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Mitte Januar 2024 brach die herrschende Klasse in Deutschland eine gewiefte Kampagne zum Schutz der Demokratie vom Zaun. Diese Kampagne zeigt die ganze Verschlagenheit der deutschen Bourgeoisie und wie sie die ekelhaften Zerfallserscheinungen ihres Systems vor allem gegen die Arbeiterklasse und bis zu einem gewissen Grad erfolgreich auszuschlachten versucht.
Geheimtreffen mit Deportationsplänen – ein Köder zur Verteidigung der Demokratie
Im November 2023 hatten sich verschiedene Kräfte der AfD, Rechtsradikale, Mitglieder der damals der CDU zugehörigen Werteunion und andere Leute in Potsdam „geheim“ versammelt, um über radikale Maßnahmen gegen Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund zu beraten. In ihren von Hass und Nationalismus getriebenen, völlig irrationalen Plänen, die im Allgemeinen in ihrer Erscheinungsform im Widerspruch zu den Interessen des deutschen Kapitals stehen, streben sie scheinbar millionenfache Massendeportationen an. Das Treffen wurde von dem Rechercheteam Correctiv (und vermutlich auch vom Verfassungsschutz) beobachtet. Mitte Januar wurde die Veranstaltung publik gemacht – und kurze Zeit danach wurde die größte staatliche Mobilisierung gegen die Rechten und insbesondere gegen die AfD zur Verteidigung der Demokratie (und noch anderer Mottos) seit Jahren angeleiert…
Das geschah zu einem Zeitpunkt, nachdem schon eine intensive Stimmungsmache aus allen bürgerlichen Parteien gegen „zu viele Flüchtlinge“ und für „massive Abschiebungen“ betrieben und schließlich auf europäischer Ebene „endlich“ mehr gemeinsame Zwangsmaßnahmen („Asylreform“) beschlossen worden waren – d.h. Abschiebungen usw. nicht durch fanatisierte und hasserfüllte fremdenfeindliche Kräfte aus dem rechten Lager sondern demokratisch legitimiert, vom Staat selbst in die Hand genommen und mit entsprechenden polizeilichen Zwangsmaßnahmen. CDU-Politiker, in die Fußstapfen der englischen Regierung (mit den Konservativen an der Spitze) tretend, wollen auch Illegale nach Ruanda deportieren.
Es wäre naiv zu glauben, dass dieses Treffen nur ein gefundenes Fressen für die herrschende Klasse war. Zu offensichtlich spielen solche Treffen und Deportationsfantasien der Rechten und der AfDler dem Staat in die Hände, denn nun erfolgte eine der größten Kampagnen – angetrieben von oberster Stelle – angeblich zum Schutz der Betroffenen und vor allem für die Verteidigung der Demokratie.
So soll von der seit Jahren praktizierten Politik der Festung Europa abgelenkt werden, bei der jedes Jahr unzählige Menschen bei ihren verzweifelten Versuchen, nach Europa zu gelangen, ihr Leben verlieren oder – einmal dennoch angekommen – in Flüchtlingslagern enden oder sonst wo hocken müssen. Aber es geht um mehr als die Heuchelei der Herrschenden, die mit der Entblößung der rechten Deportationspläne ihre eigenen tagtäglichen und viel breiter geplanten Gewaltmaßnahmen übertünchen wollen. In Wahrheit wird seitens der Herrschenden ein politischer Schachzug vollzogen. Von der obersten Staatsspitze über Gewerkschaften bis zu all den „zivilgesellschaftlichen“ Initiativen dazu aufgerufen, versammeln sich mittlerweile hauptsächlich an Wochenenden oft Hunderttausende in nahezu allen Städten zum Protest gegen rechts und für die Demokratie.
Besser hätten der Staat und seine für ihn wirkenden Kräfte die Bevölkerung nicht hinter sich scharen können. Die Falle der Verteidigung der Demokratie schnappte zu![1]
Die reale Zuspitzung des Zerfalls lässt die Herrschenden aber nicht hilflos werden
Während die herrschende Klasse überall auf der Welt tatsächlich ein riesiges Problem damit hat, dass alle ihre im Parlament vertretenen Parteien an Glaubwürdigkeit verlieren und immer mehr Menschen den Wahlen fernbleiben, während immer mehr Menschen Zweifel an den Versprechungen und Verheißungen der Herrschenden hegen und zutiefst über die Zukunft des Planeten und die vom Kapitalismus ausgelöste Zerstörungsspirale mit all den Kriegen und der Verschärfung der Wirtschaftskrise besorgt sind, gleichzeitig aber nicht erkennen, welche Lösung gefunden werden muss, sind viele durch diese Perspektivlosigkeit in der Zwischenzeit in die Arme der Protestparteien getrieben worden. Zudem schrumpfen die Mitgliederzahlen der etablierten Parteien und es gibt immer mehr kleinere „Splittergruppen“ sowohl im rechten als auch im linken Lager.
Wie in vielen anderen Ländern verursacht dieser enorme Zulauf bei den populistischen und rechten Parteien unter den traditionellen bürgerlichen Parteien großes Kopfzerbrechen, da dadurch die Stabilität der Regierungen und die Kohäsion der Gesellschaft noch mehr untergraben werden. Aber die herrschende Klasse wäre keine herrschende Klasse, wenn sie diese tief im Inneren der kapitalistischen Gesellschaft wirkende Fäulnis ihrer Grundfeste nicht zu ihren Gunsten für sich auszuschlachten versuchen würde.
Deshalb die List, die real existierenden Pläne – gar Pogromgelüste – der Populisten und Rechten durch eine Kampagne zur Verteidigung der Demokratie auszuschlachten und die Bevölkerung hinter den Staat zu zerren. Dabei hat der Staat gerade jetzt einen Zusammenschluss der Bevölkerung hinter dem Staat zur Durchsetzung der Kriegstauglichkeit gefordert. Deshalb ist dieser Aufruf zur Verteidigung der Demokratie auch ein Lockmittel, um die Bevölkerung an den Staat zu binden.
Eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung insgesamt wird instrumentalisiert
Gleichzeitig gab es in den letzten Wochen aus Protest gegen die Welle von Sparpaketen, welche die Regierung in einem beträchtlichen Maße als Folge des Ukrainekrieges verabschiedet hat, größere Proteste von Bauern, Taxifahrern, Spediteuren, Handwerkern gegen die Kürzung von verschiedenen Subventionen. Diese Proteste, die von Bauern und anderen kleineren Selbständigen getragen werden, sind eine Folge der globalen Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Konsequenzen des Kriegs. Aber wegen ihrer den Verkehr behindernden Wirkungen ziehen diese Protestaktionen eine große Aufmerksamkeit auf sich, bzw. werden groß ins Rampenlicht gestellt, ohne in irgendeiner Form die herrschende Klasse in Bedrängnis zu bringen. Es wird die Botschaft kolportiert, isolierte und radikale „Blockaden“ seien ein Hauptmittel des Widerstandes. Aber mit ihren Straßenblockaden bieten sie als solche keine Perspektive des Zusammenschlusses gegen den Staat und seine Kriegspolitik an.
Während hinter diesen Protesten tatsächlich die Wut der Betroffenen über die Verschlechterung ihrer Lage infolge der Krisenauswirkungen steckt, dienen diese aber gleichzeitig als Nebelkerzen der ideologischen Verwirrung. So sind sie nicht Ausdruck der Widersprüche zwischen den zwei Hauptklassen des Kapitalismus, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, sondern drücken die Angst und Wut der Zwischenschichten, Selbstständigen, Beschäftigten und Leitern der Klein- und Landwirtschaftsbetriebe aus, die keine Perspektive außerhalb der und gegen die kapitalistische Ausbeutung formulieren können. Es ist kein Zufall, dass der erste Frontalangriff, nämlich die als „Sparzwänge“ titulierten sozialen Angriffe, auf diese Zwischenklassen zielte. Diese wütenden und perspektivlosen Proteste sollen die Kämpfe der Arbeiterklasse auf ihrem Terrain einhegen oder gar in die Falle der klassenübergreifenden Kämpfe führen.
Bündnis zur Verteidigung der Demokratie – ein Betäubungsmittel gegen den Arbeiterkampf
Ein weiteres wichtiges Bestreben des Staates beim Anleiern der Kampagne zur Verteidigung der Demokratie und zum breitestmöglichen Bündnis um den Staat ist auch, dass die sich verschärfende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse durch das Betäubungsmittel Demokratie geschwächt werden soll.
Letzten Herbst mussten die Gewerkschaften, vor allem die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, ver.di, wo ja der Staat der Arbeitgeber ist, mehrere Warnstreiks durchführen, um den Druck der Beschäftigten zu kanalisieren. Denn infolge der durch den Krieg weiter verschärften Inflation und die jahrelange Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Arbeitsverdichtung, Personalabbau usw.) war ver.di zu größeren Lohnforderungen vor allem im unteren Tarifbereich gezwungen. Diese Tarifverhandlungen wurden letztendlich alle im Herbst 2023 über die Bühne gebracht – bevor dann im Winter die Lokführergewerkschaft GdL mit ihren Forderungen aufwartete. Natürlich hatte die GdL abgewartet, bis die mit ihr konkurrierende Gewerkschaft EVG und die anderen Beschäftigten im Transportwesen bei ver.di ihre Tarifabschlüsse in der Tasche hatten.
Nachdem der Lokführerstreik vom 24. bis zum 29. Januar angekündigt und am 28. Januar beendet worden war, wurden am Dienstag, 30. Januar die Beschäftigten des Gesundheitswesens, am Donnerstag, 1. Februar die Beschäftigten an den Flughäfen, am Freitag, 2. Februar die des ÖPNV in vielen Städten zu Warnstreiks bzw. Protesten aufgerufen – streng voneinander getrennt, damit nur niemand auf die Idee komme, dass zwischen den Beschäftigten gemeinsame Interessen bestehen, und kein Gefühl der Solidarisierung, gar der Notwendigkeit und der Möglichkeit des Zusammenkommens entstehen könne.
Gleichzeitig hielt man die Beschäftigten, die natürlich von den Gewerkschaften inszeniert und kontrolliert worden wären, aber zumindest die Forderungen der Arbeiter gegen ihren gemeinsamen Arbeitgeber (oft der Staat) zum Gegenstand gehabt hätten, von der Möglichkeit großer Proteste fern. D.h. innerhalb einer Woche gab es in fast allen Bundesländern Widerstand und Proteste der Arbeiter gegen die Verschlechterung ihrer Lage – aber gespalten und getrennt voneinander! Noch haben die Gewerkschaften mit ihrem Fahrplan der säuberlich voneinander getrennten Warnstreiks die Spaltung aufrechterhalten können.
Auf diesem Hintergrund wurde seit Januar unaufhörlich die Werbetrommel für das Zusammenkommen der Bürger, der Mutigen, die bereit sind, die Demokratie usw. zu verteidigen, gerührt. Auch wenn im Augenblick keine „Explosionsgefahr“ des Klassenkampfes vorhanden ist, dienen die staatlich organisierten Proteste zur Verteidigung der Demokratie vor allem dazu, den Klassengraben zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und dem Staat, der die Interessen des Kapitals schützt, zu verdecken.
Während die herrschende Klasse die Fäulnis ihrer eigenen Gesellschaft gegen die Arbeiterklasse zu instrumentalisieren und mit ausgefuchsten Kampagnen eine nationale Einheit hinter dem Staat zur Verteidigung der Demokratie und damit letztendlich für die Erlangung der Kriegstüchtigkeit herzustellen sucht, darf die Arbeiterklasse sich nicht für diese Kampagnen einspannen lassen. Ein wirklicher Klassenwiderstand kann nur entfaltet werden, indem die Fesseln der Gewerkschaften abgestreift und die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit, die Sackgassen dieses Systems verstanden werden.
Wg, 05.02.2024
Zur Geschichte der Arbeiterbewegung – was Revolutionäre früher zur Demokratie sagten
Die Demokratie ist immer noch ein wirkungsvolles Mittel der Täuschung, wie Lenin und Bordiga schon vor mehr als 100 Jahren schrieben:
„Da die Gesellschaft in Klassen geteilt ist, die sich infolge von ökonomischen Privilegien krass voneinander unterscheiden, können Mehrheitsentscheidungen keine Bedeutung haben. Der demokratische und parlamentarische Staat liberaler Verfassung erhebt den Anspruch, eine Organisation aller Bürger im Interesse aller Bürger zu sein. Das ist ein Betrug. Solange Interessengegensätze und Klassenkämpfe bestehen, ist keine Organisationseinheit möglich. Obwohl ein Schein von Volkssouveränität zur Schau getragen wird, bleibt der Staat das Organ der ökonomisch herrschenden Klasse und das Instrument zum Schutz ihrer Interessen. Obwohl in der bürgerlichen Gesellschaft die politische Vertretung (die parlamentarischen Organe) demokratisch gewählt werden, betrachten wir diese Gesellschaft als einen Komplex aus verschiedenen anderen Organisationen und Vereinigungen. Viele davon werden von den privilegierten Schichten gebildet und verfolgen die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Sie schließen sich daher um die mächtige und zentralisierte Organisation des Staatsapparates zusammen. Andere verhalten sich neutral oder ändern von Fall zu Fall ihre Haltung gegenüber dem Staat. Andere schließlich entstehen innerhalb der besitzlosen und ökonomisch ausgebeuteten Klassen; sie richten sich gegen den bestehenden Klassenstaat. Der Staat hat also keineswegs den Charakter einer Vereinigung aller Bürger oder der ganzen Nation. Und daran können die politische und rechtliche Gleichheit aller Bürger, die formale Anwendung des demokratischen Prinzips bzw. des Mehrheitsrechts überhaupt nichts ändern, weil eine ökonomisch bedingte Klassenteilung besteht. Die politische Demokratie gibt offiziell vor, einen Staat aller Bürger errichtet zu haben. In Wirklichkeit ist sie jedoch die Staatsform, die sich für die Herrschaft der kapitalistischen Klasse und die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien besonders gut eignet. Sie ist die spezifische Form der bürgerlichen Diktatur im echtesten Sinne des Wortes.“
Amadeo Bordiga, Das demokratische Prinzip, 1922
„Auf Schritt und Tritt stoßen die unterdrückten Massen auch in dem demokratischsten bürgerlichen Staat auf den schreienden Widerspruch zwischen der formalen Gleichheit, die die „Demokratie" der Kapitalisten proklamiert und den Tausenden tatsächlicher Begrenzungen und Komplikationen6, die die Proletarier zu Lohnsklaven machen.“
Wladimir I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, 1917
[1]Wie üblich begrüßen und tragen linkskapitalistische Gruppen aller Couleur zur Mobilisierung „gegen rechts“ bei. Wir gehen aus Platzgründen hier nicht näher darauf ein.