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Interview mit einem Genossen der IKS, der aktiv bei den Demonstrationen und Versammlungen in Frankreich beteiligt war
Kannst du in einigen Worten zusammen fassen, was in den letzten Monaten angesichts der anstehenden Rentenreform in Frankreich passiert ist?
Also, ganz kurz zusammengefasst: Seit März 2010 gab es Demonstration gegen die geplante Rentenreform der Regierung in Frankreich. Anfangs war die Atmosphäre auf den Demos eher resignativ, würde ich sagen. Im Sommer hieß es dann von Seiten der Gewerkschaften, dass die Arbeiter nicht genügend gegen die Rentenreform kämpfen, und man sie deshalb eh nicht verhindern könne. Rückblickend kann man sagen, dass das Spannende war, dass im Spätsommer die Stimmung plötzlich umschlug. Zum einen wurden im Sommer Skandale um eben jenen Minister bekannt, der die arbeitende Bevölkerung dazu aufrief, den Gürtel wieder mal enger zu schnallen. Zum anderen war die Empörung über die oft brutale Ausweisung der Romas groß. Tja, und im September war dann plötzlich eine ganz andere Stimmung da. Jeweils bis zu 3 Millionen Menschen gingen bei den großen Demos am 7. Und 23. September auf die Straße, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. In einigen Städten bildeten sich daraufhin Straßen- und branchenübergreifende Versammlungen, z.B. in Paris, Toulouse und anderswo.
Du bist aus Toulouse in Südfrankreich. Wie hast du persönlich die Kämpfe gegen die Rentenreform erlebt?
In Toulouse gingen einige Initiativen zur Bildung von Versammlungen von der CNT-AIT aus. Ihr Hauptanliegen war, dass die Leute die Möglichkeit haben sollten, das Wort zu ergreifen. Auch um sich vorbereiten zu können, auf den Demos zu sprechen. Dazu mussten viele auch erst mal Selbstbewusstsein schöpfen. Dies war einfacher, wenn man dies auf den Versammlungen bereits diskutiert hatte. Dies fand ich und fanden wir als IKS richtig und haben uns auch aktiv in die Demos und Versammlungen eingebracht.
Was war das Hauptanliegen dieser Versammlungen?
Nun ja, das Anliegen war vor allen Dingen, dass sich diese Versammlungen überall verbreiten. Es gab in Toulouse verschiedene solche Versammlungen, die alle als Straßenversammlungen begonnen haben. Ich kann ein Beispiel einer Versammlung nennen, an der ich selbst aktiv beteiligt gewesen bin (und noch weiter aktiv bin). Diese Versammlung ist unmittelbar aus einer Demonstration entstanden Anfang Oktober. Der Auslöser war, dass am Ende der Demonstration plötzlich einige Leute riefen, dass man nach der Demo noch auf der Straße bleiben solle, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Ich würde sagen, es war mehr eine Art Straßentreffen als eine richtige Versammlung. Jemand schnappte sich ein Megafon und rief die Demonstrierenden dazu auf, nach der Demo NICHT zu gehen. Die Gewerkschaften hatten bei den Demos nämlich so laute Anlagen, dass man gar nicht mit einander sprechen konnte. Da es weiterhin zu laut war, schlug jemand vor, dass wir uns abends noch einmal dort treffen sollten, um zu diskutieren.
Und das hat so spontan funktioniert?
Ja, das war der Beginn von täglichen Treffen in Saint Sernin, einem Viertel in Toulouse – zunächst auf der Straße. So trafen wir uns Montags bis Freitags, jeden Tag, zwei Monate lang.
Wer war denn an solch einem Treffen beteiligt und worüber wurde gesprochen?
Es waren die unterschiedlichsten Leute daran beteiligt: prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Schüler und allerlei Beschäftigte. Je nach Tag trafen sich etwa 10 bis 50 Leute. Ein wichtiges Thema, das immer wieder besprochen wurde, war wie man den streikenden Arbeitern unsere Solidarität bekunden könne; außerdem auch, wie man sich bei den nächsten Demos besonders stark beteiligen könnte.
Wie sah diese Vorbereitung denn konkret aus?
Also, wir haben gewisse Slogans vorbereitet, die von den Streikenden auf den Demos gerufen werden sollten. Außerdem wurden Flugblätter gemeinsam besprochen und geschrieben. Die wurden dann für jede neue Demo wieder aktualisiert. Insgesamt gab es in der ganzen Zeit 10 große Demos.
Was war das Hauptanliegen dieser Versammlung in Saint Sernin?
Wie schon angedeutet war das Hauptanliegen Solidarität und die Teilnahme an spektakulären Aktionen, wie z.B. Blockaden organisieren. Einerseits, um die streikenden Arbeiter aktiv zu unterstützen, so wie die Teilnahme am Streik bei der Müllabfuhr. Die Streikenden haben uns akzeptiert und die Streikposten wurden zahlenmäßig verstärkt. Allerdings haben sich die Gewerkschaften sehr stark dagegen gewandt.
Waren Gewerkschaftler auch bei dieser Versammlung oder anderen Versammlungen beteiligt?
Bei der Versammlung in Saint Sernin kamen ab und zu einzelne Gewerkschaftler. Allerdings waren die ziemlich enttäuscht, weil die Arbeiter sauer auf die Gewerkschaften waren und deutlich sagten, dass sie die Schnauze voll haben von den Gewerkschaften. Besonders, weil sie bei den Demos gesehen haben, dass die Aktionen der Gewerkschaften nichts gebracht haben. Zudem wollten die Gewerkschaften die Rentenreform ja auch nicht verhindern, sondern lediglich einzelne Bestandteile verändern.
Wie hast du dich während einer solchen Vollversammlung gefühlt, und wie war die Stimmung bei den Vollversammlungen insgesamt?
Es gab viele Jugendliche. Dies hat für großen Enthusiasmus gesorgt. Was allen gemein war, war die große Empörung über die Regierung, z.T. auch über die Gewerkschaften, aber die Sorge über unsere Zukunft war ständig zu spüren. Es war sehr anregend, denn es gab den wirklichen Willen etwas gemeinsam zu tun. Und es gab viele Diskussionen, die sich immer wieder um die Frage drehten, wie können wir kämpfen? Wie können wir solidarisch mit anderen Streikenden sein?
In Deutschland schaut die arbeitende Bevölkerung regelmäßig bewundernd und anerkennend gen Westen und sagt, die französischen Arbeiter und Studenten machen es richtig; die wehren sich. Wie kommt es, dass den Studenten, Schülern, Rentnern, Arbeitslosen und Arbeitern in Frankreich so viel schneller der Kragen platzt und sie sich wehren?
Es gibt eine lange Tradition von Streiks in Frankreich einschließlich einschlägigen Erfahrungen mit den Gewerkschaften. Dies kann ein Grund sein. Wenn es aber darum geht, warum diese Streiks und Versammlungen eine gewisse Stärke entwickeln konnten, so würde ich drei Gründe nennen:
1. die Energie und der Enthusiasmus besonders der jungen SchülerInnen und StudentInnen
2. den Beitrag von politisch bereits Aktiven sowie natürlich…
3. das spontane Bedürfnis vor Ort zusammen zu kommen
Welche Rolle spielte in dieser Bewegung die Selbstorganisation?
Prinzipiell ist es enorm wichtig, dass die Streikenden, Schüler, Rentner, prekär Beschäftigten und Arbeiter ihre Kämpfe selbst organisieren. Nur so können sie zusammen kommen und ihre Forderungen in gemeinsamen Diskussionen herausfinden. Gerade für die Letztgenannten ist diese Einsicht wichtig, da die Gewerkschaften sich ja stets als Vertreter der Beschäftigten für die jeweiligen Branchen ausgeben. Doch gerade auf die Gewerkschaftspolitik ist man so sauer gewesen. Wenn man sich die Streiks und Demos der vergangenen Monate in Frankreich anschaut, würde ich sagen, dass wir erst am Anfang von selbst organisierten Kämpfen stehen. Es gab Ansätze von Eigeninitiativen, oft auch angeregt von politisch organisierten Leuten. Aber dies sind auf jeden Fall erste wichtige Erfahrungen von Selbstorganisierung.
Inzwischen hat es in Ägypten auch eine massive soziale und politische Bewegung vieler jungen Leute und der arbeitenden Bevölkerung gegeben. Dort hat man ja auch über Straßenversammlungen, z.B. auf dem Tahrirplatz, gehört. Siehst du da Ähnlichkeiten zu deinen Erfahrungen in Frankreich bezogen auf die Selbstorganisierung?
Eine interessante Frage. Eine Frage, die ich mir so noch nicht gestellt habe. Ich denke, Ägypten ist ein wunderbares Beispiel, wie man kämpfen kann. Für die Zukunft sollten wir so viel wie möglich von den dort gemachten Erfahrungen lernen, indem wir genauer hinschauen, wie gekämpft wurde.
Vielen Dank für das Gespräch.