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Mit dem Ukrainekrieg haben in Deutschland mehr als 3 Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 tiefgreifende Umwälzungen eingesetzt. So muss das deutsche Kapital seine imperialistischen Karten neu legen.
Deutschland: Zwischen Russland und USA in der Zwangslage
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks im Herbst 1989 setzte für die gesamte Welt eine tiefgreifende Umwälzung auf verschiedenen Ebenen ein. Deutschland war in Europa der große Nutznießer nach mehr als vier Jahrzehnten der Spaltung in zwei Staaten und Besatzung durch die damaligen Blockführer USA und Sowjetunion. Mit der Wiedervereinigung konnte Deutschland ein neues Gewicht erlangen, während die USA wiederum mit Ausnahme von Osteuropa weltweit überall an Einfluss verloren und sich immer mehr in ihrer jahrzehntelangen Vormachtstellung bedroht sehen. Zudem konnten sie den Aufstieg Chinas nicht verhindern.
Insbesondere in Osteuropa und gegenüber Russland hatte Deutschland nach 1989 seine Position ausbauen können. Gegenüber Russland hatten die deutschen Regierungen in bemerkenswerter Kontinuität von Kohl über Schröder, Merkel bis Scholz in engster Partnerschaft mit der Wirtschaft eine besondere Beziehung zu Russland aufgebaut. Günstige Gas- und Öllieferungen waren im Interesse der deutschen Konkurrenzfähigkeit, zudem konnte das deutsche Kapital umfangreich in Russland investieren. Auch hatte man gehofft, durch die umfangreichen ökonomischen Beziehungen mit Russland dessen imperialistischen Gelüste zu besänftigen. Am liebsten hätte man diese privilegierte Beziehung ungestört weiter aufrechterhalten…. Wenn da nicht die imperialistischen Triebkräfte dazwischen gekommen wären.
Die USA sind wild entschlossen, ihre Weltmachtstellung gegenüber China nicht aufzugeben. Wie sie im jüngst veröffentlichen Strategiepapier gegenüber China kundtun, wollen sie China in den nächsten 10 Jahren niederringen und es seiner Möglichkeit berauben, die USA zu übertrumpfen. Solch ein Kampf um die Vormachtstellung muss notwendigerweise alle Bereich der Gesellschaft erfassen und auch die Wirtschaft „infizieren“ und die imperialistische Konstellation in Europa mit prägen.
Russlands Widerstand gegen eine von den USA vorangetriebene NATO-Osterweiterung, seine Beanspruchung der Ukraine als Teil des russischen Kerngebiets sowie die Politik der USA, Russland auf die Knie zu zwingen, um damit auch zu einem Schlag gegen China auszuholen, hat die Bedingungen für das deutsche Kapital gründlich umgewälzt.
Mit Händen und Füßen wehrte man sich anfangs gegen das von den USA geforderte Ende von Nordstream, dann wollte man lange Zeit nur zögernd die Ukraine nach Beginn der russischen Invasion militärisch unterstützen. In der Zwischenzeit haben die USA Deutschland zur Finanzierung des Ukraine-Krieges gezwungen. Zwar hat die deutsche Regierung das geschickterweise als eine Art Befreiungsschlag ausgenutzt, um die Rüstungsausgaben über Nacht zu verdoppeln, denn solch eine Gelegenheit, als Reaktion auf die russische Ukrainebesatzung und ebenso mit amerikanischer Rückendeckung die Militärausgaben derart zu steigern, kommt nicht alle Tage. Ein solcher Schritt spiegelt natürlich den unumgänglichen Zwang, sich Hals über Kopf in die Militarisierung zu stürzen. Auch wenn die Rüstungsausgaben riesige Geldsummen in die Kassen der Rüstungskonzerne spülen, wirken sie gesamtwirtschaftlich als ein mächtiger Klotz am Bein, schmälern die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und treiben die Inflation mit an.1 Nichtsdestotrotz hat der deutsche Imperialismus die Gelegenheit beim Schopf gefasst, um möglichst schnell neue Vorreiterrollen zu beanspruchen, was wiederum neue Konfliktfelder mit allen möglichen Rivalen verstärkt.
Indem die USA Russland ins blutige und irrationale Abenteuer einer Besatzung der Ukraine lockten, haben die USA nicht nur Russland in Zugzwang gebracht. Das erklärte Ziel der USA ist Russland auf die Knie zu zwingen. Gleichzeitig wollen sie nicht nur die europäischen Alliierten im Rahmen der NATO mehr an die Kandare nehmen, sondern sie nehmen auch die Europäer ökonomisch viel stärker in den „Schwitzkasten“. Viel gewiefter als das grobschlächtige Vorgehen von Trump treten die USA unter dem Demokraten Biden mit dem Anspruch auf, Dienste für das NATO Bündnis zu leisten und dafür von Europäern „Gegenleistungen“ zu verlangen. Tatsächlich pressen die USA ihre Alliierten ebenso wie Zitronen aus. Deutschland ist durch die Sanktionen Russlands (Unterbrechung der Gas- und Ölimporte) nicht nur mit einer explosiven Energiepreisentwicklung konfrontiert, sondern auch in neue Abhängigkeiten bei Energieimporten geraten. War Deutschland jahrelang gegenüber Russland blauäugig gewesen und hatte eine fatale Abhängigkeit von Gas- und Ölimporten gegenüber Russland entstehen lassen, sind in der Zwischenzeit andere Staaten als Hauptlieferanten an russische Stelle gerückt und die Abhängigkeiten haben sich umgeschichtet. Mittlerweile konnten die USA ihre Energielieferungen nach Europa massiv ausbauen und Europa spült somit mächtig Geld in US-Kassen. Die USA sind momentaner Nutznießer der Sanktionen gegen Russland.
Auf militärischer Ebene ist Deutschland nach den USA und Großbritannien zum drittgrößten Waffenlieferanten in die Ukraine avanciert. Auch wenn man bei besonders schwerem Gerät wie Panzern immer noch Zurückhaltung übt, wurden alle bisherigen Tabus gebrochen. Mittlerweile ist Deutschland, neben z.B. Großbritannien, zum Großausbilder für tausende ukrainische Soldaten in der Handhabung der vom Westen gelieferten Waffensysteme geworden.
Neue Risse sind in Europa zwischen Frankreich und Deutschland entstanden – geschickt ausgenutzt von den USA
Weil die Bundeswehr ihre Ausgaben verdoppeln soll, muss man natürlich auch im Ausland einkaufen gehen und neueste Militärtechnik erwerben. Hier sind schon neue Reibereien entstanden. So ist Streit entbrannt zwischen Deutschland und Frankreich über die Anschaffung neuer Flugzeuge. Deutschland hat in den USA Phantom-Flugzeuge gegen den Willen Frankreichs bestellt, das Deutschland zum Kauf von französischen Flugzeugen bewegen will.2 Allzugern treiben die USA einen Keil zwischen die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, Frankreich und Italien.
Die Dissonanzen zwischen Deutschland und Frankreich gibt es nicht nur bei der Energiefrage (Frankreich will weiter an seinen AKWs festhalten),3 während Deutschland ab Frühjahr 2023 den Atomausstieg plant. Da Frankreich eine Nuklearmacht ist, hat sich Macron in Anbetracht der Drohungen Putins mit dem Einsatz von Atomwaffen dahingehend geäußert, dass Frankreich kein Frontstaat sei und man somit im Falle eines russischen Atomwaffeneinsatzes auch nicht automatisch französische Atomwaffen einsetzen werde. Frankreich will nicht nur Deutschland militärtechnisch stärker an sich binden, es will auch gegenüber dem sich militärisch hochrüstenden Deutschland nicht an Gewicht verlieren.
Hinter dem Streit um Abhängigkeiten von China steht ein Kampf um die Art und Weise der Interessensverteidigung des deutschen Kapitals
Nach 1989 war es zu einem neuen Schub der Globalisierung gekommen, wo viele Produktionsstätten in Billiglohnländer verlegt wurden und neue Lieferketten und somit neue Abhängigkeiten entstanden sind. Durch diese neu entstandenen ökonomischen Abhängigkeiten werden aber strategische Interesse getroffen, was wiederum aus globaler strategischer und militärischer Sicht nicht länger hingenommen werden kann, wie man bei der Produktion von Impfstoffen, medizinischem Material während der Pandemie, der Lieferung von seltenen Erden und dem ganzen Nachschub an Halbleitern und anderen elektronischen Komponenten feststellen musste. Deshalb ist es schon zu einer Art Umkehrbewegung der jahrelangen Globalisierungstendenzen gekommen, die einzig den imperialistischen Verhältnissen geschuldet sind.
Deutschland, das als größte Exportnation in Europa besonders anfällig für solche Abhängigkeiten geworden ist, muss sich diesen neuen Gegebenheiten ebenso beugen. Nachdem die Gefahren durch eine zu große Abhängigkeit (z.B. Energielieferungen oder Rohstoffe, oder von Absatzmärkten wie z.B. VW, das allein 40% in China umsetzt) offensichtlich geworden sind, und man im Falle Russlands eine Kehrtwende vollzogen hat, drängen bedeutende Teile des deutschen Kapitals auf ähnliche Konsequenzen gegenüber China. Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in China dienten deshalb vor allem den Grünen als willkommener Vorwand, sich aus chinesischen Abhängigkeiten zu lösen zu versuchen bzw. chinesische Versuche, mehr Einfluss in Europa zu gewinnen, abzuwehren. So ist innerhalb der deutschen Bourgeoisie ein Streit um die Teilübernahme des Hamburger Hafens durch die chinesische Reederei Cosco entflammt. Dieser Riss zieht sich bis in die Regierung hinein. Wer hier das letzte Wort haben wird, lässt sich heute noch nicht sagen. 4
Während Scholz schon bei Nordstream den „kühlen“ Staatsmann mimte und so tat, als ob es nur kommerzielle Interessen von russischen Firmen und keine nennenswerten russischen Staatsinteressen gäbe, bis dann einige Monate später das ganze Projekt (ob nach russischer Sabotage oder von den USA und deren Verbündeten) durch Anschläge zerstört wurde, ist die Auseinandersetzung um die Hamburger chinesische Beteiligung auch mehr als eine rein kommerzielle Frage. Denn während die Rivalitäten zwischen den USA und China an Schärfe zunehmen und die USA China niederringen wollen, ist das deutsche Kapital nicht bereit, sich den den US-amerikanischen Interessen willenlos zu unterwerfen. Man möchte eine eigenständige Politik gegenüber China betreiben. Offenbar darüber gibt es Divergenzen innerhalb des Regierungslagers. Inwiefern diese Divergenzen Verwerfungen innerhalb der deutschen Bourgeoisie und gar Neuaufstellungen der Parteienbündnisse bewirken können, ist zur Zeit noch nicht zu bewerten. Die USA werden jedenfalls mit allen Tricks und Schachzügen weiterhin Druck auf das deutsche Kapital ausüben.
Nach der Verschärfung der US-Sanktionen gegen alle Firmen und Personen die mit China in High-Tech-Branchen arbeiten wollen, wie es im US-Beschluss der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ heißt, bedeutet dies auch eine Gefahr für Chip-Lieferketten sowie ggf. für deutsche Investitionen in China. Dieser US-amerikanischen „Enthauptungsschlag“ gegen die chinesische Spitzentechnologie wird vermutlich gravierende Folgen auch für deutsche und europäische Firmen haben, die dringend auf staatliche Gelder angewiesen sind. VW hat im Oktober informiert, man werde ca. 2,4 Milliarden Euro investieren, um bei der Entwicklung von Software für seine E-Autos in China (wo VW ca. 40 Prozent seines Gesamtumsatzes erzielt) mit dem chinesischen Unternehmen Horizon Robotics zusammenzuarbeiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch deutsche Firmen in China unter den US-Bannstrahl fallen. Deshalb ringt das deutsche Kapital zur Zeit um den besten Ausweg aus dem Dilemma des Drucks der USA gegenüber China und Russland. Diese Anpassungsprozesse sind keineswegs vorübergehender Natur, sie werden von Dauer sein, da der Druck, der durch die weltweite Verschärfung der imperialistischen Rivaliten und vor allem durch die Zwangsmaßnahmen der USA entstanden ist, nicht nachlassen wird.
Unterdessen hat das Krebsgeschwür des Militarismus im Landesinnern weiter um sich gegriffen. Denn die jüngste Entwicklung des Ukrainekrieges lässt gerade Deutschland zu einem wichtigen möglichen Angriffsziel von Terrorakten werden. Die Angriffe auf Nordstream und Bahnkabel lassen erahnen, welche Eskalationen möglich sind. So stellen sich die Sicherheitskräfte auf „hybride Bedrohungen“ und mögliche Angriffe auf Kraftwerke oder Umspannstationen, also auf die Stromversorgung oder andere neuralgische Punkte der Infrastruktur, ein. Zu den militärischen Erschütterungen kommen die schwerwiegenden ökonomischen Verwerfungen hinzu.
Jeder für sich... Alleingänge auf dem Hintergrund zunehmender Konflikte in der EU, insbesondere mit Frankreich.
Nachdem das deutsche Kapital als erste Reaktion auf die Pandemie auch anfangs schwerwiegende Einschnitte im Handel mit medizinischem Gerät und Stoffen veranlasst hatte, hatte man sich nach einer Zeit auf EU-Ebene auf gemeinsame Rettungspakete verständigt (der deutsche Anteil betrug ca. 100 Mrd Euro). Die Devise war: der Staat kommt für die größten Rettungspakete auf, damit die Wirtschaft nicht absäuft. Gegenüber den Kriegsfolgekosten hat man im Oktober 2022 nach einem Hickhack einen nationalen Alleingang beschlossen, um eine Gaspreisbremse für Deutschland allein zu beschließen. Somit kommen nochmal zu den Pandemiekosten die Verdoppelung des Rüstungshaushaltes und der Gaspreisdeckel im Umfang von ca 200 Mrd. Euro hinzu. Somit steigt der Prozentsatz der Kosten der „Rettungsprogramme“ von nahezu 3% des BIP auf über 8% des BIP. Damit übertrifft Deutschland um das 2-3 fache die bisherigen Höchstwerte von den am meist verschuldeten EU-Staaten. D.h. Deutschland setzt sich an die Spitze der verschuldeten Staaten – alles im Namen der Abfederung der Kriegsfolgekosten.
In der Zwischenzeit sind die Wachstumsprognosen von zuvor noch ca. 2% für 2023 auf -0,3% (d.h. schrumpfend und bevorstehende Rezession) revidiert worden. Auch hier liege Deutschland mit den Negativwerten an der Spitze. Deutschland, das alleine genommen mehr Geld locker machen kann für seine Programme, kann sich somit gegenüber den anderen EU-Staaten große Wettbewerbsvorteile verschaffen.
Welche besondere Rolle die Sozialdemokratie und die Grünen, vormals als „pazifistische Strömung“ ein Sammelbecken gewesen, mittlerweile spielen und wie sich die ganze Entwicklung auf das Leben der deutschen Bourgeoisie auswirkt, und welche Konsequenzen für die Arbeiterklasse entstehen, werden wir in einem späteren Artikel beleuchten.
Wt. 25.10.2022
1 Jahrelang hatte man beobachtet, wie die USA in Afghanistan und im Irak in ein Fiasko nach dem anderen schlitterten. Man rieb sich schadenfroh die Hände, dass man sich selbst große Rüstungskosten vom Hals halten konnte. Dies ist nun passé.
2 Während Scholz auf den Bau eines europäischen Luftkampfsystems FCAS (Kostenpunkt mindestens 100 Mrd Euro) drängt, an der sich 15 Staaten beteiligen sollen,(ESSI) habe man das als eine Abkehr Deutschlands von Frankreich und Italien verstanden, die zusammen ein eigenes System entwickeln. Auch die Entwicklung des neuen Kampfpanzers MGCS ist ungewiss.
3 Frankreich blockierte bis vor kurzem den Bau einer Midcat-Pipeline von Spanien über Frankreich nach Deutschland.
4 Nach Warnung durch den Verfassungsschutz wird die Übernahme des Chiphersteller Elmos in Dortmund vom Bundeswirtschaftsministerium geprüft.