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Selten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik solch einen faden, ereignisarmen, nivellierenden Wahlkampf gegeben wie den jüngsten Bundestagswahlkampf, der mit dem Wahlsonntag am 22. September zu Ende ging. Es war geradezu eklatant, wie unauffällig er vor sich dahin plätscherte, wie wenig er in der Öffentlichkeit vorkam, sieht man einmal von dem zum Medienereignis des Jahres hochgejazzten TV-Duell zwischen der amtierenden Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Herausforderer von der SPD, Per Steinbrück, ab. Kein Lagerwahlkampf, keine polarisierenden Themen und Persönlichkeiten, keine fesselnden Kampagnen – nichts. Dieser Wahlkampf war so dröge, dass intellektuelle Vordenker wie Enzensberger, Sloterdijk & Co. sich in ihrem Spott über die Politiker, die die Welt nur „vermessen“, statt zu „deuten“ (Richard David Precht in einem SPIEGEL-Essay), dazu verstiegen, zum Wahlboykott aufzurufen. Was wiederum eine Steilvorlage für Politik und Medien war, die ihrerseits nun, zwei Wochen vor dem Wahltag, das Wählengehen zur ersten Bürgerpflicht, zu einer Art patriotischen Akt erklärten, erklären mussten, drohte doch nach dem historisch langweiligsten Wahlkampf nun auch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung.
Diese Langeweile war politisch gewollt. Die Bourgeoisie ist durchaus in der Lage, für den notwendigen Wahlrummel zu sorgen. Ihre Massenmedien und die politische Klasse verstehen es meisterhaft, für künstliche Spannung zu sorgen, viel Rauch um nichts zu erzeugen. Es wäre in diesem Bundestagswahlkampf ein Leichtes für sie gewesen, auch die Intellektuellen von ihren Elfenbeintürmen herunterzuholen. Allein, die Herrschenden wollten es nicht.
Ausgerechnet das Thema, das die öffentliche Meinung am meisten polarisiert hätte, das die Stammtische befeuert und das Stimmvieh mobilisiert hätte, sollte unbedingt aus dem Wahlkampf herausgehalten werden: die Europapolitik und der Euro. Es war frappierend, wie sehr dieses Thema in der Öffentlichkeit totgeschwiegen wurde. Alle im Bundestag vertretenen Parteien, selbst die FDP, aus der in den vergangenen Jahren durchaus auch Euro-kritische Stimmen zu vernehmen waren (dazu später mehr), hielten sich an dieser Omertà - auch die Massenmedien, die euro-kritischen Strömungen keinerlei Plattform boten, wie die „Alternative für Deutschland“ (AfD), einer erst Anfang dieses Jahres gegründeten Partei, die sich die „Auflösung des Euro-Währungsgebietes“ auf die Fahnen geschrieben hatte.
Es waren vor allem drei Stellschrauben, an denen das Kartell von Politik und Medien drehte, um ein ihm genehmes Wahlergebnis zu erzielen, nämlich – darüber ließ es von Anfang an keinen Zweifel - eine Koalition aus den beiden größten Parteien, die große Koalition. Da war zum einen die Demontage des SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück: Angefangen mit der Medienkampagne rund um die üppigen Honorare, die Steinbrück vor seiner Kandidatur für Vorträge vor Geschäftsleuten kassierte (eine Praxis, die völlig üblich ist in der politischen Klasse), über die massive Kritik an seiner Äußerung, dass das Gehalt eines Bundeskanzlers resp. Bundeskanzlerin, gemessen an den Gehältern von Topmanagern, doch recht bescheiden sei, bis hin zu seiner flapsigen Bemerkung in einem Interview mit Deutschlands mächtigster Zeitung, die BILD, dass er sich keine Flasche Pinot Grigio für schlappe fünf Euro kaufen würde, eine Äußerung, die sogleich lustvoll in der Öffentlichkeit seziert wurde – die Medien ließen nichts unversucht, um Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit zu streuen. Schlimmer noch: es wurde seine Fähigkeit in Frage gestellt, das Amt eines Bundeskanzlers auszuüben. Der Mann, hieß es, sei zu impulsiv und unbeherrscht. Hatte er nicht als Finanzminister der letzten großen Koalition im Steuerstreit mit der Schweiz gedroht, die „Kavallerie“ ins Nachbarland zu schicken? Hatte er nicht erst kürzlich Berlusconi als einen „Narren“ bezeichnet und damit die italienische Politik gegen sich aufgebracht? Nun, die Demontage Steinbrücks war am Ende so erfolgreich, dass sie übers Ziel hinauszuschießen drohte; spätestens seit dem o.g. TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück war ein wachsendes mediales Wohlwollen ihm gegenüber zu konstatieren.
Die zweite Stellschraube, mit der die Herrschenden diese Wahlen manipulierten, ist auf eine Besonderheit des deutschen Wahlrechts zurückzuführen. Der Wähler besitzt zwei Stimmen, die er vergeben kann – die erste für den Direktkandidaten für das Parlament, die zweite für die Partei seiner Wahl. Dieser Umstand ermöglicht es dem Wähler, seine Stimme unterschiedlich zu gewichten, er gestattet es kleineren Koalitionspartnern, ihr begrenztes Wählerreservoir durch eine sog. Zweitstimmenkampagne zu erweitern, und er gibt den Herrschenden ein weiteres Mittel zur subtilen Manipulierung von Wahlen in die Hand. Insbesondere der FDP, den sog. Liberalen, ist es seit ihrem Bestehen im Nachkriegsdeutschland mehr als einmal gelungen, ihren Einfluss über ihren eigentlichen Radius hinaus aufzublähen, indem sie die Wähler/-Innen des größeren Koalitionspartners dazu veranlassen konnte, ihre Zweitstimme der FDP zu schenken. So auch bei den letzten Landtagswahlen in Niedersachsen, als die FDP entgegen aller Unkenrufe nicht nur die Fünfprozenthürde übersprang, sondern ihren Stimmenanteil gar massiv vergrößern konnte. Doch diesmal ging der Schuss nach hinten los: Die Leihstimmen für den kleineren Koalitionspartner kosteten der niedersächsischen CDU ein paar Prozent und der schwarz-gelben Koalition in Hannover die Mehrheit. Dies hatte fatale Folgen für die FDP auf Bundesebene: Als der FDP-Vorsitzende Rösler unter dem Eindruck der Landtagswahlen in Bayern, wo die FDP nicht nur aus der Koalitionsregierung mit der CSU flog, sondern auch aus dem bayrischen Landtag, und im Angesicht der eine Woche später anstehenden Bundestagswahlen verzweifelt um Leihstimmen aus dem konservativen Lager warb, verweigerte ihm Merkel kühl jegliche Hilfe, somit demonstrierend, dass sie auf die FDP verzichten kann, ja ohne selbige für die nächste Legislativperiode plant.
Der dritte Eingriff der herrschenden Klasse in den jüngsten Bundestagswahlkampf betraf die Grünen, die noch Anfang des Jahres davon träumten, neben CDU/CSU und SPD zur dritten „Volks-“Partei aufzusteigen. Nachdem bereits das Wahlprogramm der Grünen, das in seinem Kern Steuererhöhungen für die sog. Besserverdienenden vorsah, ausreichend Angriffsfläche für die politischen Kontrahenten bot und den Abstieg in der Wählergunst in den Meinungsumfragen einleitete, entwickelte sich eine ganz andere Thematik zu einem wahren Sargnagel für die Ambitionen der Grünen – die Verstrickungen der noch jungen grünen Partei in den 1980er Jahren im Sumpf pädophiler Netzwerke. Laut eines Gutachtens, das die Grünen selbst in Auftrag gegeben hatten, bot die junge grüne Partei in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhundert, noch ganz im Bann der sog sexuellen Befreiung gefangen, pädophilen Initiativen das eine oder andere Mal eine Plattform, ja, waren selbst prominente Grüne wie Jürgen Trittin, Umweltminister der rot-grünen Koalition unter Schröder sowie führendes Mitglied des linken Flügels der Grünen, in dieses kleine schmutzige Geheimnis involviert. Selbstredend, dass die politischen Gegner auf der Rechten jede Gelegenheit so kurz vor den Wahlen nutzten, um den Finger in diese Wunde zu halten. Überflüssig auch zu sagen, dass diese Affäre den Abwärtstrend der Grünen beschleunigte und eine rot-grüne Regierungskoalition in immer weitere Ferne rückte, je näher der Wahlabend rückte.
Die Weichen waren also ganz im Sinne der Herrschenden gestellt, als der „Souverän“ zur Wahl schritt. Der befürchtete Wahlboykott machte sich nicht bemerkbar; besser noch: das Wahlergebnis stellte eine Punktlandung dar, das in seltener Eintracht zu den seit einigen Wochen stereotyp verbreiteten Prognosen stand. In der Tat waren die Bundestagswahlen 2013 ein Meisterstück der politischen Strippenzieher der Bourgeoisie. So ist es der politischen Klasse erneut gelungen, den Einzug einer rechtspopulistischen Partei, der AfD, in den Bundestag zu verhindern. Dabei gilt die AfD als die erste ernstzunehmende Partei, die sich rechts von der CDU/CSU etablieren und den Populismus populär machen könnte, da sie mit ihrer Ablehnung des Euro als einzige politische Kraft der Bourgeoisie die immer noch weit verbreitete Sehnsucht in Deutschland nach der alten D-Mark bedient und somit zum Sprachrohr breiter Teile der Bevölkerung in dieser Frage zu werden droht. Doch neben der bereits erwähnten Praxis des Totschweigens durch die Massenmedien war es vor allen Dingen der Vorwurf der Nähe zu rechtsradikalen Strömungen, der der AfD den Weg in den Bundestag – wenn auch knapp – verbaute.
Blieb die eine Zäsur, die Etablierung des Rechtspopulismus im deutschen Bundestag, aus, so bedeutete dafür das Wahldebakel der FDP eine historische Wendemarke im (west)deutschen Nachkriegsparlamentarismus. Nachdem sie zuvor bereits aus zahlreichen Landtagen hinaus gewählt worden war, ist die FDP zum ersten Mal in ihrer Geschichte nun auch im deutschen Bundestag nicht mehr vertreten. Damit kämpft eine Partei ums nackte Überleben, die in ihrer Geschichte mehr als einmal einen großen Spürsinn für die Interessen der deutschen Bourgeoisie bewiesen und somit eine Bedeutung erlangt hatte, die weit über ihre eigentliche Größe hinausging. Es war die FDP, die Anfang der 1950er Jahre den entscheidenden Ausschlag für die Politik der sog. Westbindung, also der Anbindung Westdeutschlands an den westlichen Block, gab, welche der damals amtierende Bundeskanzler Adenauer (CDU) gegen den Neutralitätskurs der SPD unter Kurt Schumacher verfocht. Es war die FDP, die 1969 mit ihrem Eintritt in eine Koalition mit der SPD nicht nur eine gewisse Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft, sondern vor allem die Entspannungspolitik Willy Brandts gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen durchzusetzen verhalf. Der Sturz der FDP in die politische Bedeutungslosigkeit – und nichts anderes bedeutet ihr Rausschmiss aus dem Bundestag – ist auch die Quittung dafür, dass sie in jüngster Zeit versucht war, sich aus ihrer Verantwortung für das Gesamtinteresse der deutschen Bourgeoisie zu stehlen. Wie sehr diese Partei aus Sicht des politischen Establishment von allen guten Geistern verlassen ist, manifestiert sich in der Existenz eines starken Euro-feindlichen Flügels in der FDP und vor allem in den ebenso leichtsinnigen wie populistischen Äußerungen der Parteispitze auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise über die Möglichkeit eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone.
Da auch die Grünen nach ihrem Allzeithoch im Frühjahr dieses Jahres, als sie in Meinungsumfragen auf über fünfzehn Prozent kamen, nun auf 8,6 Prozent abstürzten und eine rot-grüne Koalition somit nicht mehr in Frage kommt, deutet vieles darauf hin, dass es nach dem Wunschwahlergebnis der deutschen Bourgeoisie nun auch die erwünschte Regierungskonstellation, eine große Koalition, gibt, zumal eine Koalition aus SPD, Grüne und die Linke, obwohl sie rein rechnerisch möglich ist, aufgrund der Regierungsunfähigkeit Letzterer immer noch als ausgeschlossen gilt. Doch noch ist die Messe nicht gesungen. Es gibt innerhalb der SPD erhebliche Vorbehalte gegen die Rolle als Juniorpartner in einer großen Koalition mit der übermächtigen CDU/CSU, die sich aus der Erfahrung mit der letzten großen Koalition von 2005-09 speisen, als die SPD geschwächt aus ihr hervorging und bei den Bundestagswahlen von 2009 das schlechteste Wahlergebnis seit 1945 einfuhr. Besonders heftig war zunächst der Widerstand gegen eine große Koalition in der SPD Nordrhein-Westfalens, wo man um die Erfolgsaussichten einer Kanzlerkandidatur von Hannelore Kraft, NRW-Ministerpräsidentin und die letzte Hoffnung der SPD, bei den nächsten Bundestagswahlen bangt. Um die sich sträubende Parteibasis dennoch gefügig zu machen, hat sich der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel auf einen riskanten Balanceakt eingelassen: Zunächst sollten die 250 Delegierten des Parteikonvents darüber entscheiden, ob die SPD-Führung in Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU treten darf – was mittlerweile geschehen ist, und zwar im Sinne der Parteispitze -, und schließlich soll eine Mitgliederbefragung über Annahme oder Ablehnung des Koalitionsvertrages beschließen. Es hat hinter vorgehaltener Hand Kritik an diesem Vorgehen gegeben. Gabriel drücke sich vor seiner Verantwortung, hieß es aus Kreisen der potenziellen Koalitionspartner. Die Medien haben sogleich das politische Schicksal Gabriels mit dem Ergebnis dieser Mitgliederbefragung verknüpft. In der Tat treibt Gabriel ein Spiel mit ungewissem Ausgang und eröffnet so die Möglichkeit, dass die von langer Hand vorbereitete und so geschickt eingefädelte große Koalition kurz vor ihrer Verwirklichung an den Stimmen der SPD-Basis scheitert.
Es spricht für die Stärke der deutschen Bourgeoisie, dass sie mit einem eventuellen Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU durchaus leben kann. Die herrschende Klasse in Deutschland ist sich in den prinzipiellen Fragen weitgehend einig, so dass sie sich in der recht komfortablen Lage befindet, zwischen mehreren Optionen wählen zu können. Sogar Schwarz-Grün, also eine Koalition zwischen den Konservativen und den Grünen, vor einigen Jahren noch undenkbar, liegt heute im Bereich des Möglichen, zumal mit dem Rücktritt des Grünen-Fraktionsvorsitzenden Trittin und der Bundesvorsitzenden Claudia Roth, beide dem linken Flügel angehörend und Gegner eines schwarz-grünen Bündnisses, zwei große Steine aus dem Weg geräumt sind. Dass es dennoch nicht zu Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und den Grünen gekommen ist, dass die Präferenz in der politischen Klasse bei allem Liebäugeln mit einem schwarz-grünen Tandem eindeutig bei Schwarz-Rot liegt, hat zwei Gründe: einen kurzfristigen und einen mittel- bis langfristigen oder – wenn man so will - einen taktischen und einen strategischen Grund.
Kurzfristig verspricht sich das politische Establishment ein höheres Durchsetzungsvermögen der großen Koalition bei den wichtigen innenpolitischen Reformvorhaben (Bildungs-, Föderalismusreform), die in dieser Legislaturperiode auf der Tagesordnung stehen. Da eine Koalition aus CDU/CSU und SPD nicht nur 80 Prozent der Sitze im Bundestag besetzt, sondern auch im Bundesrat, der sog. Länderkammer, die große Mehrheit stellen würde, könnten Gesetzesvorhaben viel leichter und ohne größere Widerstände durch die Legislative gepeitscht werden. So jedenfalls das Kalkül der Hauptstadtpolitiker; ein Kalkül, das sich bei dem einen oder anderen Reformvorhaben allerdings als eine Milchmädchenrechnung herausstellen könnte. Schon die letzte große Koalition, die zwischen 2005 und 2009 amtierte, biss sich mit ihrer sog. Föderalismusreform trotz ähnlich überwältigender Mehrheitsverhältnisse die Zähne am Widerstand der „Länderfürsten“, den Ministerpräsidenten der Landesregierungen, aus.
Noch mehr verspricht sich die deutsche Bourgeoisie indes vom mittel- bis langfristigen Effekt einer großen Koalition. Die SPD soll nicht ins Boot geholt werden, um solch famose Reformen wie den gesetzlichen Mindestlohn, mehr Kita-Plätze und eine „gerechtere Steuerpolitik“ durchzusetzen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Erfüllung dieser SPD-Forderungen, die von der CDU/CSU-Spitze schon einmal vorab in Aussicht gestellt wurde, soll zum einen der SPD-Basis den Eintritt in die große Koalition schmackhaft machen und zum anderen die SPD für ihre eigentliche Bewährungsprobe in der großen Koalition wappnen: die Euro-Krise. Denn die derzeitige Ruhe in der Euro-Zone ist trügerisch; die Krise in der Euro-Zone ist noch längst nicht ausgestanden. Die deutsche Bourgeoisie weiß sehr genau, dass die nächsten drei, vier Jahre entscheidend für das Überleben der Euro-Zone und vielleicht gar der gesamten Europäischen Union sein werden. Falls – und es spricht viel dafür – der schlimmste Fall eintritt und der eine oder andere südeuropäische Staat insolvent geht, kommen auf den deutschen Staat, der mit Milliardenbürgschaften bei der Stützung der Sorgenkinder in der Euro-Zone engagiert ist, enorme finanzielle Belastungen zu. Und es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, wer am Ende die Zeche dafür zahlt – die Arbeiterklasse.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Herrschenden ein so großes Interesse daran haben, die SPD in die Pflicht zu nehmen. Es ist die immense Erfahrung der „alten Tante“ SPD bei der Vertretung und Verteidigung der Interessen der deutschen Bourgeoisie - eine Erfahrung, die mittlerweile auf exakt 100 Jahre Praxis zurückblicken kann -, die die SPD für die deutsche Bourgeoisie so wertvoll macht. In der jüngeren deutschen Geschichte hat sie zwei Mal bewiesen, wie wichtig sie für den deutschen Kapitalismus ist. Als Deutschland Ende der 1990er Jahre nach einer langen Kette von Versäumnissen seitens der Kohl-Regierung zum „kranken Mann“ Europas zu werden drohte, zeichnete sich die SPD, die nach den Bundestagswahlen von 1998 zusammen mit den Grünen die Regierung bildete, mit der Einführung der „Agenda 2010“, einer Reformierung des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes im Sinne des Kapitals, für den massivsten Angriff auf die Arbeiterklasse in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands verantwortlich, so den Grundstein legend für die bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte des deutschen Kapitalismus. Und als 2008 die Lehman-Pleite die Weltwirtschaft in die Krise riss und auch Deutschland in eine tiefe Rezession stieß, sorgte die SPD, die damals mit der Union eine große Koalition bildete, nicht nur dafür, dass die Krise relativ glimpflich für die deutsche Wirtschaft ausging, sondern auch dafür, dass jeglicher Widerstand angesichts der Entlassung von abertausenden Zeitarbeitskräften ausblieb, wobei sie von der tiefen Spaltung der Arbeiterklasse in Deutschland, eine der Folgen der „Agenda 2010“, profitierte.
Alle Zeichen stehen also auf Schwarz-Rot. Wenn die SPD-Basis bei der anstehenden Mitgliederbefragung mitspielt und ihrer Spitze das Placet zur Beteiligung an der großen Koalition gibt, dann werden wir in gewisser Weise eine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse, die durch das Wahlergebnis zum Ausdruck gekommen sind, erleben. Trotz des deutlichen Vorsprungs der Konservativen vor der SPD wird Letztere mindestens auf Augenhöhe mit den Konservativen agieren, wenn nicht sogar der großen Koalition ihren Stempel aufdrücken.
27.10.2013