„Supersturm“ Sandy: Der Zorn von Mutter Natur oder die Irrationalität der herrschenden Klasse?

Printer-friendly version
Überall in der Welt haben die Menschen die Bilder der zerstörten und verwüsteten Küstenstädte mit Hunderttausenden von obdachlosen Menschen gesehen – allein in New York City waren es 40.000. Sie riefen die Erinnerung wach an den Wirbelsturm Katrina 2005. Jedes Mal werden dieselben Fragen gestellt: Warum wird trotz des wachsenden Bewusstseins über die Wechselwirkung zwischen der globalen Erwärmung, dem steigenden Meeresspiegel, wechselnden Meeresströmungen und Wetterphänomenen sowie immer häufigeren und stärkeren Stürmen nichts getan, um zu vermeiden, dass dem Schaden, der erwartet wird, noch weitere Katastrophen hinzugefügt werden? Warum werden die Evakuierungen vor dem Sturm nicht besser geplant und organisiert?

 


Die Vorbereitungen vor dem Sturm: Die Bourgeoisie ist untauglich zum Herrschen

Seit der Krise, die von der Reaktion auf den Wirbelsturm Katrina 2005 ausgelöst wurde, hatte sich die herrschende Klasse entschlossen, das Image ihres Staates wieder aufzupolieren. Bei dem Versuch, das Vertrauen der Massen in ihren Apparat wiederherzustellen, muss sie die Idee eines Staates entwerfen, der in der Lage ist, das Wohlergehen seiner Bevölkerung sicherzustellen.

Doch schon eine schnellere und bessere Kommunikation zwischen den vielen Behörden, die damit beauftragt waren, vor den potenziellen Gefahren eines Sturmes zu warnen, ist eine Aufgabe, die den kapitalistischen Staat offensichtlich vor unüberwindliche Hindernissen stellt. Laut Bryan Norcross, einem hoch geachteten Meteorologen, machte die Nationale Ozeanische und Atmosphärische Administration (NOAA) „hervorragende Vorhersagen. Ihre Vorhersagen über die Windstärke waren im Grunde genommen perfekt, und ihre Sturmflutvorhersage für New York City war so gut, wie sie dieser Tage nur sein kann.“ In der Tat können bereits eine Woche, bevor sie aufs Land treffen, ziemlich genaue Vorhersagen über potenziell zerstörerische Stürme gemacht werden. Doch das National Hurricane Center entschied sich, erst einen Tag vor seinem Eintreffen auf Land eine Sturmwarnung zum Wirbelsturm Sandy herauszugeben, weil es Informationen erhalten hatte, wonach der Sturm seinen Kurs ändern und sich zu einem tropischen Sturm abschwächen könnte. Als klar wurde, dass der Sturm nicht seinen Kurs ändert und sich auch nicht abschwächt, gab es für die Menschen nicht genug Zeit, um sich entsprechend vorzubereiten. In Anbetracht des Ausmaßes des Sturms und der Tatsache, dass er sich in Richtung des am dichtesten bevölkerten Landesteil zubewegte, war es auf Seiten der Behörden und Obrigkeiten nicht wirklich vernünftig zu entscheiden, die Sturmwarnung nicht früher herauszugeben.

Jedoch kann die Entscheidung, erst einen Tag vor dem Eintreffen des Sturms eine Warnung herauszugeben, nicht allein mit der verknöcherten Bürokratie erklärt werden. Es öffnet auch den Blick auf die ruinierte Infrastruktur der kapitalistischen Metropolen und wirft die Frage auf, welche Lösung, falls überhaupt, die Herrschenden haben, um mit solchen Stürmen in Zukunft fertig zu werden. Es scheint unter den gegenwärtigen Bedingungen der urbanen „Entwicklung“ im Kapitalismus aus mehreren Gründen unmöglich, einen vernünftigen Schutz und einen Flächenevakuierungsplan zu organisieren: 1. die schiere Anzahl von Menschen, die in diesen Gebieten leben; 2. der Mangel an einer Infrastruktur, die für die Evakuierung und Unterbringung der Menschen nach einem solchen Sturm erforderlich ist; 3. die Zerstörung der natürlichen Umwelt und die fortgesetzte Verstädterung in Gebieten, die für die Besiedelung ungeeignet sind; 4. die Verausgabung finanzieller, humaner, technologischer Ressourcen für militärische Zwecke.

Nun wo Supersturm Sandy wütete und jedermann realisierte, wie verwundbar die City und Millionen ihrer Einwohner sind, beginnt die unvermeidliche Kakophonie darüber, was in Zukunft zu tun ist, von neuem. Einige dieser Vorschläge sind ziemlich interessant und kreativ. Sie zeigen, dass die Menschheit auf der technologischen und wissenschaftlichen Ebene die potenzielle Fähigkeit entwickelt hat, die Wissenschaft in den Dienst der menschlichen Bedürfnisse zu stellen. Rund um St. Petersburg in Russland, Providence, Rhode Island und an der niederländischen Küste sind Sturmflutwehren gebaut worden. Das technologische Know-how ist vorhanden. Auch was die geographischen Besonderheiten von New York City anbetrifft, ist es nicht unmöglich, dass eine technologische Lösung gefunden wird. Doch angesichts der Realität der Wirtschaftskrise ist es nicht an den Haaren herbeigezogen, wenn man davon ausgeht, dass New York City eher auf das ausweichen wird, was die Ingenieurswissenschaft „Resilienz“ nennt, ein System, das kleinteilige Interventionen vorsieht, wie die Einrichtung von Schleusentoren an Kläranlagen und die Anhebung des Bodenniveaus in bestimmten Gebieten von Queens. In Anbetracht dass New York City ist Multimillionen-Stadt ist, die Teile der Weltwirtschaft am Laufen hält und deren Infrastruktur sehr komplex, alt und umfangreich ist, widersprechen kleine Eingriffe dieser Art jedoch dem gesunden Menschenverstand.


Die Folgen des Sturms: Wir sind auf uns gestellt

Präsident Obama erblickte im Wirbelsturm Sandy eine Gelegenheit, den Disput zwischen dem konservativen und dem liberaleren Flügel der herrschenden Klasse über die Rolle der Regierung neu aufzuwärmen. Es ist behauptet worden, dass die Reaktion der gegenwärtigen Administration wirksamer gewesen sei als die Reaktion der Bush-Administration im Anschluss an den Wirbelsturm Katrina. Die Bilder vom Convention Center in New Orleans, wo Tausende tagelang gestrandet waren und wo die entsetzlichsten Bedingungen geherrscht hatten, sind den Bildern von der Nationalgarde gegenübergestellt worden, die einen Tag nach dem Sturm in Hoboken, New Jersey, eintraf, um Nahrungsmittel und Wasser zu verteilen und gestrandete Anwohner zu bergen. Die Botschaft war klar: Die Regierung ist da, um den Menschen in Not zu helfen, und kann einen besseren Job verrichten, wenn Demokraten am Ruder sind.

Doch jeder kann die Nachrichten lesen, um sich ein Bild von den katastrophalen Bedingungen zu machen, unter denen Hunderttausende von Menschen noch zwei Wochen nach dem Sturm hausen. Von der Wiedereröffnung der Schulen, die als Schutzräume dienen, über die Stromengpässe in ganzen Landstrichen bis hin zur Rationierung von Treibstoff – die Tatsachen zeigen, dass die herrschende Klasse und ihr überbordender bürokratischer Staatsapparat in eine Sackgasse gelandet sind und unfähig sind, sich effizient und sinnvoll den dringenden und langfristigen Bedürfnissen der Bevölkerung zuzuwenden.

Aber wir schließen daraus nicht, wie es die rechten Konservativen tun, die Regierung durch Wohltätigkeiten zu ersetzen und die Menschen zu veranlassen, für die schlechten Tage zu sparen. Dies würde die Massen an die Launen der herrschenden Klasse ketten, indem sie entweder vom Großmut philanthropischer und religiöser Organisationen oder vom Schwanken des kapitalistischen Marktes zwischen Zeiten der Vollbeschäftigung und der Arbeitslosigkeit abhängig gemacht werden. Dies trägt nicht zur Hebung des Bewusstseins der ausgebeuteten Massen aus der Resignation gegenüber dem Ausbeutungssystem bei, dem sie unterworfen sind, da es keinen Unterschied macht, ob wir direkt vom Staat oder vom Markt oder vom einzelnen Kapitalisten, der durchaus auch ein Philanthrop sein kann, unterdrückt und ausgebeutet werden. Was unserer Auffassung nötig ist, ist die revolutionäre und autonome Aktion der Massen mit dem Ziel, die politische Macht zu ergreifen. Dies ist der einzige Weg, um sicherzustellen, dass all wichtigen Entscheidungen im Interesse dessen getroffen werden, was getan werden muss, um die Ressourcen der Gesellschaft für die eigenen Bedürfnisse der Gesellschaft zu schaffen, zu verwalten, auszuliefern und zu verteilen, und nicht für die Bedürfnisse des Profits, des Kapitals, der Regierung oder der Philanthropen.

Es ist die Bevölkerung, die – wahrscheinlich gewitzt aus den Erfahrungen der jüngsten klimatischen Ereignisse, dass die herrschende Klasse und ihre vielfältigen Behörden, wie die FEMA, nicht helfen bzw. nicht genug oder schnell genug helfen – ihre Ressourcen, ihre Zeit, ihr Geld zur Verfügung stellt. Dies zeigt das fundamentale und bedeutende Gespür für die Identität, die unter den Ausgebeuteten existiert, und dass es sie sind, die das Potenzial besitzen, eine neue Welt zu schaffen.


Ana, 10. November 2012

Aktuelles und Laufendes: