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Vor rund 100 Jahren – im August 1914 – brach der Erste Weltkrieg aus. Die offizielle Bilanz dieses planetarischen Gemetzels weist zehn Millionen Tote und acht Millionen Verwundete aus. Als der „Frieden“ unterschrieben wurde, schwor die Bourgeoisie mit der Hand auf dem Herzen, dass dies der „letzte aller Kriege“ gewesen sei. Ganz offensichtlich eine Lüge! Tatsächlich war es der erste blutige Flächenbrand, der den Eintritt in die Dekadenz des Kapitalismus markiert. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und ebenfalls des jungen 21. Jahrhunderts ist durchsetzt von unaufhörlichen imperialistischen Konfrontationen. Dem Ersten Weltkrieg folgte der Zweite, dem Zweiten der Kalte und dem Kalten Krieg folgten zahlreiche, nicht enden wollende Schauplätze kriegerischer Auseinandersetzungen, welche seit den 1990er Jahren die Welt durchziehen. Auch wenn diese letzte Periode nicht dieselben spektakulären Formen wie die zwischen zwei Blöcken, zwischen zwei Supermächten besitzt, stellt sie eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit dar. Ihre Dynamik ist schleichender; sie führt zwar nicht zu einem neuen Weltkrieg, dafür aber zur Verallgemeinerung der Kriege und der Barbarei. Der Krieg in der Ukraine – die Rückkehr des Kriegs in Europa, dem historischen Herz des Kapitalismus – ist ein qualitativer Schritt in diese Richtung.
Die Rückkehr des Krieges in Europa
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen 50 Millionen Toten wurde Europa von der brutalen Rivalität zwischen dem östlichen und westlichen Militärblock zerrissen. Während dieser langen und mörderischen Periode des Kalten Krieges fand das Gemetzel in Form von Stellvertreterkriegen zwischen den USA und Russland an den Rändern des Kapitalismus statt. Der blutige Krieg in Vietnam ist ein deutliches Beispiel dafür. Doch sobald die Berliner Mauer gefallen war, begann eine neue Periode der Auseinandersetzungen.
1991 nutzten die USA den Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait aus, um an der Spitze einer mächtigen, aber zögerlichen Koalition einen Krieg zu beginnen. Das Hauptziel war, die Tendenz zur Auflösung ihres alten imperialistischen Blocks durch eine militärische Machtdemonstration aufzuhalten und ihre weltweite Führungsrolle neu zu bekräftigen. Die Idee war, eine „neue Weltordnung“ zu gewährleisten. Auf Kosten eines menschlichen und materiellen Desasters (mehr als 500.000 Tote) und unter Einsatz massiver Flächenbombardements und Aerosolbomben, die die Lungen zerstören, sollte diese so genannte „chirurgische Kriegsführung“ eine neue Ära von Frieden und Wachstum herbeiführen. Doch diese Lüge wurde sehr schnell bloßgelegt. Fast gleichzeitig brach an den Toren Europas, in Ex-Jugoslawien, ein neuer Krieg aus. Ein grauenhafter Konflikt nur wenige Stunden von Paris entfernt, eine Anhäufung von Massakern, wie das von Srebrenica, bei dem französische Blauhelme Komplizen bei der Ermordung von 6 - 8000 Bosnier waren.
Und heute hat erneut der Wundbrand des Militarismus die Tore Europas erreicht. In der Ukraine ist die Bourgeoisie in zwei Lager zerrissen. Bewaffnete Milizen, mehr oder weniger durch Russland kontrolliert, und der ukrainische Staat stehen sich gegenüber– mit der Bevölkerung als Geisel. Dieser Konflikt, der sich auf dem Nationalismus stützt, welcher seit Jahrzehnten gepflegt wird, zieht die Aasgeier an. Wie immer sind die großen Mächte die Hauptakteure: USA, Russland, Frankreich und andere westeuropäische Staaten.
Die dramatische Situation in der Ukraine markiert deutliche eine neue Stufe in der Agonie des Systems. Der Fakt, dass dieser Konflikt durch divergierende Interessen angeheizt wird und so nah an Europa liegt, dem Mittelpunkt der Weltkriege des vorangegangenen Jahrhunderts, zeigt, welches Niveau an Desintegration das System erreicht hat.
Jeder für sich selbst
Der Fall der Berliner Mauer und die Implosion der UdSSR zerschlug die alte Blockdisziplin und öffnete eine wahre Büchse der Pandora. Nach den kurzen Illusionen, die auf den ersten Golfkrieg folgten, wurden die USA immer häufiger, an immer mehr Schauplätzen und häufig allein auf weiter Flur gezwungen, zu intervenieren: Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan und Irak. Diese imperialistische Politik ist Ausdruck einer historischen Sackgasse und sichtbar gescheitert. Jede neue Machtdemonstration dieser absteigenden Supermacht endete in einem um sich greifenden, offenen Kontrollverlust in den Kriegsgebieten, in denen sie intervenierte. Mit einer Supermacht im Niedergang sind wir in das Reich des Chaos, der wachsenden imperialistischen Gelüste, des erbitterten Nationalismus, der ausufernden religiösen und ethnischen Konflikte getreten.
Angeheizt durch diese Gelüste, haben die zentrifugalen Kräfte Konflikte hervorgerufen, die die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Verfalls verdeutlichen: der Zerfall von Staaten, der Aufstieg der übelsten Formen von Warlords und Mafia-ähnlichen Abenteurern, die in die verschiedensten Formen von illegalem Handel verstrickt sind. Dieser Prozess hat sich seit Jahrzehnten angebahnt. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erschütterte eine Serie von terroristischen Attacken große europäische Städte wie Paris, London und Madrid. Sie war nicht das Werk von isolierten Gruppen, sondern von voll entwickelten Staaten. Es waren Kriegshandlungen, die die Angriffe vom 11. September 2001 ankündigten.
Die dunkelsten Ausdrücke der Barbarei, bisher noch auf die Ränder des Systems beschränkt, beginnen zu den Zentren zurückzukehren, zu den Gebieten, wo die Präsenz und das zivilisierende Potenzial des Proletariats als einziges Hindernis dem realen Sturz in den Albtraum im Weg steht.
Wachsende Barbarei
Jeden Tag sterben Flüchtlinge aus den vom Krieg zerrütteten Ländern bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Wie Vieh auf seeuntüchtige Boote verfrachtet, begeben sie sich auf die Flucht vor dem Unsagbaren. Nach Angaben der UN-Flüchtlingsagentur hat die Anzahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden erstmals seit dem 2. Weltkrieg wieder die 50 Millionen-Grenze überstiegen. Ende letzten Jahres hatte allein der Krieg in Syrien 2,5 Millionen Flüchtlinge und 6,5 Millionen Vertriebene produziert. Und davon sind alle Kontinente betroffen!
Weit davon entfernt, die grundsätzliche Tendenz des Kapitalismus zu schwächen, hat der Zerfall die imperialistischen Ambitionen gestärkt und seine um sich greifenden irrationalen Aspekte verschärft. Die Fäulnis der Gesellschaft und der daraus resultierende Nihilismus haben die Türen weit für die am wenigsten klarsten Teile der Bourgeoisie aufgestoßen. Die Entstehung islamistischer Gruppen wie Al Kaida, der Islamische Staat und Boko Haram ist das Ergebnis eines interellektuellen und moralischen Verfallsprozesses, einer beispiellosen kulturellen Verödung. Am 29. Juni rief der IS in den von ihm kontrollierten Gebieten die Wiedereinrichtung eines „Kalifats“ aus und proklamierte die direkte Nachfolge Mohammeds. Wie Boko Haram in Nigeria hat auch der IS sich durch Ermordung von Gefangenen und Entführung sowie Versklavung von jungen Frauen "ausgezeichnet".
Diese obskuren Organisationen gehorchen niemandem und lassen sich von einer Kombination mystischen Irrsinns und erbärmlicher Mafia-Interessen leiten. In den Gebieten Syriens und Iraks, die von IS kontrolliert werden, hat ein neuer Nationalstaat keine Überlebenschance. Im Gegenteil, die vorherrschende Tendenz geht in Richtung Desintegration des syrischen, libanesischen und irakischen Staates.
Diese erschreckende Barbarei, die besonders von den Dschihadisten verkörpert wird, dient nun als Vorwand für neue militärische Kreuzzüge und westliche Bombardements. Die großen imperialistischen Mächte versetzt es in die Lage, die Bevölkerung und die Arbeiterklasse zu geringen Unkosten zu terrorisieren, während sie als zivilisierte Friedensstifter posieren. Doch der Islamische Staat wurde anfangs teilweise von den USA und Fraktionen der saudiarabischen Bourgeoisie bewaffnet, ganz zu schweigen von der Komplizenschaft der Türkei und selbst Syriens. Nun ist die islamische Organisation der Kontrolle ihrer Meister entkommen. Sie belagert nun die wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernte, syrische Stadt Kobane, die in einer hauptsächlich von Kurden bewohnten Gegend liegt. Anders als noch im ersten Golfkrieg laufen die großen Mächte und, an ihrer Spitze, die USA ohne eine langfristige politische Vision den Ereignissen hinterher und reagieren nur noch nach unmittelbaren militärischen Notwendigkeiten. Eine heterogene Koalition von 22 Staaten mit deutlich abweichenden und gegenseitigen Interessen hat die Entscheidung getroffen, die vom IS kontrollierten Städte zu bombardieren. Die top gun dieser Koalition, die USA, ist heute nicht imstande, Bodentruppen zu senden und die Türkei, die große Angst vor den kurdischen Kräften um PKK und PYD hat, dazu zu drängen, militärisch zu intervenieren.
All die Gefahrenherde dieser Welt gehen in Flammen auf. Überall geraten die Großmächte blindlings unter Feuer. Die französische Armee sitzt in Mali fest. Die „Friedens“-Verhandlungen zwischen der malischen Regierung und den bewaffneten Gruppen stecken in einer Sackgasse. In der sub-saharischen Region herrscht permanenter Krieg. Im Norden Kameruns und Nigerias, wo Boko Haram sein Jagdgebiet hat, haben sich bewaffnete Konflikte und terroristische Aktionen vervielfacht. Wenn wir die wachsende Macht Chinas in Asien berücksichtigen, müssen wir feststellen, dass dieselben Spannungen, dieselben Mafia-Methoden in der gesamten Welt um sich greifen.
Imperialistische Kriege werden immer irrationaler
Im 19. Jahrhundert, als der Kapitalismus in voller Blüte stand, besaßen Kriege zur Bildung von Nationalstaaten, Kolonialkriege oder imperialistische Eroberungen noch eine gewisse ökonomische und politische Rationalität. Krieg war ein unverzichtbares Mittel in der Entwicklung des Kapitalismus. Er hatte die Welt zu erobern, seine ökonomisch und militärisch kombinierte Macht ermöglichte es ihm, diese Ergebnisse in „Blut und Schmutz“, wie Marx es formulierte, zu erreichen.
Mit dem ersten Weltkrieg änderte sich dies radikal. Die großen Mächte gingen im Allgemeinen geschwächt aus diesen Jahren des totalen Kriegs heraus. Heute, in der Zerfallsphase des Systems, drückt ein wahrer Totentanz, ein Absturz in den Wahnsinn die Welt und die Menschheit in den völligen Ruin. Selbstzerstörung ist zum Hauptmerkmal der Kriegsgebiete geworden.
Es gibt keine unmittelbare Lösung angesichts dieser infernalischen Dynamik, aber es gibt eine revolutionäre Lösung für die Zukunft. Und dafür müssen wir geduldig arbeiten. Die kapitalistische Gesellschaft ist obsolet, sie ist nicht nur ein Hindernis für die Entwicklung der Zivilisation, sie ist eine Bedrohung für deren Überleben. Vor einem Jahrhundert haben die kommunistische Revolution in Russland und ihr Widerhall in Deutschland, Österreich, Ungarn und anderswo den Ersten Weltkrieg beendet. In der gegenwärtigen historischen Periode ist es immer noch allein der Kampf des Proletariats, der dem verrottenden Weltsystem ein Ende bereiten kann.
Antonin 5.11.14