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Was passierte in den letzten 12 Monaten?
Ende Oktober 2010 lag der Kurs für 1 € bei 1 Franken 37 Rappen. In mehreren Schüben verschlechterte sich dieser Wechselkurs und erreichte in der ersten Augusthälfte 2011 fast die Grenze von 1 Franken (1.03). Die Stärkung des Frankens zeigte sich nicht nur gegenüber dem Euro, sondern auch gegenüber dem US-Dollar: Im letzten Herbst war 1 $ etwa 1 Franken wert; im August 2011 bezahlte man aber dafür manchmal weniger als 0.75 Franken.
Obwohl die Schweizer Industrie international wettbewerbsfähig ist, hat sie gerade im weltweiten Warentausch mit einem Nachteil zu kämpfen: Weil die Waren aus der Schweiz einen Preis in Franken haben, verteuern sich diese für die Käufer im Euro- oder Dollarraum (die weit überwiegenden Destinationen schweizerischer Exporte) um rund ein Viertel, also beträchtlich. Solche Preiserhöhungen kann man nicht so leicht wettmachen - viele Schweizer Betriebe lassen aber beispielsweise die Angestellten zwei Stunden pro Woche gratis länger arbeiten, um den Stückpreis einer Ware zu senken.
Oder wie der
Südkurier aus Konstanz vom 03.08.11 schreibt: „Der starke Frankenkurs bringt
die Schweizer Exportwirtschaft immer mehr in Nöte. Die Auftragsbücher der
Industrie sind zwar voll, aber wegen des Wechselkurses werden die Gewinnmargen
immer kleiner. Unbezahlte Mehrarbeit reicht einigen Schweizer
Exportwirtschaftsbetrieben nicht mehr, die wegen des starken Frankens
schmelzenden Gewinnmargen zu stabilisieren. Einige wollen jetzt die Grenzgänger
bluten lassen. Laut Berichten Schweizer Medien will die
Metallverarbeitungsfirma Angenstein in Aesch im Kanton Basel Land
Grenzgängerlöhne an den Eurokurs koppeln. Die Betroffenen haben dadurch
Lohneinbußen von bis zu zehn Prozent zu befürchten. Laut Gewerkschaften tragen sich
andere Betriebe mit ähnlichen Gedanken.“
Oder die Tagesschau des Schweizer Fernsehen vom 18.08.11: „Die
Medizinaltechnik-Firma Storz Medical im thurgauischen Tägerwilen will ihren 130
Angestellten den Lohn um monatlich 10 % kürzen und sie erst noch zwei Stunden
pro Woche länger arbeiten lassen.“
Wie immer ist es die Arbeiterklasse, die die Zeche bezahlt.
Insbesondere auch die Tourismusindustrie in der Schweiz hat einen katastrophalen Sommer hinter sich, weil nicht nur wegen des schlechten Wetters, sondern insbesondere wegen des teuren Frankens die ausländischen Gäste einen weiten Bogen um die Schweiz machten.
Die Schweizer Bourgeoisie war sich im Laufe des Sommers 2011 insofern einig, als der Staat etwas gegen die Frankenstärke und für die bedrängte Export- und Tourismuswirtschaft tun müsse:
- Um die Kapitalisten dieser Branchen etwas zu beruhigen, kündigt der Bundesrat (die Exekutive des Staates Schweiz) Mitte August 2011 ein Zwei-Milliarden-Franken-Hilfspaket für Exportindustrie und Tourismusgewerbe an. Ob und wieweit dieses Hilfspaket des Staates für die Kapitalistenklasse ausgepackt wird, ist noch offen. Einig ist man sich aber darin: „Es gehe um ein Angebot an die betroffene Wirtschaft, das in erster Linie psychologische Wirkung habe, betonte Bundesrat Johann Schneider-Ammann.“ (NZZ 15.9.11)
- Am 6. September entscheidet die Nationalbank SNB, dass der €/CHF-Kurs bei 1.20 zu stabilisieren sei und greift entsprechend mit massiven Verkäufen von Schweizerfranken in den internationalen Währungstausch ein. Seither ist der Euro-Kurs nicht mehr unter CHF 1.20 gefallen.
Die Staatsverschuldung in der Schweiz ist relativ gering. Sie beträgt etwa 209 Mrd. Franken (rund 177 Mrd. Euro). Da die Schweiz über 1.040 Tonnen Gold im Wert von etwa 48 Mrd. Euro verfügt, ist die Schweizer Staatsverschuldung zu 27 Prozent mit Gold gedeckt. Zum Vergleich: Die deutsche Staatsverschuldung ist zu etwa 7 Prozent durch den Goldpreis gedeckt.
Die Staatsverschuldung betrug Ende 2010 (in % des BIP):
- USA 95%
- DE 83 %
- EU 80%
- CH 55%
Trotz vergleichsweise gutem Wirtschaftsgang im laufenden Jahr gibt es ständig weitere Entlassungen. In allen Landesteilen werden Betriebe geschlossen oder redimensioniert. Auch in der Bankenbranche geht man von anstehenden Stellenverlusten von etwa 10'000 aus.
Fazit bis hierher: Ob die Bourgeoisklasse in der Schweiz unter der Frankenstärke so stark leidet, wie sie jammert, ist eine offene Frage, da sie ja ihr Vermögen mindestens zu einem wesentlichen Teil in Schweizer Franken angelegt haben wird, welcher Teil - dank der Verteuerung des Frankens - nun gemessen am Euro oder US-Dollar 10-20% mehr wert ist. Wer aber unter der aktuellen Entwicklung in der Schweiz sicher leidet, ist das Proletariat: durch unbezahlte Mehrarbeit, Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit, kürzere Bezugsdauer bei den Arbeitslosentaggeldern usw. - dies betrifft alle Arbeiter und Arbeiterinnen unter schweizerischem Kapitalkommando grundsätzlich gleich.
Welche Triebkräfte hinter diesen Erscheinungen?
Die Frankenstärke und umgekehrt die Euro- und Dollarschwäche haben etwas mit der Verschuldung der jeweiligen Staaten zu tun, die hinter den Währungen stehen. Insofern ist es naheliegend, dass in einer Situation, in welcher der Euro und der Dollar aufgrund der Krisenentwicklungen in den entsprechenden Wirtschaften an Wert verlieren, der Schweizer Franken diesen Absturz nicht mitmacht oder wenigstens nicht im gleichen Tempo. Wenn die Zahlungsfähigkeit eines Staates oder einer Staatengruppe, die eine Währung herausgibt, abnimmt, schwindet auch der Wert dieser Währung, die ja einen anteilmässigen Anspruch auf den Reichtum des Staates bzw. der Staatengruppe verbrieft.
Die Schweizer Wirtschaft steht auch hinsichtlich der Produktivität und der Wachstumsraten nicht schlecht da, wenigstens wenn man letztere mit denjenigen von anderen alten Industrieländern vergleicht. Die Schweiz ist nicht nur ein Finanzplatz, sondern verfügt auch über eine konkurrenzfähige Industrie von Produktions- und Konsumgütern.
Unbestritten ist, dass der Frankenkurs zusätzlich aufgrund der Währungsspekulation so stark gestiegen ist. Angesichts der Probleme der Euro-Zone mit der drohenden Staatspleite Griechenlands und angesichts der massiven Ausweitung der Geldmenge in den USA suchen die Reichen dieser Welt, die bisher ihr Geld in Dollar oder Euro angelegt hatten, nach neuen sicheren Häfen für ihre zusammengerauften Vermögen. Bei solchen Fluchtbewegungen bieten sich die Schweizer Banken seit langem an - der Franken ist eine Fluchtwährung. Dabei steigt der Preis des Frankens über seinen eigentlichen Wert. Die Spekulanten sind bereit, selbst einen zu hohen Preis zu bezahlen, weil sie damit rechnen, dass der Kurs morgen noch höher sein werde. Ob er dies auch tatsächlich sein wird?
Was bewirken die staatlichen Maßnahmen?
Die Schweiz ist klein und stark exportabhängig. Das hier ansässige Kapital und sein Staat (kurz: der schweizerische Staatskapitalismus) haben noch weniger Entscheidungsfreiheit als ihre grösseren Konkurrenten. Kurz: Die Schweizer Bourgeoisie muss sich anpassen, vor allem gegenüber denjenigen, welche die stärksten Wirtschaftsverflechtungen mit den hiesigen Unternehmen haben - dem EU-Raum und den USA. Diese Zwangslage der Schweizer Wirtschaft wird auch in den ständig neu aufgelegten Steuerstreitigkeiten der USA und der EU mit den schweizerischen Banken deutlich. Der Finanzplatz Schweiz hat bis jetzt zu einem erheblichen Teil damit Geschäfte gemacht, dass sie reichen Ausländern half, ihr Geld vor dem eigenen Finanzamt in Sicherheit zu bringen. Insbesondere die grossen europäischen Staaten und die USA nehmen dies nicht mehr hin und üben entsprechend Druck aus, teilweise mit Strafverfahren gegen die Grossbanken UBS und CS. Und jedes Mal müssen diese Banken Federn lassen und Milliardenbeträge bezahlen.
Was den überbewerteten Franken betrifft, gibt es als Variation auf das Dilemma der Bourgeoisie in den anderen Industriestaaten folgende Alternative für den Staat und seine Dirigenten:
- Lässt die Nationalbank den Frankenkurs an den Euro binden, verliert sie die Herrschaft über die Inflation. Die Konsequenz einer Inflation ist eine faktische Enteignung der Geldbesitzer, auch der Proletarier, soweit ihr Lohn nicht gleich schnell steigt, wie der Wert des Frankens fällt. Die Inflation endet meist in einer offenen Rezession.
- Bleibt der Staat untätig, wird der Franken so teuer, dass die Industrie die Konkurrenzfähigkeit angesichts der Rivalen in den anderen starken Exportländern definitiv verliert. Auch bei diesem Szenario sind also die Verwüstungen der Weltwirtschaftskrise unvermeidlich, nur kommen sie hier durch die Hintertür ins Haus.
Die Bourgeoisie versucht auch in der Schweiz Zeit zu gewinnen, damit die Auswirkungen der Krise etwas verteilt werden können und nicht alle Angriffe und die zu erwartenden Firmenpleiten gleichzeitig erfolgen.
Im internationalen Geflecht der Beziehungen verfolgt die Regierung mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg die Politik, sich möglichst lange alle Optionen offen zu halten. Bezogen auf die EU hat dies immer geheissen, dass man sich so wenig wie möglich einbinden lässt, aber trotzdem nicht alle Türen verschliesst. Damit will die Bourgeoisie den Kopf nicht in die Schlinge stecken, welche die EU für sie darstellen würde. Sie will z.B. nicht für Länder wie Griechenland mit haften müssen. Doch auch diese vorsichtige Strategie bewahrt die Schweizer Kapitalisten nicht vor den Problemen der Weltwirtschaftskrise. Die Verflechtungen des Marktes sind viel zu stark, um einen Teil des Kapitals vor den negativen Auswirkungen der weltweit relativ abnehmenden zahlungskräftigen Nachfrage zu verschonen.
Im Kapitalismus keine Lösung
Es gibt keine Lösung mehr, die auch nur die Herrschenden, geschweige denn die arbeitenden Massen befriedigt. Kein Land und v.a. kein Teil der Arbeiterklasse wird von den Auswirkungen der Krise verschont.
Immer offener ist selbst in bürgerlichen Medien von der Sackgasse die Rede, in welcher die kapitalistische Wirtschaft steckt - manchmal sogar unter Bezugnahme auf Karl Marx. So schreibt Res Strehle im Tagesanzeiger vom 14.09.11: „Marx wies (…) darauf hin, dass in der kapitalistischen Form der Marktwirtschaft ein grundlegender Widerspruch steckt: Jeder Anbieter versucht in einem funktionierenden Markt so billig wie möglich zu produzieren. Das Zaubermittel dafür heisst bei existenzsichernden oder gar guten Löhnen Rationalisierung. Die teure, in fortgeschrittenen Sozialstaaten durch staatliche Abgaben zusätzlich belastete Arbeiterkraft wird nach Möglichkeit durch Maschinen, Software, Technologie ersetzt. Dieses aus Sicht des einzelnen Anbieters rationale Verhalten ist im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang irrational. Denn so geht einer wachsenden Bevölkerung längerfristig die Arbeit aus, dem Unternehmer der Gewinn (der sich laut Marx aus der Differenz zwischen Lohn und Wertschöpfung ergibt) und der Volkswirtschaft die breite Schicht der zahlungskräftigen Konsumenten. So kann auf Dauer keine Volkswirtschaft prosperieren.“
Was für den Einzelkapitalisten rational ist, wird im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang irrational. Die Menschheit braucht eine neue Produktionsweise: Nicht für den Profit, sondern für die Bedürfnisse der Menschen soll produziert und das Produkt verteilt werden.
SRM, 22.09.11