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Sozialer Aufstand in der Türkei
Das Jahr 2011 war geprägt von einer riesigen Welle sozialer Aufstände, die sich von Tunesien und Ägypten auf andere Länder des Nahen und Mittleren Ostens - einschließlich Israel - und auf das europäische Festland, insbesondere Griechenland und Spanien, und die USA mit der Occupy-Bewegung ausdehnte. Diese Bewegungen hatten je ihre besonderen Wesenszüge, je nach lokalen Gegebenheiten, und alle von ihnen litten unter starken Illusionen in die 'Demokratie' als vermeintliche Antwort auf alle sozialen Übel. Aber das Wichtigste an diesen Bewegungen war, was sie am tiefsten ausdrückten, nämlich dass sie die Antwort einer neuen Generation von Proletariern auf die Vertiefung der Krise des kapitalistischen Systems darstellten; und trotz aller Illusionen und Schwierigkeiten im Verständnis ihrer eigenen Herkunft und ihres Wesens gehören sie der Arbeiterbewegung auf ihrem hindernisreichen, mühsamen Weg zu einem klareren Bewusstsein ihrer wirklichen Mittel und Ziele.
Die Aufstände in der Türkei und Brasilien 2013 sind der Beweis dafür, dass die Dynamik, die diese Bewegungen erzeugt hat, sich nicht erschöpft hat. Auch wenn die Medien über die Tatsache rätseln, dass diese Aufstände in Ländern ausgebrochen sind, die in den letzten Jahren ein Wachstum erlebten, so haben sie doch ein Ventil für dieselbe 'Empörung' der Massen gegen die Art und Weise, wie dieses System funktioniert, geöffnet: gegen die wachsende soziale Ungleichheit, die Gier und Korruption der herrschenden Klasse, die Brutalität der staatlichen Repression, den Zusammenbruch der Infrastruktur, Umweltkatastrophen und vor allem die Unfähigkeit des Systems, der jungen Generation eine Zukunft anzubieten.
Von besonderer Bedeutung beim Aufstand in der Türkei ist die Nähe zum mörderischen Krieg in Syrien. Dem Krieg in Syrien gingen auch Massendemonstrationen gegen das Regime vor Ort voraus, aber die Schwäche des Proletariats in diesem Land, die Existenz der tiefen ethnischen und religiösen Spaltungen in der Bevölkerung ermöglichten es dem Regime, mit rücksichtsloser Gewalt zu reagieren. Die Risse innerhalb der Bourgeoisie öffneten sich, und die Massenproteste wurden - wie in Libyen 2011 – in einen Bürgerkrieg hineingezogen, der in der Tat zu einem Stellvertreterkrieg der imperialistischen Mächte wurde. Heute ist Syrien zu einem Schauplatz der Barbarei geworden, zu einem abschreckenden Beispiel dafür, welche 'Alternative' der Kapitalismus für die ganze Menschheit auf Lager hat. Die Türkei, Brasilien und andere soziale Aufstände zeigen umgekehrt einen anderen Weg, einen Weg, in Richtung der Ablehnung des Kapitalismus, in Richtung proletarische Revolution und Aufbau einer neuen Gesellschaft, die auf der Solidarität und den menschlichen Bedürfnissen beruht.
Der nachfolgende Artikel wurde von den Genossen unserer Sektion in der Türkei verfasst, einer jungen Sektion, bezogen sowohl auf die Geschichte der IKS, als auch auf das Alter der Mitglieder dieser Sektion. Einerseits als Revolutionäre, andererseits aber auch als Teil der Generation, die die Aufstände anführte, waren diese Genoss_innen aktiv an der Bewegung auf den Straßen beteiligt, und der vorliegende Artikel stellt einen ersten Bericht vom Ort des Geschehens dar, einen ersten Schritt, die Bedeutung der Bewegung zu analysieren.
IKS
Die çapulcu[1]-Bewegung: Demokratie ist kein Mittel gegen Staatsterror
„In Tränen haben wir heute für einen Freund einen Generalstreik gemacht. Wir haben seinen toten, aber lächelnden Körper vom Baum genommen. Wie innig umarmte er den Baum, wie sehr wusste er um seine Aufgabe, neue Zweige spriessen zu lassen.“[2]
Die Bewegung begann mit dem Fällen der Bäume im Gezi-Park in Istanbul und hat inzwischen einen Massencharakter angenommen, der in der Geschichte der Türkei ungesehen ist und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. Eine Analyse von dieser Bewegung scheint uns von entscheidender Bedeutung für den Klassenkampf. Wir halten es für notwendig, eine Klassenperspektive einzunehmen, um die Bewegung politisch einzuschätzen und zu begreifen. Wenn wir über die bisherigen Ereignisse trotz der Empörung, die wir über den Staatsterror und die Tötung von drei Demonstranten fühlen, eine Bilanz ziehen, können wir es uns nicht leisten, die Umsicht und Klarheit zu verlieren. Wenn wir uns zu fest in der Atmosphäre der Bewegung verfangen und übereilte Schlüsse ziehen, können wir bei den Positionen und der Einschätzung im Klassenkampf ernste Fehler machen. Zudem dient eine klare und objektive Beurteilung der Bewegung vor allem den Interessen der Bewegung selbst.
In diesem Zusammenhang ist nicht zu bestreiten, dass wir, während die Bewegung noch im Gange ist, im Wesentlichen eine vorläufige Bilanz ziehen. Darüber hinaus müssen wir anfügen, dass wir in unseren Kreisen die Diskussion über die Bewegung fortführen.
Der Hintergrund der Bewegung
Die regierende AKP-Partei und ihre Regierung haben versucht, die Demonstrationen vom Taksim-Platz fernzuhalten. Als Vorwand wurden die laufenden städtebaulichen Projekte in diesem Stadtteil genannt. Eine weitere intensiv geführte Diskussion war diejenige um die Zerstörung des Arbeiter-Film-Theaters, welches auch in der Nähe des Taksim-Platzes liegt. Die folgenden Angriffe der Polizei auf die Demonstranten, die den Abriss des Film-Theaters verhindern wollten, verursachte weitere Reaktionen von verschiedenen bekannten kulturellen Berühmtheiten. Der Umbau des Gezi-Parks zu einem Einkaufzentrum, die Rekonstruktion der historischen, vor langer Zeit aber abgerissenen Kasernen und das Fällen der Bäume waren ebenfalls Themen in diesem Prozess des Stadtumbaus und der Aufwertung. Im Rahmen dieser Ereignisse organisierten sich diverse Gruppen. Widerständige Nachbarschaften, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und linke Parteien gründeten die Taksim-Solidaritäts-Plattform mit der Parole: „Taksim gehört uns“. Das Verlangen, aus aktuellem Anlass die traditionelle 1.-Mai-Demonstrationen am Taksim-Platz abzuhalten, brachte weitere Diskussionen rund um den Taksim-Platz mit sich.
In diesem Zusammenhang erklärten die offiziellen Stellen des bürgerlichen Staates, dass der Taksim-Platz nicht geeignet sei für eine 1.-Mai-Demonstration und eine solche nicht zugelassen werde. Die angeführte Begründung war folgende: Die Aushubarbeiten an der Baugrube würden die Sicherheit der teilnehmenden Demonstranten gefährden. Die 1.-Mai-Demonstration am Taksim-Platz wurde schlussendlich durch die Staatsgewalt in Form der Bereitschaftspolizei verhindert! Die Frage des ‚Ortes der Demonstration’, auf welche sich die bürgerliche Linke auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrer politischen Sackgasse festsetzte, ist seit 2007 einmal mehr auf der Tagesordnung. Das Beharren auf dem Anliegen, die 1.-Mai-Demonstration auf dem Taksim-Platz abzuhalten, ohne stattdessen einen anderen Ort dafür zu finden, hat einen hoch symbolischen Charakter. Es ist die Erinnerung an die berühmte 1.-Mai-Demonstration, die 1977 an diesem Ort stattfand und wo 34 Menschen niedergeschossen wurden. Zusätzlich haben weitere Aspekte aus der Tagespolitik der AKP Reaktionen provoziert. Es ging um die neuen Bestimmungen über das Abtreibungsrecht und das Verkaufsverbot von Alkohol zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr abends. Genauso zeigen sich die Absicht der aktuellen Regierung und ihre Auffassung von Kultur, Kunst und Geschichte, indem sie auf diesem Gebiet dem gleichen Kurs folgt: Zerstörung der ‚Launigen Statue’ (symbolische Freiheitsstatue als Zeichen für die Türkisch-Armenische Freundschaft), die Öffnung der Hagia Sophia für kommerzielle Anlässe und eine grundsätzliche Politik in diese Richtung, welche die öffentliche Meinungsbildung stark einnimmt. Dies zeigt sich besonders in Istanbul. Die Baupläne als Teil einer groß angelegten städtebaulichen Entwicklungsstrategie, die dazugehörigen Abbrüche von Stadtteilen und die Verkündung, die neue dritte Bosporusbrücke nach dem Sultan Selim zu benennen, verursachte viel Empörung (Sultan Selim war ein Ottomane und bekannt für seine Massaker an den Alewiten).
Dazu kam die sich stark ausbreitende Anti-Kriegs-Stimmung gegen die Syrien-Politik Erdogans und seiner Regierung. Im Speziellen nach den Bombenanschlägen in Reyhanli und der anschließenden fadenscheiningen Schuldzuschiebung der AKP-Regierung an die syrische Regierung. Schlussendlich war es auch die ‚Unverhältnismäßigkeit’, die in der Türkei allgemein Empörung auslöste – die ungebremste Staats- und Polizeigewalt schlug Wellen der Entrüstung. Und es war die Betroffenheit der Jugend der 90er Jahre. Einer Generation, die bis zu den Demonstrationen apolitisch und nicht gewillt war, in irgendwelche Probleme involviert zu werden. Plötzlich begann diese Generation zu spüren, dass sie keine Perspektive als Teil dieser Gesellschaft hat und in der Türkei mitunter am stärksten von den Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise betroffen ist.
Wie die Bewegung entstanden ist
Am 28. Mai begann eine Gruppe von vielleicht 50 Umweltschützer_innen gegen Bagger zu demonstrieren, die beim Gezi-Park auffuhren, um Bäume zu fällen. Die Antwort der Polizei auf die Demonstrierenden war von Anfang Gewalt. Insbesondere nachdem die Polizei am Morgen des 30. Mai die Zelte der Protestierenden niedergebrannt hatte, setzte die Entwicklung einer ernsthaften Reaktion ein. Am 31. Mai nahmen die Demonstrationen, die über die sozialen Medien gegen die Polizeigewalt organisiert worden waren, eine allgemein gegen die Regierung gerichtete Haltung ein, die weit über die Frage der Bäume hinausging. Sie breiteten sich auf praktisch alle größeren Städte des Landes aus, und ständig mehr Massen beteiligten sich an ihnen. In manchen Städten führten die Proteste zu breiten Zusammenstößen mit der Staatsgewalt, so dass die Parole „Überall ist Taksim – Widerstand überall“ erstmals eine wirkliche Bedeutung erhielt. Als Recep Tayyip Erdogan am 1. Juni sagte: „Während die Opposition hunderttausend Leute mobilisieren kann, bringen wir eine Million zusammen“, strömten zwei Millionen Menschen zum Taskim-Platz und drängten die Polizei zurück. Abgesehen vom Staatsterror führten auch die arrogante Haltung von Ministerpräsident Erdogan und die Zensur der bürgerlichen Medien zu einer ernsthaften Empörung der Massen. In den folgenden Tagen fanden in 78 von 81 Provinzen der Türkei Demonstrationen statt, und Solidaritätsdemonstrationen sollten an allen Ecken der Welt organisiert werden. Dazu kam, dass die Bewegung, die in Brasilien gegen die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr entstand und ebenfalls gegen die dortige Regierung protestierte, sich von den Demonstrant_innen in der Türkei anregen ließ mit der Parole: „Die Liebe ist vorbei, die Türkei ist angekommen“. Die Bewegung in der Türkei sollte nicht auf Plätze und Demonstrationen beschränkt bleiben, mit Demonstrationen von Tausenden und Zehntausenden und mit weiteren Leuten, die sie von zu Hause aus mit Lärm von Pfannen und Deckeln unterstützten. Die Bewegung, die in Istanbul begonnen hatte, war verstand sich auch als Reaktion auf das Massaker nach den Bombenanschlägen in Reyhanli/Antakya. In Izmir fanden die Demonstrationen unter der Vorherrschaft einer nationalistischen Tendenz statt. In Ankara, dem Zentrum von Bürokratie und Verwaltung des bürgerlichen Staats, kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den unterdrückten Massen und einem intensiven Staatsterror. Der Ausdruck „çapuller“, der von Erdogan benützt wurde, um die Demonstrant_innen zu beschreiben, wurde von diesen selber übernommen. Zweifellos war eine der farbigsten Szenen der Zusammenstöße im Land diejenige, bei der demonstrierende Fußballfans einen Bulldozer kaperten und damit stundenlang die Interventions-Fahrzeuge der Polizei jagten, die zuvor die Massen terrorisiert hatten.
Ein anderer wichtiger Faktor für die Entwicklung der Richtung und der Parolen der Bewegung war die Tatsache, dass die Polizei und der Staatsterror für drei Menschenleben verantwortlich sind. Am 1. Juni schoss die Polizei in Ankara dem Industriearbeiter Ethem Sarisuluk mit scharfer Munition in den Kopf. Ethem starb kurze Zeit später im Spital an den Folgen der Verletzung. Am 3. Juni wurde in der Umgebung des Versammlungsplatzes des 1. Mai in Istanbul ein junger Arbeiter mit dem Namen Mehmet Ayvalıtaş von einem Fahrzeug getötet, das absichtlich in die Demonstrierenden fuhr. Und immer noch in der Nacht vom 3. Juni wurde ein Student, Abdullah Cömert, von der Polizei mit scharfer Munition ermordet. Diese drei Demonstranten, die der Staat massakrierte, wurden von der Bewegung als ganzer als Ihresgleichen betrachtet und als Märtyrer des Kampfes behandelt. Dies bewiesen die Zehntausenden von Demonstrant_innen, die nach der Beerdigung Ethems in Ankara vor dem Haus seiner Mutter riefen: „Mutter, weine nicht, deine Kinder sind hier“. Und sie riefen an Mehmets Trauerumzug in Istanbul: „Der mörderische Staat wird dafür bezahlen“. Und sie legten in Antakya am Ort, wo Abdullah ermordet wurde, Blumen nieder und riefen: „Wir werden nicht vergessen, wir werden niemanden vergessen“. Abgesehen von Ethem, Mehmet und Abdullah, die getötet wurden, verloren über zehn Demonstrant_innen ihre Augen als Folge davon, dass die Polizei mit ihren Pfeffergas-Petarden und Gummigeschoßen auf Gesichtshöhe zielte. Zehntausende von Menschen wurden verletzt, Dutzenden sind immer noch in einem kritischen Zustand. Tausende wurden festgenommen.
Der Streik des 5. Juni
Nachdem die Massen am 1. Juni den Taksim-Platz der Polizei wieder weggenommen hatten, stellte sich in der Bewegung die Frage, welchen Kurs sie einschlagen sollte. Die wichtige Frage wurde auch in den sozialen Medien gestellt: „Werden wir nach all diesen Ereignissen morgen einfach wieder zur Arbeit gehen?“ Abgesehen von denen, die diese Frage stellten, sah ein großer Teil der Bewegung die Notwendigkeit einer stärkeren Kraft als die, die sich in den Demonstrationen gegen den Staatsterror ausdrückte, der immer noch in Städten wie Ankara, Izmir, Adana, Mugla, Mersin, Eskisehir, Dersim und in Teilen von Istanbul praktiziert wurde, auch wenn die Polizeipräsenz um den Taksim-Platz abgenommen hatte. Diese beiden Faktoren trafen sich im spontanen Aufruf zum Generalstreik, welcher am 2. Juni auftauchte und sich sehr schnell über die sozialen Medien verbreitete. Als erste reagierten auf diesen Aufruf die Arbeiter_innen der Universitäten von Istanbul und Ankara, die erklärten, dass sie am 3. Juni in den Streik treten würden. In Ankara, wo sich die Auseinandersetzungen mit der Polizei fortsetzten, erklärten Ärzt_innen und Pflegepersonal, dass sie nur noch Notfälle und Demonstrant_innen behandeln würden. Am gleichen Tag fielen die Kurse an der Börse von Istanbul um 10,47%, der größte Kurssturz an der Börse seit zehn Jahren. Die Taksim-Plattform stellte Forderungen auf, diese waren demokratischer Natur, z.B. die Forderung, der Gezi-Park solle als solcher erhalten bleiben oder dass Tränengas und andere Waffen verboten, dass die Verhafteten wieder freigelassen und dass die Hindernisse für die freie Meinungsäußerung aufgehoben werden sollen.
Aufgrund des wachsenden Druckes der Mitglieder verschob die linke Gewerkschaft KESK den auf den 5. Juni geplanten Streik auf den 4. Juni. Am 4. Juni erklärten der DISK, der TMMOB und der TTB, dass auch sie den Streik am 5. Juni unterstützen würden. Der Streik am 5. Juni fand mit einer massiven Teilnahme der Arbeiter_innen des öffentlichen Dienstes statt. Allein in Istanbul versammelten sich 150.000 Arbeiter_innen am Taksim-Platz und 200.000 traten in den Streik. Es wird angenommen, dass landesweit zwischen 400 und 500.000 Arbeiter_innen an den Streiks teilnahmen. Andererseits muss gesagt werden, dass die Streiks unter der Kontrolle der Gewerkschaften stattfanden, welche die Forderungen der Taksim-Plattform verwässerten und mit ihren Forderungen wie „Nein zum Leistungsgesetz“ oder „Das Recht zum Streik trotz Kollektivvertrag“ in den Vordergrund drängten. An diesem Punkt ist es wohl angebracht, die Einzelheiten eines Ereignisses am 5. Juni in Ankara zu schildern, welches den wahren Charakter die KESK zeigt.
Während der Demonstration auf dem Kizilay-Platz traf die KESK mit der Polizei ein Abkommen. Die KESK hatte sich mit der Polizei darauf geeinigt, dass sie bis 6 Uhr früh demonstrieren dürfe. Aber als die KESK bereits am Vorabend um 18.00 Uhr befürchtete, dass die Ereignisse auf Druck der Arbeiter_innen aus dem Ruder laufen könnte, verließ sie die Demonstration, ohne jemanden darüber zu informieren. Das Resultat war ein massiver Polizeieinsatz, nachdem die KESK das Feld geräumt hatte. Die KESK überließ die Demonstranten der Polizeigewalt.
Die Stellung der Regierung
Als die Bewegung ein ernsthaftes Niveau erreichte, reiste Ministerpräsident Erdogan zu einem Besuch nach Nordafrika mit dem Befehl: „Beendet diese Sache, bis ich wieder zurück bin!“ Als Erdogan im Ausland war, sagte der Staatspräsident Abdullah Gül: „Wir haben die Nachricht verstanden.“ Der Vize-Premier Bülent Arinc sagte, dass die Umweltschützer recht haben und war bereit, die Taksim-Plattform zu treffen, um Signale auszusenden, die aus einer anderen Ecke kamen als die arrogante Stellung Erdogans. Gewalttätige Angriffe der Polizei fanden in verschiedenen Städten statt, vor allem in Ankara, als die Solidaritätsplattform des Taskim-Platzes sich mit Arinc traf, und Sirri Süreyya Onder, ein Parlamentarier der BDP und ein „symbolischer“ Vertreter der Bewegung, Gül in der Hauptstadt traf. Ein großer Teil der Bewegung hatte kein Vertrauen in die Exponenten des Treffens, sie bezweifelten die Ehrlichkeit der Teilnehmer, wie Gül oder Arinc, und hatten den Eindruck, dass die Regierung die Taktik „guter Polizist / böser Polizist“ anwendete.
Die Verhandlungen schwächten die Dynamik der Bewegung, und Erdogan setzte seine harten Kommentare aus Nordafrika fort und kritisierte unterschwellig auch den Staatspräsidenten Gül. Nach der Rückkehr von Erdogan in die Türkei wurde die Haltung der Regierung unnachgiebiger. Im Sinne der Kommentare von Erdogan, wonach die AKP „50% der Leute zurück halte“ organisierten seine Unterstützer Demonstrationen, die als spontan erscheinen sollten. Die Tatsache, dass die Demonstrationen mit einer Teilnahme von lediglich ein paar tausend Leuten stattfanden und dazu sehr schlecht organisiert waren, zeigte, dass die andere Hälfte keine Probleme hatte, zu Hause zu bleiben. Bei diesen „Willkommensdemonstrationen“ kündigte Erdogan zwei große Demonstrationen an, am 15. und am 16. Juni, die in Ankara und Istanbul stattfinden sollten. Trotz der großen Ankündigung nahmen in Ankara nur 40.000 Personen teil und in Kazlicesme/Istanbul weniger als 295.000.
An diesem Punkt stellte sich die Frage, ob es einen Bruch in der Regierung gibt. Man kann nicht wirklich von einem Bruch in der AKP reden, weil die AKP eine Koalition von verschiedenen Interessen und Gruppierungen, Sekten und Kulten ist. Aber man kann sagen, dass die Bewegung die Voraussetzungen für einen Bruch innerhalb der AKP begünstigte. Erdogan gab der Polizei wiederholt Befehle, gegen die Bewegung vorzugehen, damit sie selber absterbe, absorbiert werde oder wenigstens davon abgehalten werde, sich zu radikalisieren. Es bestand das Risiko, dass die Olympischen Spiele 2020 nicht Istanbul zugewiesen werden könnten. Die Olympischen Spiele sind eine Priorität der AKP, und sie will nicht zum Spott in aller Welt werden, beispielsweise des syrischen Staates, der vor Reisen in die Türkei wegen der Sicherheitsrisiken abrät. Diese Haltung erscheint als irrational und kann nicht mit Erdogans Charakter allein erklärt werden. Erdogan hat es mit seinem autoritären Verhalten geschafft, die AKP zusammenzuhalten, indem er nicht zurückwich oder höchstens mit aggressivem Gegenangriffen, so dass der Eindruck entstand, er sei unbezwingbar. Wenn er die Worte, die er der Bewegung ins Gesicht geschleudert hatte, zurückgezogen hätte, so hätte er die Aura des Unbezwingbaren verloren. Das würde in der AKP früher oder später zu seiner Absetzung führen. Das ist der Grund, weshalb Erdogan nicht zurückweicht: nicht etwa deshalb, weil er glaubt, die Bewegung, auf die er Druck ausübt, zu besiegen, sondern weil er weiß, dass er selber verlieren wird, wenn er zurückweicht.
Verhandlungen, Angriffe und die Arbeitsniederlegung am 17. Juni
Während der Woche vor den Demonstrationen des 16. und 17. Juni erklärte Erdogan, dass er zu einer Delegation der Bewegung sprechen wolle, während er gleichzeitig harsche Mitteilungen machte. Zur gleichen Zeit wurden die Angriffe auf den Taksim-Platz wieder aufgenommen. In Istanbul vor allem, indem man die Samen des Zweifels säte, besonders indem man behauptete, dass es „Provokateure von außerhalb“ der Bewegung gebe. Die ersten, die Erdogan trafen, waren Necati Sasmaz und Hülya Avsar, die nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Sie hatten keine Verbindung zu den Ereignissen und sind für ihre regierungsfreundliche Haltung bekannt. Dies führte zu einer heftigen Reaktion und übte Druck auf Erdogan aus, der sich danach mit Vertretern der Taksim-Solidaritätsplattfrom traf.
Auch wenn es ein hartes Treffen war, arbeiteten die Taksim-Solidaritätsplattform und die Mehrheit ihrer Mitglieder dahingehend, dass die Demonstranten nach Hause zurück kehren sollten. Der Protest im Gezi-Park wurde mit einem einzigen Zelt symbolisch weitergeführt. Dieses Verhalten wurde von den Massen abgelehnt, auch wenn Erdogan am 15. Juni ankündigte, dass die Polizei den Gezi-Park angreifen und räumen werde, wenn die Demonstrant_innen ihn nicht vorher verließen. Erdogan benutzte die eigene Demonstration als Vorwand. In der gleichen Nacht wurde der Park angegriffen und die Polizei übte, diesmal mit Hilfe der Militärpolizei, einen schrecklichen Terror aus.
Ganz besonders in Anbetracht der Perspektive eines Angriffs auf den Gezi-Park wurden Stimmen für einen weiteren Generalstreik laut, als Reaktion sowohl auf die ungenügenden Resultate des Streiks vom 5. Juni als auch gegen die Gewerkschaften. Vermutlich veranlasste dies die KESK zur Planung eines weiteren Generalstreiks für den Fall, dass der Gezi-Park angegriffen würde. Als der Park am 15. Juni geräumt wurde, wuchs die Empörung an und die KESK, DISK, TMMOB, TTB und TDHB kündigten für den 17. Juni eine Arbeitsniederlegung an. Die BDP, welche in der Zwischenzeit in Friedensgespräche mit der AKP-Regierung getreten war und ihr musterhaft diente, indem sie ihre KESK-Mitglieder dazu aufrief, den Streik zu brechen. Die Teilnahme an den Streiks des 17. Juni war wesentlich schwächer, wenn man sie mit den Zahlen des 5. Juni vergleicht. Ein weiteres wichtiges Detail ist wohl, dass auch hier die Polizei die Demonstration erst angriff, als die Gewerkschaftsvertreter die Demonstration verlassen hatten.
Der Protest, an dem Millionen von Leuten im ganzen Land teilnahmen, geht weiter trotz Polizeigewalt und Staatsterror.
Der Klassencharakter der Bewegung
Wenn wir die Taksim-Gezi-Park-Bewegung analysieren, ist zweifellos die erste Frage, die es zu stellen gilt, folgende: Wie kann diese Bewegung definiert werden, und was ist ihr Klassencharakter?
Auf den ersten Blick erscheint sie als eine heterogene gesellschaftliche Bewegung, an der verschiedene Klassen beteiligt sind. In der Bewegung finden sich Leute aus verschiedensten Bevölkerungsschichten, die unzufrieden sind mit der Politik der Regierung: von Kleinbürgern wie Ladenbesitzern bis zu Lumpenproletariern wie Quartierganoven, von Leuten aus nichtausbeutenden Schichten, die selber nicht direkt ausgebeutet werden, wie Künstler und Strassenverkäufer, bis zu Angestellten mit hohen Einkommen. Es gibt auch bürgerliche Elemente unter den Unterstützern der Bewegung wie Cem Boyner, der mit einem Transparent auftrat, auf dem geschrieben stand: „Ich bin kein Rechter und kein Linker, ich bin vom Pöbel“, und Ali Koc, der Besitzer des Divan-Hotels am Taksim-Platz, der den Demonstranten Unterschlupf gewährte. Auch wenn er es später abstritt, hatte er gesagt: „Wenn die Türen des Hotels geschlossen werden, wenn die Polizei ins Hotel kommt und meine Hilfe unterbindet, dann werde ich alle, die hier arbeiten, entlassen.“
Wir können den wirklichen Charakter dieser Bewegung nur verstehen, wenn wir sie im internationalen Kontext sehen. In diesem Lichte betrachtet wird klar, dass die Bewegung in der Türkei nicht nur mit den Aufständen im Nordafrika 2011 – von denen die bedeutendsten (Tunesien, Ägypten und Israel) einen starken Rückhalt in der Arbeiterklasse hatten – in einer direkten Kontinuität stehen, sondern auch mit der Bewegung der Empörten in Spanien und Occupy in den USA, wo nicht nur die Mehrheit der Gesamtbevölkerung Proletarier sind, sondern auch die Mehrheit der Beteiligten an den Bewegungen. Dasselbe beim Aufstand in Brasilien, wo wie in der Türkei die grosse Mehrheit der Beteiligten aus der Arbeiterklasse, vor allem aus den jungen proletarischen Schichten kommen[3]. Frauen nehmen einen zahlenmässig bedeutenden Platz in der Bewegung ein, und dies hat auch eine grosse symbolische Bedeutung. In den Demonstrationen und auch in lokalen Aktionen waren die Frauen an vorderster Stelle. Am zahlreichsten ist die so genannte 90er Generation vertreten. Dieser Generation, welche die Zeit vor der AKP Regierung nicht kannte, wurde immer nachgesagt, sie sei apolitisch. Gerade sie, von denen immer wieder behauptet wurde, sie wollten sich nicht engagieren und sie würden nur auf ihre eigenen Interessen schauen, haben begriffen, dass es für sie alleine keine Perspektive gibt. Sie haben genug davon, dass der Staat ihnen dreinzureden versucht, wer sie zu sein haben und wie sie leben sollen. Student_innen, vor allem von Hochschulen, beteiligten sich massiv an den Demonstrationen. Junge Arbeiter_innen und Arbeitslose stellten auch einen grossen Teil der Bewegung. Auch Arbeiter_innen und Arbeitslose mit guten Ausbildungen beteiligten sich. In Sektoren, in denen vor allem junge Leute in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, die es unter normalen Umständen schwer haben, sich zu wehren – speziell im Dienstleistungsbereich –, organisierten sich die Angestellten vom Arbeitsplatz aus, aber so, dass die Besonderheit des einzelnen Arbeitsplatzes überwunden wurde, und nahmen zusammen an den Protesten teil. Beispiele sind die Kuriere der Kebab-Läden, Barkeeper, Leute aus Call-Zentren und aus Büros. Andererseits war gerade die Tatsache, dass die Organisierung am Arbeitsplatz die Tendenz der Arbeiter_innen, sich individuell an den Protesten zu beteiligen, nicht überwiegen konnte, eine der ausschlaggebenden Schwächen der Bewegung. Gerade das war aber auch typisch für die Bewegungen in anderen Ländern, wo das Schwergewicht der Revolten sich auf der Strasse befand, was ein praktischer Ausdruck der Notwendigkeit der Überwindung der sozialen Vereinzelung war, welche durch die existierenden Bedingungen der kapitalistischen Produktion und Krise – und vor allem die Arbeitslosigkeit und die prekären Arbeitsbedingungen – verursacht wird. Dieselben Bedingungen, gepaart mit den enormen ideologischen Kampagnen der herrschenden Klasse, machen es der Arbeiterklasse schwer, sich als Klasse zu verstehen, und sie führen zur Sichtweise, dass die Protestierenden eine Masse von individuellen Bürgern und Mitgliedern der Nation sind, und nicht einer Klasse angehören. Dies ist der widersprüchliche Weg zur Formierung des Proletariats als bewusste Klasse, und zweifellos sind diese Bewegungen ein Schritt in diese Richtung.
Einer der Hauptgründe dass sich so viele Arbeiter und Arbeiterinnen, welche mit ihren Lebensbedingungen unzufrieden sind, Proteste von solchem Ausmass organisierten, war die Empörung und das Gefühl von Solidarität gegen die Polizeigewalt und den staatlichen Terror. Es waren aber auch verschiedenste bürgerliche Tendenzen sichtbar aktiv, die versuchten die Bewegung von innen her zu beeinflussen, um alles in die geregelte Bahnen der bestehenden Ordnung zu lenken, eine Radikalisierung zu verhindern und die proletarischen Massen, die gegen den staatlichen Terror auf die Strasse gegangen waren, davon abzuhalten, Klassenforderungen zu entwickeln, die sich um ihre Lebensbedingungen drehen. Man kann nicht von einer Forderung sprechen, hinter der die Bewegung stand, doch was die Bewegung dominierte, waren demokratische Forderungen. „Mehr Demokratie“ zu fordern, auf der Basis der Abneigung gegen die AKP und vor allem Tayyp Erdogan, ist schlussendlich nichts anderes als die Reorganisierung des türkischen Kapitalismus in einem demokratischeren Gewand. Die Auswirkungen der demokratischen Forderungen auf die Bewegung stellten ihre größten ideologischen Schwächen dar. Denn Premierminister Erdogan selbst baute seine ganzen ideologischen Angriffe gegen die Bewegung um die Achse der Demokratie und der Wahlen; die Regierungsgewalt, wenn auch mit einem Haufen Lügen und Manipulationen, wiederholte oft das Argument, dass sogar in Ländern, die als die demokratischsten angesehen werden, die Polizei mit Gewalt gegen illegale Demonstrationen vorgehe – womit sie recht hat. Darüber hinaus band der Versuch, demokratische Rechte zu erringen, die Hände der Massen, wenn sie den Angriffen der Polizei und des Staatsterrors gegenüberstanden, er befriedete den Widerstand.
Die organisierten Tendenzen innerhalb der Bewegung
Wie beschrieben, waren von Beginn weg verschiedenste Tendenzen innerhalb des Gezi-Kampfes aktiv. Es lohnt sich, die Ansichten, den Einfluss und die Wirkung der verschiedenen organsierten Kräfte innerhalb der Bewegung anzuschauen, die sich zum Teil überschneiden. Ebenso wollen wir die Tendenzen innerhalb der unorganisierten Massen betrachten.
Als Erstes gilt es, die demokratische Tendenz anzuschauen, welcher es gelang, die Bewegung vor allem mit ihren Parolen zu dominieren. Diese Tendenz, verkörpert durch die Taksim-Solidaritätsplattform und den BDP-Politiker Sirri Sureyya Onder, vereinigt Gewerkschaftsverbände, Linke, sozialdemokratische und nationalistische politische Parteien, linksradikale Zeitschriften, Nicht-Regierungs-Organisationen, Berufsgewerkschaften, Nachbarschaftsvereine, Umweltschützer und ähnliche Vereine und Organisationen. Momentan findet man innerhalb der Taksim-Solidaritätsplattform neben Organisationen wie der KESK, DISK und der Gewerkschaftlichen Einheitsplattform, Parteien wie die CHP, BDP, die Arbeiterpartei und fast alle linken Parteien und Zeitschriften. Die aktivsten Teile dieser demokratischen Tendenz, welche die Kontrolle über die Taksim-Solidaritätsplattform auszuüben scheint, sind zweifellos linke Gewerkschaftsverbände wie die KESK und DISK. Diese Einheit unter den Spitzen bürgerlicher Parteien und Zusammenschlüsse hat aber bedeutende Risse an ihrer Basis. Die Basis der demokratischen Tendenz besteht nicht aus den Organisationen, die präsent sind, sondern aus dem „Pro-Zivilgesellschafts-“ und „Pro-Passiven-Widerstands-“Milieu und liberalen Teilen der Bewegung. Die Taksim-Solidaritätsplattform, also die demokratische Tendenz, nimmt durch die Tatsache, dass sie von Vertretern aller Art von Vereinigungen und Organisationen gegründet wurde, ihre Stärke nicht aus der direkten organischen Verbindung mit den Demonstrierenden, sondern aus der bürgerlichen Legitimation und ihren mobilisierten Ressourcen. Die demokratische Tendenz hat eine Schwäche, nämlich die, von den Massen getrennt zu sein wegen der fehlenden organischen Verbindung mit den Demonstranten und selbst mit ihrer eigenen Basis, die auf die Strasse geht. Dennoch, die Tatsache, dass es in den Massen eine bedeutende spontane Dynamik gibt, die sich in der Parole „Tayyip Rücktritt!“ ausdrückt, stärkt den Einfluss der demokratischen Tendenz, auch wenn die Taksim-Solidaritätsplattform selber nie eine solche Forderung aufgestellt hat.
Als Zweites wollen wir die nationalistische Tendenz betrachten, die sich vom Ausbruch der Bewegung sehr begeistert gab, deren Erwartungen aber nicht erfüllt wurden und eine zweitrangige Tendenz blieb. Innerhalb dieser Tendenz sollte die CHP von der Arbeiterpartei und TGP getrennt betrachtet werden. Die Bestrebungen der CHP, die Bewegung bei ihren Ausbruch anzuführen, blieben fruchtlos, und später wurde der Aufruf von Kilicdaroglu an die Demonstranten, sich zurückzuziehen, nicht einmal von der Basis der CHP befolgt. Es gab Demonstrant_innen, welche ihren Ärger über CHP-Parlamentarier in Istanbul äußerten. Die radikalen Nationalisten wie die Arbeiterpartei und die TGB, welche die Bewegung in „republikanische“ Demonstrationen umwandeln wollten, waren trotz vereinzeltem lokalem Einfluss nicht wirklich bedeutend. Ein Bemühen der Nationalisten war es, die Polizei von der AKP-Regierung zu trennen mit Parolen wie: „Es gibt auf beiden Seiten Junge im selben Alter“, um so die Polizei mit Sympathie zu beeinflussen. Doch die Brutalität der Polizei hatte dazu geführt, dass bei der großen Mehrheit der Leute solche Slogans kaum Anklang fangen. Die bekannteste Parole der Nationalisten war: „Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal“ und sie versuchten, kemalistische Lieder in die Demonstrationen einzuschmuggeln. Nationalisten, die versuchten, gegen die kurdischen Demonstrant_innen aufzutreten oder diese Haltung in die Demonstrationen zu einfließen zu lassen, wurden von den Massen abgelehnt, vor allem wegen des geringen Einflusses der kemalistischen Ideologie innerhalb der jungen politisierten Generation.
Aber auch die bürgerliche Linke ist eine Tendenz, die es genauer zu betrachten gilt. Die Basis der linken Parteien, die wir auch als die legale bürgerliche Linke bezeichnen können, war im Wesentlichen von den Massen abgekoppelt. Sie liefen der demokratischen Tendenz hinterher. Die BDP, die sich als Unterstützer der demokratischen Tendenz ausgab, versuchte aber auch, die Beteiligung der Kurd_innen in der Bewegung zu verhindern, jedoch ohne bedeutenden Erfolg in den großen Städten. Sie leistete der Regierung, mit der sie in einem Friedensprozess ist, versteckte Unterstützung. Stalinistische und trotzkistische Zeitschriften, also die radikale bürgerliche Linke, waren von den Massen auch weitgehend getrennt. Sie hatten vor allem in den Quartieren Einfluss, wo sie traditionell stark sind. Indem sie der demokratischen Tendenz widersprachen, als diese die Bewegung zerstreuen wollte, unterstützen sie die Bewegung im Allgemeinen. Die Analyse der bürgerlichen Linken beschränkte sich im Wesentlichen auf die Aussage, wie glücklich sie doch über den „Volksaufstand“ seien, und sie versuchten, sich als die Führer der Bewegung darzustellen. Auch der Aufruf zum Generalstreik, eine traditionelle Karte in der Politik der Linken, wurde angesichts der blinden Freude der Linken über die Bewegung selber kaum eingesetzt. Der verbreiteteste Slogan der Linken in den Massen war: „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“.
Die einflussreichste Tendenz und bei der Basis mit den meisten Sympathien empfangene war die der Fußballfans. Da die Akteure der Fußball-Ultras nicht getrennt von der demokratischen Tendenz auftraten, war ihr Einfluss auf ihre eigene Basis beschränkt. Fußballfans, die nicht minder eine kollektive Erfahrung wie die Linken haben bezüglich gemeinsamen Handelns, der Beteiligung an Demonstrationen oder Zusammenstößen mit der Polizei, bildeten die einzige mehr oder wenig organisierte Tendenz, die nicht von den Massen abgeschnitten war, und sie handelten inmitten der Masse von Protestierenden. Sie taten sich bei den Zusammenstößen am meisten hervor. Es ist bezeichnend, dass die Fußballfans, die bislang unpolitisch waren, sich stark mit den Protesten verbunden fühlten. Die Türkei ist ein Land, in dem der Slogan „Ich bin kein Linker und kein Rechter, sondern ein Fußballfan“ sehr beliebt ist. Ihre erinnerungswürdige Parole war: „Versprüht es, versprüht es, euer Tränengas! Zieht eure Helme ab, legt eure Schlagstöcke beiseite, lasst uns sehen, wer sich besser schlägt!“
Die proletarische Tendenz und das Verhältnis der Bewegung zur Arbeiterklasse
Neben den bereits erwähnten Tendenzen kann man auch von einer proletarischen Tendenz oder von proletarischen Tendenzen innerhalb der Bewegung sprechen. Wir sprechen von einer Tendenz oder von Tendenzen, weil die proletarische Tendenz im Vergleich zu den oben erwähnten Tendenzen unorganisiert und zerstreut war. Die proletarische Tendenz stellte Parolen wie: „Wir sind keine Soldaten von niemandem“ oder: „Wir sind Mustafa Kesers Soldaten“ und: „Wir sind Turgut Uyars Soldaten“ gegen die Parole der nationalistischen Tendenz: „Wir sind Mustafa Kemals Soldaten“. Auch Parolen aus den Tagen der Tekel-Kämpfe wie: „Wir leisten Widerstand mit der Sturheit der Kurden, dem Enthusiasmus der Laz, und der Geduld der Türken“ tauchten wieder auf. Die Bäume im Gezi-Park wurden nach den kurdischen Opfern des Roboski-Massakers und den türkischen und arabischen Opfern des Bombardements von Reyhanli benannt. Viele befürworteten eine Haltung der Konfrontation gegen dem staatlichen Terror, gegenüber der Linie des passiven Widerstandes der demokratischen Tendenz. Gegen die Haltung, mit Sympathie auf die Polizei zuzugehen, gab es Parolen wie: „Polizist, werde ehrlich, geh Brötchen verkaufen“. Es wurde auch die Legitimität der Forderungen der Taksim-Solidaritätsplattform in Frage gestellt. Man versuchte, den Hang zum Vandalismus, der bei den Protestierenden verbreitet war, einzudämmen, dies nicht, indem man sie als Akte von Provokateuren darstellte, wie es die demokratische Tendenz tat, sondern indem man daran erinnerte, dass man die armen Leute nicht ihrer Habe berauben dürfe, und versuchte zu überzeugen. Im Allgemeinen vertrat eine große Mehrheit der Demonstranten die Idee, dass die Bewegung sich selber organisieren müsse. um ihre eigene Zukunft zu bestimmen.
Der Teil der Protestierenden, der die Bewegung mit der Arbeiterklasse zusammenführen wollte, setzte sich aus Leuten zusammen, die sich der Wichtigkeit und Stärke der Arbeiterklasse bewusst waren und die gegen den Nationalismus waren, auch wenn ihnen einen klare politische Vision fehlte. Sie waren es, die die Forderung des Generalstreiks aufstellten. Auch wenn dies ein grundsätzliches Erkennen der Wichtigkeit einer Beteiligung des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse darstellte, waren auch demokratische Illusionen vorhanden. Die Erfahrung des 5. Juni sollte zeigen, dass es keine fruchtbare Strategie ist, auf die Gewerkschaften Druck auszuüben, damit sie einen Generalstreik ausrufen. Andererseits war es eine der größten Errungenschaften der Bewegung, dass dieser Teil der Protestierenden Lehren aus ihren Erfahrungen ziehen konnte. In den Aufrufen nach dem 5. Juni war die Position, dass kurze Streiks von einem oder zwei Tagen nicht genügen, oft zu hören und der Ruf nach einem unbefristeten Generalstreik weitete sich aus. Darüber hinaus gab es einen nicht zu vernachlässigenden Teil von Leuten, die sagten, die Gewerkschaften wie die KESK und DISK, die als „radikal“ gelten, seien nicht viel anders als die Regierung. Auch gegen die Verharr-Aktionen, die von den Medien und der demokratischen Tendenz ins Rampenlicht gesetzt wurden, um die Bewegung auf eine individualistische und passive Haltung zu reduzieren, tauchte die Meinung auf, dass solche Aktionen nur dann Kraft hätten, wenn sie auch an den Arbeitsplätzen stattfinden.
Ein Teil des Proletariats, das in einem Lohnarbeitsverhältnis steht, beteiligte sich auch an der Bewegung und bildete den Hauptteil der proletarischen Tendenz innerhalb der Bewegung. Der Streik bei THY in Istanbul versuchte sich mit dem Kampf im Gezi-Park zu vereinigen. Arbeiter aus dem für seine harten Arbeitsbedingungen bekannten Textilbereich demonstrierten in Bagcilar-Günesli in Istanbul mit den Parolen „Grüße von Bagcilar an Gezi!“ und „Samstage sollen Freitage sein!“ und sie versuchten so, ihre Klassenforderungen und ihre Solidarität mit dem Kampf im Gezi-Park auszudrücken. In Alibeyköy/Istanbul gingen Tausende Arbeiter_innen auf die Straße, mit Transparenten, auf denen stand: „Generalstreik, allgemeiner Widerstand“. Die Büroangestellten, die auf den Taksim-Platz zusammenkamen, trugen Transparente mit der Aufschrift: „Nicht an die Arbeit - in den Kampf“. Zusätzlich erzeugte die Bewegung einen Kampfwillen bei Arbeiter_innen, die in den Gewerkschaften sind. Zweifellos, KESK, DISK und die anderen Organisationen, die zum Streik aufriefen, mussten dies nicht wegen der sozialen Medien, sondern wegen des Drucks ihrer eigenen Mitglieder tun. Die Plattform der verschiedenen Bereiche von Türk-Is, die sich aus allen Gewerkschaftssektionen von Türk-Is in Istanbul zusammensetzte, rief Türk-Is und die anderen Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen den staatlichen Terror auf dem Gezi-Park auf. Doch es wäre ein Irrtum zu glauben, dass diese Aufrufe ohne den Druck der massiven Empörung der Arbeiter gegen den Staatsterror zustande gekommen wären.
Trotz alledem ist schwierig zu sagen, die Bewegung habe zu weiten Teilen ihre eigenen Klasseninteressen erkannt oder wäre in Richtung Zusammenschluss mit dem generellen Kampf der Arbeiterklasse gegangen. Die Tatsache, dass die proletarische Tendenz innerhalb der Bewegung sich nicht genügend ausdrücken konnte, war vor allem Ausdruck der Fokussierung auf die Frage der Demokratie als Alternative zur gegenwärtigen Politik des Staates. Sobald diese Haltung die Bewegung dominierte, erlitt die Tendenz der proletarischen Elemente einen Rückschlag, und die Möglichkeiten ihrer Reifung wurden blockiert. Die demokratische Tendenz konnte die Bewegung in ihren demokratischen Rahmen einsperren. Auch wenn übrigens die Mehrheit der Bewegung aus Arbeiter_innen bestand, repräsentierten sie nur einen Teil ihrer Klasse, und nicht ihre Gesamtheit. Was diese Leute auf die Straße trieb, war der staatliche Terror, und derselbe Terror verursacht eine große Betroffenheit bei anderen Teilen der Arbeiterklasse. Andererseits war die Tatsache, dass die Forderungen und Slogans, welche die demokratische Tendenz portierte, die Bewegung bestimmten, und die Tatsache, dass die proletarische Tendenz keine Klassenforderungen entwickeln konnte, welche auf den Widersprüchen an der Arbeit und im Leben basieren, ein Hindernis gegen die Verschmelzung der Bewegung mit den Arbeiter_innenmassen.
Die Mittel der Bewegung zur Massendiskussion
Die gemeinsame Schwäche all der Demonstrationen in der Türkei war die Schwierigkeit, Massendiskussionen abzuhalten und auf der Basis solcher Diskussionen eine Selbstorganisierung zu erreichen, welche es erlaubt hätte, eine Kontrolle über die Bewegung zu erreichen. Massendiskussionen, wie wir sie in vergleichbaren Bewegungen in anderen Ländern gesehen haben, gab es in den ersten Tagen der Bewegung nicht. Eine fehlende Erfahrung mit Massendiskussionen, Veranstaltungen, Vollversammlungen und eine Schwäche bezüglich der Debattenkultur in der Türkei waren sicherlich Gründe für diese Schwäche. Auf der anderen Seite erzeugte die Bewegung ein Bedürfnis für Debatten und es tauchten Ansätze dazu auf.
Der erste Ausdruck dieses Drangs nach Diskussionen war die Errichtung einer offenen Diskussionstribüne im Gezi-Park. Diese offene Tribüne im Gezi-Park zog keine große Aufmerksamkeit auf sich und dauerte nicht lange, doch nur schon die Erfahrung mit einer offenen Diskussionstribüne hatte einen gewissen Effekt. Im Streik vom 5. Juli schlugen Universitätsangestellte, die Mitglieder von Egitim-Sen sind (einer Gewerkschaft, die Teil der KESK ist), vor, eine offene Diskussionstribüne zu machen. Die Führung der KESK lehnte diesen Vorschlag nicht nur ab mit dem Gegenvorschlag, eine offene Tribüne im Stil des 1. Mai zu machen, eine linke Gewerkschaftstribüne, wo sowieso niemand den Reden zuhört, sondern sie isolierte ihren Flügel Egitim-Sen Nr. 5, zu welchem die Universitätsangestellten gehören. Die Bemühungen zu dieser offenen Diskussionstribüne scheiterten. Inspiriert durch die offene Diskussionstribüne wurden Tribünen in Gazi, Okmeydanı und Sariyer in der Nähe von Istanbul, in Güvenpark und Keciören in Ankara, Gündogdu und Cigli in Izmir, in Mersin, Antalya, Samsun und Trabzon ins Leben gerufen. Auch wenn auf solchen Diskussionstribünen Teilnehmer ihre Sorgen über 4+4+4, das Minimalsalär und das Gesundheitssystem äußerten und die Bildung einer Widerstandsversammlung vorschlugen, so beschnitt die Bildung dieser Tribünen durch bürgerliche Linke ihre Wirkung deutlich.
Neben den Erfahrungen mit offenen Diskussionstribünen tauchten in den darauffolgenden Tagen Foren auf, die massenhafte Beteiligung fanden. Diese Foren, die mit dem Ziel begannen, die Zukunft der Bewegung zu besprechen, wurden während der ganzen Woche vor dem 15. Juni – dem Angriff der Polizei auf den Gezi-Park – geplant und abgehalten. Der Aufruf zu diesen Foren kam von der Taksim-Solidaritätsplattform, deren Ziel es war, diese Foren zu verwenden, um die Leute zu überzeugen, ihren Widerstand in einem einzigen symbolischen Zelt zusammenzuschließen, was eine andere Art war, die Leute zu überzeugen, ihre Kampf zu beenden. Diese Foren hatten keinen Anspruch auf Entscheidungsmacht, sie hatten mehr den Zweck, für die Taksim-Solidaritätsplattform den Puls der Massenbewegung zu fühlen. Dieses Manöver ermöglichte es, dass sich die Massen auf die praktischen Dinge beschränkten, vor allem auf die Frage, was bei einer polizeilichen Intervention zu tun sei. Es tauchten in den Diskussionen aber dennoch Stimmen auf, die verlangten, dass die Massen die Kontrolle über die Bewegung haben sollen, durch das Abhalten von Vollversammlungen, die die Erfahrungen von Barcelona erwähnten und darauf drängten, die Bewegung auf die proletarischen Wohnquartiere auszuweiten. Entscheidend aber war, dass die Massen durch ihren Willen, die Demonstrationen aufrecht zu erhalten die Taksim-Solidaritätsplattform daran hinderten, die Bewegung auslaufen zu lassen.
Ein landesweiter Blick auf die Bewegung zeigt, dass in Eskisehir die Demonstrierenden die interessanteste Erfahrung machten. In einer Vollversammlung wurden dort Komitees gebildet, welche die Demonstrationen organisieren und koordinieren sollten. Diese Komitees waren: ein Demonstrationskomitee, welches die Routen und Parolen der Demonstrationen bestimmte, ein Universitäts- und Bildungskomitees zur Vorbereitung von Versammlungen, Treffen und Diskussionen, Vorschlags- und Meinungskomitees für Ideen und Vorschläge zum Widerstand, ein Reinigungs- und Umweltkomitee zur Reinigung und Pflege des Platzes, an dem sich die Bewegung in Zelten niederließ, ein Pressekomitee zur Produktion von Videos, Fotos und Berichten, die auch an die Massenmedien weitergegeben wurden, ein Koordinations- und Kommunikationskomitee als Verbindungsglied zwischen den Komitees, ein Sicherheitskomitee zum Schutze des Areals gegen Angriffe von innen und außen, und eine Notfallkomitee aus Medizinstudenten und medizinischen Fachpersonen zur medizinischen Hilfe und Betreuung Verletzter. Bedeutender aber war der Entscheid, eine tägliche Vollversammlung abzuhalten, welche die Aktivitäten dieser Komitees überwachte und diskutierte. Durch diese Erfahrung waren die Massen in Eskisehir fähig, die Bewegung durch Selbstorganisierung in ihren eigenen Händen zu halten. Ähnlich in Antakya, wo die Vollversammlung ihre eigenen Entscheide über die Bewegung des 17. Juni fällte.
Ab dem 17. Juni wurden, inspiriert durch die Foren im Gezi-Park, in verschiedensten Parks in Istanbul Vollversammlungen abgehalten, die sich Foren nannten, nämlich in Beşiktaş, Elmadağ, Harbiye, Nişantaşı, Kadıköy, Cihangir, Ümraniye, Okmeydanı, Göztepe, Rumelihisarüstü, Etiler, Akatlar, Maslak, Bakırköy, Fatih, Bahçelievler, Sarıyer, Yeniköy, Sarıgazi, Ataköy und Alibeyköy. In den folgenden Tagen entstanden verschiedenste Foren in Ankara und anderen Städten. Um die Kontrolle über die Situation nicht zu verlieren, begann die Taksim-Solidaritätsplattform selbst zu Foren aufzurufen. Es ist möglich, dass in der Zukunft solche Foren eine wichtige Rolle spielen werden. Es wurden in den Foren selber auch Vorschläge zur Bildung von Komitees am Arbeitsplatz und in den Quartieren gemacht. Aufrufe dazu, rassistische, sexistische und homophobe Äußerungen zu vermeiden und der Opfer der Massaker von Roboski und Reyhanli sowie der Arbeiter der Wasseraufbereitungsanlage von Mugla, welche Methangasvergiftungen erlitten hatten, zu gedenken, wurden in den Foren oft geäußert.
Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Verbindungen zu anderen sozialen Bewegungen
In vielen Aspekten ist der Widerstand, der im Gezi-Park entstand, sehr verwandt mit der Occupy-Bewegung in den USA, der Bewegung der Empörten in Spanien und den Protesten, die in Ägypten Mubarak und in Tunesien Ben Ali zu Fall gebracht haben, er weist aber auch seine Besonderheiten auf. Wie in all diesen Bewegungen war in der Türkei die proletarische Jugend ausschlaggebend. Ägypten, Tunesien und die Gezi-Park Bewegung haben als Gemeinsamkeit den Willen, eine Regierung zu beseitigen, die als „Diktatur“ angesehen wird. Wie in Ägypten scharten sich Protestierende um Leute, welche muslimische Gebete abhielten, um sich vor Angriffen zu schützen, und gleichzeitig drückten die aktivsten Teilnehmer_innen an der Bewegung in der Türkei – wie in Ägypten – ihre klare Abneigung gegen die Einmischung des Klerus und der Fundamentalisten in ihr tägliches Leben aus. Anders als in Tunesien mit den Massenstreiks tausender Arbeiter_innen und Ägypten mit den Streiks der erfahrenen Arbeiter_innen von Mahalla und anderswo sah man in der Türkei nur wenige Arbeitsniederlegungen. Positiv ist aber, dass anders als in Ägypten, wo die Bewegung, als sie an Stärke verlor, die Armee zur Hilfe rief, in der Türkei eine klare Abneigung gegen diese Schlüsselinstitution des Staates zu spüren war.
Anders als die Bewegung in Tunesien, die lokale Komitees organisierte, und in Spanien und den USA, wo die Massen ihre Verantwortung für die Bewegung durch Diskussionen in Massenversammlungen wahrnahmen, blieb diese Erfahrung in der Türkei nur sehr beschränkt. In Spanien war die Bewegung der Empörten angesichts der Krise des Kapitalismus und der hohen Arbeitslosigkeit fähig, eine entsprechende Orientierung in ihren Diskussionen zu haben. In der Türkei war die Bewegung trotz der schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen sehr stark von praktischen Aspekten der Bewegung beherrscht. Im Vordergrund standen praktische und technische Aspekte der physischen Konfrontation mit der Polizei. Anders als in Spanien, wo die proletarische Tendenz im Kampf gegen die demokratische Tendenz in der Bewegung klare proletarische Klassenforderungen aufstellte, war diese Kraft in der Türkei zu schwach. Vergleichbar mit der Occupy-Bewegung in den USA war, dass eine Besetzung stattfand, in der Türkei weitete sich diese jedoch zahlenmäßig viel stärker aus als in den USA. In der Türkei sowie in den USA gab es einen Teil der Demonstrierenden, der genau verstand, wie wichtig es ist, die arbeitenden Teile des Proletariats in den Kampf mit einzubeziehen. Der Bewegung in den USA gelang es nicht, die Arbeiter_innenklasse in den Kampf mit einzubeziehen, trotz der direkten Aufrufe an die Hafenarbeiter in Oakland – auch über die sozialen Medien –, den Streik über die ganze Westküste auszuweiten. Auch wenn die Bewegung in der Türkei es verpasste, eine ernsthafte Verbindung mit der gesamten Arbeiter_innenklasse aufzunehmen, so führten die Streikaufrufe über die sozialen Medien zu mehr Arbeitsniederlegungen als in den USA.
Trotz all dieser Besonderheiten ist die Bewegung in der Türkei ein Glied in der Kette der internationalen sozialen Bewegungen. Auch wenn dies in den ersten Tagen kaum zum Vorschein kam, so änderte sich diese schnell. Die anderen sozialen Bewegungen schienen zum Zeitpunkt, als sie stattfanden, keine große Anziehungskraft auf die Türkei zu haben, doch sie hinterließen in den Massen deutliche Spuren. Wie die internationale Welle von Kämpfen ist die Bewegung in der Türkei mit der weltweiten Krise des Kapitalismus verknüpft. Einer der Hauptgründe, weshalb sich die AKP-Regierung über 10 Jahre an der Macht behaupten konnte, war ihre Politik der Restrukturierung des türkischen Kapitalismus. Die Reaktionen gegen diesen Druck begannen als Reaktionen gegen die Praktiken der AKP. Eines der deutlichsten Zeichen dafür, dass die Bewegung Teil der internationalen Welle war, ist die Inspiration, die sie auf die Protestierenden in Brasilien ausübte. Die Demonstrant_innen in der Türkei begrüßten die Antwort vom anderen Ende der Welt mit den Slogans „Wir sind zusammen, in Brasilien und in der Türkei“ und „Widerstand in Brasilien!“. Und wenn die Bewegung die Proteste in Brasilien, die auf Klassenforderungen basierten, beeinflusste, so können diese für die Zukunft das Aufkommen von Klassenforderungen in der Türkei fördern.
Die gewonnenen Erfahrungen der Bewegung
Die Taksim-Gezi-Park-Bewegung antwortete auf den Staatsterror, die Polizeigewalt und die repressive und unterdrückerische Politik der AKP-Regierung und von Premierminister Erdogan. Massen, die vermutlich noch nie an einer Demonstration teilgenommen hatten oder mit anderen Menschen zusammengegangen waren, die dasselbe Anliegen haben, nahmen in dieser Zeit an einer Bewegung teil, die als unpolitische bezeichnet wurde, doch sie haben sich politisiert. Massen haben eine Erfahrung gemacht, was Solidarität heißt, was es heißt, die Sache, in die eigenen Hände zu nehmen, und debattierten im Gezi-Park und anderen besetzten Parks über das Leben, das sie anstreben. Die Bewegung setzte einen Kontrapunkt durch kostenlose Suppenküchen, Bibliotheken, Behandlung von Verletzten durch Freiwillige aus dem Gesundheitssektor und durch einen Freiraum, wo jeder kommen und gehen konnte. All das waren wichtigste Momente zur Unterstützung der Bewegung nach ihrem Ausbruch. Man machte auch die Erfahrung, wie man sich gegen das Tränengas der Polizei schützt.
Die Leute wurden sich der Kraft einer massiven Bewegung bewusst, die vom Willen, gegen die staatliche Repression zu kämpfen, beflügelt war. Die sozialen Medien konnten wirksam genutzt werden, um Treffen und Demonstrationen zu organisieren. Soziale Beziehungen und Netzwerke wurden genutzt, um Verhaftungen zu verhindern und den Demonstranten Schutz zu gewähren. Als die Straßenbeleuchtungen während den Zusammenstößen vom Staat abgestellt wurden, erleuchteten die Leute ihre Wohnungen, Apotheken gaben gratis Medikamente ab, all das sind wichtige Details der Bewegung. Die junge Generation der Bewegten, die sich den Angriffen der Polizei ausgesetzt sahen, verwendeten als Antwort die Waffe des Humors und der Musik. Dies brachte ihnen breite Sympathie ein. Der Staat bezeichnete sie als „Tagediebe“, und auch Leute, die nicht direkt in der Bewegung beteiligt waren, gaben sich aus Sympathie zur Bewegung diesen Namen selber.
Die Perspektiven
Auch wenn im Vergleich zu anderen Bewegungen bei den Massen nicht die Illusion existierte, dass diese Bewegung eine Revolution sei, so verglichen sie die heißesten Teilnehmenden mit einer revolutionären Situation. Das erste, woran zu erinnern ist, wenn man auf solche Einschätzungen antwortet, ist die Methode der Revolutionäre der Vergangenheit wie Lenins oder der Italienischen Kommunistischen Linken, die davon ausgingen, dass eine revolutionäre Situation nur das Ergebnis einer Reifung der objektiven und subjektiven Bedingungen auf internationaler Ebene ist. Trotz der klar internationalen Dynamik der Revolten von 2011 und 2013, die eine Antwort auf die Vertiefung der Krise des Kapitalismus waren, führten sie nicht zu einer revolutionären Situation. Hier ist die Erinnerung an die Methode Lenins wichtig: „Welches sind allgemein gesprochen, die Merkmale einer revolutionären Situation? Wir gehen sicher nicht fehl, wenn wir folgende drei Hauptmerkmale anführen: 1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der ‚oberen Schichten’, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss entstehen lässt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, dass die ‚unteren Schichten’ in der alten Weise ‚nicht leben wollen’, es ist noch erforderlich, dass die ‚oberen Schichten’ in der alten Weise ‚nicht leben können’. 2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus. 3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der ‚friedlichen’ Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die ‚oberen Schichten’ selbst zu selbständigem historischem Handeln gedrängt werden.“[4]
Die Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten, Spanien, der Türkei, Brasilien und anderswo enthielten keine dieser drei Charakteristiken. Sicher, die Unterdrückten wollen nicht mehr unterdrückt sein, doch die Unterdrücker können ihr Regime in derselben Art weiterführen wie zuvor. Die Armut und das Elend der unterdrückten Klassen überschreiten nicht die gewohnten Zustände. Eine der großen Trumpfkarten der Regierung in der Türkei ist ihre Referenz zur „versprochenen“ Entwicklung der türkischen Wirtschaft in den nächsten Jahren…
Wohl am bedeutendsten aber ist die Tatsache, dass in all diesen Kämpfen die Massen sich nicht von den bürgerlichen Demokraten trennen konnten. In der Sackgasse des Kapitalismus, wenn die soziale Unterdrückung sich zuspitzt, wenn die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter_innenklasse sich verschlechtern, wenn Krieg ein Dauerzustand wird, wenn die Lebensräume der Menschen zerstört werden, dann ist das Problem unausweichlich: Die bürgerliche Demokratie kann nur eine bürgerliche Diktatur sein. Egal ob rechte oder linke Regierungen an der Macht sind, in dieser Zeit, in der es für den Staatskapitalismus immer schwieriger wird, Kapital und ein Stück des Kuchens zu erhalten, werden alle Regierungen eine solche Politik gegen die Massen durchziehen. Demokratie, das ist Pfefferspray, Demokratie ist Polizeikugeln, Demokratie ist Panzerwagen gegen die Demonstrierenden. Demokratie ist bürgerlicher Terror, der die Kinder unserer Klasse ohne mit der Wimper zu zucken massakriert. Die demokratische Tendenz innerhalb der Bewegung und die politische Qualität ihrer Forderungen stimmen überein mit der Demokratie, welche ein Instrument ist, um die Macht der Bourgeoisie zu sichern und die Lüge der Entwicklung zu verbreiten. Hinter dem Slogan „Tayyip Rücktritt“, der an den Demonstrationen gesungen wurde, steht die Illusion, dass nach dem Rücktritt von Erdogan irgendeine bürgerliche Kraft die Dinge viel besser regeln werde als er. Wir wissen, dass dies nicht der Fall ist.
Die demokratische Tendenz innerhalb der Bewegung und auch gewisse bürgerliche Schreiberlinge und Journalisten beschreiben die Bewegung als eine demokratische Reaktion auf all das, was im Land nicht gut läuft. Sie schlagen der Bewegung vor, den parlamentarischen Weg zu wählen. Wenn wir die Taksim-Solidaritätsplattform betrachten, so erinnert sie uns an die Olivenzweig-Koalition, die in Opposition zu Berlusconi an die Macht kam. Einen solchen Weg einzuschlagen, wäre zweifelsohne das tragische Ende der Bewegung und würde heißen, dass sie für die Arbeiter_innenklasse gestorben ist. In der nächsten Zukunft wird das eine viel größere Gefahr darstellen als der Staatsterror.
Doch trotz all der Schwächen und Gefahren, denen diese Bewegung ausgesetzt war, wenn die Massen in der Türkei es nicht geschafft hätten, ein Glied in der Kette der sozialen Revolten zu sein, welche die kapitalistische Welt erschüttern, so wäre das Resultat ein viel größeres Gefühl der Machtlosigkeit. Der Ausbruch einer sozialen Bewegung, wie sie in dieser Größe seit 1908 in der Türkei nie mehr stattfand, ist von historischer Bedeutung.
Die Zukunft der Bewegung hängt davon ab, ob ihr proletarischer Teil, welcher die Mehrheit darstellt, fähig ist, Klassenforderungen aufzustellen, die auf unseren Lebens- und Arbeitsbedingungen basieren und ob er die Bewegung durch Massendiskussionen in die eigenen Hände nehmen kann und sie auf der Grundlage der Arbeitsstätten auf die gesamte Klasse ausbreiten kann, statt zu versuchen, die Gewerkschaften zu einem solchen Weg zu zwingen.
Dünya Devrimi, IKS-Sektion in der Türkei, 21.06.2013
[1]Wird als Schimpfwort verwendet. Regierungsmitglieder, insbesondere Erdogan, gebrauchten diesen Namen für die Protestierenden. Diese sehen ihn als Lob und verwenden ihn für sich selber. Er bedeutet so viel wie Vagabund, Plünderer, Straßenräuber.
[2] Diese Zeilen sind ein Ausschnitt aus einem Gedicht mit dem Titel „Milch“ auf Türkisch. Der Demonstranten Ozan Durmaz schrieb es in Erinnerung an Abdullah Cömert, Ethem Sarısülük und Mehmet Ayvalıtaş. Die komplette Version ist zu lesen auf der folgenden Internetadresse: www.tuhaftemaslar.com/sut.
[3] Laut Umfragen waren 58% der Demonstrant_innen im Gezi-Park Arbeiter_innen, 10% Arbeitslose und 24% Student_innen. 92% waren also Arbeiter_innen oder zukünftige Arbeiter_innen.
[4] Lenin, Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale, Kapitel 2