürgerlich, ohne aber - wenn wir dies richtig verstanden haben - abzulehnen, dass sich Revolutionäre in einer besonderen Organisation zusammenschliessen.
Im Anschluss an das Referat wurden sehr grundsätzliche Fragen diskutiert:
- Wer ist die Arbeiterklasse?
- Wird die Revolution gewaltsam sein?
- Was hat die Arbeiterklasse mit Demokratie und Menschenrechten zu tun?
Einer der Teilnehmer meinte zwar, die Frage, wer zu Arbeiterklasse gehöre, sei ziemlich abstrakt und theoretisch. Aber es gab doch ein Bedürfnis in der Versammlung festzustellen, dass z.B. Arbeitslose ebenso zum Proletariat gehören wie die meisten Rentner, Studierenden und Hausfrauen. Bei denjenigen, die sich zu Wort meldeten, schien darüber auch Einigkeit zu herrschen: Die Arbeiterklasse bildet mindestens in den industrialisierten Ländern - und dazu gehören natürlich auch China oder Brasilien - die grosse Mehrheit der Bevölkerung. Wir sind viele, auch wenn sich die meisten heute nicht damit identifizieren, Proletarier und Proletarierinnen zu sein.
Die Gewaltfrage ist auch ein ständiges Thema an solchen Diskussionen, wie die vorher aus dem Jahre 2006 zitierte Veranstaltung über gewaltfreien Anarchismus zeigt. Man könnte sich vorstellen, dass diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet wird. Und doch gab es an der diesjährigen Diskussion aus unserer Sicht eine klare Tendenz - nämlich dahin, dass die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft das bewusste Zusammenwirken aller daran Interessierten (eben der grossen Mehrheit der Bevölkerung = Proletariat) braucht und dass das erforderliche Bewusstsein nicht durch Gewalt, sondern durch Diskussion und solidarisches Handeln geschaffen wird. Die herrschende Klasse wird zwar ihre Macht nicht freiwillig aufgeben; ihr gegenüber wird es beim revolutionären Umsturz notwendigerweise zu Gewaltausübung kommen, auch wenn erfahrungsgemäss eine Situation des Massenstreiks - entgegen einem wohl verbreiteten Vorurteil - gerade nicht durch Chaos und Gewalt geprägt ist; Historiker aller Couleur sind sich darüber einig, dass es im Kapitalismus nie so wenige Verbrechen gab wie während der jeweils kurzlebigen Zeit einer Räteordnung (1905 Russland, 1917-19 Russland, Deutschland, Ungarn). Aber Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse und gegenüber anderen Unterdrückten, die selber niemanden ausbeuten, sollte abgelehnt werden. Alle, die mindestens potentiell das gleiche Interesse an einer herrschaftsfreien Gesellschaft haben, müssen mit Überzeugung gewonnen werden, nicht mit der Pistole auf der Brust. Die gewaltsame Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921 durch die Bolschewiki war ein tragischer Fehler; auf beiden Seiten wurde im Namen der Arbeiterklasse gefochten, solche Widersprüche können nicht mit Gewalt gelöst werden.
Und trotzdem - oder gerade deshalb - gab es in der Diskussion grosse Vorbehalte gegenüber einer proletarischen Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten. Die Menschenrechte sind eine Errungenschaft der aufgeklärten Bourgeoisie aus dem Zeitalter ihrer Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert. Sie beruhen auf dem Individuum und geben vor, jedes habe die gleichen Rechte, wobei von der Ungleichheit zwischen Arm und Reich abstrahiert wird. „Die Demokratie ist die Verschmelzung von sozialer Ungleichheit mit rechtlicher Gleichheit. (…) Die gleichen demokratischen Rechte bedeuten für Wirtschaftsbosse und die politische Klasse die soziale Herrschaft und für uns ArbeiterInnen und Arbeitslose weitgehend Ohnmacht. Für uns sind die demokratischen Rechte kaum mehr als Narrenfreiheiten.“ (aus einem aktuellen Flugblatt der Unabhängigen Rätekommunisten mit dem Titel: „Nicht nur gegen Nazis … - Kein Bock auf Nazis und Demokratie!“)
In der Diskussion am nächsten Tag zum Referat „Arbeiterwiderstand gegen die Pläne des Kapitals“ wurde anhand der Fabrikbesetzungen bei Continental in Clairoix/Frankreich[1] und INNSE in Mailand/Italien[2] im Jahre 2009 unter anderem über folgende Fragen debattiert:
- Wie kann ein Arbeitskampf erfolgreich geführt werden? Wie durchbricht man die Isolation? Wie können wir einen Kampf auf andere Teile der Arbeiterklasse ausdehnen?
- Warum ist der Kampf bei der INNSE gar nicht und derjenige bei Continental nur innerhalb des Unternehmens ausgedehnt worden? Hat dies etwas damit zu tun, dass man sich doch auf Gewerkschaftsstrukturen verliess, wenn auch nicht die offiziellen Zentralen?
- Soll man mit spektakulären Aktionen die bürgerlichen Medien mobilisieren? Soll man gegenüber den Medien drohen, sich das Leben zu nehmen, auch wenn man es gar nicht ernst meint?
An dieser Diskussion nahmen nicht mehr viele Leute teil, wahrscheinlich auch deshalb, weil das Referat lange dauerte und die Diskussion nach einer ebenfalls längeren Pause in einem anderen Raum stattfand. Auch der Dialog unter den Teilnehmenden war schwierig. Es schien, als prallten hier entgegen der gemeinsamen Einsichten vom Vortag über den Charakter der Gewerkschaften zwei grundverschiedene Visionen gegeneinander: einerseits die (auch von gewerkschaftlicher Seite) vertretene Sichtweise, nach der Aktivisten einen möglichst spektakulären, medienwirksamen Kampf notfalls allein und gegen den Rest der Welt organisieren sollen, andererseits das Anliegen, dass die kämpfenden Arbeiter die Solidarität von anderen Arbeitern suchen und die Ausweitung des Kampfes in die eigene Hand nehmen und selber organisieren.
Welche Bilanz?
Die gerade erwähnte Meinungsverschiedenheit zeigt, dass auch im Lager derjenigen, die sich als Anarchisten bezeichnen oder damit sympathisieren, keineswegs einheitliche Positionen vertreten werden. Unseres Erachtens kann man eine gute Bilanz aus den Diskussionen der Anarchietage ziehen, und zwar auf verschiedenen Ebenen:
1) Die Diskussionen waren (soweit wir es mitbekommen haben) geprägt vom Willen, sich gegenseitig zuzuhören und gemeinsam nach einer Klärung der offenen Fragen zu suchen. Die Debattenkultur war ein gemeinsames Anliegen.
2) Die Debatten waren weiter im Allgemeinen geprägt von einem internationalistischen Bewusstsein. Es gab zwar zweifellos auch Leute, die nach wie vor am Konzept der nationalen Befreiung festhalten oder das Chavez-Regime politisch unterstützen, also nationalstaatliche, bürgerliche Sichtweisen verteidigten. Aber solche Positionen lenkten nicht ab vom vorherrschenden Bemühen, auf einer internationalistischen Grundlage gemeinsam Fragen zu klären, unabhängig davon, ob man/frau sich als AnarchistIn oder KommunistIn versteht.
3) Wie der Genosse von LAW gegenüber dem Radio Lora ankündigt hatte, standen bei den diesjährigen Anarchietagen die Krise des Kapitals und der Klassenkampf des Proletariats im Zentrum der Veranstaltungen. Man spürte an den diesjährigen Anarchietagen, dass das Proletariat und sein Kampf konkretere Anliegen geworden sind. Niemand macht sich Illusionen darüber: Die Kämpfe unserer Klasse sind gegenwärtig noch sehr zögerlich, zu schwach, um schon heute am Kräfteverhältnis zur herrschenden Klasse unmittelbar etwas verändern zu können. Wir Revolutionäre sind aber Teil eines vor unseren Augen sich abspielenden Prozesses. So real die Arbeiterklasse mit ihren (noch schwachen) Kämpfen ist, so real sind wir Teil derselben Klasse und können Ferment im vor sich gehenden Gerinnungsprozess sein.
Kurz: Für uns waren die Anarchietage ein Ort der Debatte und der Klärung proletarischer Positionen für Leute, die für eine klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft kämpfen wollen.
Lobo, 14.03.10
[1] Vgl. dazu unsere Artikel in Révolution Internationale und auf der französischsprachigen Webseite, z.B. RI Nr. 405, Oktober 2009: « Répression des ouvriers de Clairoix, Une tentative d’intimidation de toute la classe ouvrière »
[2] Vgl. dazu unsere Artikel in Rivoluzione internazionale und auf der italienischsprachigen Webseite, z.B. Nr. 162, Oktober/November 2009: „Solo una lotta unita e solidale può farci resistere agli attachi“