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Der Konflikt in und um die Ukraine stellt die deutsche Bourgeoisie vor besondere Herausforderungen. Wir möchten dieses Thema hier aus der Sicht der Arbeiterklasse aufgreifen. Es gibt gute Argumente für die Annahme, dass sich für Deutschland und allgemeiner für Westeuropa gegenwärtig eine Veränderung abspielt, die für die zukünftige Konstellation der Kräfte des Klassengegners wichtig wird.
In den letzten Monaten hat es in den Reihen der herrschenden Klasse in Deutschland ungewohnt viel Aufregung um das Verhältnis zu den USA einerseits und zu Russland andererseits gegeben. Während sich Regierung und Opposition in der Außenpolitik der letzten 25 Jahre in den wesentlichen Zügen immer einig gewesen sind – in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien – tauchen heute angesichts der Offensive Russlands in der Ukraine Dissonanzen auf, die selbst die Regierungskoalition erfassen. Außenminister Steinmeier bemüht sich, die Wogen im Osten zu glätten wie umgekehrt Bundeskanzlerin Merkel diejenigen im Westen – beide sind in der Defensive und dies mit unterschiedlichen Ausrichtungen. Steinmeier versucht, in der Tradition Schröders die begonnene wirtschaftliche Allianz zwischen Deutschland und Russland trotz der politischen und militärischen Offensive Putins weiter zu verfolgen, während Merkel die alte „Freundschaft“ mit den USA trotz wiederholten Geheimdienstskandalen nicht aufgeben will.
Wir haben im Artikel zur Lage in der Ukraine vom Dezember 2013[1] die Einschätzung vertreten, dass die gegenwärtige Entwicklung der Ereignisse auf einer Offensive Russlands beruht – ein Versuch Russlands, die Niederlage und Demütigung der „Orangenen Revolution“ 2004/05 rückgängig zu machen. Ein halbes Jahr später finden wir diese These bestätigt. Dabei möchten wir insbesondere einige Fragen zu den Konsequenzen für die imperialistischen Gelüste Deutschlands aufwerfen.
Der geschichtliche Rahmen – die Zäsur von 1989
Um die heutige Lage zu verstehen, müssen wir uns zunächst den größeren Rahmen in Erinnerung rufen: Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 führte zu einer qualitativen Veränderung bei den imperialistischen Konflikten. Die NATO blieb zwar als Militärbündnis unter us-amerikanischer Vorherrschaft bestehen, von einem Block im alten Sinn konnte man aber auch im Westen nicht mehr sprechen. Gerade auf dieser Ebene war der vollzogene Übertritt in ein neues Zeitalter des Kapitalismus (dasjenige des Zerfalls) besonders handgreiflich. Die Zentrifugalkräfte dieser dekadenten Gesellschaftsordnung nahmen Überhand. Die Staaten, die sich vorher einer Blockdisziplin unterwerfen mussten, namentlich Deutschland, konnten nun offener ihre eigenen und im Vergleich zum früheren Blockführer divergierenden Interessen verfolgen. Die Kriege auf dem Balkan und die Aufteilung Jugoslawiens gehörten in den 1990er Jahren zu den ersten unmittelbaren Resultaten dieser neuen Ära.
Die ehemaligen Blockführer USA und Russland wurden geschwächt und reagierten beide – mit roher Gewalt. Die USA blieben alleinige Supermacht und Weltpolizist. Im Bemühen darum, diese Rolle nicht in Frage gestellt zu sehen, traten sie ständig aggressiv auf. Aber ihre militärischen Feldzüge, insbesondere in Afghanistan und im Irak bewirkten das Gegenteil von dem, was angeblich beabsichtigt war: mehr Chaos statt Stabilität und Sicherheit (vgl. dazu Obamas eigene Bilanz: „Einige unserer kostspieligsten Fehler entstanden nicht aus unserer Zurückhaltung, sondern aus unserer Bereitschaft, uns in militärische Abenteuer zu stürzen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.“ – im Artikel „Die Ukraine gleitet in die militärische Barbarei ab“ in dieser Nummer der Zeitung zitiert[2]). Russland umgekehrt musste als Koloss auf tönernen Füßen zuschauen, wie zuerst die Sowjetunion demontiert und dann auch noch die Pufferzonen im Westen (ehemalige Ostblockstaaten, Baltikum) abfielen. Im Nordkaukasus, namentlich in Tschetschenien, stellte sich Russland dem weiteren Auflösungsprozess mit einer Politik der verbrannten Erde entgegen. Die 1990er Jahre waren für den russischen Imperialismus ein Jahrzehnt der Gebietsverluste und der Defensivkämpfe. – Die beiden ehemaligen Blockführer befinden sich also seit 1989 im Sinkflug, wenn auch auf unterschiedlicher Höhe und auf andere Art.
Mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan verfolgten die USA eine Umzingelungsstrategie gegenüber Russland. Gleichzeitig versuchten die USA, ihre ehemaligen „Partner“ im westlichen Block durch die Fortsetzung der Militärbündnisse unter Kontrolle zu halten. Gegenüber Deutschland spielt dabei die NATO die wesentliche Rolle. Deutschland ist militärisch zu schwach, um sich von den USA zu emanzipieren. Umso wichtiger ist für die deutsche Außenpolitik die EU und die enge Anlehnung an Frankreich, das zwar längst nicht mehr die „Grande Nation“, aber doch noch eine Atomstreitmacht ist.
Die neue imperialistische Konstellation in Europa führte aber auch dazu, dass deutsche Politiker und Wirtschaftskapitäne die Hände nach Russland ausstreckten, und zwar in langfristigem Kalkül. Aus deutscher Sicht gibt es gute Gründe, gemeinsame Interessen mit Russland auf wirtschaftlichem Gebiet zu verfolgen. Russland verfügt über die nötigen Rohstoffe für die deutsche Industrie und ist ein Absatzmarkt für die von ihr produzierten Waren. Der Export deutscher Güter nach Russland ist zwar vom Umfang her nicht bedeutend, er beträgt weniger als 5% des gesamten Exportgeschäftes des Landes; aber der Handel zwischen den beiden Ländern begünstigt – wie immer im Kapitalismus – auf lange Sicht den wirtschaftlich Stärkeren, und das ist Deutschland. Die deutsche Industrie exportiert Fertigprodukte, namentlich Maschinen; Russland verkauft in umgekehrter Richtung Rohstoffe, vor allem Erdöl und Erdgas.
Auch militärisch-strategisch gibt es gemeinsame Interessen zwischen Deutschland und Russland. Moskau ist militärisch an seiner Westgrenze durch die NATO bedroht. Da die NATO in erster Linie ein Herrschaftsmittel der USA ist und Deutschland seine Vormachtstellung in Europa nur ausbauen kann, wenn der Einfluss der USA eingeschränkt wird, gibt es ein gemeinsames Anliegen für Deutschland und Russland – dass nämlich die NATO nicht noch weiter nach Osten greift. Russland und Deutschland wollen den US-Einfluss möglichst zurückbinden.
In der Außenpolitik spielt auch die Geographie eine wichtige Rolle. Marx hat im 19. Jahrhundert einen Aspekt beleuchtet, der selbst nach allen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gerade in Osteuropa immer noch gilt: Russland ist aufgrund seiner geographischen Lage dazu verurteilt, eine Politik in Bezug auf die Mächte Westeuropas zu führen, also eine Europapolitik zu betreiben – obwohl ihm zu einer erfolgreichen Strategie im 19. Jahrhundert die Kräfte fehlten.
Die Triebkräfte in der aktuellen Konstellation
Deutschland verfügt über eine konkurrenzfähige Industrie und hat mittels der EU einen Wirtschaftsraum erhalten und mitgeschaffen, der ihm Zugang zu einem großen, bevölkerungsreichen Absatzmarkt gibt. Der deutsche Imperialismus kann seine Stellung am besten ausbauen, wenn eine von Deutschland dominierte EU gegenüber den USA an Autonomie gewinnt, ohne in neue Abhängigkeiten, z.B. gegenüber Russland, zu geraten.
Russland hat umgekehrt mit dem eingeleiteten Abfall der Ukraine vor 10 Jahren eine Demütigung, einen Eingriff in seine Einflusssphäre hinnehmen müssen, auf den es so bald wie möglich zurück kommen musste. Die Ukraine ist für Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg ein immer wieder kehrendes Ziel der Machtgelüste gewesen – der Drang nach Osten, die beiden Weltkriege sind brutale Belege dafür. Trotz veränderter Verhältnisse ist die Kornkammer Ukraine auch heute noch ein wichtiger Faktor im Ringen um Einfluss. Dazu kommt ein etwas veraltetes, aus der Sowjetära stammendes Inventar mit dem entsprechenden Know-how auf dem Gebiet der Weltraum- und Luftfahrttechnologie.
Deutschland will das Dilemma vermeiden, sich in seinen Allianzen entweder für die Ukraine oder für Russland zu entscheiden – aber wenn es sich entscheiden müsste, hat Moskau mehr zu bieten als Kiew. Auf der Erscheinungsebene der aktuellen politischen Praxis sieht man folgende Allianzen: Zur Geburtstagsparty des früheren Bundeskanzlers Schröder im April 2014 war auch Putin eingeladen. Die Party war organisiert von der Pipeline Gesellschaft North-Stream. Diese gehört zu 51 Prozent dem russischen Gasriesen Gazprom (wo Schröder sich verdingt). Die anderen 49 Prozent aber liegen in deutschen, niederländischen und französischen Händen. Der deutsche Energiekonzern E.ON aus Düsseldorf und die zur BASF-Gruppe gehörende Wintershall Holding mit Sitz in Kassel teilen sich zusammen 31 Prozent der Anteile. Die Schlüsselpositionen in dem Unternehmen sind zu einem Großteil mit Deutschen besetzt. Unter den Gästen der Feier waren nach Angaben aus der North-Stream-Zentrale in Berlin unter anderen Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) (in Mecklenburg-Vorpommern erreicht die Pipeline deutschen Boden), der deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger Freiherr von Fritsch, der E.ON-Vertriebsvorstand Bernhard Reutersberg und weitere Manager der Nord-Stream-Anteilseigner Wintershall und E.ON. Für Aufregung sorgte die Teilnahme des außenpolitischen Sprechers der CDU und langjährigen JU-Vorsitzender Philipp Mißfelder.
Ebenfalls waren der Siemens-Chef Joe Kaeser und der Bahn-Chef Rüdiger Grube bereits Ende März mit Putin zusammengetroffen.
Hier treffen wir also auf einen potenten Ausdruck vorsichtiger und langjähriger deutsch-russischer Zusammenarbeit, die zu einem Großteil auf politisch-strategische Bemühungen aus der SPD und den Konzernzentralen von systemrelevanten Unternehmen (E.ON, BASF, Siemens, Deutsche Bahn sind rein juristisch gesehen keine Staatsunternehmen) basieren. Der rein politische Ausdruck dieser Tendenz der deutschen Bourgeoisie scheint derzeit eher schwach zu sein, worauf die Anwesenheit des widerlichen Pogromisten Mißfelder auf Schröders Geburtstagsparty hindeutet (bekannt oder besser berüchtigt geworden ist er als JU-Vorsitzender mit der Parole: „alte Leute brauchen keine künstliche Hüfte, sie sind auch früher an Krücken gelaufen“), und dennoch darf diese Tendenz nicht ignoriert werden.
Destabilisierungspolitik Russlands
Diese Fakten und die Entwicklung des Krieges in der Ukraine lassen den folgenden Schluss zu: Russland versucht zielstrebig, die NATO und letztlich auch die EU zu destabilisieren. Dabei geht es augenscheinlich darum, einen Keil in die transatlantische Allianz zwischen Deutschland und die USA zu treiben. Auf dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts, unter Berücksichtigung der strategischen Bedeutung Deutschlands auf dem Kontinent, muss Russland die deutschen gegen die us-amerikanischen Interessen ausspielen. Im Kalten Krieg war die DDR eine zuverlässige Stütze des stalinistischen Imperialismus; die Büros in Berlin mussten zwar geräumt, aber alte Freundschaften können weiter gepflegt oder neue geknüpft werden. Deutschland spielt auf der anderen Seite für das transatlantische Bündnis unter amerikanischer Vorherrschaft eine Schlüsselrolle. Ohne seine Mitgliedschaft in der NATO verliert dieses Militärbündnis strategisch entscheidendes Terrain: In Europa bräche der zentrale Pfeiler ein, das Bollwerk der amerikanischen Militärpräsenz auf diesem (Sub-)Kontinent.
Man kann darüber spekulieren, ob hinter den peinlichen Leaks, welche die westliche Allianz seit Edwards Snowdens Kündigung beim NSA torpedieren, Russland steckt. Obwohl sonst nicht gerade als Asylland bekannt, gewährte Russland in zynischem Kalkül Snowden Gastrecht. Die Spezialisten der russischen Geheimdienste – Putin gehörte zu deren Personal, ist durch diese Schule gegangen – dürften den Fundus des NSA-Überläufers auswerten, auch zur Planung der jeweiligen Schachzüge. Gewisse Details darüber, wie die NSA & Co. deutsche Politiker_innen ausspioniert haben, sind willkommenes Salz in der medialen Suppe. Snowden ist so gesehen ein Trumpf in den Händen Russlands. Allerdings ist zu vermuten, dass beim ganzen Hype um ihn seine Rolle im Sinne der demokratisch üblichen Personalisierung gesellschaftlicher Beziehungen überbewertet wird. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die russische Spionage ohne Snowden wesentlich schwächer wäre.
Militärisch ist Russland ebenfalls am Drücker. Die Arsenale im Südwesten Russlands stehen für all diejenigen offen, die Waffen, auch grobes Geschütz, brauchen, um in den Krieg zu ziehen, in Donezk und Luhansk. Die Proletarier_innen im Osten der Ukraine sind unsäglichem Leid ausgesetzt – fliehen oder versuchen, trotz Pogromstimmung einen Alltag in diesem Sommer zu leben, als sei nichts geschehen. Eine Fliegerabwehrrakete trifft ein Linienflugzeug auf 10‘000 Metern Höhe – mit 298 Menschen an Bord.
Nicht nur beim menschlichen Grauen, sondern auch auf dem strategischen Schachbrett sind neue Tatsachen geschaffen worden. Die Krim als Brückenkopf zu den Weltmeeren ist annektiert – und die Ukraine für die NATO als potentielles Mitglied entwertet. Diese Prozesse finden auf einer materiellen Grundlage statt, die Russland in doppelter Hinsicht in die Hände spielt:
- Die herrschende Tendenz des Jeder gegen Jeden – Ausdruck der entfesselten Zentrifugalkräfte in der Zerfallsphase des Kapitalismus – ist die Welle, die die regierende Klasse um Putin reiten kann. Zersetzend zu wirken ist heutzutage einfach – im Kleinen wie im Großen. (Dass es umgekehrt mit „konstruktiven“ Projekten nicht so einfach ist, beweist Putins Eurasische Union.)
- Russland – ein Koloss auf tönernen Füßen? – Nicht ganz, denn die Bodenschätze, über deren Ausbeutung es das Monopol hat, werden zwar die Rückständigkeit des produktiven Apparats in Russland nicht aufheben, sind aber viel wert: Die Rohstoffe werden sowohl hüben, wo noch produziert, als auch drüben, wo nur noch im Krieg zerstört wird, gebraucht und nachgefragt. Und weil Russland das Monopol über einen so großen Teil der Welt hat wie sonst kein Land, wird die daraus sich ergebende Verfügungsmacht über Erdöl, Gas und andere strategisch wichtige Rohstoffe Sonderprofite durch den Verkauf dieser Waren in die Schatullen des Kremls spülen.
Oder anders gesagt: Da Russland gegenüber Europa nur Ziele verfolgt, die der zersetzenden Logik folgen, hat es heute im Gegensatz zum 19. Jahrhundert die Möglichkeiten, seine Europapolitik, zu der es aufgrund seiner geographischen Lage gezwungen ist, auch tatsächlich umzusetzen. Die Kriegskasse ist voll und wird weiterhin gespiesen.
Deutscher Imperialismus in der Zwickmühle
Der Krieg in der Ukraine läuft den Interessen des deutschen Imperialismus zuwider. Dabei geht es nicht in erster Linie um die wirtschaftlichen Geschäfte, die zu ihrer Entfaltung stabile und „befriedete“ Verhältnisse bräuchten, sondern um die geostrategische Lage für Deutschland: Es kann militärisch weder Russland noch den USA die Stirn bieten. Deutschland braucht zum Ausbau seiner Macht in Europa (und der Welt) eine von ihm kontrollierte Zone zwischen den USA und Russland, eine Art Grauzone, in der es seinen Einfluss vor allem dank der wirtschaftlichen Stärke konsolidieren kann. Der Vorstoß Deutschlands nach Osten ist zwar strategisch konzipiert, beruht aber einstweilen im Wesentlichen auf seiner wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit. Mit dem Krieg in der Ukraine stehen sich aber Russland und die USA (mittels der NATO) in Osteuropa gegenüber – in einem Gebiet, das eigentlich Deutschland als seine Einflusssphäre aufbauen will, jedoch militärisch nicht verteidigen kann.
Die deutsche Bourgeoisie sieht sich also mit einer Situation konfrontiert, die nicht sie geschaffen hat und nicht von ihr kontrolliert werden kann. Die USA arbeiten dabei ebenso bewusst gegen die deutschen imperialistischen Interessen wie Russland. Beide wollen nicht mit verschränkten Armen zuschauen, wie Deutschland „friedlich“ nach Osten vorstößt. In der Ukraine führt Russland der Welt vor Augen, was ein Land zu erwarten hat, das zu seiner Einflusssphäre gehört und sich nach einem neuen Patenonkel umschaut. Die USA auf der anderen Seite schicken Soldaten und Kriegsmaterial nach Polen – bauen ihre Militärpräsenz in Osteuropa aus, ohne das Deutschland etwas dagegen unternehmen kann.
Auf diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Berlin sowohl gegenüber Washington als auch gegenüber Moskau zurückhaltend ist. Ins Feuer zu blasen, ist aus deutscher imperialistischer Sicht nicht ratsam. Vielmehr sollte der Brand im eigenen Vorgarten möglichst bald wieder gelöscht werden.
Zwei Modelle – beide auf der gleichen Grundlage
Die internationalistische Gruppe Barikád Kollektíva in Ungarn beschreibt in einem Artikel vom Frühjahr 2014 die politische Ausrichtung der herrschenden Klasse in Russland wie folgt:
“Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich Russland langsam aber sicher zu einer eigenständigen imperialistischen Kraft in der kapitalistischen Weltordnung errichtet. Die „freie Konkurrenz“ der Jelzin-Ära (Privatisierung, Bandenkriege, wirtschaftliche Zersetzung), in welcher die „aufgeklärte“ Bourgeoisie, die erst gerade dem Ei des Sowjetsystems entschlüpft war, sich wie an einer Party fühlte, entlarvte sich als ihr Totentanz. Die feinen bürgerlichen Ideen Chodorkowskis über die Freiheit – welche die vollkommene Unsicherheit für die Existenz der Massen der Arbeiterklasse bedeutete – wurden schnell durch eine viel prosaischere, seit Urzeiten bestens bekannte und somit kalkulierbare Diktatur der Organe der Staatssicherheit beseitigt. Angesichts der harten ökonomischen Tatsachen von steigenden Ölpreisen konnten die Vertreter der Ideologie der formalen Demokratie wählen: entweder Kniefall vor einer staatlich zentralisierten Wirtschaft oder Auswanderung oder in den Knast.“ (April 2014, barricade.hol.es/kialtvanyok/haborut_a_haborunak-en.html, unsere Übersetzung)
Zwei Herrschaftsmodelle stehen sich gegenüber, wobei Russland unter Putin für das eine der beiden steht: „russischer“ Kollektivismus, offener nationaler Chauvinismus, Populismus, plumpe Propaganda, unverschleierte Repression, militärische Logik. Das Gegenmodell ist das des westlichen Liberalismus: Individualismus, Demokratie, Heuchelei, wirtschaftliche Performance – und verschleierte Repression.
Das „russische“ Modell ist in vielen Ländern wegleitend: bei Großen wie China oder bei Kleineren wie Iran, Venezuela, Ecuador, Kuba. Dieses Modell hat auch im Westen seine Anhänger und Parteien, nämlich die Populisten von Rechts bis Links - von Blochers SVP in der Schweiz bis zur Linken in Deutschland. Unterstützer dieser Tendenz sind in Deutschland auch in wirtschaftlich maßgebenden Kreisen zu finden. Es ist auffällig, zu welcher Ambivalenz gegenüber der sogenannten Werteordnung der Westbindung zum ehemaligen Blockführer USA diese Tendenz fähig ist. So wurde beim China-Besuch von Kanzlerin Merkel Anfang Juli 2014 eine Schrift des Deutsch-Chinesischen Beratenden Wirtschaftsausschusses in der Presse lanciert, darin wurde gefordert, dass die deutsche Presse doch wohlwollender über China berichten und nicht so sehr über mangelnde Menschenrechte jammern solle. Auf deutscher Seite sind neben Joe Kaeser (Siemens) auch Martin Brudermüller (BASF), Martin Winderkorn (VW), Martin Blessing (Commerzbank), Thomas Enders (Airbus), Frank Appel (Post), Jürgen Fitschen (Deutsche Bank), Heinrich Hiesinger (Thyssen-Krupp), Carsten Spohr (Lufthansa) und der BDI-Chef Ulrich Grillo in diesem Ausschuss vertreten. Auch wenn einige Tage später behauptet wurde, dies sei ein Arbeitsentwurf, kann man davon ausgehen, dass die Vertreter der versammelten deutschen (Groß-)Bourgeoisie diese Botschaft bewusst lanciert haben.
Die beiden Herrschaftsmodelle schließen sich keineswegs gegenseitig aus. Geschäfte machen lässt sich mit beiden Seiten, auch über die scheinbaren ideologischen Gräben hinweg – Hauptsache, der „Partner“, sei er liberal-global oder autoritär-korporatistisch, ist zahlungsfähig und –willig. Für das Proletariat ist keine Seite besser, denn letztlich gibt es für die Unangepassten hier wie dort nur die harte Hand der Repression (mit ihrem verlängerten Arm der Psychiatrisierung). Die Logik der Profitmaximierung und Entmenschlichung ist gemeinsame Grundlage beider Modelle – für die liberale Variante muss die Anpassung des Menschen an die Maschine aus innerer Überzeugung – nach calvinistischem Vorbild – gelingen, die autoritär-kollektivistische Variante setzt auf die Zurichtung durch äußere Gewalt.
KH, 02.08.14
[1] Russlands Offensive gegen seine Großmachtrivalen, https://de.internationalism.org/weltrevolution/201402/2432/russlands-off...
[2] Dieses Dilemma der USA haben wir bereits vor dem zweiten Irak-Krieg analysiert, vgl. „Die Barbarei des Krieges im Irak: die bürgerliche Gesellschaft in ihren wahren, nackten Gestalt“, Internationale Revue Nr. 31, Frühjahr 2003