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Wir veröffentlichen unten die Übersetzung eines Artikels von Internacionalismo, unserer Sektion in Venezuela. Er wurde noch vor der Verkündung des Wahlergebnisses verfasst.
Die Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober in Venezuela stellen einen Moment erhöhter Spannungen zwischen den bürgerlichen Fraktionen, den „Chavisten“ und den Oppositionsparteien, dar. Letztere fanden sich in der Plattform der Demokratischen Einheit zusammen und haben Henrique Capriles zu ihrem Kandidaten gekürt, während die offizielle Macht auf ihren ewigen Kandidaten, Hugo Chavez, setzt, der über seinen Parteiapparat und Hunderte von Millionen Bolivars (1) verfügt, um Stimmen zu kaufen, hauptsächlich unter den Arbeitermassen, die seit dem Machtantritt des Chavez-Regimes und davor in den 30 Jahren der politischen Konfrontationen verschlissen worden waren.
Der Zerfall und die Krise hinter der „letzten Schlacht“
Der Aufstieg von Chavez war das Produkt aus dem Zerfall der venezolanischen Bourgeoisie, insbesondere der politischen Kräfte, die das Land vor seinem Machtantritt 1999 regiert hatten. Aufgrund seiner großen Popularität unterstützten ihn diverse Teile des Kapitals mit dem Ziel, gegen die ausufernde Korruption und für die Wiedererlangung der Glaubwürdigkeit offizieller Institutionen, vor allem aber der Regierung zu kämpfen. Mit anderen Worten, mit dem Ziel, das System der Unterdrückung und Ausbeutung im Interesse der Nation und damit der Bourgeoisie zu verbessern. Die oppositionellen Kräfte legten es trotz ihrer Schwächung schnell auf eine Kraftprobe mit dem Regime an, am spektakulärsten zurzeit des Staatsstreiches 2002 (2) und der Blockade der Ölförderung Ende desselben Jahres. Am Ende erwies sich all dies als fruchtlos und führte lediglich zu einer Stärkung der Macht von Chavez, der 2006 wiedergewählt wurde.
Nach einem Jahrzehnt des Chavismus hat die Krise verschiedene Fraktionen der Bourgeoisie in einen Gegensatz zur Macht des Zentralstaates geraten lassen. Die oppositionellen Kräfte profitieren vom Verlust der Glaubwürdigkeit des Regimes, der auf zwei Hauptursachen zurückgeführt werden kann:
· auf den wachsenden Zerfall des Chavez-Regimes, den wir in einem früheren Artikel in Internacionalismo so charakterisierten: „Es haben sich neue zivile und militärische Eliten gebildet und die Spitzenposten der Staatsbürokratie unter sich aufgeteilt. Sie sind in ihrem Bestreben gescheitert, die Probleme zu überwinden, die von den vorherigen Regierungen angehäuft worden waren, da sie weitaus mehr um ihre persönlichen Interessen und die Aufteilung der Ausbeute aus der Ölindustrie besorgt waren, was in eine exponentielle Steigerung der Korruption und in der wachsenden Preisgabe eines ernsthaften Staatsmanagements mündete. Diese Situation, die vom Größenwahn des Chavez-Regime verschärft wurde, das das ehrgeizige Ziel verfolgte, die ‚bolivarische Revolution‘ auf ganz Lateinamerika auszudehnen, führte dazu, dass die Staatskassen immer mehr geschröpft wurden. Es hat auch zur Verschärfung der politischen und gesellschaftlichen Antagonismen geführt, die die Regierungsunfähigkeit, welche bereits in den 90er Jahren ausgeprägt war, noch gesteigert hat“;
· auf die Intensivierung der Krise des Kapitalismus im Jahr 2007, die dem Vorhaben des Chavez-Regimes, sein Projekt des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ voranzutreiben, ein Strich durch die Rechnung machte. Obgleich Chavez wie andere Regierende erklärte, dass die venezolanische Wirtschaft gewappnet sei, hat in Wirklichkeit die Weltkrise des Kapitalismus die historische Zerbrechlichkeit der nationalen Wirtschaft aufgezeigt: Sie ist total vom Erdölpreis abhängig. Dem kann die Tatsache hinzugefügt werden, dass die populistischen Schemata erst durch die Angriffe auf die Löhne und die Reduzierung oder Unterdrückung von „Errungenschaften“ wie die Tarifvereinbarungen ermöglicht wurden, die der Chavismus als „Trinkgeld“ abtat und abschaffte.
Die Strategie des Oppositionskandidaten Henrique Capriles, der auf tägliche „Klinkenputzer“-Touren durch Städte und Dörfer setzt, ist es, das Versagen des Chavismus und die weitverbreiteten Gefühle des gesellschaftlichen Niedergangs auszuschlachten. Laut Meinungsumfragen hat seine Beliebtheit stark zugenommen. Seine Taktik besteht darin, ähnlich wie der Chavismus populistische Sozialprogramme vorzuschlagen und gleichzeitig die direkte Konfrontation zu vermeiden, und sie hat Früchte getragen. Hugo Chavez hat seinerseits die (Schein-)Erfolge seiner Armutsprojekte und seine Qualitäten als „Wächter“ bzw. „Ordnungsfaktor“ gegen die Anarchie, die das venezolanische Kapital in seiner Gesamtheit bedrohe, in die Waagschale geworfen.
Trotz all seiner Schwächen (Verlust der Kontrolle über die Provinzregierungen, Interessenskonflikte in den eigenen Reihen, die Erkrankung von Chavez, etc.) beabsichtigt der Chavismus nicht, von der Macht zu lassen, und hat in den letzten Monaten insbesondere dort nichts unversucht gelassen, wo die Opposition möglichweise Vorteile erzielen könnte: Er ordnete die obligatorische Mitgliedschaft der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (die chavistische Partei) an, erschwerte die Stimmenabgabe aus dem Ausland, besonders aus Miami und Spanien, neutralisierte die Parteien, die die Opposition unterstützen (PODEMOS, PPT, COPEI), durch Urteile des Obersten Gerichtshofes, etc. Dazu zählt auch die Kontrolle, die über die Medien und die Kommunikationsmittel ausgeübt wird und Chavez einen entscheidenden Vorteil auf der Ebene der Wahlpropaganda verschafft.
Chavez hat auch andere Strategien ausgeklügelt, die ihm helfen sollen, die Wahlen zu gewinnen. Er hat bereits angedeutet, dass die Opposition einen Plan zur Anprangerung eines Wahlbetrugs in der Schublade habe. Bei dieser Strategie verlässt er sich stets auf die Staatsmacht und besonders auf die Armee, die längst ihren Status als „professionelle, keine Entscheidung treffende und unpolitische Kraft zu Diensten der Nation“ zugunsten des Daseins als „eine patriotische, antikapitalistische, anti-imperialistische und chavistische Kraft“ aufgegeben hat. Hieraus wird klar, was hinter den häufigen Drohungen von Chavez und seiner Entourage gegen Opponenten steckt.
Auch die an der Macht befindliche Partei beschuldigt die Opposition, sich zu weigern, die Wahlergebnisse, deren Verkündung dem Nationalen Wahlgremium (NEC) zustehen, anzuerkennen. Daher schlägt die Regierung Alarm, um ihre Opponenten daran zu hindern, die Bevölkerung aufzuwiegeln, wenn das NEC den Triumph von Chavez verkündet. Die Opposition hat ihrerseits erklärt, dass sie dem NEC keinen Freibrief ausstellen könne, da es sowohl Richter als auch Beteiligter ist und Sanktionen gegen die Opposition verhängt habe, ohne hingegen die Gesetzesmanipulationen der Regierung zu kritisieren. Kurzum: dies ist schlicht und einfach eine Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen Parteien, in der jeder Clan Tricks benutzt, die typisch für eine Klasse sind, die ihren Griff nach der Macht verstärkt.
Die ArbeiterInnen müssen alle Spaltungen unter sich ablehnen
Das venezolanische Proletariat muss wachsam bleiben und darf nicht zum Opfer dieser „letzten Schlacht“ zwischen den Kräften des nationalen Kapitals werden, die es für ihre Machtkämpfe zu mobilisieren versuchen.
Der Chavismus hat einige sehr mächtige ideologische Waffen zur Mobilisierung der „Armen“ und der „Ausgeschlossenen“, die noch immer hoffen, dass Chavez zu seinen Versprechen steht, insbesondere zu jenen über die „Missionen“, die in der Theorie sich „gegen die räuberische Bourgeoisie (richten), die zurück in die Vergangenheit gehen wollen“. Doch Chavez bereitet sich auch auf eine bewaffnete Konfrontation vor, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Er weiß, er kann dabei auf die bolivarischen Milizen und auf die Stoßtruppen zählen, die sich in etlichen „Kollektiven“ sowohl in Caracas als auch im Landesinnern gebildet haben und vom Staat bewaffnet werden.
Die oppositionellen Kräfte ihrerseits werden, auch wenn sie keine öffentliche Strategie für den Fall einer Machtdemonstration haben, nicht verschränkten Armen zuschauen. Zu ihnen zählen traditionelle Parteien wie die sozialdemokratische Demokratische Aktion, die eine jahrzehntealte Erfahrung in der Organisierung bewaffneter „Kollektive“ besitzt. In den Reihen der Opposition gibt es auch Organisationen auf der Linken, die anfangs den Chavismus unterstützt hatten und sich gut mit seinen Konfrontationsmethoden auskennen.
Die ArbeiterInnen müssen sich darüber bewusst sein, dass es unmöglich ist, gegen prekäre Arbeit und Ausbeutung zu kämpfen, indem sie die Regierung auswechseln. Die Krise des Kapitalismus wird bleiben und sich vertiefen, wer von beiden – Chavez oder Capriles - auch immer gewinnt. Beide werden Austeritätsprogramme einführen.
Wir dürfen nicht in die ideologische Falle tappen, die von jenen ausgehoben wurde, die behaupten, dass es in dieser Wahl um „Kommunismus vs. Demokratie“ oder um „das Volk gegen die Bourgeoisie“ gehe. Beide, Chavez und Capriles, vertreten staatskapitalistische Programme, deren Grundlage allein die Ausbeutung des venezolanischen Proletariats ist.
Die Wahlauseinandersetzungen sind nur ein Moment in der Konfrontation zwischen den verschiedenen Fraktionen des nationalen Kapitals. Das Proletariat darf sich nicht in die Konflikte zwischen bürgerlichen Banden hineinziehen lassen. Es muss mit der demokratischen Ideologie brechen, die Lehren aus seinen eigenen Kämpfen ziehen, seine Bemühungen fortsetzen, um seine Klassenidentität, seine Einheit und Solidarität wiederzuentdecken.
Revolucion Mundial, Oktober 2012
(1) Die lokale Währung.
(2) Mit dem Staatsstreich zwischen dem 11. und dem 13. April 2002, der angeführt wurde von Pedro Carmona, wurde vergeblich versucht, Chavez von der Macht zu entfernen.